Lesen in Antike und frühem Christentum - Jan Heilmann - E-Book

Lesen in Antike und frühem Christentum E-Book

Jan Heilmann

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Beschreibung

Die Studie zeichnet ein überraschend neues Bild der griechisch-römischen Lesekultur. Sie untersucht anhand der Leseterminologie, wie Menschen in der Antike ihr eigenes "Lesen" verstanden haben, und bezieht diese Ergebnisse auf die materiellen und sozialgeschichtlichen Zeugnisse über Leseverhalten und -bedingungen. Es werden verbreitete Annahmen widerlegt, z. B. über das grundsätzlich "laute" Lesen, über die Verbreitung einer performativen Vorlesekultur oder über den Gottesdienst als Ort der Erstrezeption neutestamentlicher Schriften. Ein differenziertes Modell zur Beschreibung von Lesepraktiken eröffnet neue Wege für die (historische) Leseforschung auch in anderen Bereichen. Vor allem wird deutlich, dass sich die neutestamentlichen Schriften im Rahmen dieser Lesekultur verstehen lassen und z. T. für die individuell-direkte Lektüre konzipiert wurden. Damit werden auch elaborierte Lektürekonzepte plausibel, wie sie etwa das Markusevangelium voraussetzt.

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Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum

Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese

ORCID iD Jan Heilmann: 0000-0003-2815-6827

Die Studie wurde gefördert durch:

 

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0939-5199

ISBN 978-3-8252-5446-9 (Print)

ISBN 978-3-7720-0149-9 (ePub)

Inhalt

KapitelICHHALTEJEDOCHDASVORANGESCHRIEBENEFÜREINENÜTZLICHESACHEDAESDIEJENIGENDIEESINTENDIERTLESENWOLLENORIENTIERTDIEJENIGENDIEZUFÄLLIGAUFDASBUCHSTOSSENZUMLESENERMUNTERTUNDENDLICHDENJENIGENDIENURETWASNACHSCHLAGENWOLLENBEIMSCHNELLENAUFFINDENHILFTVorwortPräliminarien1 Einleitung1.1 Lesen im frühen Christentum – Zum Forschungsstand1.1.1 Lesen im „Gottesdienst“ bzw. in der „Gemeindeversammlung“1.1.2 Biblical Performance Criticism1.1.3 Public Reading/Communal Reading1.2 Die lange Debatte um die Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen in der Antike1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung1.3.1 Geschriebenes als Abbild des Gesprochenen?1.3.2 Die Frage nach dem Zusammenhang von Schriftsystem und Lesepraxis1.3.3 Die Frage nach der Literalität antiker Gesellschaften1.3.4 Die Frage nach der Alterität antiker und zeitgenössischer Lesekultur1.3.5 Die Frage nach der „Oralität“ antiker Gesellschaften1.3.6 Engführung der Forschung auf die Fragen nach einem vermeintlichen „Normalmodus“ des Lesens in der Antike und auf reading communities1.4 Fragestellung, methodischer Ansatz und Vorgehen1.5 Beschreibungssprache und weitere terminologische KlärungenTeil I Grundlagen2 Überblick über die Vielfalt der Lesemedien3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen3.1.1 Ἀναγιγνώσκω3.1.2 Ἀναγιγνώσκω mit zusätzlichen Präfixen3.1.3 Ἀναγνωστικός3.1.4 Ἀνάγνωσις3.1.5 Ἀνάγνωσμα3.1.6 Ἀναγνώστης3.2 Lesen als Hören3.3 Lesen als Sammeln: λέγω und Derivate3.4 Lesen als Begegnung und Kontakt mit dem Text3.5 Lesen als haptischer Umgang mit dem Medium3.6 Lesen als Suchen bzw. Fragen3.7 Lesen als Bewegung3.8 Lesen als Sehen des Textes3.9 Lesen als Essen und Trinken4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften4.1 P. Saengers These zum Lesen von scriptio continua vor dem Hintergrund der modernen kognitions- und neurowissenschaftlichen Leseforschung4.2 Das Lesen von scriptio continua im Spiegel antiker Quellen4.3 Weitere „typographische“ Gestaltungsmerkmale antiker Handschriften und die Frage nach „Lesehilfen“4.4 Zwischenfazit und die Frage nach der Repräsentation von Klang in der Schrift5 Publikation in der Antike und Verfügbarkeit von Literatur6 Zwischenertrag: Die Vielfalt antiker Lesepraktiken und -kontexte6.1 Kollektive Rezeption und Lesen beim Gemeinschaftsmahl6.2 Individuelle LektüreTeil II Anwendung der erarbeiteten Grundlagen zur Analyse spezifischer Textcorpora7 Lesen im antiken Judentum – Exemplarische Fallstudien7.1 Hebräische Bibel, LXX und außerkanonische Schriften7.1.1 קרא als hebräisches Hauptleseverb7.1.2 הגה und individuell-direkte Lektüre im AT7.1.3 Lesepraktiken in der Henochliteratur7.1.4 Das Lektürekonzept im Buch Jesus Sirach7.1.5 Antizipation unterschiedlicher Rezeptionsgewohnheiten im 2Makk7.2 Philon7.2.1 Lesesozialisation bei Philon am Beispiel von agr. 187.2.2 Die Lektüre des Königs – Philons Interpretation von Dtn 17,18 f7.2.3 Individuell-direkte Lektüre der Therapeuten vs. communal reading7.2.4 Zwischenfazit7.3 Qumran7.4 Lesen in der Synagoge bzw. am Sabbat7.5 Zwischenertrag8 Lesen im Neuen Testament8.1 Überblick über kleinere Leseszenen8.2 Lesen des Alten Testaments im Neuen Testament8.2.1 Lesen des Alten Testaments im Corpus Paulinum8.2.2 Lesen der Hebräischen Bibel/des Alten Testaments in den Erzähltexten des Neuen Testaments8.3 Zur Lektüre der Paulusbriefe und Paulus’ Brieflektüre8.3.1 Die Brieflektüre des historischen Paulus8.3.2 Die anvisierte Rezeptionsform der Paulusbriefe in den paulinischen Gemeinden8.3.3 Lesen in den Deuteropaulinen8.3.4 Zusammenfassung8.4 Die Ansprache der Rezipienten als Leser in Erzähltexten des NT8.4.1 Mk 13,14 und das Lesekonzept des MkEv8.4.2 Zur anvisierten Rezeptionsweise der Apokalypse9 Rückblick und Ausblick: Lesen im frühen Christentum9.1 Zusammenfassender Rückblick und methodologische Implikationen für die Exegese9.2 Zum Stellenwert des Lesens im frühen Christentum: Mündlichkeit und Skeptizismus gegenüber dem geschriebenen Wort?9.3 Lesen im Kontext der Komposition sowie der Abschreibepraxis neutestamentlicher Texte9.4 Ein Vorleser/Lektor in den frühchristlichen Schriften als Evidenz für gottesdienstliche Lesungen?9.5 Vielfalt frühchristlicher Lesepraxis: Zum Charakter kollektiv-indirekter Leseanlässe im frühen Christentum und individuell-direkte Lektüre9.5.1 Kollektiv-indirekte Rezeption9.5.2 Individuell-direkte Lektüre9.6 Konsequenzen für die Frage nach der Entstehung des neutestamentlichen Kanons9.7 Epilog10 Anhang10.1 Liste mit Belegen für nicht-vokalisierendes Lesen10.2 Quellensprachliche Bezeichnungen antiker „Leseobjekte“ (Auswahl)10.3 Exemplarische Übersicht über griechische (und lateinische) Lesetermini10.4 Abkürzungen11 Quellen und Hilfsmittel11.1 Wörterbücher, Lexika und weitere Hilfsmittel11.2 Philologische Hilfsmittel11.3 Konkordanzen und elektronische Hilfsmittel11.4 Epigraphische und papyrologische Hilfsmittel11.5 Quellen11.5.1 Biblische Texte11.5.2 Literarische Quellen11.5.3 Papyri, Ostraka u. a.11.5.4 Inschriften11.5.5 Münzen11.5.6 Ikonographische Quellen11.5.7 Quellen aus der Neuzeit12 Literaturverzeichnis13 RegisterStellenverzeichnisAltes Testament, LXX, Pseudepigraphen des Alten TestamentsQumranNeues TestamentAußerkanonische Pseudepigraphen des Neuen TestamentsAntike AutorenSachregisterAuswahl an lateinischen und griechischen Lexemen

ICHHALTEJEDOCHDASVORANGESCHRIEBENEFÜREINENÜTZLICHESACHEDAESDIEJENIGENDIEESINTENDIERTLESENWOLLENORIENTIERTDIEJENIGENDIEZUFÄLLIGAUFDASBUCHSTOSSENZUMLESENERMUNTERTUNDENDLICHDENJENIGENDIENURETWASNACHSCHLAGENWOLLENBEIMSCHNELLENAUFFINDENHILFT

 

ἐγὼ δὲ κρίνω χρήσιμον μὲν εἶναι καὶ τὸ τῶν προγραφῶν γένος καὶ γὰρ εἰς ἐπίστασιν ἄγει τοὺς ἀναγινώσκειν θέλοντας καὶ συνεκκαλεῖται καὶ παρορμᾷ πρὸς τὴν ἀνάγνωσιν τοὺς ἐντυγχάνοντας, πρὸς δὲ τούτοις πᾶν τὸ ζητούμενον ἑτοίμως ἔνεστιν εὑρεῖν διὰ τούτου.

Polybios 11 prooem. 2

Vorwort

Die vorliegende Studie entstand im Wesentlichen in den Jahren 2014–2018 und wurde im Wintersemester 2019/2020 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Habilitationsschrift angenommen. Das Manuskript wurde für die Publikation geringfügig überarbeitet sowie um Quellen und Literatur ergänzt.

Danken möchte ich zunächst Prof. Dr. Matthias Klinghardt nicht nur für seinen kollegialen Rat und seine vielfältige Unterstützung, sondern auch dafür, dass er mir großartige Entfaltungsmöglichkeiten am Institut für Evangelische Theologie in Dresden eröffnet hat. Außerdem danke ich Prof. Dr. Reinhard von Bendemann und Prof. Dr. Peter Wick für die Übernahme der Gutachten, die auf sorgfältiger Lektüre basierenden, unverzichtbaren Hinweise für die Überarbeitung und die Begleitung des Verfahrens. Danken möchte ich außerdem den übrigen TANZ-Herausgebern, Prof. Dr. Günter Röhser, Prof. Dr. Stefan Schreiber und Prof. Dr. Manuel Vogel für die Aufnahme in die Reihe. Dr. Valeska Lembke, Corina Popp und Elena Gastring danke ich für die gute Betreuung von Seiten des Verlags. Große Teile dieses Buches sind im Rahmen eines Forschungsprojektes entstanden, das vom Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus durch die Sächsische Aufbaubank gefördert wurde. Für die großzügige finanzielle Unterstützung sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Daneben ist zahlreichen weiteren Personen vielfältiger Dank abzustatten: Prof. Dr. Christina Hoegen-Rohls, für den fortdauernden diskursiven Austausch über meine Forschungsthemen, und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ihres Oberseminars im SoSe 2019; Prof. Dr. Hermut Löhr stellvertretend für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ökumenischen Neutestamentlichen Sozietät in Bonn, in deren Rahmen ich mein Projekt im April 2018 vorstellen durfte; Prof. Dr. Jörg Frey stellvertretend für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des VIII. Colloquium Iohanneum im Februar 2019 in Zürich; Dr. David Trobisch, Prof. Dr. Andrew McGowan und Prof. Dr. Susan Marks für die zahlreichen inspirierenden Gespräche und Diskussionen über das Thema; Prof. Dr. Dennis Pausch, Prof. Dr. Martin Jehne, Prof. Dr. Maria Häusl und Ute Meyer für die konstruktive Begleitung des Projekts von Seiten der Dresdner Altertumswissenschaften; nicht zuletzt allen Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Evangelische Theologie in Dresden und insbesondere der Institutssekretärin, Eva-Maria Kaminski, die mit ihrer liebenswürdigen Art stets den Überblick über die Finanzmittel meiner Projekte behalten und mich im administrativen Dickicht der Universität vielfältig unterstützt hat.

Auch viele Freunde und Kolleginnen/Kollegen haben Anteil am Gelingen des Projektes, die Teile der Habilitationsschrift z.B. im Dresdner Oberseminar und darüber hinaus kritisch diskutiert, mir wertvolle Hinweise gegeben, mich in Bezug auf Methoden der Digital Humanities beraten und/oder sich durch die Übernahme des Korrekturlesens hervorgetan haben: Adriana Zimmermann, Christine Hoffmann, Dr. Nathanael Lüke, Dr. Daniel Pauling, Dr. Tobias Flemming, Dr. Alexander Goldmann, Dr. Juan Garcés, Dr. Eric Pilz, Stefan Zorn, Dr. Benedikt Eckhardt, Dr. Johannes F. Diehl, PD Dr. Thomas Wagner und Dr. Matthias Braun. Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Kevin Künzl, der mit seinem altphilologischen Sachverstand als SHK/WHK und später als Doktorand an der kritischen Sichtung und Übersetzung zahlreicher Quellen mitgewirkt hat. Neben den vielen Studierenden in meinen Dresdner Lehrveranstaltungen ist namentlich weiteren Studentischen Hilfskräften für ihren unermüdlichen Arbeitseinsatz herzlich zu danken: Lea Herrfurth, Fridolin Wegscheider, Johann Meyer, Frank Wagner, Jakob Brügemann, Ulrike Meinhold und Tobias Reintzsch.

Danken möchte ich außerdem meinen Eltern, Doris und Pfr. Bernd Schäfer, für die vielfältige Unterstützung meiner wissenschaftlichen Tätigkeit, sowie meiner Schwester und ihrem Mann, Lena und Stefan Schäfer, für ihre Unterstützung und die Übernahme von Korrekturarbeiten. Dieses Buch ist meiner Frau Claudia, meiner kritischsten Leserin und lieben Partnerin, und meinem Sohn Anton, der stets für eine lebendige Arbeitsatmosphäre sorgt, gewidmet.

 

Dresden, im Juli 2020    Jan Heilmann

Präliminarien

Entgegen älteren Konventionen wird u. a. wegen der besseren elektronischen Verarbeitbarkeit1 bei der Angabe von Quellen weitgehend auf die Verwendung von Römischen Zahlen verzichtet.

PapyriPapyrus werden wie folgt zitiert:

[EditionEdition2][ggf. Band][Textnummer], [ggf. Fragment/Kolumne],[Zeile]

P.Oxy. 3 405, col. 2,19

P.Oxy. 9 1175, fr. 7,8

Wenn nur ein Fragment mit einer Kolumne vorhanden ist, wird die Zeilenangabe direkt hinter der Textnummer angeführt.

P. Mich. 2 130,10 …

KodizesKodex werden wie folgt zitiert:

[EditionEdition][Folium recto/verso],[Zeile]

P.Oxy. 4 657, f. 47vo,21

Soweit die zitierten Quellen online zur Verfügung stehen, sind sie im E-Book mit einem Hyperlink versehen, damit sie von den Leserinnen und Lesern schneller eingesehen werden können. Generell werden PapyriPapyrus mit der Datenbank „Trismegistos“ verlinkt, literarische Quellen aus lizenzrechtlichen Gründen und der allgemeinen Zugänglichkeit willen mit der Perseus Digital Library bzw. – für Texte, die dort nicht enthalten sind – mit dem neuen Scaife Viewer von Perseus. Diese Links enthalten jeweils stabile CTS-URNs (vgl. dazu http://cite-architecture.org/). InschriftenInschriften werden mit diversen digital verfügbaren Korpora verlinkt.

Die Verlinkungen implizieren jedoch keine Aussage über die zitierten EditionenEdition.3 Die Quellen sind i. d. R. in den gängigen historisch-kritischen Editionen kontrolliert worden (v. a. BSGRT usw.).

Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, vom VerfasserAutor/Verfasser.

Griechische und lateinische Verben werden aus pragmatischenPragmatik Gründen in der Wörterbuchform angegeben, auch wenn dies wegen der Gewohnheit im Deutschen, Verben mit dem Infinitiv zu benennen, für einige Leserinnen und Leser ungewöhnlich erscheinen mag.

Römische Zahlen werden in Tabellen und Klammern z. T. zur vereinfachten Datierung nach Jahrhunderten verwendet, wobei Römische Zahlen ohne die Angabe „v. Chr.“ eine Datierung „n. Chr.“ implizieren.

Um den Fußnotenapparat zu entlasten, werden Wörterbuchartikel z. T. unter Verwendung eines Kürzels im Haupttext ohne Seitenangabe zitiert.

Die Abkürzung „Lit.“ steht im Fußnotenapparat für „mit weiterführenden Hinweisen auf die Forschungsliteratur“.

1Einleitung

In dieser Studie wird die Frage gestellt, wie die Texte des späteren Neuen Testaments1 (im Folgenden: neutestamentliche Texte) in ihrem unmittelbaren Entstehungskontext und im Rahmen der frühen Rezeptionsgeschichte gelesen wurden. Es klingt zunächst banal, wenn man die selbstverständliche Annahme formuliert, dass die neutestamentlichen Texte geschriebenSchriftGeschriebenes wurden, um gelesen zu werden. Kategorien wie die (Erst-)LeserLeser, die historische Rezeptionssituation, die gottesdienstlicheGottesdienst Verlesung (WortgottesdienstGottesdienstWort-/liturgische Lesung usw.) u. ä., aber auch das Verb „lesen“ und das Substantiv „Lesen“ gehören zum Standardrepertoire der exegetischenExegese Beschreibungssprache. Demgegenüber bleibt die Reflexion darüber, was „Lesen“ im frühen ChristentumChristentum konkret bezeichnet, aber zumeist unbestimmt. Auf der einen Seite umgehen viele Exegetinnen und Exegeten durch geläufige Formulierungen wie „Leser bzw. HörerHörer“2 und „Erstrezipienten“3 die Herausforderung, die historischen LesesituationenLese-situation neutestamentlicher Texte präzise zu beschreiben. Auf der anderen Seite steht die weit verbreitete monosituative Verortung der LesepraxisLese-praxis als eine gottesdienstliche Verlesung der neutestamentlichen Schriften im frühen Christentum, die meist mit der Annahme einer KontinuitätKontinuität zur Praxis des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt in der SynagogeSynagoge verbunden wird. Die Rede von der gottesdienstlichen Lesung läuft jedoch Gefahr, kirchengeschichtlich identifizierbare, liturgische Lesepraktiken in die neutestamentliche Zeit hineinzuprojizieren. Denn liturgische Lektionen neutestamentlicher Texte sind, so der Stand in der liturgiewissenschaftlichenLiturgiewissenschaft Forschung, frühestens ab dem 3. Jh. bezeugt. In den ostsyrischen KirchenKirche wird die Praxis liturgischer Lesungen vor der Feier der Eucharistie sogar erst im frühen 5. Jh. übernommen.4

Die frühchristliche LesepraxisLese-praxis und der LeseaktLese-akt selbst stehen nur selten im Zentrum des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses in der neutestamentlichen Forschung. Es ist bezeichnend, dass im ThWNT der Artikel zu ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω (32mal im NT belegt; 65mal in der LXXAT/HB/LXX)/ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις (dreimal im NT/viermal in der LXX) nicht einmal eine Seite lang ist (und den Befund unzulässig verkürzt darstellt),5 dagegen aber z.B. der Artikel zum Verb κηρύσσω (61mal im NT belegt; 32mal in der LXX) 19 Seiten umfasst.6 Hinzu kommt, dass sich weder im Reallexikon für Antike und ChristentumChristentum (RAC), noch im Handwörterbuch RGG4, noch in der TRE ein Artikel zum Stichwort „lesen“ o. ä. findet.7 Dies lässt mutmaßen, dass Lesen eine Selbstverständlichkeit ist, die wegen der eigenen LeseerfahrungLese-erfahrung für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unmittelbar evident zu sein scheint; ein notwendiger, aber sonst wenig interessanter Prozess, um die Botschaft des Textes zu Gehör zu bringen. Doch die Frage nach dem Lesen im frühen Christentum ist eben nicht nur eine technische Frage. Ein genaueres Wissen über das Lesen im frühen Christentum hat Implikationen für wichtige Forschungsfelder der neutestamentlichen Wissenschaft, wie etwa:

die Kommunikationsbeziehungen zwischen Paulus und seinen GemeindenGemeinde und zwischen den Gemeinden untereinander;

die frühchristliche Ritualgeschichte (also die Frage nach der Entstehung und Vorgeschichte des christlichen Gottesdienstes und von Liturgien);

die rezeptive Arbeitsweise der AutorenAutor/Verfasser der neutestamentlichen Texte und damit z.B. auch für das Synoptische Problem;

in methodischer Hinsicht für die Diskussion um formgeschichtlicheFormgeschichte Einordnungen der neutestamentlichen Texte sowie v. a. für die Diskussion um die Anwendbarkeit moderner literaturwissenschaftlicher Methoden und Theorien auf die neutestamentlichen Texte usw.;

Modelle zur Konzeptualisierung der Entstehung des neutestamentlichen KanonsKanon.

Die Frage nach dem Lesen im frühen ChristentumChristentum ist zuletzt aber gerade auch von hermeneutischer und theologischerTheologie Bedeutung, da Heilige SchriftenHeilige Schrift(en) bzw. als offenbarte und schriftgewordene Worte GottesGott interpretierte Texte schlicht und einfach zuallererst gelesen werden müssen.8

Das Ziel dieser Studie liegt darin, Lesen im frühen ChristentumChristentum im Horizont der antiken LesekulturLese-kultur zu untersuchen und damit ein neues Forschungsfeld für die neutestamentliche ExegeseExegese zu erschließen. Dabei ist im Folgenden zunächst herauszuarbeiten, inwiefern die existierenden Ansätze in der neutestamentlichen Forschung, die das Phänomen Lesen im frühen Christentum beschreiben, von einer Debatte in den Altertumswissenschaften beeinflusst und von einem problematischen Grundnarrativ geprägt sind. Dieses Grundnarrativ lässt sich komplexitätsreduziert wie folgt reformulieren:

a) Da BücherBuch in der Antike teuer waren, konnten sich nur wenige Menschen Bücher leisten und damit lesen. b) Texte wurden grundsätzlich „lautLautstärkelaut“ vorgelesen. Und zwar weil man c) Texte in scriptio continuaSchriftscriptio continua nicht „leiseLautstärkeleise“ lesen konnte und d) die LiteralitätsrateLiteralität/Illiteralität in der Antike insgesamt, und im frühen Christentum insbesondere, äußerst gering war. Daraus wird geschlussfolgert: Die neutestamentlichen Schriften seien für das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt bestimmt gewesen. Dieses Narrativ setzt nicht nur ein problematisch gewordenes, auf das 19. Jh. zurückführbares Modell des frühen Christentums „als überwiegend ökonomischer, literarischer und bildungsmäßiger Unterschicht“9 voraus. Vielmehr unterstellt das Narrativ auch, dass Lesen in Antike und frühem Christentum ein rein auditivesauditiv Phänomen war, gegenüber dem gesprochenen Wort nur eine sekundäre Rolle spielte bzw. eine Hilfsfunktion hatte und von der heutigen Lesekultur fundamental zu unterscheiden ist. Im Sinne eines umfassenderen Verständnisses, das insb. auch den direkten Zugang zum SchriftmediumLese-medium einschließt, habe Lesen nur eine marginale Rolle gespielt. Ein gutes Beispiel für die aus diesem Narrativ folgende Marginalisierung und funktionale Unterordnung des Phänomens „Lesen“ ist das 2017 erschienene Dictionary of the Bible and Ancient Media.10 Es enthält zwei lange Artikel zu den Stichworten „Performance Criticism (Biblical)“Biblical Performance Criticism und „Performance of the Gospel (in antiquity)“ (insg. zehn Seiten), aber nur eine halbe Seite zum Stichwort „Reading culture“ und keinen Eintrag zum Stichwort „Reading“.

Demgegenüber wird in dieser Studie anhand einer umfassenden Auswertung der Quellen herauszuarbeiten sein, dass Lesen in der Antike deutlich differenzierter zu beschreiben ist und auch als ein elaboriertes und eigenständiges Phänomen wahrgenommen wurde. Für die Schriften des antiken JudentumsJudentum und des antiken ChristentumsChristentum wird zu zeigen sein, dass die anvisierte Rezeptionssituation nicht generell auf den Modus des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt in einer Gruppe reduziert werden kann, sondern sich auch andere Formen der anvisierten Rezeptionsweise eindeutig nachweisen lassen. Im ersten Kapitel ist zunächst der Forschungsstand zu diskutieren. Dabei wird in einem ersten Schritt der Forschungsstand zum Lesen im frühen Christentum behandelt, in einem zweiten Schritt ist die altertumswissenschaftliche Debatte um das „lauteLautstärkelaut“ und „leiseLautstärkeleise“ Lesen in der Antike zu problematisieren, und in einem dritten Schritt werden die methodischen Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung systematisiert. Davon ausgehend werden unter 1.4 und 1.5 die Fragestellung und der Forschungsansatz sowie das methodische Vorgehen der vorliegenden Studie erläutert.

1.1Lesen im frühen Christentum – Zum Forschungsstand

Eine Forschungsgeschichte zum Lesen im frühen ChristentumChristentum zu schreibenSchreiben, ist nicht möglich, da wir mit der paradoxen Situation konfrontiert sind, dass es keine umfassenden Spezialuntersuchungen zum hier zu erschließenden Forschungsfeld gibt und ein relativ geringes Interesse am LeseaktLese-akt als solchem festzustellen ist, wie oben bereits ausgeführt wurde. Allerdings ist das Thema mit zahlreichen etablierten Forschungsfeldern und -diskursen verwoben und berührt unzählige exegetischeExegese Einzelfragen. Zu den etablierten Forschungsfeldern und -diskursen gehören z.B.:

liturgiegeschichtliche Fragen nach der Genese des christlichen Gottesdienstes;

die alte Frage über den literarischen Charakter der neutestamentlichen Texte, der z.B. einflussreich von Overbeck und Deissmann vehement in Frage gestellt wurde,1 bzw. die Frage nach der literaturgeschichtlichen Einordnung und den intendierten AdressatenAdressat neutestamentlicher Texte;

die Frage nach MündlichkeitMündlichkeit und SchriftlichkeitSchrift-lichkeit sowie der LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) in Antike und frühem ChristentumChristentum;

die Frage nach der Angemessenheit von methodischen Zugängen zum NT aus den Literaturwissenschaften, insbs. die RezeptionsästhetikRezeptionsästhetik (reader response criticism).2

Die Situation wird zusätzlich dadurch verkompliziert, dass einige dieser Forschungsdiskurse in einem besonderen Maße interdisziplinär mit anderen altertumswissenschaftlichen Disziplinen vernetzt sind. Diese Diskurse und ihr Bezug zum Thema „Lesen“ können hier im Einzelnen nicht dargestellt werden. Im Folgenden werden wichtige Forschungsbeiträge zum Thema entlang von drei Kontextualisierungsparadigmen diskutiert, in denen unterschiedliche Zugänge gewählt werden, um Lesen im frühen ChristentumChristentum zu beschreiben. Weil diese Kontextualisierungsparadigmen von der in den Altertumswissenschaften umfangreich diskutierten Frage nach dem „lautenLautstärkelaut“ und „leisenLautstärkeleise“ Lesen abhängig sind, ist darauffolgend diese Debatte ausführlicher darzustellen, bevor dann systematisch die methodischen Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung darzulegen sind. Abschließend wird die Fragestellung und der Forschungsansatz der vorliegenden Studie entfaltet und die Beschreibungssprache eingeführt.

1.1.1Lesen im „Gottesdienst“ bzw. in der „Gemeindeversammlung“

Gemeinde-versammlungDas Thema „Lesen im frühen ChristentumChristentum“ ist forschungsgeschichtlich eng verbunden mit der liturgiegeschichtlichen Frage nach Entstehung und Entwicklung des christlichen Gottesdienstes und insbesondere mit der Frage nach einem „Wortgottesdienst“, der als Gegenüber zum „eucharistischen GottesdienstGottesdienst“ konstruiert wird. Es ist hier weder zielführend noch möglich, diese umfangreiche Forschungsgeschichte ausführlich darzustellen.1 Im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Studie ist jedoch relevant, dass der Gebrauch von Termini wie „gottesdienstliche Lektüre“, „liturgische Lesung“, „Wortgottesdienst“ etc. (G. Theißen spricht diesbezüglich sogar vom „kultischen Gebrauch“)2 in vielen Publikationen durch eine deutliche definitorische Unschärfe gekennzeichnet ist.3 Was SchriftlesungSchrift-lesung bedeutet und in welche sozialen und kulturgeschichtlichen Kontexte sie einzubetten ist, wird im Grunde als selbstverständlich gegeben vorausgesetzt. Vielfach bekommt man den Eindruck, spätere liturgische LesepraxisLese-praxis werde in die Zeit des frühen Christentums zurückprojiziert. Dies zeigt sich z.B. schon an der fragestellungsleitenden Unterscheidung zwischen einem WortgottesdienstGottesdienstWort- auf der einen Seite und einem „eucharistischen“ Gottesdienst auf der anderen Seite,4 die angesichts neuerer Forschungen zum MahlGemeinschaftsmahl im frühen Christentum und zur Entstehung des Gottesdienstes im frühen Christentum hochproblematisch geworden ist.5 Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht z.B. schon in der Verwendung des deutschen Gottesdienst-Begriffs, der für viele quellensprachliche Lexeme „zu unspezifisch und zu weit ist“ bzw. deren Bedeutungsfülle nicht abdeckt6 und daher als metasprachlicher Terminus klar definiert werden müsste. Außerdem zeichnen sich viele Arbeiten durch ein genealogisches Ableitungsmodell der frühchristlichen Lesepraxis aus dem „jüdischenJudentumSynagogengottesdienstSynagoge-ngottesdienst“ aus.7 Dies wird unter 7.4 weiter zu thematisieren sein. Wenn im Rahmen dieser Studie Begriffe wie „Gottesdienst“, „Liturgie“, „RitualRitual/ritualisiert“ (resp. die zugehörigen Adjektive) dennoch verwendet werden, dann beziehen sie sich auf die unspezifischen und weitgehend definitorisch unterbestimmten Kontextualisierungsmodelle, die sich in der Forschungsliteratur finden.

Die definitorische Unschärfe der Begriffe „gottesdienstlicheGottesdienst Lektüre“, „liturgische Lesung“, „Wortgottesdienst“ etc. ist forschungsgeschichtlich besonders deswegen relevant, da das vorausgesetzte Konzept eines frühen christlichen „Gottesdienstes“ und der darin implizierten LesepraxisLese-praxis vielfach als Kontext für die Erstrezeption neutestamentlicher Schriften vorausgesetzt wird. Dieses Kontextualisierungsmodell wird z.B. für die Erstrezeption der Paulusbriefe8 und der ApcApc9 verwendet und ist insbesondere für die Markusforschung von Relevanz. In Bezug auf Markus findet es sich schon Ende des 18. Jh. bei J. G. Herder.10 Der Rezeptionskontext des MkEvMk wird maßgeblich aus dem sprachlichen Stil abgeleitet, wie exemplarisch bei M. Hengel deutlich wird, der aus dem sprachlichen Stil sogar Rückschlüsse auf den Produktionskontext zieht:

„Wahrscheinlich ist das EvangeliumEvangelium aus dem lebendigen mündlichen Vortrag herausgewachsen und für die lectiolectio sollemnis im GottesdienstGottesdienst abgefaßt worden. Die kurzen, oft rhythmisch geformten Kola weisen auf die mündliche RezitationRezitation in der GemeindeversammlungGemeinde-versammlung hin. Das Evangelium ist für das OhrOhr des HörersHörergeschriebenSchriftGeschriebenes, und darum alles andere als ein künstliches literarisches Schreibtischprodukt, das aus obskuren schriftlichen Quellen, aus zahlreichen Zetteln und Flugblättern zusammengestückelt wurde.“11

Insbesondere die Verwendung der Kategorie lectiolectio sollemnis zeigt hier deutlich, dass das spätere Konzept einer festlichen liturgischen Verlesung biblischer Texte im GottesdienstGottesdienst anachronistisch in den Befund hineinprojiziert wird. Es handelt sich eindeutig um einen späteren liturgiegeschichtlichen Terminus. Aus den frühen Quellen lässt sich dessen Gebrauch weder in quellensprachlicher noch in metasprachlicher Hinsicht rechtfertigen. So ist das Kontextualisierungsmodell „Gottesdienst“/„liturgische Lesung“ für die Frühzeit insgesamt mehrfach zu Recht kritisiert worden.12 Anschaulich formuliert C. Buchanan:

„To inspect the liturgical evidence of the first and second centuries is like flying from Cairo to the Cape in order to get a picture of Africa, only to find that there is thick cloud cover all the way, with but half a dozen gaps in it.“13

Andererseits spielt die Kategorie „Verlesung im GottesdienstGottesdienst“ eine entscheidende Rolle bei vielen Rekonstruktionen der Entstehung des neutestamentlichen KanonsKanon. Am wirkmächtigsten war in dieser Hinsicht wohl die monumentale Arbeit T. Zahns, der zwar nicht als erster, aber doch prominent – und in Frontstellung gegen die dogmengeschichtlichen Zugänge Baurs und Semlers14 – die Interdependenz zwischen der Verlesung im Gottesdienst auf der einen Seite und der Sammlung von Schriften sowie der prozesshaft konzeptualisierten Entstehung des Kanons auf der anderen Seite postuliert. Im neutestamentlichen Kanon sieht er also von Beginn an eine Sammlung „kirchlicher Vorlesebücher“.15 Diese These ist zwar schon früh kritisiert worden – insbesondere die Spannung zwischen dem Postulat eines ideell bereits vorhandenen Kanons auf der einen Seite und dem postulierten Prozesscharakter bzw. der nicht physischen Einheit dieses Kanons auf der anderen Seite16 – aber hat doch die weitere Forschung zum neutestamentlichen Kanon maßgeblich geprägt.17 Dies ist insofern problematisch, als das Konzept der Verlesung im Gottesdienst in der Diskussion um die Entstehung des KanonsKanon vielfach definitorisch unterbestimmt bleibt,18 mit der Gefahr einer anachronistischen Rückprojektion moderner Vorstellungen vom Gottesdienst verbunden ist19 und als gleichsam feste Konstante ohne weitere Begründung vorausgesetzt wird.

Insgesamt ist der Großteil der Forschung des 20. Jh. davon geprägt, dass Lesen im frühen ChristentumChristentum weitgehend monosituativ im „GottesdienstGottesdienst“/der „GemeindeversammlungGemeinde-versammlung“ verortet wird – zum Teil mit der Begründung der vermeintlich hohen Kosten von HandschriftenHandschrift/Manuskript(Hss.Handschrift/Manuskript), der unterstellten leseunfreundlichen Gestaltung derselben und der angenommenen geringen LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität).20 Zum Teil wird aber auch die Möglichkeit anderer Rezeptionsweisen, insb. der Kontext der Katechese angedeutet;21 systematische Untersuchungen fehlen jedoch.

Eine Ausnahme einer solchen monosituativen Verortung des Lesens im frühen ChristentumChristentum bildet allerdings Harnacks 1912 erschienene Studie „Über den privatenÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat Gebrauch der heiligen SchriftenHeilige Schrift(en) in der Alten Kirche“KircheAlte, die maßgeblich auf einer noch älteren Arbeit von C. W. F. Walch aufbaut.22 Harnack wendet sich in dieser Studie gegen die maßgeblich von Lessing vertretene These, dass in der Alten Kirche das Lesen der Bibel Laien vorenthalten worden wäre. Dazu untersucht Harnack die Zeugnisse bis TheodoretTheodoret, die Rückschlüsse auf „privaten Gebrauch“ biblischer Texte zulassen. Harnack kommt zu dem Ergebnis, dass die biblischen Texte (zuerst die alttestamentlichenAT/HB/LXX und dann auch die neutestamentlichen) in der Alten KircheKircheAlte prinzipiell „jedermann zugänglich und in den Händen vieler Christen“23 waren. Für die Zeit der paulinischen Briefe, vermutet er jedoch, „wird – einfach infolge eines Mangels an Exemplaren – anfangs und eine geraume Zeit hindurch der private Gebrauch seltener gewesen sein.“24 Schon für Lukas nimmt er aber an, dass dieser auch außerhalb der „gottesdienstlichenGottesdienst Verlesung“ biblische Texte privat studiert habe.25 Aus der Literatur des 2. Jh. schlussfolgert er sodann, „daß das Alte Testament, die EvangelienEvangelium und die Paulusbriefe eine sehr große Publicität besessen haben müssen und von zahlreichen Christen studiert worden sind.“26 Schon wegen der zusammengetragenen Quellen bildet die Studie einen wichtigen Ausgangspunkt für die Frage nach der LesepraxisLese-praxis im frühen Christentum.27 Allerdings stellt sich die Frage, ob die Kategorie „privater Gebrauch“, die eine dichotome Unterscheidung von einem offiziellen (öffentlichenÖffentlichkeitöffentlich) kirchlichen Gebrauch (also eine feste Institution der „gottesdienstlichen Vorlesung“28) voraussetzt, in heuristischer Hinsicht nicht zu allgemein ist, um die Lesepraxis im frühen Christentum angemessen und differenziert genug beschreiben zu können.

Zwei Arbeiten aus den 1990er Jahren, die sich dezidiert mit dem Lesen im frühen ChristentumChristentum bzw. im NT beschäftigen, sind hier etwas ausführlicher zu besprechen. Bis heute einflussreich, besonders in der anglophonen ExegeseExegese, ist H. Y. Gambles 1995 erschienene Monographie „Books and Readers in the Early Church: A History of Early Christian Texts“. Wie schon der Titel sagt, handelt es sich bei Gambles Buch weniger um eine Studie zum Lesen selbst. Er formuliert jedoch gleich zu Beginn dem oben skizzierten Grundnarrativ entsprechend die These:

„Remember, however, that all ancient reading was reading aloud and that much of it occurred in public, quasi-public, and domestic settings where those listening might include the semiliterate and illiterateLiteralität/Illiteralität as well as the literate. […] Most early Christian texts were meant to speak to the whole body of the faithful to whom they were read. These writings envisioned not individual readers but gathered communities, and through public, liturgical reading they were heard by the whole membership of the churches.“29

Gamble wählt einen vierfachen Zugang, um die frühchristliche LesekulturLese-kultur zu kontextualisieren, und zwar über die Frage nach dem Literalitätsgrad (Kapitel 1), nach der MaterialitätMaterialität (Kapitel 2), nach der PublikationPublikation/Veröffentlichung und ZirkulationZirkulation von Texten (Kapitel 3) sowie nach „christlichen“ BibliothekenBibliothek (Kapitel 4). Dies kann hier nicht im Einzelnen detailliert besprochen werden, im Laufe der Untersuchung werde ich aber auf einzelne problematische Thesen Gambles bezüglich der genannten Fragen zurückkommen. Seine Schlussfolgerungen zum Lesen basieren z. T. auf dem alten, sozialromantisch verzerrten und v. a. aus dem 1Kor1Kor und Thesen zum historischen JesusJesus abgeleiteten Bild des frühen ChristentumsChristentum als Gruppe, die sich vor allem aus den illiteraten und unterprivilegierten Schichten zusammensetzte.30 Ein solches Bild des frühen Christentums ist in der jüngeren Forschung mit Recht in Frage gestellt worden.31

Angesichts fehlender früherer Zeugnisse umfasst Gambles Kapitel zu frühchristlichen BibliothekenBibliothek eine Epoche, die üblicherweise als patristischeKirche-ngeschichte Zeit bezeichnet wird, sodass keine Schlussfolgerungen bezüglich liturgischer LesepraxisLese-praxis für die Zeit des 1./2. Jh. möglich sind. Seine Argumentation hat dahingehend etwas Zirkuläres, als er auf der einen Seite liturgische Lesepraxis neutestamentlicher Texte, die er faktisch aus der Praxis des synagogalen WortgottesdienstesGottesdienstWort- ableitet, von Beginn an voraussetzt und auf der anderen Seite die frühe Existenz gemeindlicher Bibliotheken auf Basis dieser liturgischen Lesepraxis postuliert.32 Er leitet die Praxis des liturgischen Lesens faktisch aus dem synagogalen Wortgottesdienst ab, insofern er zwar die Limitationen der Quellen für die Rekonstruktion synagogaler Lesepraxis in vorrabbinischerrabbinischvor- Zeit genauso wie die Schwierigkeiten der Rekonstruktion frühchristlicher Lesepraxis in den GemeindenGemeinde (auch angesichts der Diversität des frühen ChristentumsChristentum) konzediert,33 aber dann daraus, dass Paulus bei den RezipientenRezipient seiner Briefe umfangreiche Kenntnisse der ToraTora voraussetzt, ableitet, „that the scriptures of Judaism were publicly read in the Pauline churches.“34 Freilich kann dies nur ein Indiz dafür sein, dass die Tora in den paulinischen Gemeinden rezipiert worden ist, aber nicht in welcher genauen Form. Zusätzlich formuliert er: „The fact that Paul expected his own letters to be read in the liturgical assembly shows that he envisioned the Christian gathering for worship as an appropriate setting for public readingpublic reading.”35 An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, dass Gamble diesen fact nicht am Text belegt, sondern rein thetisch postuliert. Zudem bleiben Termini wie liturgical assembly, liturgical readings in der gesamten Arbeit unterbestimmt bzw. speisen sich implizit durch Rückprojektionen aus späterer Zeit, die in der Gefahr stehen, anachronistisch zu sein.36

Zuletzt konzediert Gamble zwar, dass „christliche BücherBuch“ auch „privatÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat“ gelesen worden wären, führt dazu relevante Quellen an und macht wichtige Beobachtungen.37 In der Gesamtausrichtung des Buches bleiben diese Ausführungen jedoch ein Appendix, deren Implikationen nicht weiter bedacht werden. Insgesamt bleiben in Gambles Buch Quellenstellen, an denen LesepraktikenLese-praxis sowohl in der griechisch-römischen Literatur im Allgemeinen als auch in der frühjüdischen sowie frühchristlichen Literatur im Speziellen (bis auf die traditionell als Beleg für einen „Wortgottesdienst“GottesdienstWort- im frühen ChristentumChristentum zitierten Quellen), weitestgehend unbeachtet. Nicht zuletzt wegen des besonderen Einflusses von Gambles Buch in der anglophonen ExegeseExegese, der weitgehenden Übernahme der Logik seines Zugangs und der scheinbar selbstverständlichen Richtigkeit der These liturgischer Lesungen als Kontext der Rezeption neutestamentlicher Schriften, ist die systematische Auswertung dieser Quellen bisher ein schwerwiegendes Desiderat geblieben.

Die einzige deutschsprachige Monographie, die das Lesen im frühen ChristentumChristentum in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stellt, ist P. Müllers Monographie „‚Verstehst du auch, was du liest?‘. Lesen und VerstehenVerstehen im Neuen Testament“, die 1994 erschienen ist. Müllers Untersuchung fragt danach, „ob es vom Lesen im Neuen Testament etwas zu lernenLernen gibt für das Lesen des Neuen Testaments“,38 womit sein Erkenntnisinteresse im Hinblick auf literaturwissenschaftlich-rezeptionsästhetischeRezeptionsästhetik Perspektiven und Impulse für den gegenwärtigen Bibelgebrauch (Kapitel 5) schon angedeutet ist. Sein UntersuchungskorpusKorpus besteht aus den Stellen im NT, an denen Lesen explizit thematisiert wird und an denen er „Erkenntnisse über den Lesevorgang und seine Bedeutung“39 zu gewinnen sucht. Ausgehend von Act 8,26ffAct 8,26ff spitzt er die Leitfrage der Arbeit noch einmal zu auf den Aspekt des aus dem Lesen erwachsenden Verstehens der Texte (Kapitel 2), womit der Schwerpunkt der Arbeit eher als lesehermeneutisch charakterisiert werden kann. So kommt Müller dann auch zu dem Ergebnis, dass Verstehen biblischer Texte an Lese- und Interpretationsgemeinschaften gebunden ist und es die „eine Lese- und Verstehensweise der biblischen Schriften nicht gibt.“40 Die Untersuchung der einzelnen Lesestellen selbst, deren wichtige Ergebnisse unten im Einzelnen aufzunehmen sein werden, wird geleitet durch ein Modell des Lesens „in der griechisch-römischen Antike und im antiken JudentumJudentum“ (Kapitel 3), in dem Müller verschiedene kultur- und sozialgeschichtlicheSozialgeschichte Aspekte vornehmlich zusammenfassend aus der Forschungsliteratur aufarbeitet. Genau dieser Ansatz steht aber wegen des unten zu problematisierenden Forschungsstandes zum Lesen in der Antike insgesamt in der Gefahr, einzelne Stellen in den falschen Kontext zu stellen.

Der Ansätze von Gamble und Müller unterscheiden sich grundsätzlich im Hinblick darauf, wie sie die Relation der frühchristlichen LesepraxisLese-praxis zur griechisch-römischen Welt bestimmen. So hebt Gamble die weitgehenden Differenzen zwischen dem Lesen in der griechisch-römischen Welt und dem frühen ChristentumChristentum hervor. Das vorherrschende Medium der griechisch-römischen BuchkulturBuch-kultur sei die RolleRolle (scroll) gewesen, das frühe Christentum habe dagegen KodizesKodex verwendet; die griechisch-römische LesekulturLese-kultur sei die von literaten ElitenElite, im frühen Christentum sei den illiteraten Unterschichten vorgelesen worden; BücherBuch seien in der griechisch-römischen Welt publiziert und über den BuchmarktBuch-handel vertrieben worden, im frühen Christentum zirkuliertenZirkulation Bücher dagegen in privatenÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat Netzwerkstrukturen u. ä.41 Müller geht hingegen von grundsätzlichen Übereinstimmungen in Bezug auf die Lese- und Rezeptionsbedingungen der hellenistisch-römischen Antike sowie dem JudentumJudentum aus, die vor allem im „lautenLautstärkelaut“ Lesen, der ÖffentlichkeitÖffentlichkeit des Lesens und dessen Bindung an eine Lesegemeinschaft bestehe. Es seien nur unterschiedliche Akzentuierungen feststellbar, die vor allem durch die schulische und „gottesdienstlicheGottesdienst“ Verortung des Lesens im Judentum bedingt und auf griechisch-römischer Seite durch den öffentlichenÖffentlichkeitöffentlich Aufführungscharakter im Kontext der privilegierten Schichten gekennzeichnet sei.42 Diese Perspektive der Verortung der frühjüdischen und frühchristlichen Lesepraxis in der Lesekultur der griechisch-römischen Welt ist auch ein prägnantes Kennzeichen der sogenannten PerformanzkritikBiblical Performance Criticism (Biblical Performance CriticismBiblical Performance Criticism).

1.1.2Biblical Performance Criticism

Weit verbreitet in der neutestamentlichen Wissenschaft ist das Postulat, dass in der Antike grundsätzlich „lautLautstärkelaut“ gelesen wurde. Teilweise wird es sogar in der extremen Form der Ausschließlichkeit vorgetragen1 und a) dahingehend erweitert, dass Texte in der Antike (u. a. wegen des geringen LiteralitätsgradesLiteralität/Illiteralität) „normalerweise durch VorleserVorleser und in Gruppen“2 rezipiert wurden, sowie häufig b) mit der These einer primär durch OralitätMündlichkeit geprägten Kultur verbunden, in der die neutestamentlichen Schriften entstanden seien.3 Sowohl das Lesen4 als auch der Prozess der TextproduktionTextproduktion5 seien primär mündlich konzeptualisiertMündlichkeit konzeptuell gewesen.6 Dies wiederum führt zu der verbreiteten Sicht, dass antike Texte, insbesondere die neutestamentlichen, nichts anderes seien als das gesprochene Wort transformiert in ein anderes Medium.7 In Analogie zu modernen Aufnahmemedien wird daher die Schrift gerne als Speichermedium für das Wort verstanden bzw. werden antike SchriftsystemeSchrift-system in Analogie zu NotationssystemenNoten in der MusikMusik beschrieben und analysiert.8 Die Rezeptionssituation sei daher umgekehrt zu verstehen als „restoration of the book to its pristine moment of oral origin.”9

Aufbauend auf diesem Theoriegebäude, das ich hier nur in wenigen Pinselstrichen angedeutet habe und das beeinflusst ist durch das Paradigma, die antike Welt und Literatur primär unter der Kategorie „OralitätMündlichkeit“ zu beobachten,10 sowie im größeren wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang des sog. performative turns in den Kulturwissenschaften zu sehenSehen ist,11 hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten v. a. in der anglophonen Forschung eine zunehmend mehr Anhänger findende Sichtweise auf die neutestamentlichen Texte im frühen ChristentumChristentum entwickelt. Diese Sichtweise geht vom Folgenden aus: Die neutestamentlichen Texte wurden im Rahmen ihrer Erst- und frühen Folgerezeption nicht einfach gelesen bzw. vorgelesen, sondern performed. Darunter verstehen die Vertreterinnen und Vertreter dieser Sichtweise eine Vortragspraxis, die in Analogie zu antiken Dramenaufführungen und zur Vortragsweise von RedenRede aufzufassen sei. Der Fokus liegt dabei auf dem Versuch, z.B. die genaue Vortragsweise und Stimmführung im Hinblick auf den Klang der Rede/die RhetorikRhetorik, die stimmlicheStimmeRealisierungStimmestimmliche Realisierung von einzelnen RollenRolle (scroll), die Mimik und Gestik und v. a. die möglichen Reaktionen des Publikums zu untersuchen. In mehreren programmatischen Artikeln wurde dieser Ansatz von D. M. Rhoads als neue Methode der Biblischen PerformanzkritikBiblical Performance Criticism12 (Biblical Performance CriticismBiblical Performance Criticism) vorgeschlagen.13 Mittlerweile verkündet er den Ansatz sogar als Paradigmenwechsel, mit dem ein aus dem Druckzeitalter stammendes Paradigma (AutorAutor/Verfasser – geschriebener Text – individueller „leiser“ LeserLeser) abgelöst würde.14 Der Ansatz wurde ferner auch in der judaistischen Forschung adaptiert.15 Seit 2008 existiert auch eine eigene Reihe (BPCS), in der das Ziel des Ansatzes programmatisch folgendermaßen zusammengefasst wird:

„to reframe the biblical materials in the context of traditional oralMündlichkeit cultures, construct [imaginative]16 scenarios of ancient performances, learn from contemporary performances of these materials, and reinterpret biblical writings accordingly.“

Zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Biblischen PerformanzkritikBiblical Performance Criticism nehmen an, die neutestamentlichen Texte seien nicht auf der Grundlage eines Schriftmediums vorgelesen, sondern auswendigAuswendiglernen vorgetragen worden. Damit wird die Existenz von Lesen im frühen ChristentumChristentum im eigentlichen Sinne negiert – abgesehen von der Nutzung von Manuskripten zum Auswendiglernen durch das „lauteLautstärkelaut“ Sich-selbst-VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt. P. J. J. Botha geht sogar so weit, nicht nur das „leiseLautstärkeleise“ Lesen für die gesamte Antike in Frage zu stellen, sondern auch alle Formen von lesenden Zugriffen auf SchriftmedienLese-medium, die einen Text nicht linear „oralMündlichkeit“ re-realisieren17 – also z.B. einen nachschlagenden, selektivenUmfangselektiv Zugriff, das Überspringen von Passagen usw. Die vielfältigen denkbaren Möglichkeiten werden im Rahmen dieser Studie v. a. unter 3 und 6 thematisiert und an den Quellen untersucht werden. Das Memorieren hätte die Funktion gehabt, einen Text entweder vor einer Gruppe zu „performen“ oder für eine nachfolgende durch rein mentale Verarbeitung entstehende KompositionKomposition zu nutzen, die dann wiederum „oral“ (d. h. in Form eines Diktats) zu PapyrusPapyrus gebracht worden wäre.18 Hier zeigt sich der Einfluss aus der Oralitätsforschung (s. o.): In überlieferungskritischer Hinsicht (und bei faktischer Negierung der Literarkritik, da Komposition auf der Grundlage schriftlicher Quellen mit diesem extremen Ansatz faktisch ausgeschlossen wird) wird postuliert, dass etwa das MkEvMk (in einem zeitlich ausgedehnten Prozess) in performance komponiert und geschriebenSchriftGeschriebenes worden sei.19 Überhaupt wird vielfach negiert, dass es in der Antike so etwas wie vom AutorAutor/Verfasser verbindlich herausgegebene EditionenEdition gegeben habe und Botha sieht darin den entscheidenden Grund für die Entstehung von Textvarianten in der hss. Überlieferung antiker Texte.20PublikationPublikation/Veröffentlichung sei in der Antike und im frühen Christentum nichts anderes gewesen als der Akt des performativen Vortrags in einer Gruppe. Schriftliche Kopien seien lediglich mehr oder weniger zufällig durch Mitschriften oder das Herausgeben von Kopien an Freunde in Umlauf gekommen.21

Die Grundannahmen und die historische Rekonstruktion antiker und frühchristlicher LesepraxisLese-praxis im Rahmen der sog. PerformanzkritikBiblical Performance Criticism und die zuweilen zu findende Überbetonung von oralityMündlichkeit/aurality in Bezug auf die Produktion und Rezeption frühchristlicher Literatur hat L. Hurtado in einem wegweisenden Artikel zu Recht und mit überzeugenden – zuweilen allerdings angesichts des begrenzten Raumes nur angerissenen – Argumenten kritisch diskutiert und weitestgehend als crucial claims, highly dubious inferences und historical oversimplifications zurückgewiesen.22 (Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass ähnliche Thesen in Bezug auf die hellenistische Poesie in der klassischen Philologie kritisch gesehen werden.)23 Wissenschaftstheoretisch ist dies als notwendige Gegenbewegung zu verstehen, die auf die durch das neue Paradigma des sog. performative turns entstandenen blinden Flecken aufmerksam macht, die maßgeblich durch ein weitgehendes Zurückdrängen von philologischen Detailfragestellungen und eine, dem Durchsetzen von Paradigmenwechseln häufig inhärenten, zunächst einseitige HeuristikHeuristik bedingt sind. Prägnant formuliert Hurtado bezüglich des weit verbreiteten Grundnarrativs (und die nachfolgende Untersuchung wird dies auf einer viel breiteren Quellenbasis bestätigen): „[I]t is simply misinformed to assert that texts [in the Roman era] were only (or even dominantly) read aloud and in groups, and were, thus, merely appendages to ‚orality‘.“24 Er verweist zudem u. a. darauf, dass die Rolle des Diktierens im Prozess der Entstehung insb. literarischer Texte nicht überschätzt werden darf25 und weist entschieden die These zurück, das MkEvMk oder irgendein anderer Text sei in performance komponiert worden.26

Der entscheidende Einwand gegen die sozialgeschichtlicheSozialgeschichte Rekonstruktion der PerformanzkritikBiblical Performance Criticism ist aber ein methodologischer, den auch Hurtado andeutet: Die Quellen, die der Rekonstruktion performativer Präsentationen der neutestamentlichen Texte sowie der Reaktionen des Publikums zugrunde liegenHaltungliegen, stammen fast ausnahmslos aus dem Bereich der (meist narrativen, z. T. theoretischen) Reflexion antiker Dramenaufführungen und der RhetorikRhetorik bzw. sind ikonographischeLese-ikonographie Darstellung von Dramenaufführungen oder Rednern.27 Schauspieler und RednerRedner sollten aber nicht mit den Vorlesenden von Texten verwechselt werden, wie Hurtado es formuliert.28 Oder anders gesagt: Es fehlt eine historische Begründung, die m. E. auch nur schwer möglich ist, inwiefern die Quellen, die sich auf das TheaterTheater und die RedeRede beziehen, für die Rekonstruktion von diversen Vorlesesituationen herangezogen werden könnten. Es kommt hinzu, dass es sich bei der vielfach belegten recitatiorecitatio (s. auch Publikation/Veröffentlichung), auf die sich nicht nur die Vertreterinnen und Vertreter der Performanzkritik beziehen,29 um eine Institution handelt, die fest mit der Präsenz des Autors verknüpft ist und zeitlich vor der eigentlichen PublikationPublikation/Veröffentlichung eines Werkes angesiedelt ist.30 Die recitatio ist daher kein beliebig verallgemeinerbarer Rahmen für die Rezeption literarischer und poetischer Werke.31 „Going to a recitationrecitatio was not a substitute for reading. It was a (sometimes tedious and socially obligatory) prelude to reading.“32

Insgesamt ist zu kritisieren, dass durch die extreme Fokussierung auf den Aspekt der MündlichkeitMündlichkeit der Quellenbefund nur selektivUmfangselektiv wahrgenommen wird und viele, in dieser Studie zu besprechende, Facetten antiker LesepraxisLese-praxis unbeobachtet bleiben. Bei aller Kritik insbesondere an der sozialgeschichtlichenSozialgeschichte Rekonstruktion antiker Lesepraxis im Rahmen der PerformanzkritikBiblical Performance Criticism ist schon hier zu betonen, dass damit nicht in Frage gestellt wird, die RhetorikRhetorik neutestamentlicher Texte zu untersuchen.33

Zuletzt schlussfolgert aber auch Hurtado aus dem handschriftlichen Befund (v. a. aus den sog. readers’ oder reading aidsLese-hilfe (reading aid)) wie aus dem NT (insb. Mk 13,14Mk 13,14parMk 13,14 par; Lk 4,16Lk 4,16–21Lk 4,16–21; Act 13,15Act 13,15; 15,21Act 15,21; 17,10 fAct 17,10 f; 1Thess 5,271Thess 5,27; Kol 4,16Kol 4,16; Apc 1,3Apc 1,3), dass im frühen ChristentumChristentum Texte „most often in group-settings“34 gelesen, d. h. vorgelesen worden wären.35 Damit setzt er gegen die These besonderer performativer Lesungen, die ohne Textmedium ausgekommen wären, eine andere (allerdings nicht mehr weiter entfaltete) monosituative Verortung frühchristlicher LesekulturLese-kultur, an denen sich auch die Monographien von D. Nässeqvists (2016 erschienen) und B. J. Wrights (2017 erschienen) orientieren.

1.1.3Public Reading/Communal Reading

D. Nässelqvists Studie setzt sich zwar insofern von der Biblischen PerformanzkritikBiblical Performance Criticism ab, als er die Kritik Hurtados aufnimmt, die einseitige These der Performanz auswendiggelernterAuswendiglernen Texte problematisiert und die Materialgebundenheit frühchristlicher LesepraxisLese-praxis betont.1 Sein Erkenntnisinteresse liegt aber zuletzt auch darin, oralMündlichkeit delivery im Rahmen von public readingpublic reading events zu rekonstruieren.2 Dazu untersucht er zunächst die materiellenMaterialität Überreste antiker und frühchristlicher Lesepraxis in Relation zur PragmatikPragmatik des Lesens (Kap. 2), betont die Wichtigkeit von auf das Lesen spezialisierter Lektoren im Rahmen der antiken und frühchristlichen Lesepraxis (Kap. 3) und führt im Anschluss an M. E. Lees und B. B. Scotts Sound Mapping und zusätzlich gestützt auf Aussagen der antiken Rhetoriktheorie eine Methode zur Analyse des Klangs griechischer Texte ein (Kap. 4), die er dann exemplarisch an Joh 1–4Joh 1–4 vorführt (Kap. 5–8).

Ganz ins Zentrum des Forschungsinteresses rückt B. J. Wright das Thema Lesen im frühen ChristentumChristentum in seiner 2017 erschienenen Studie „Communal Reading in the Time of JesusJesus“. Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die m. E. sehr richtige Feststellung, dass Lesen insbesondere durch den starken Fokus der Forschung auf Oralitätsfragen weitestgehend vernachlässigt worden ist. Demgegenüber fordert er mit communal readingcommunal reading events eine neue control category und schreibt sich damit in einen Diskurs bezüglich bestimmter „‚quality controls‘ that must have been in place […] in order to account for the transmission of the earliest Jesus movement“ ein.3 Sein Erkenntnisinteresse liegt also vor allem darin, communal reading events als einen wichtigen Faktor in der Formierung und (textlichen) Überlieferung der Jesus-TraditionTradition zu plausibilisieren, wobei er jedoch betont, dass das Ziel seiner Studie zunächst darin liegt, zu belegen, dass communal reading events ein weit verbreitetes Phänomen im ersten Jh. n. Chr. gewesen seien.4 Weiterführende (und die eigentlich spannenden) Fragen, wie genau communal reading events die Transmission christlicher Traditionen im 1. Jh. steuerten u. ä., könnten dann erst auf der Grundlage der Beantwortung dieser Frage bearbeitet werden.5 Die Untersuchung selbst besteht dann aus einem Teil (Kap. 3f), in dem er die politischen, wirtschafts- und sozialgeschichtlichenSozialgeschichte Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Bedingungen von communal reading events auswertet und auf einige sehr wichtige Punkte hinweist, die, insbesondere in der anglophonen neutestamentlichen Forschung, ein primär an „OralitätMündlichkeit“ ausgerichtetes Paradigma verfolgt, zuweilen nicht beachtet werden.6 Darauf folgt ein umfangreicher Teil, in dem er Quellen zu communal reading events in der paganen, jüdischenJudentum und christlichen Literatur, die er in das erste Jh. datiert, zusammenträgt (Kap. 5f). Am Ende resümiert er: „Overall, the findings show that communal reading events were more common and widespread geographically in the first century CE than the current academic consensus assumes.“7

Das zentrale methodische Problem der beiden Studien besteht darin, dass sie durch ihren Fokus auf communal readingcommunal reading events ihre HeuristikHeuristik enorm einschränken und ihre Thesen weitestgehend nur auf solchen Quellen basieren, die auf Vorleseszenen verweisen. Evidenzen für LesepraktikenLese-praxis jenseits von communal reading events bleiben hingegen völlig (bei Nässelqvist größtenteils) ausgeblendet. Schwierig ist außerdem, wie im Laufe der Untersuchung deutlich werden wird, Nässelqvists These einer ubiquitären Verbreitung (und gleichsamen Notwendigkeit) sog. Lektoren, die für das Lesen bzw. die performativen Lesungen zuständig gewesen wären.8 Auch seine Thesen zum Zusammenhang zwischen dem hss. Befund und der Lesepraxis werden im Rahmen dieser Arbeit zu problematisieren sein. Zudem wird zu fragen sein, ob die von ihm untersuchten „phonologischenPhonologie“ Strukturen eines Textes zwingend in ausschließlicher Relation zu public readingpublic reading events stehen müssen. Bei der Arbeit von Wright kommt hinzu, dass er sämtliche Quellen, auch solche, in denen sehr unspezifisch von Lesen die Rede ist, konsequent seiner Kontrollkategorie zuordnet. Dabei missachtet er z. T. argumentative oder literarische Kontexte; zudem fehlt eine methodologische Reflexion der Schwierigkeiten, von literarischen Darstellungen von Lesepraktiken auf die sozial-historische Wirklichkeit zu schließen. So belegen einige Quellen, die er anführt, wahrscheinlich bzw. sicher keine communal reading events:

P. Oxy. 31 2592 ist keine Einladung zu einem communal readingcommunal reading event, wie Wright suggeriert,9 sondern zu einem GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl im Serapeion. Ob dort gelesen wurde, geht aus dem PapyrusPapyrus nicht hervor. Wenn in Prop. Properz2,24,1f geschriebenSchriftGeschriebenes steht, Properz’ Schrift Cynthia werde überall auf dem ForumForum gelesen (toto Cynthia lectalego foro), ist hier kein communal reading event und keine RezitationRezitation gemeint, sondern viele individuell Lesende, wie u. a. Prop. 3,3,19f zeigt.10 Diog. 12,1 ist nicht nur wegen der Diskussion um den sekundären Charakter der letzten beiden Kapitel des Diognetbriefes (communis opinio), schwierig; auch geht aus der Formulierung (selbst wenn man die literarische Einheit annehmen würde) keinesfalls hervor (s. u. Anm. 392, S. 468), dass ein communal reading event vorauszusetzen wäre.11 Inwiefern Pap 2[!],3 (Eus.Eusebios von Caesarea h. e. 3,39,8) ein communal reading event belegen sollte, bleibt mir völlig schleierhaft.12 Der dort in ungenauer englischer Übersetzung angegebene Text, der allem Anschein nach nicht im Griechischen geprüft wurde, gehört zudem zum einleitenden Rahmen Eusebs und nicht zum Wortlaut von PapiasPapias, sodass eine Datierung ins 1./2. Jh. falsch ist. Diese Kritik gilt auch für das als Fragment 7 aus dem Ebionäerevangelium angegebene ZitatZitat, das aus dem einleitenden Rahmen bei Epiphanius stammt (Epiph.Epiphanius von Salamis panar. 30,22,4) und das definitiv nicht auf gemeinschaftliches Lesen verweist.13 Auch seine Interpretation von Ps.-Apollod.Apollodor von Athen bibl. 3,5,8 (52) als Beleg für ein communal reading event14 basiert auf der ungenauen englischen Übersetzung durch J. G. FRAZER. Die auf S. 215 zitierte Stelle aus den Oracula Sibyllina belegt definitiv kein communal reading event (s. u. Anm. 75, S. 126) und ist auch nicht ins 2 Jh. v.–1. Jh. n. Chr. zu datieren. Der zitierte Satz stammt aus dem (eindeutig christlichen) redaktionellenRedaktion/redaktionellPrologProlog (Sib. prol.), der nicht vor dem 6. Jh. n. Chr. entstanden ist.15 Wenn FrontoFronto, Marcus Cornelius in einem seiner Briefe an Antoninus Pius schreibt, dieser würde im TheaterTheater oder beim BankettSymposion (convivium) wiederholt lesen (lectitolectito; Front. ep. 4,12), so ist hier vermutlich eher gemeint, dass er für sich selbst liest.16 Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen.

Konkret wird seine enge HeuristikHeuristik etwa daran deutlich, dass er einerseits sowohl ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω als auch ἐντυγχάνωἐντυγχάνω als „common markers of communal readingcommunal reading events“ versteht.17 Hier zeigt sich als Desiderat das Fehlen einer eingängigen lexikologischen und semantischen Analyse der griechischen und lateinischen Leseterminologie. Zahlreiche andere Termini, die Lesen bzw. die Rezeption von Texten anzeigen, werden andererseits überhaupt nicht berücksichtigt. Wie schon bei den zuvor diskutierten Ansätzen handelt es sich daher bei Nässelqvists und Wrights Ansatz ebenfalls um eine monosituative Verortung des Lesens im frühen ChristentumChristentum, wobei die Kategorie WortgottesdienstGottesdienstWort-/liturgische Lesung o. ä. durch das public/communal reading event ersetzt, dabei aber freilich breiter in der griechisch-römischen Welt kontextualisiert wird. Den meisten der skizzierten Forschungsbeiträge, die das Lesen im frühen Christentum monosituativ verorten, ist gemein, dass sie im Rahmen eines breiteren Diskurses in den altertumswissenschaftlichen Fächern stehen und davon beeinflusst sind. Dieser Diskurs und dessen problematische Implikationen sind im Folgenden zu beleuchten.

1.2Die lange Debatte um die Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen in der Antike

Die Erforschung des Phänomens „Lesen“ ist in der altertumswissenschaftlichen Forschung v. a. im 20. Jh. maßgeblich von der Frage nach dem „lautenLautstärkelaut“ und „leisenLautstärkeleise“ Lesen dominiert worden. Da hier wichtige methodische Implikationen und hermeneutische Grundfragen des Zugangs zum Thema deutlich werden, sind an dieser Stelle einige Bemerkungen zu dieser Debatte notwendig. Den locus classicus, von dessen Interpretation die Diskussion maßgeblich geprägt ist, bildet ein Bericht von Augustinus über die LesepraxisLese-praxis von AmbrosiusAmbrosius von Mailand in seinen Confessiones. Ein Auszug daraus sei zur besseren Verständlichkeit der Debatte vorweg abgedruckt:

„Ich [scil. Augustinus] seufzte noch nicht im Gebet, dass du mir zur Hilfe kommst, sondern mein Geist strengte sich an zu forschen und sehnte sich nach Disputation. […] Auch wußte er [scil.AmbrosiusAmbrosius von Mailand] nichts von meinen Unruhen noch von dem Abgrunde meiner Gefahr, weil ich ihn nicht nach Wunsch fragen konnte. Denn von seinem OhrOhr und Munde war ich abgesperrt durch ganze Haufen geschäftiger Leute […]. Und war er einmal von diesen Leuten nicht umgeben, was immer nur sehr kurze Zeit der Fall war, so stärkte er seinen Leib […] oder erquickte durch Lektüre [lectiolectio] seine Seele. Wenn er aber las, ziehen seine AugenAugen über die Seiten hin, und das Herz drang in ihr Verständnis, StimmeStimme und Zunge jedoch ruhten. (sed cum legebatlego, oculi ducebantur per paginas et cor intellectum rimabatur, uox autem et lingua quiescebant.) Oft, wenn ich zugegen war – denn niemandem war verboten, einzutreten, und es war nicht Brauch, ihm die Besuchenden zu melden –, hab ich ihn so gesehen, und nie anders, als schweigend lesend (sic eum legentem uidimus tacite). Dann saß ich lange schweigend bei ihm – denn wer hätte es gewagt, dem so in sich Versunkenen zur Last zu werden? – und ging wieder weg und dachte mir, in jener kurzen Spanne Zeit, die er […] für sich und zur Erholung seiner Seele gewinnen könne, wolle er nicht zu anderen Dingen hingezogen werden. Und leiseLautstärkeleise las er, wohl deshalb, daß nicht ein wißbegieriger und aufmerksamer HörerHörer ihn zwingen könne, eine dunkle Stelle, die er eben las, ihm aufzuklären und ihm in irgendwelcher schwierigen Frage Rede zu stehen. Darüber wäre so viel Zeit verloren gegangen, dass er das BuchBuch nicht so weit hätte auseinanderrollen [also lesen] können (voluminum evolveretevolvo), wie er gewollt hätte. Auch wenn er durch das schweigende Lesen nur seine Stimme, die leicht heiser wurde, hätte schonen wollen, so wäre dies ein billiger Grund gewesen. In welcher Absicht er es auch getan, sicher tat er immer gut.“ (Aug.Augustinus von Hippo Conf. 6,3; Üb. angelehnt an HEFELE).

Die bis heute vorherrschende, maßgeblich auf der Grundlage dieser Quelle gebildeten communis opinio lässt sich mit dem folgenden Satz aus dem Aufsatz von J. Balogh, der die Grundlage für die Debatte legte, zusammenfassen: „Der Mensch des Altertums las und schrieb in der Regel lautLautstärkelaut; das Gegenteil war zwar nicht unerhört, doch immer eine Ausnahme.“1 „Leises“ Lesen sei sogar als etwas Ungewöhnliches wahrgenommen worden.2 Diese These ist in den altertumswissenschaftlichen Fächern in vielfältigen Varianten wiederholt und zur Bildung verschiedenster Hypothesen (insb. im Hinblick auf die Orality-Literacy-DebatteMündlichkeit) herangezogen worden, wie im Rahmen dieser Arbeit noch an unterschiedlicher Stelle deutlich wird.3 Und auch in der neutestamentlichen Wissenschaft ist diese Sicht weit verbreitet, wie oben gezeigt wurde.

Vor dogmatischen Vorfestlegungen, es habe in der Antike kein „leises“ Lesen gegeben, warnt jedoch der geistesgeschichtliche Kontext der Forschungstradition, aus der diese These stammt: Baloghs Forschungsfrage, die ihn zu oben zitiertem Urteil führt, ist nämlich von einer kulturkritischen und z. T. modernitätskritischen TraditionTradition des 18. und 19. Jh. beeinflusst, die normativ am Vorbild der Antike ausgerichtet ist.4

Beispielhaft formuliert C. M. Wieland in seiner Übersetzung zu Lukian.Lukian von Samosata adv. ind. 2:5 „Diese Stelle beweiset […], daß die Alten (wenigstens die Griechen) alle BücherBuch, die einen Werth hatten, lautLautstärkelaut zu lesen pflegten, und daß es bey ihnen Regel war, ein gutes Buch müsse laut gelesen werden. Diese Regel ist so sehr in der NaturNatur der Sache gegründet, und daher so indispensabel, daß sich mit diesem Grunde behaupten lässt, alle Dichter […] von Talent und Geschmack müssen laut gelesen werden, wenn nicht die Hälfte ihrer Schönheit für den LeserLeser verlohren gehen sollen.“6

Die Fortschreibung dieser kulturkritischen, an die Kulturkritik der Antike anknüpfenden Sicht im Zeitalter des industriellen Buchdruckes wird auch in einem ebenfalls in den 20er Jahren des 20. Jh. erschienenen, englischsprachigen Artikel deutlich:

„… from Homer – a world without books and written records – down to Plato, where books are stillLautstärkestill new, though plentiful, is but a step, and so to our own day which groans beneath their burden. Almost within the memory of men now living the printed page has brought about the decline, if not the death, of oratory, whether of the parliament, the bar, or the pulpit; the newspaper and the review, anticipating every subject of comment, have killed conversation and debate; the learned archive or scientific journal renders the gatherings of scholars insignificant for purposes other than convivial; and books have in large degree displaced the living voiceStimmelebendige (viva vox) of the teacher. Books have created, as Plato prophesied, an art of forgetfulness, in that no one longer gives his mind to remembrance of that which can be consulted at leisure. The art of writing was to be sure in Plato’s time nothing new; but the Greek book, the accessible and convenient repository of other men’s thought, was scarcely yet a century old.“7

Stutzig macht zudem, schaut man Disziplinen übergreifend auf die Forschungsliteratur zur Geschichte des Lesens, die in aller Regel als Fortschrittsgeschichte geschriebenSchriftGeschriebenes wird, dass das „leiseLautstärkeleise“ Lesen in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte mindestens fünfmal „erfunden“ wird.

(1) So vertritt der klassische Philologe J. Svenbro8 die These, das „leiseLautstärkeleise“ Lesen sei im 5. Jh. v. Chr. entstanden. Die Entwicklung vom „lautenLautstärkelaut“ zum „stillenLautstärkestill“ Lesen kann Svenbro in diachroner Hinsicht an Veränderungen im Selbstverständnis von InschriftenInschriften zeigen. Während die früheren Inschriften, insbesondere aus der archaischen Zeit, darauf angewiesen waren, dass der LeserLeser „seine StimmeStimme der stummen Inschrift leiht“9, findet man seit dem 5. Jh. das Phänomen von sprechenden Objekten oder Gegenständen sowohl in Bezug auf Inschriften als auch in der Reflexion dieses Phänomens in den Quellen:10 Insbesondere die Korrelation dieses Wandlungsprozesses mit der Entwicklung in der Theorie der visuellenvisuell Wahrnehmung im 5. Jh. v. Chr., die bei EmpedoklesEmpedokles, LeukippLeukipp und DemokritDemokrit deutlich wird, ist ein sehr starkes Argument. So wird hier die Vorstellung, dass das SehenSehen durch einen Strahl aus dem AugeAugen möglich wird, durch die atomistische Theorie ersetzt, in der die Möglichkeit des Sehens auf die Emission von kleinsten Teilchen durch den gesehenen Gegenstand zurückgeführt wird – in Bezug auf die Frage nach dem Lesen also „das Geschriebene seine Bedeutung zum Auge hin aussendet.“11 Zudem findet Svenbro im kulturellen Kontext des 5. Jh. die Vorstellung einer inneren Stimme, einer Stimme im Kopf;12 also eine Vorstellung die eine notwendige Voraussetzung für das „stille“ Lesen darstellt. Auf diese innere StimmeStimmeinnere (inner reading voice), die in der neueren LeseforschungLese-forschunginner reading voice genannt wird, wird später zurückzukommen sein.

Svenbro zeigt damit, dass sowohl die InschriftenInschriften als auch die direkten Zeugnisse für das „leiseLautstärkeleise“ Lesen im 5. Jh. v. Chr., die schon B. Knox gegen die maßgeblich von J. Balogh geprägte communis opinio in Stellung gebracht hatte,13 „ein und dieselbe Interiorisierungsbewegung [belegen], die im Verlauf des 5. Jahrhunderts vollzogen wurde […] [–] die Interiorisierung der StimmeStimme des LesersLeser, der nunmehr in der Lage ist, ‚in seinem Kopf zu lesen‘.“14 Die Grundlage für die Entwicklung hin zum „stillenLautstärkestill“ Lesen sei in pragmatischerPragmatik Hinsicht die Notwendigkeit größere Textmengen zu bewältigen;15 stärker wiege aber noch eine qualitative Veränderung in der HaltungHaltung gegenüber GeschriebenenSchriftGeschriebenes, die maßgeblich durch die Erfahrungen im TheaterTheater induziert gewesen sei. Denn durch die Transformation des dramatischen Textes auf der Bühne entsteht eine größere Differenz zwischen dem dramatischen Text, der „vokalen Kopie“ auf der Bühne und dem hörenden und sehenden (!) PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) als zwischen dem selbst oder anderen vorgelesenen Text in der lautlichen Realisierung beim „lautenLautstärkelaut“ Lesen. Durch diese Trennungserfahrung zwischen Geschriebenem und Leser sei die neue Haltung gegenüber Texten und damit das „leise“ Lesen ermöglicht worden.16

„Der traditionelle LeserLeser, der seine StimmeStimme braucht, um die graphische Sequenz ‚wiederzuerkennen‘ [=ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω], unterhält mit dem GeschriebenenSchriftGeschriebenes auf der Ebene der Verlautlichung eine spürbar aktive Beziehung (obwohl er gegenüber dem Schreiber, dessen Programm er ausführt, die Rolle des ‚passiven Partners‘ einnehmen kann). Um seine instrumentelle Funktion auszuüben, muß er eine geistige und physische Anstrengung vollziehen, sonst blieben die BuchstabenBuch-stabe ohne Bedeutung. […] Die Aktivität des stillLautstärkestill Lesenden wird nicht als eine Anstrengung zur Dechiffrierung erlebt, es ist eine Aktivität, die als solche nicht bewußt ist (so wie die interpretative Aktivität des ‚Ohrs‘, das eine bedeutungstragende Lautsequenz hört, eine sich als solche ignorierende Aktivität ist […]). Ihre ‚Wiedererkennung‘ des Sinns ist unmittelbar; ihr geht kein opaker Moment voraus. Der in seinem Kopf Lesende braucht das Geschriebene nicht durch seine Stimme zu aktivieren oder zu reaktivieren. Die Schrift scheint ganz einfach zu ihm zu sprechen. Er hört seine Schrift – so wie der Zuschauer im TheaterTheater die Vokalschrift der Schauspieler hört. Das visuellvisuell ‚(wieder)erkannte‘ Geschriebene scheint die gleiche Autonomie zu besitzen wie die Theateraufführung. Die Buchstaben lesen sich – oder vielmehr: sagen sich – von selbst. […] Die Buchstaben, fähig zu ‚sprechen‘, können auf das Eingreifen einer Stimme verzichten. Sie besitzen bereits eine. Es ist am Leser, bloß ‚zuzuhören‘ – im Inneren seiner selbst.“17

(2) Laut G. A. G. Stroumsa liegt der Ursprung des „leisenLautstärkeleise“ Lesens, dessen Durchsetzung allerdings einen langen Zeitraum in Anspruch genommen habe, in der Bibellektüre christlicher Mönche in der Spätantike, stehe auch im Zusammenhang mit dem Medienwechsel von der RolleRolle (scroll) zum KodexKodex und habe erstmals zu einer Internalisierung der heiligen SchriftHeilige Schrift(en) geführt und ein neues religiöses System etabliert:

„Side by side with the passage from roll to CodexKodex