Let's Jump - Sandra-Maria Erdmann - E-Book

Let's Jump E-Book

Sandra-Maria Erdmann

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Beschreibung

Eigentlich hatte die 15-Jährige Lu sich ihre Sommerferien anders vorgestellt, doch um die Deutsch-Nachprüfung zu bestehen, muss sie ein Buch lesen. Viel lieber würde sie für das große Street-Sport-Festival ihre Parkour-Skills trainieren, aber an dem darf sie nur teilnehmen, wenn sie in die 10. Klasse versetzt wird – so lautet die Bedingung ihrer Eltern. Dafür engagieren die sogar extra den zwei Jahre älteren Streber Sam als Nachhilfelehrer. Doch Lu hat ein Geheimnis, von dem nicht einmal ihr bester Freund Matteo weiß: Sie kann nicht richtig lesen. Die Challenge, Sam loszuwerden, bevor er hinter ihr Geheimnis kommt, scheitert an seiner stoischen Ruhe. Schlimmer: Er ist ein Parkour-Läufer aus dem verhassten Konkurrenzteam und mag es, Lu immer wieder herauszufordern. Im Lesen und beim Sport. Als Sam zur Überraschung aller für einen verletzten Teamkollegen beim Festival einspringen soll, ist Lus Gefühlsleben längst aus dem Gleichgewicht geraten.

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Let‘s Jump

Über alle Hindernisse

 

Ein Roman

von

Sandra-Maria Erdmann

Vergleiche

 

»Im Parkour gibt es keine Regel, die für eine bestimmte Situation genau eine Technik kennt. Im Wesentlichen geht es darum, Hindernisse auf effiziente und elegante Art zu überwinden. Darum gibt es beim Parkour auch keinen Wettbewerb, keine Vergleiche, keinen Druck, besser zu sein als der andere. Es geht nur um die eigenen Ziele. Um das, was du erreichen willst.«

Sam

Mittwoch… noch 52 Tage bis zum krassesten Event aller Zeiten

 

Ich langweile mich zu Tode. Asterix bricht wie in jeder Geschichtsstunde vor den Sommerferien zu Kleopatra auf, doch niemand guckt hin. Sogar Frau Meyerhoff spielt am Handy, obwohl der Trickfilm ihre Idee gewesen ist. Wahrscheinlich hat sie vor den Ferien genauso wenig Bock auf Unterricht wie der Rest unserer Klasse. Ich klemme einen Bleistift zwischen Nase und Oberlippe, stoße mich mit dem Knie vorsichtig vom Tisch ab und kipple auf den Hinterbeinen vor und zurück. Mein bester Freund Matteo hat den Kopf auf die Tischplatte gelegt und tut, als würde er schlafen. Wie ein Vorhang verdecken seine hellbraunen Haare das dreieckige Muttermal über der linken Augenbraue. Unser inoffizielles Zeichen, dass wir vom selben Stern kommen. Bei mir sitzt ein ähnliches unter dem rechten Auge. Höchstwahrscheinlich sind wir von Außerirdischen auf der Erde ausgesetzt worden, um irgendwann die Weltherrschaft zu übernehmen … Kichernd stecke ich ihm meinen Bleistift hinters Ohr und mache ein Video mit Blümchenfilter.

»Lass das, Lu!« Mit einem Wisch katapultiert Matteo den Bleistift über die Tischplatte. Unterm Stuhl vor mir bleibt er liegen. Die Meyerhoff merkt nichts.

Ich kann mir kaum das Lachen verkneifen, während ich die fünf Sekunden erneut abspiele. »Das Video behalte ich für den Fall, dass ich dich irgendwann erpressen muss«, flüstere ich ihm zu.

»Pff. Als ob.« Matteo dreht den Kopf zur Wand. Angeblich hat er bis drei Uhr am letzten Video für unser Team gebastelt. Wahrscheinlicher ist es, dass er die halbe Nacht gezockt hat.

»Dann eben für meine persönliche Sammlung peinlicher Matteo-Fotos«, sage ich.

Mit dem Fuß angle ich nach dem Stift. Damit kritzle ich die Figuren des Trickfilms auf die Tischplatte. Direkt neben unser Team-Logo, das ich vor Aufregung gezeichnet hab, nachdem die Bestätigung zur Teilnahme am krassesten Event aller Zeiten im Briefkasten lag. Wir Flying Pandas sind nicht nur die hottesten Parkour-Läufer im gesamten Ruhrpott, wir werden auch beim Street-Sport-Festivals teilnehmen. Weil wir wirklich wild sind … Ich lasse den Stuhl auf den Hinterbeinen vor- und zurückschaukeln, betrachte mein Kunstwerk auf der hellen Tischplatte. Obelix ist mir am besten gelungen. Ohne den Helm ähnelt er Hausmeister Lehmann.

»Matteo. Guck mal!« Ich klopfe mit dem Stift auf den Tisch, bis er sich umdreht. »Kleopatra sieht doch ein bisschen wie Tessa aus. Findest du nicht?« Unsere gemeinsame Freundin hat sich kürzlich ihre Haare auf Schulterlänge geschnitten und schwarz eingefärbt, weil sie erfahren hat, dass Matteo nicht auf langhaarige Blondinen steht. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum sie es bei ihm nicht endlich aufgibt.

Grinsend tippt Matteo auf Cäsar. »Und der hat was von deinem Lieblingslehrer.«

Bam! Das Bild eines hochgewachsenen, hageren Mannes mit Hugo-Big-Boss-Brille und sündhaft teuren Turnschuhen springt mir in den Kopf.

Caralho! Caralho! Caralho!

Ich habe den Termin mit Doc Schröder vergessen. Der killt mich. Diesmal wirklich. Garantiert! Matteo, Tessa und ich sind in der Pause heimlich vom Schulgelände geschlichen, um den vorvorletzten Schultag der neunten Klasse zu feiern. Dabei muss mir die Verabredung irgendwie aus dem Kopf gepurzelt sein.

Ich springe auf. Der Stuhl kracht zu Boden und alle – inklusive der Meyerhoff – starren mich an.

»Was ‘n los?«, flüstert Matteo.

Geräuschlos stelle ich den Stuhl zurück auf die Beine. »Schröder wollte mir in der ersten Pause das Material für die Nachprüfung geben«, raune ich zurück. Bisher sind Tessa und er die Einzigen aus der Klasse, die davon wissen, und das darf gern so bleiben. Dazu kommt, dass ich Idiotin unter elterlichem Beifall und nicht gekreuzten Fingern einem Vertrag unterschrieben habe. Bleibe ich sitzen, fällt das Street-Sport-Festival für mich aus. Dabei ist unser Parkour-Team aus 900 Mitbewerbern für die offizielle Teilnahme ausgewählt worden. Leider bin ich bei Vertragsabschluss davon ausgegangen, dass ich mich auch durch die neunte Klasse mogeln kann, ohne dass meine Leseschwäche rauskommt. Bisher hat die mündliche Mitarbeit auch immer für eine Gnaden-Vier gereicht, aber Schröder will alles schriftlich. Damit hat er mir die Versetzung gestohlen und mich für die Nachprüfung in Deutsch nominiert. Meine Eltern glauben, ich müsse mich einfach mehr anstrengen. Mich besser konzentrieren. Bullshit. Unter Druck kann ich die Inhalte nicht erfassen, egal wie sehr ich mich anstrenge oder konzentriere. Doch das kann ich weder meinen Eltern oder Tessa noch Matteo erzählen, ohne für den letzten LUser gehalten zu werden.

»Bin gleich zurück«, sage ich.

»Viel Glück.« Matteo hebt einen Daumen und lächelt mir aufmunternd zu. Dabei kommt die Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen zum Vorschein, die Tessa so süß an ihm findet.

»Danke.« Glück werde ich brauchen, denn Schröder hasst mich seit dem Vorfall im März. Matteo hat gewettet, ich würde mich nicht trauen, bei Schröder in Jogginghosen aufzutauchen. Der schickt nämlich jeden nach Hause, der seinen heiligen Unterricht durch Anwesenheit in Jogginghosen entweiht. Einige machen das extra, wegen der Freistunde, aber ich hasse es einfach, Wetten gegen meinen besten Freund zu verlieren. Doch seit der Aktion habe ich Doc Schröders vollste Aufmerksamkeit und ‘ne Fünf in Deutsch!

Bei Frau Meyerhoff täusche ich einen dringenden monatlichen Notfall vor und stürme aus der Klasse. Hoffentlich hat Doc Schröder keinen Unterricht. In Wahrheit ist er gar kein Doktor, sondern umgeschulter Redakteur vom WDR. Er ist vor Weihnachten für Goeddeke gekommen, der in Elternzeit gegangen ist. Wir haben ihm die Doktorwürde nach seinem zweiten Auftritt in unserer Klasse verliehen. Matteo vermutet Midlife-Crisis. Er kennt sich damit aus, denn er hat seinen Vater vor drei Jahren selbst an eine Krise verloren. Seitdem lebt er mit seiner Mom allein in der viel zu großen Wohnung über uns, während sein Dad ‘ne neue Familie gegründet hat.

Ich renne den leeren Schulflur entlang. Meine Schritte hallen von den kahlen Wänden wider. Plötzlich öffnet sich die Tür vom Chemieraum und spuckt Herrn Giesenbrauck aus. Augenblicklich reduziere ich die Geschwindigkeit und grüße freundlich lächelnd.

»Hast du keinen Unterricht?«, fragt er.

»Muss was holen«, entgegne ich. Sobald ich an ihm vorbei bin, erhöhe ich das Tempo wieder.

»Und nicht rennen!«, höre ich Giesenbrauck hinter mir herrufen.

Ich versuche langsamer zu laufen, doch das ist Schwerstarbeit für mich. Meine Mutter behauptet, dass ich als Säugling schon keine Zeit verlieren wollte und fast auf der Wiese vor dem Krankenhaus zur Welt gekommen wäre. So what?

Vor dem Sekretariat atme ich einmal tief durch. Kurz darauf klopfe ich am Lehrerzimmer.

Nichts. Ich lasse eine meiner langen dunkelbraunen Locken um einen Finger wandern und klopfe erneut. Diesmal lauter.

Ist niemand hier? Mit der flachen Hand schlage ich zweimal gegen die Tür. Der Knall hallt durch den leeren Schulflur, vermischt sich mit dem Ton, den mein wippender Fuß auf dem Linoleumboden hinterlässt. Ob ich meinen Lieblingssong nachquietschen kann? Doch als irgendwo ein Fenster zuschlägt, komme ich aus dem Takt.

Es muss jemand im Lehrerzimmer sein! Mit der Faust hämmere ich so fest gegen die Tür, dass es von hier bis nach Essen zu hören sein muss, ach was, bis hinter die Alpen auf der Mittelmeerinsel Santorini, wo einmal jährlich die besten Parkour-Athleten beim BluePork-Motion-Contest gegeneinander batteln.

Hausmeister Lehmann aka Obelix öffnet schnaufend. »Ja?«

»Luisa Ferreira. Ist Herr Schröder da?«

»Moment.« Hinter Lehmann fällt die Tür erneut ins Schloss.

Caralho! Ich laufe drei Schritte bis zum Fenster. Die Sonne knallt unbarmherzig auf den Schulhof. O Mann, wie gerne wäre ich jetzt auf meiner Tagtrauminsel. Mein Santorini. Dorthin träume ich mich immer, wenn es mal wieder länger dauert. Denn nur zusammen mit the world’s most famous Parkour-Athlet Béla Ponat kann ich in Gedanken auf den weißen Dächern von Santorini sitzen und die Zeit verstreichen lassen, ohne nervös zu werden. Wenn dieser Traumtyp seinen Arm um mich legt, macht es mir nichts aus, dem Meer beim Glitzern zuschauen oder einfach nur Richtung Horizont zu starren …

Die Tür geht wieder auf. Na endlich!

Schröders verkniffenes Gesicht und das Buch in seiner Hand lassen mein Mut-Level auf den Tiefpunkt sinken, während sich mein Pulsschlag verdoppelt. Hoffentlich ist das Buch nicht für mich.

»Frau Ferreira, welche Überraschung. Was hat dich in der Pause aufgehalten?«

Ich starre auf Schröders Turnschuhe, zähle innerlich bis drei. »Hab‘s vergessen«, flüstere ich. Das ist nicht mal gelogen. Die ganze Wahrheit kann ich schlecht sagen, weil sich Neuntklässler nicht vom Schulgelände entfernen dürfen. Schon gar nicht heimlich. Zur Nachprüfung noch ein Schulverweis? Das würde mein Taschengeldkonto auf Lebenszeit einfrieren. »Tut mir echt leid.«

»An deiner Vergesslichkeit solltest du dringend arbeiten, Luisa.« Doktor Schröder hält mir das Buch entgegen.

Ich habe es befürchtet! Wie in Zeitlupe greife ich danach. »Ist doch nur ein Büchlein«, höre ich die Stimme meiner Freundin Tessa im Kopf widerhallen.

Klar, wer 300 Seiten in zwei Tagen verschlingt, kann hierrüber nur lachen. Damit lösen sich meine Ferien gerade in Luft auf, denn ich kann nicht lesen. Also nicht besonders gut und schon gar nicht in ausreichendem Tempo. Ehrlich gesagt, ist meine Lesekompetenz irgendwann zwischen der ersten und zweiten Klasse abhandengekommen. Es reicht immer gerade so, um eben noch so durchs Schuljahr zu schlittern, aber niemals für ein ganzes Buch in sechs Wochen …

Ich schlucke. Na ja, dick ist es echt nicht, vorn auf dem Bild eine Frau mit Hut … Der Bes-uch der alt-en … Die Buchstaben lösen sich vor meinen Augen aus der Zeile und tanzen wild durcheinander. Moment. Wie viele Seiten hat das Ding? Hastig blättere ich. Hundert? Bestimmt über hundert. 155! Mist. Das wird ewig dauern.

»… das Buch in der Parallelklasse gelesen«, höre ich Doc Schröders Stimme aus dem Lehrerzimmer. Er kommt mit Zetteln zurück. »Hier sind noch ein paar Anmerkungen, wie du ein Lesetagebuch führst. Hast du das schon mal gemacht?«

Ich nicke geistesabwesend. Irgendwann habe ich das bestimmt schon mal gemacht. Aber zugeben, dass ich keine Ahnung habe? NEVER!

»Auf dem letzten Blatt habe ich alles noch einmal für dich zusammengefasst. Versuche die Fragen nach der Bedeutung für unsere Zeit und den geschichtlichen Zusammenhang mit stilistischen Mitt–«

Geschichte? Ich dachte Deutsch. Schnell betrachte ich das Buch. Die Frau auf dem Bild …

»Luisa?«

»Was? Ja, danke, ich gebe mir Mühe.«

»Hast du mir überhaupt zugehört?«

»Ja, klar.« Kein Schimmer, was er von mir will. Irgendwo zwischen Personalbogen und stylischen Mitteln bin ich ausgestiegen. Hastig wische ich meine schwitzigen Finger an den Shorts ab.

»Du kannst mich per E-Mail erreichen, falls du Hilfe brauchst. Hast du noch Fragen?«

Tausende! Sie kreisen wie ein knallbuntes Kirmeskarussell in meinem Kopf herum, aber aus irgendeinem Grund kann ich sie vor Schröder nicht aussprechen.

»Also nicht«, schlussfolgert er aus meinem Schweigen. »Viel Erfolg. Wir sehen uns am Montag, bevor die Schule wieder losgeht. Schöne Ferien.« Rums. Tür zu.

Die plötzliche Stille im Schulflur schmerzt in den Ohren. Geschichte. Stile. Personifi-was? Und dann soll ich noch ein ganzes Buch lesen. Herzlichen Glückwunsch, Lu …

Ich laufe los, renne und springe vom Treppenabsatz die Stufen hinunter. Die Landung echot durch den leeren Schulflur. Nur Schröders Stimme in meinem Kopf übertönt sie nicht. Die begleitet mich bis zurück ins Klassenzimmer.

Ich werfe Buch und Zettel auf den Tisch. Matteo schreckt auf. »Fröhliche Ferien hat er gesagt, der Arsch!«

Matteos Augen huschen über die Lektüre. »Der Besuch der alten Dame. Sagt mir gar nichts. Musst du das lesen?«

»Nein, vortanzen! Natürlich muss ich das lesen«, raunze ich so laut, dass sich die Meyerhoff zu uns umdreht. Schnell setze ich mich.

»Keine Ahnung«, entgegnet Matteo beleidigt. »Hab‘ noch nie eine Nachprüfung gemacht. Woher soll ich wissen, was du tun musst?«

»Ja. Sorry. Ist auch meine erste«, sage ich versöhnlicher. In die Tischplatte hat jemand die Initialen A+T mit einem Herz drum herum eingeritzt. Vorsichtig gleite ich mit dem Fingernagel über die Rillen. Ob es einen Film zum Buch gibt? Wer sagt denn, dass ich das Ding lesen muss? Unterm Tisch gebe ich den Buchtitel Buchstabe für Buchstabe in die Suchanfrage ein. Und Enter.

Ach du …

Es gibt einen in Schwarz-Weiß. Von 1959.

Und in Farbe. Als Theaterstück. Ich lass das erste Video anlaufen.

»Ah, es ist echt was über alte Leute.« Schnell drücke ich den Film weg. Diesmal lege ich meinen Kopf auf die Tischplatte. Die Beschichtung darauf kühlt meine Wangen. »Ich brauche einen Plan.«

»Verrückte Pläne sind doch dein Spezialgebiet.«

Prinzipiell hat er recht. Seufzend schließe ich die Augen und sehe Schröders Gesicht vor mir. Ich werde nicht durch die Prüfung fallen. Bisher habe ich immer geschafft, was ich mir vorgenommen habe. Warum soll es diesmal anders sein? Weil ich ein Buch lesen muss, obwohl ich zu blöd dafür bin? Innerlich lache ich auf.

Mit dem Fuß tippe ich Matteo an. »Lust auf einen spaßigen Filmabend mit deinem Panda-Twinno und dieser netten alten Dame hier?« Ich halte Matteo den Bildschirm entgegen. »Bei mir, mit Popcorn, Chips und Übernachtungsparty. Na?«

»Solltest du das Buch nicht lesen?«

»Ach komm, lesen, den Film schauen … ist doch kein großer Unterschied. Ich muss einfach nur wissen, worum es geht.«

Matteo winkt ab. »Bei ‘nem anderen Film wäre ich dabei.«

»Ach komm schon. Lass mich damit nicht hängen.«

»Das wird teuer!« Er grinst und ich könnte ihn dafür boxen.

»Kein Ding. Ich hab‘ schließlich einen Job ... apropos ... heute ist Mittwoch. Hilfst du mir beim Zeitungenverteilen?«

 

Am Nachmittag zerre ich den Zeitungswagen allein über die Straße. Zum vierten Mal innerhalb der letzten 38 Minuten wähle ich Matteos Nummer. In einer Stunde müssen wir am Kriegerdenkmal im Stadtpark sein. Dort treffen wir Basti, Tessa und ihre Schwester Ella für unsere Wettlauf-gegen-den-Bus-Challenge. Unser Plan: schneller als der 336er an der Haltestelle Gudrunstraße ankommen. Damit beweisen wir der Community, dass unsere Teilnahme am Street-Sport-Festival gerechtfertigt ist. Auch wenn die South-City-Spinner aus dem Nachbardorf im Internet was anderes behaupten. Die sind am Ende der Bewerbungsphase nicht mal unter den zehn besten Teams gelandet, obwohl ihr Beitrag wirklich stark gewesen ist. Vielleicht wäre ich an ihrer Stelle ebenfalls sauer, wenn ich gegen ein »billiges Amateur-Team« verloren hätte, wie South-City-Ober-Spinner Juri uns gern nennt. Doch, wer darf letztendlich zum krassesten Event aller Zeiten? WIR. Eine zusammengewürfelte Truppe aus Freunden, die einfach nur Spaß haben bei dem, was sie tun.

»Komm schon, geh endlich ran!« Etliche Freizeichen später nimmt er meinen Anruf endlich an. »Wo bleibst du? Es ist gleich vier! Du wolltest mir helfen«, rufe ich so laut, dass sich eine Frau an der Eingangstür erschrocken umdreht. Ich hasse diesen Job einfach! Besonders, wenn es regnet, oder die Sonne vom Himmel knallt, aber am meisten, wenn ich die Zeitungen allein in den endlosen Scheibenhausvierteln verteilen muss, obwohl Matteo versprochen hat, mir zu helfen.

»Bin auf dem Weg.«

»Kannst du ‘ne Flasche Wasser mitbringen? Ich hab‘ meine zu Hause stehen lassen. Mist –« Eines der Räder verhakt sich mit einem Riss im Bordstein, der Wagen kippt – ich kann ihn gerade noch abfangen, bevor er gegen den kleinen roten Flitzer am Straßenrand knallt. Matteos Antwort geht mir durch. »Was hast du gesagt?«

»Flasche vergessen – wie immer.«

»Sehr witzig. Los, beeil dich!« Ich drücke Matteo weg, aktiviere die Standortfreigabe und laufe mit einem Stapel Wochenkuriere in die angrenzende Seitenstraße.

Als ich zurück zum Zeitungswagen laufe, sehe ich Matteos Zahnlückenlächeln schon von Weitem. Er scrollt auf meinem Handy herum. O Mist, habe ich das wirklich im Wagen liegen lassen? Das passiert mir sonst nie!

»Hey!« Ich versuche ihm mein Heiligtum aus der Hand zu reißen, aber Matteos Arm ist leider fünf Zentimeter länger als meiner. »Wer hat dir erlaubt in meinen Fotos zu schnüffeln?«

»Krass. Du hast Unterwäschebilder von diesem Béla Ponat auf deinem Handy? Ist das legal? Weiß deine Ma davon?«

Weder meine Mutter noch Matteo sollten diese Fotos jemals zu Gesicht bekommen! Béla Ponat ist der Traum meiner schlaflosen Nächte. Mein heimlicher Star am Parkour-Himmel, total der heiße Typ und … leider zehn Jahre zu alt. »Gib schon her!« Ich springe, bekomme seinen Arm zu fassen und entreiße ihm mein Smartphone. »Wehe, du sagst ein Wort zu meiner Mutter!«

»Und was, wenn es mir ausversehentlich rausrutscht?«

Ich boxe ihn. »Dann solltest du anfangen zu rennen!« Als Bestätigung, dass ich meine Warnung ernst meine, boxe ich ihn erneut. Diesmal so fest ich kann. Halbnackte Unterwäschemodels in meiner Fotogalerie – darüber flippt meine Mutter härter aus als über miese Noten unter Klassenarbeiten. Gut, dass Matteo die photogeshopten Aufnahmen von Béla und mir über den Dächern von Santorini nicht gefunden hat. Seine Spötteleien würden mich für den Rest meines Lebens begleiten. Dabei gibt es die Bilder nur, damit ich gut einschlafen kann. Klappt leider selten.

»Ich verrate nichts. Ehrenwort! Ich schwör.« Dazu hebt er zwei Finger in die Luft, macht ein betont ernstes Gesicht.

»Wie kommst du eigentlich an mein Passwort?« Mit einem neuen Stapel Zeitungen biege ich in den Velspark ein. Nur einen Steinwurf weit entfernt liegt unser alter Kindergarten und der Hügel kurz vor dem Bolzplatz, wo Matteo sich vorletzten Sommer den Arm gebrochen hat.

»Ich bitte dich: 1508. Das war ‘ne Steilvorlage.« Matteo nimmt mir den Wochenkurier ab. »Das Datum des Street-Sport-Festivals. Du bist einfach total berechenbar.«

Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu, so wie der meiner Mutter, wenn ich bei der Vier-gewinnt-Challenge den Sieg um zwei Punkte verfehle und sie eine Fünf unterschreiben muss. Berechenbar. Pff. Der spinnt ja. »Schon mal was von Privatsphäre gehört?«, raunze ich Matteo an. »Ich schnüffle ja auch nicht in deinen Sachen!«

»Bei mir würdest du auch keine halbnackten Unterwäschemodels finden«, entgegnet Matteo lachend.

»Wenn du fertig bist mit Geiern, hilf mir verteilen.« Ich stapfe den Sandweg in Richtung Einfamilienhäuser.

Matteo folgt mir. »Tessa hat übrigens vorhin versucht, dich zu erreichen«, ruft er hinter mir her. »Gibt ‘ne Planänderung. Ella hat den Eingangsschlüssel für das Wohnheim bekommen und Tessa bringt die Panda-Pullis mit.«

Verwirrt kontrolliere ich die Anruferliste, aber kein Anruf in Abwesenheit von meiner Freundin zu sehen. Sie hat es erst gar nicht bei mir versucht.

»Gut, dass Tessa dich erreichen konnte.« Den leicht spöttischen Unterton kann ich mir nicht verkneifen. Sie macht das echt schlau, aber leider merkt dieser Idiot nicht, dass sie hinter ihm her ist. Oder will er es nicht merken? Wie auch immer – es nervt langsam, dass alle um mich herum verknallt sind. Dabei gibt es wesentlichere Dinge. Das Festival im August … und meine blöde Nachprüfung. Schnell schüttele ich den Gedanken an das BÖSE Buch aus meinem Kopf. Dafür habe ich noch sechs Wochen Zeit.

Hinterm Velspark wird das Publikum älter. Ich balanciere über eine betonierte Mauer und lande mit einem astreinen Präzisionssprung vor den Mülltonnen von Haus Nummer 17.

»Kleiner Wettkampf?« Matteo schenkt mir sein schiefes Zahnlückenlächeln. Mädchen, die ihn nicht seit Millionen Jahren kennen, würden das wirklich süß finden. Aber er ist so was wie mein Bruder. Wir sind seit dem Sandkasten befreundet. Zum Glück haben wir in der Fünften nach einer Woche klargestellt, dass wir lieber gegeneinander batteln, statt miteinander zu knutschen.

»Klar.« Ich fixiere Matteos Blick. Er muss immer aus allem einen Wettkampf machen. Doch die Runde werde ich ihm nicht freiwillig überlassen. Kein Bock auf Matteos legendären Siegertanz in der Öffentlichkeit.

»Wer zuletzt am Ende der Straße ist«, er rennt los, »bezahlt für den Rest der Woche bei Marco!« Lachend springt er über ein Blumenbeet zum ersten Briefkasten, bevor ich überhaupt realisiere, dass er mich gerade abhängt.

»Du bist zu langsam.« Lachend schwingt er über ein Gartentörchen, legt die Zeitung vor den Eingang und springt auf den Treppenabsatz zum Nachbarhaus. Caralho! Matteo hat zwei Häuser Vorsprung. Ich bin heute echt nicht in Form. Schnell springe ich über einen Blumenkübel zum Eingang, stopfe die Zeitung in den Briefkasten und sprinte zur nächsten Tür. Im Slalom um zwei Autos im Vorgarten laufend, springe ich auf den Treppenabsatz, klemme die Zeitung zwischen Fensterscheibe und Metallgitter. Das nächste, ein weiß getünchtes Haus mit blauen Fensterläden, ist das Einzige mit einem wildwuchernden Vorgarten. Ein Holzzaun versperrt mir den Durchgang. Hier wohnt ein netter älterer Herr, der manchmal mittwochs schon auf mich wartet und die Zeitung direkt entgegennimmt. Jetzt, wo ich drüber nachdenke, habe ich ihn lange nicht mehr gesehen. Bei seinem Alter würde ich mich nicht wundern, wenn er mittlerweile gestorben ist.

Mit zwei Schritten Anlauf springe ich über den Zaun und lande direkt vor den entsetzten Augen eines Jungen. Er sitzt auf dem Treppenabsatz und liest. Novemberhimmelgraue Augen kann ich noch erkennen, bevor er die Nase zurück ins Buch steckt. Sein dunkles Haar guckt unter einer Mütze vor, dabei ist Hochsommer. Er ist kaum älter als Matteo und ich, aber definitiv nicht von hier. Zwischen Rentnern und Hunden wäre er mir im Viertel garantiert aufgefallen.

Sekunden vergehen, bevor meine Schaltzentrale merkt, dass ich immer noch mit offenem Mund vor ihm stehe. Jetzt hilft nur noch Schultern straffen und durch. Drei Schritte bis zum Briefkasten, aber er sitzt genau davor. Soll ich ihm die Zeitung einfach so geben? Oder auf die oberste Stufe legen? Mein Herz klopft so laut, dass es eigentlich die ganze Straße hören muss. Ich halte die Luft an, zähle innerlich bis vier. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, rückt er zur Wand, damit ich an den Briefkasten komme.

Mit fünf Schritten Abstand zwischen uns, stoße ich die angehaltene Luft aus. Das ist ein höchst seltsamer Moment. Ich kann nicht aufhören, ihn anzustarren. Er passt so überhaupt nicht in das Bild, das in meinem Hirn von diesem Haus abgespeichert ist.

»Der alte Mann – ist er tot?«, frage ich darum auch, ohne zu überlegen.

Der Junge hebt ruckartig den Kopf, starrt mich sekundenlang aus diesen unheimlich grauen Augen an, bevor er fast unmerklich den Kopf schüttelt. Sonst nichts. Was ist er denn für einer? Hoffentlich sitzt er nächste Woche nicht auch wieder hier. Ich gehe. Für den Rückweg öffne ich sogar das Törchen. Als ich es wieder schließe, sitzt er immer noch unbeweglich auf dem Absatz, die Augen aufs Buch geheftet. Und dann liest der auch noch so einen dicken Angeber-Wälzer! Moment. Sind das schwarz lackierte Fingernägel?

»Gewonnen!« Matteo kommt mir ohne Zeitungen, dafür mit hoch in die Luft gestreckten Armen entgegen. »Ich hab‘ dich abgezogen«, ruft er lachend über die Straße. Dabei dreht er sich mit wackelndem Hintern im Kreis und formt aus Zeigefinger und Daumen ein L für Loser. Matteos Siegertanz in aller Öffentlichkeit. Super Tag heute … Beiläufig schaue ich zurück in den verwilderten Vorgarten. Im letzten Moment sehe ich, wie der Junge den Blick senkt. Unter Garantie hat er Matteos peinlichen Auftritt mitbekommen. Auch das noch!

»Komm weiter!« Mit klopfendem Herzen ziehe ich Matteo am Arm hinter mir her. Dabei hätte ich die kleine Challenge garantiert gewonnen, wenn mich dieser Typ nicht so heftig erschreckt hätte. Normalerweise sitzt da nämlich niemand vor der Tür. Jetzt muss ich für Matteo bis zum Wochenende den Kaffee bezahlen. Schlimmer. Er wird diesen Sieg eine Woche lang voll auskosten.

Ich wage noch einen Blick zurück, sehe aber nur noch die Tür zuschlagen. Vielleicht hat er Schiss bekommen. Ich meine, wenn ich dort gesessen und gelesen hätte, wäre ich garantiert total geschockt gewesen, wenn mir jemand vor die Füße gesprungen wäre.

Matteo zieht den Wagen in die nächste Straße. »Musstest du jemandem die Einkäufe ins Haus tragen oder warum habe ich gewonnen?«

»Quatsch! Da saß so ein Typ auf der Treppe und … ist ja jetzt auch egal.«

»Hat er dich angemault, oder was? Soll ich ihn mir vorknöpfen?«

»Nein! Alles gut. Der saß einfach da, hat gelesen und mir den Weg versperrt«, entgegne ich so gelassen wie möglich. Ob mein Puls noch immer vor Schreck rast oder weil dieser winzige, spannungsgeladene Elektronenaustausch meinen natürlichen Herzrhythmus durcheinandergebracht hat, lässt sich nicht abschließend klären. »Außerdem machte er auf mich jetzt keinen besonders gefährlichen Eindruck. Es sei denn, er hätte mit dem Buch nach mir geworfen.«

Matteo wechselt die Laufrichtung. »Den guck ich mir an.«

Ich halte ihn am Arm zurück. »Wieso das denn?«

»Du hast den Wettkampf verloren! Das muss schon ein ziemlich krasser Typ sein, wenn er es schafft, dich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und den will ich mir eben angucken.«

»Für so was haben wir keine Zeit!«

»Geht ganz schnell.«

»Matteo!« Ich stemme die Hände in die Hüften, versuche ihn mit meinem Blick zu hypnotisieren. »Lass den Scheiß!«, zische ich.

Sein Zahnlückenlächeln wird breiter, aber er hält den Augenkontakt, bis ich blinzelnd aufgebe. »Gut, dann geh ihn dir angucken! Vielleicht ist er ja DEIN Typ. Meiner ist es jedenfalls nicht.«

Damit lasse ich Matteo stehen. Nur Sekunden später läuft er wieder neben mir. »Was regst du dich so auf?«

»Nur vier Worte: Buch und graue Augen. Grau ist der Inbegriff für Langeweile. Dass er dazu noch ein Buch gelesen hat, beweist alles! Außerdem hat er den Test nicht bestanden.«

»Er hat zuerst weggeguckt?«

»Jap. Jungs, die zuerst weggucken, sind nicht meine Kragenweite.« Die Sache mit dem Herzrasen erwähne ich vorsichtshalber nicht, um Matteo keinen Anlass für alberne Sprüche zu geben.

»Dann hab‘ ich ja vielleicht doch noch ‘ne Chance bei dir.«

»Lass diese blöden Witze! Außerdem müsste schon jemand wie Béla Ponat vor mir stehen, damit ich weiche Knie bekomme.«

Matteo lacht.

»Was gibt’s denn da zu lachen. Und überhaupt – wenn ich sehe, wie oft Anna mit Kerim abhängt, seit sie zusammen sind… neenee… echt nicht. Außerdem müsste ich dann meinen besten Freund vernachlässigen. Und wollen wir das?«, frage ich mit gespieltem Ernst in Matteos Richtung. »Nein, wollen wir nicht!«

Matteo wirft mir eine Kusshand zu. »Ich fände es auch seltsam, dich mit einem anderen zu teilen. Bleib mal lieber solo.«

»Eben.«

Feinde wie wir

 

Später sprinten Matteo und ich die letzten Meter bis zur Bushaltestelle und schaffen es gerade noch in den 358er zu springen. Schnaufend durchqueren wir den überhitzten Bus. Die hinterste Sitzreihe ist frei, als hätte sie auf uns gewartet. Als wir losfahren, sehe ich zwei Jugendliche aus der Einfahrt neben der Bushaltestelle kommen und halte kurz den Atem an. Einer davon trägt Mütze im Sommer. Schlagartig beschleunigt sich mein Puls. Das wäre ein ziemlich seltsamer Zufall, wenn der Typ von vorhin jetzt dort aus der Einfahrt kommen würde. Oder? Hastig werfe ich einen Blick zurück, aber die Jungs sind weg. Erleichtert lehne ich mich an Matteo. Also nur eine Fata Morgana resultierend aus Hitze und Nachprüfungsstress. Ich knubbele meine dicken Haare auf dem Kopf zusammen. Schweißtropfen rinnen kribbelig am Nacken hinunter und werden zwischen den Schulterblättern von meinem Top aufgesaugt.

Plötzlich springt Matteo vom Sitz hoch und schreit: »Er hat mich wieder verlinkt!«

Eine Frau mit knallroten Haaren drei Reihen vor uns dreht sich um. Ich ziehe ihn zurück auf den Sitz. »Wer hat was getan?«

»Hier!« Matteo hält mir das Handy entgegen.

Es zeigt South-City-Juri mit rausgestreckter Zunge beide Mittelfinger in die Kamera haltend. Die Sonne lässt seine strohblonden Haare noch heller erscheinen. Sein Sommersprossengesicht wirkt nicht mal unattraktiv. Aber er ist ein Babaca, weil er Matteo einfach nicht in Ruhe lässt. Seit dem Aufeinandertreffen mit den South-City-Traceurs letzten Herbst auf der Parkouranlage Zollverein stehen die beiden in einer Art YouNet-Battle, um das letzte Wort. Und jeder weiß, wie schön Matteo sich aufregen kann. Doch seit wir für das Street-Sport-Festival auserwählt worden sind, vergeht kaum eine Woche, in der er Matteo nicht per Fotobotschaft einen Kinnhaken verpasst. Matteo springt natürlich darauf an. Kinderkram.

»Ich kenne die Stelle«, sage ich. »Der war an der Uni.«

»Was? Zeig her!« Matteo zieht das Bild größer. »Du hast voll recht. Die kleine helle Ecke ist das Audimax. Was hat der hier zu suchen? Gibt’s in Essen keine krassen Spots? Ich meine … weißt du, was ich meine?«

»Ich verstehe nicht, warum du ihn nicht einfach blockierst«, sage ich. Mit beiden Händen fächere mir Luft zu, doch sobald ich stoppe, setzen die Schweißtropfen ihren Weg fort.

»Hab‘ ich schon versucht«, entgegnet Matteo. »Später habe ich dann über drei Ecken erfahren, dass er hinter meinem Rücken darüber lästert.«

»Ignorieren. Reden lassen oder zum Gegenschlag ausholen«, fällt mir spontan dazu ein.

Matteo springt von Sitz hoch und ballt die Fäuste. »Ich will einfach, dass er damit aufhört!«

Ich ziehe ihn zurück auf den Platz neben mich. »Hast du ihm das schon mal deutlich gesagt?«

»Natürlich! Ständig.«

»Auch deutlich genug?«

Matteo tippt mir gegen die Stirn. »Spinnst du jetzt völlig? Der Typ ist ein absoluter Freak … ein Psychopath … «

»Vielleicht verlinkt er dich in seinen Beiträgen, weil er dein größter Fan ist«, sage ich schulterzuckend.

Matteo lacht auf. »Ja nee, is‘ klar. Von Fans kriegst du Teddybären oder Telefonnummern, aber keine verlinkten Mittelfinger oder miese Kommentare unter deinen Bildern.«

Ich zwinkre Matteo zu. »Möglicherweise ist er ja auch verknallt und traut sich nicht, es dir zu sagen.« Möglich ist alles. Dank meines harten Überlebenstrainings hat er sich aus seiner schüchternen Schale gekämpft und wird nun von allen umschwärmt.

»Dein Ernst? Ich steh nicht auf Blondinen!«

»Vorurteile«, sage ich und muss mir das Lachen verkneifen. »Juri ist zeitweise echt kreativ.«

»Was bitte ist an ›Wachs-mal-Stift‹ kreativ?«

»›Entlaufener Zwerg aus dem Schneewitzchenwald‹ fand ich auch originell.«

»Das nervt tierisch! Ich hasse es, wenn sich Leute über meine Größe lustig machen.«

»Dabei bist du auf das Beste reduziert, wie meine Mutter immer sagt.« Ich hake mich bei ihm unter, lege den Kopf an seine Schulter. Wenn Matteo eins hasst, dann, dass er zu langsam wächst. Aber noch mehr als das hasst er, dass Juri es unter jedem zweiten Bild im Netz erwähnen muss. »Du bist der tollste, wunderbarste und stärkste Mensch, den ich kenne. Wieso lässt du dich von einem Hater so runterziehen? Das hast du gar nicht nötig. For real.« Ich halte Matteo eine Faust entgegen, die er abschlägt. Sein Zahnlückenlächeln wirkt trotzdem zerknirscht.

Als der Bus 20 Minuten später hält, stürmen wir los, vorbei an Plattenhäusern und über den Grünstreifen. Mit einem zielgenauen Sprung lande ich auf dem hüfthohen Metallzaun, der die Straße vom Grünstreifen trennt. Die Vibration lässt mich kurz schwanken. Ich visiere einen Punkt hinter der Motorhaube eines Corsas an. Eine Fußbreite von der Mittellinie entfernt. Körper anspannen. Blick auf die Stelle, auf der ich landen will. Dann reiße ich die Arme in die Luft, setze zum Sprung an und lande … genau auf der weißen Linie. Na ja, knapp verschätzt. Zwei Schritte später erreiche ich einen der Betonpoller vor der Kita. Sie haben genau den richtigen Abstand, um mit weiten Ausfallschritten darüber zu fliegen. Ich springe auf die rot-weiße Absperrung … ah Mist … ich kann mich nicht halten. In großer Höhe hätte das mein Aus bedeuten können. Irgendwie bin ich nicht in Form heute. Es ist zu viel passiert. Schnell drehe ich mich zu Matteo um.

Er steht auf dem hüfthohen Zaun und schüttelt den Kopf. »Zehn Liegestütze, weil du abgestürzt bist«, ruft er. Dabei grinst er so frech wie immer und landet nach einem Vorwärtssalto direkt zwischen zwei parkenden Autos.

»War ein Versehen«, sage ich. Mit Anlauf greife ich nach dem Laternenmast, schwinge mich auf den Fußweg Richtung Kessingplatz. Matteo folgt mir, balanciert über die niedrige Mauer entlang des Kindergartenzauns.

Der Kessingplatz – oder Kessel, wie wir ihn nennen – ist ein grauer Innenhof. Die verwitterten grauen Terrassenhäuser auf der einen Seite werden von den Studentenwohnheimen ringsherum sogar noch überragt. Die Sonne muss ziemlich hoch wandern, um im Kessel das Licht anzuknipsen. Aber wir lieben die Betonlandschaft. Die verwandelt sich unter den Füßen nicht so schnell in Wackelpudding.

Auf der einzigen Rutsche in diesem grauen Innenhof macht Basti gerade einen Handstand und wird von ein paar Kindern laut jubelnd gefeiert. Wir kennen Basti aus dem Turnverein, in den uns unsere Eltern gestopft haben, als wir anfingen, auf Dächer zu klettern.

»Kannst du Backflip? Mach ma‘ Backflip«, ruft ein Junge mit Fußballtrikot zu Basti hinauf.

Wie in Zeitlupe löst er den Handstand auf. Im Sommer ist seine Haut noch dunkler als sonst und mit dem gelben Shirt sieht er aus wie Kobe Bryant mit Afro.

»Jetzt mach schon«, ruft Matteo. »Oder soll Lu einen machen?«

Der Kurze im Fußballtrikot sieht mich schräg von der Seite an, als könne er nicht glauben, dass Mädchen dazu in der Lage sind. »Jetzt guck nicht so!« Ich hole Schwung, gehe in die Knie, springe ab und drehe mich in der Luft, bevor ich wieder auf den Füßen lande. »Ich kann auch Backflip«, sage ich mit gespieltem Ernst.

»WOW!«

»Mach noch ma‘«, kräht ein Junge mit fehlenden Schneidezähnen.

»Hey Leute!« Tessas Stimme lässt uns herumfahren. Sie und Ella stehen winkend im Schatten des Studentenwohnheims.

»Sorry, wir müssen«, sage ich.

Die Jungs laufen hinter uns her. »Was? Wohin?«

Ich sehe mich unauffällig um und beuge mich zu den Dreien. »Wir sind eigentlich Ninjas, unterwegs in geheimer Mission. Inkognito … wenn ihr versteht. Also ihr habt uns nie gesehen. Alles klar?« Ich halte den Jungs meine Faust hin, die sie hintereinander abschlagen. Einen Zeigefinger über dem Mund, zwinkere ich ihnen zu. Und kann mir ein Kichern nicht verkneifen. Als Matteo und ich in der Grundschule gewesen sind, haben wir uns nicht getraut, ältere Jugendliche einfach so anzuquatschen.

»Ich habe die Pullis dabei.« Aus einer riesigen Papiertüte holt Tessa einen weißen Pullover mit schwarzen Ohren.

»Wild.« Ich halte ihn bewundernd in die Höhe, drücke ihn fest an mich. Er ist zu groß, riecht nach chinesischer Massenware, fühlt sich aber wunderbar flauschig an. Ich schwitze schon, bevor ich den Pulli überhaupt anhabe. Wer ist gleich auf die Idee gekommen, in Panda-Pullovern beim Street-Sport-Festival aufzutreten? Manchmal verfluche ich meine seltsamen Einfälle. Aber was muss, das muss. Die Sponsoren sollen sofort wissen, mit wem sie es zu tun haben. Ich schlüpfe hinein, ziehe die Kapuze über den Kopf und kontrolliere das Ergebnis mit der Frontkamera.

»Der ist mega süß«, sage ich.

»Als ob.« Matteo streift sein Exemplar über und dreht sich im Kreis. »Darin sehe ich peinlich aus«, mault er.

»Quatsch. Der steht dir.« Tessas Gesicht leuchtet plötzlich mit der Sommersonne um die Wette. Seit sie ihre Haare für Matteo schwarz gefärbt hat, wirkt sie mit ihrer hellen Haut immer krank. Außer, wenn Matteo ihr ein Kompliment macht. Dann färben sich Tessas Wangen blitzartig rosa und ihre blauen Augen bekommen diesen glanzvollen Ausdruck. Blöd nur, dass Matteo die Zeichen nicht zu deuten weiß.

Schnell mache ich ein Foto mit dem Wohnheim im Hintergrund und lade es in meine Story.

»Sollen wir?« Ella hält den Schlüssel in die Höhe. Der gehört Freddy, Ellas Freundin. Sie hat dort ein billiges Einzimmerapartment mit Kochnische und bis auf Tessa weiß niemand in der Familie, dass Freddy nicht die Abkürzung für Frederik ist.

Ich lege den Kopf in den Nacken. Zwölf Stockwerke. Beim letzten Mal ist der Aufzug kaputt gewesen. Aber das war im Frühling, als wir einige Sequenzen für unser Bewerbungsvideo auf dem Dach des Wohnheims gedreht haben.

Beim Betreten des Hauses schlägt uns stickige Luft entgegen. Die Wände sind ebenso grau wie der ausgetretene Linoleumboden und die Haare der grimmigen alten Frau an der Rezeption. Wir grüßen freundlich, aber die Frau ignoriert uns.

»Shit«, sagt Ella mit Blick auf ein gelbes Schreiben auf der Aufzugtür. »Immer noch außer Betrieb.«

Ich versuche die Buchstaben auf dem Schild zu entziffern, aber über Liebe Mitbewohner komme ich nicht hinaus. Schnell haste ich hinter den anderen durch die Feuerschutztür ins Treppenhaus.

Wir nutzen den Aufstieg zum Aufwärmen. Im schummrigen Licht eines nicht enden wollenden Stufenlabyrinths begleitet uns Currygeruch bis in die achte Etage. Danach vermischt er sich mit kaltem Rauch. In der letzten Etage bröckelt der Putz von den Wänden. In einer Ecke stehen Flaschen, daneben liegen Zigarettenstummel. Die Luft ist dicker als Morgennebel und raubt mir den Atem. Durch ein Deckenfenster lässt sich die Freiheit wenigstens ein bisschen erahnen.

Leider passt der Haustürschlüssel nicht zur Sicherheitstür, die zum Dach hinaufführt. Ella kniet sich davor. »Ihr seht nichts, verstanden?«

Wir nicken. Das sagt sie jedes Mal. Ella arbeitet neben ihrem IT-Studium bei einem Security-Unternehmen und kann verschlossene Türen aufbrechen.

Mit leisem Krachen springt sie auf.

Ich halte das Gesicht in den Wind. Von hier oben kann man über ganz Bochum bis nach Witten sehen. Die bunten Hochhäuser wirken wie in die Landschaft gepflanzte Legosteine und dort drüben kann ich die S-Bahn fahren sehen. Grün und weit. Ein endloser Spielplatz.

Wir klettern eine an der Hauswand befestigte Leiter hinauf. Über unseren Köpfen fliegen kreischend ein paar Vögel und verlieren sich am Horizont. Meine Schritte knirschen auf dem Kies, während ich Matteo bis zur Dachkante folge. Beim Blick nach unten beschleunigt sich augenblicklich meine Herzfrequenz. Von den Zehenspitzen aufwärts blubbert dieses atemlose Gefühl durch meinen Körper. Das hat sich seit dem ersten Ausflug auf das Dach unseres Spielehäuschens im Kindergarten nicht geändert. Diese kleinen Kicks sind der Treibstoff, um mich lebendig zu fühlen. Ich schiele zu Matteo, der mit geschlossenen Augen und hoch in die Luft getreckten Armen am Dachende steht, als würde er sich auf einen Sprung vorbereiten.

Ich setze mich auf die Kante, lasse die Beine hinunterbaumeln und halte das Gesicht in die Sonne. Von hier oben betrachtet ist die Schule nur ein winziger Teil auf dem Spielplatz des Lebens. Leider ist der Abschluss das Level-Up für die nächste Challenge. Aber was passiert, wenn ich es diesmal nicht schaffe?

Schnell schüttle ich diesen verwirrenden Gedanken aus dem Kopf. Wie schwer kann es sein? Ich bin bis hierhergekommen, also schaffe ich auch die Nachprüfung.

»Woran denkst du?«, fragt Matteo.

Wie gern würde ich ihm die Wahrheit sagen, stattdessen schnürt mir die Angst vor seiner Reaktion die Kehle zu. Also setze ich ein Lächeln auf. »Lass kurz ein Selfie für Juri, den Spinner, schießen.«

»Das geht dir durch den Kopf?« Matteo holt sein Smartphone aus der Hosentasche, setzt sich neben mich. »Mit allen Mittelfingern, die wir haben?«

Ich schüttle den Kopf. »Auf das Niveau lassen wir uns gar nicht ein. Wir machen das in nett mit Kussmund.« Ich zwinkere, während Matteo das Foto schießt.

Schritte auf dem Kies direkt hinter uns. »Was macht ihr hier?«, fragt Tessa. Sie setzt sich zu uns, jedoch weit genug von der Kante entfernt, um nicht hinuntersehen zu müssen. Tessa hat Höhenangst, im Gegensatz zu Matteo, Basti und mir.

»Wir machen Revenge-Selfies für Matteos verletztes Ego«, sage ich.

»Hey!«, zischt er.

Ich ziehe Tessa näher heran. »Jetzt noch eins mit dir. Und …«

»Leute?«, ruft Basti von der anderen Dachseite. »Ella will die Bilder hier machen, wegen dem Licht. Kommt ihr?«

Ich helfe Tessa hoch und folge Matteo.

Die Ferien haben noch nicht mal angefangen. Wie kompliziert kann es sein, innerhalb der nächsten sechs Wochen an die Infos über das Buch zu kommen und eine astreine Nachprüfung hinzulegen?

Samstag… noch 49 Tage bis zum Street-Sport-Festival

 

Der Traum ist vorbei, sobald ich die Augen öffne. Schnell schließe ich sie wieder. Doch da ist nichts mehr. Bin ich hinter dem Zug hergerannt? Oder vom Dach des Studentenwohnheims gestürzt? Nein. Das ist anders gewesen, aber ich kann mich nicht erinnern. Zurück bleibt nur diese Enge in der Brust, ein Gefühl ohne Namen. Und Herzrasen. Großartiger Start für den ersten Ferientag. Jetzt kann es nur noch besser werden.

Es ist fast elf Uhr. Mit einem Sprung bin ich aus dem Bett. Matteo liegt quer auf der Matratze vor dem Schreibtisch und zockt. Wir haben gestern Abend versucht, den Film zum BÖSEN BUCH zu gucken. Nach 20 Minuten ist Matteo weggeratzt, also bin ich heimlich auf Game of Thrones umgestiegen, bis Mama heute Morgen vom Dienst gekommen ist.

Ich steige über Matteo und tapse in den Flur. Aus der Küche sind Stimmen zu hören. Das Radio läuft. Papa schraubt an der Wanduhr, die er zum Vierzigsten geschenkt bekommen hat. Er versucht es immer wieder, obwohl die Uhr seit zwei Jahren nicht eine Woche lang funktioniert hat.

»Guten Morgen, Häschen.«

»Morgen.«, murmle ich.

»Gut geschlafen?«

»Hm.« Ich nehme einen Pfirsich aus dem Obstkorb und setze mich zu ihm. Mit den Zähnen ziehe ich vorsichtig die pelzige Haut vom Fruchtfleisch ab.

Papa schiebt sich die Brille auf die Nasenspitze. Das macht er immer, wenn es ernst wird. Er gibt es nicht gern zu, aber seit letztem Sommer braucht er Vergrößerungsgläser und hält sich für alt. Dabei hat er noch alle seine Haare. Im Gegensatz zu Matteos Vater, der schon ‘ne Halbglatze hatte, als er noch bei ihnen gewohnt hat. Oder gerade deshalb, wie Matteo immer behauptet.

»Mama hat dir eine Telefonnummer an den Kühlschrank geheftet«, sagt er. »Wegen der Deutschprüfung.«

Fast hätte ich mich an der Pfirsichschale verschluckt. Das Wort Deutschprüfung klingt in dieser Kombination irgendwie nach Ärger.

»Mal wieder ein Nachhilfelehrer?« Die Frage klingt giftiger, als beabsichtigt. Aber so eine Unterhaltung beginnt immer gleich. Dass ich es vielleicht auch allein geschafft hätte, interessiert irgendwie niemanden außer mir. Oder was?!

Am Kühlschrank hängt eine doppelt unterstrichene Telefonnummer. Den Namen in Mamas Krakelschrift kann ich nicht entziffern. Aber ich weiß genau, was das bedeutet. Dabei haben wir dieses Gespräch tausendmal geführt. »Euer Ernst? Danke, dass ihr mir vertraut!«

»Häschen ...«

»Caralho! Nenn mich nicht Häschen!« Ich höre das Blut in den Ohren rauschen, das enge Gefühl in meiner Brust ist augenblicklich zurück und das Herzklopfen. Mein Traum von heute Morgen, eine verdammte Vorahnung …

»Wir wollen dir helfen«, unterbricht Papa meine Gedanken, den Blick auf die Einzelteile der Wanduhr gerichtet.

»Ich brauche keine Hilfe! Das wird ‘ne mündliche Prüfung über ein Buch und ich habe alles im Griff. Außerdem sind Ferien!«

Er legt die Brille auf den Küchentisch, reibt sich über die Augen. »Niemand will dich um deine Ferien bringen. Aber du willst zum Street-Sport-Festival, oder?«

»Natürlich will ich!« Ich schlucke.

»Du hast Mama gehört, das war die Bedingung. Das hast du sogar im Vertrag –«

»Ja, ich weiß!« Wie Kohlensäurebläschen in einem eisgekühlten Kaltgetränk brodelt die Wut in mir hoch und verknotet sich mit meinem Magen. Diese blöde Bedingung. Dabei habe ich gedacht, sie hätten es vergessen. Wer kann denn ahnen, dass sie gleich einen Nachhilfelehrer engagieren.