Letzte Begegnungen - Hannah Haberland - E-Book

Letzte Begegnungen E-Book

Hannah Haberland

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Beschreibung

» Wenn Patienten zu mir sagen, dass man ja leider nichts mehr für sie tun könne, so sage ich immer, dass wir noch sehr viel für sie tun können – wir können sie nur nicht heilen.« Hannah Haberland kümmert sich um Menschen, die keine Chance mehr auf medizinische Heilung haben. Sie und ihre Kollegen von der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung ermöglichen ihren Patienten, zu Hause in ihrem gewohnten Umfeld zu versterben. Die Palliativärztin gibt beeindruckende und berührende Einblicke in ihren intensiven Arbeitsalltag. Bei aller Professionalität muss die junge Ärztin erkennen, dass es Fälle und Schicksale gibt, die sie besonders berühren und an ihre Grenzen bringen. Wie viel professionelle Distanz ist überhaupt gerechtfertigt, wenn es um einen sterbenden Menschen geht? Und wie viel Nähe ist nötig, um einen Menschen in Würde auf seinem letzten Weg zu begleiten?

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Seitenzahl: 279

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Der Tag, an dem ich meine medizinische Karriere ernsthaft überdachte, war ein schöner Herbsttag. Buntes Laub fiel von den Bäumen, und die Temperatur kletterte einmal mehr über die Zwanzig-Grad-Marke. Eigentlich wäre es ein guter Tag gewesen. Ich jedoch saß heulend bei meiner Hausärztin und bat sie um eine Überweisung zur Magenspiegelung, zur Darmspiegelung, zur Mammographie und zum Röntgen der Lunge. Einer Ultraschalluntersuchung des Bauchraums gegenüber war ich auch nicht abgeneigt. Ich war davon überzeugt, an einer schrecklichen Tumorerkrankung zu leiden, mindestens weit fortgeschritten und definitiv unheilbar. Nebenbei bemerkt war ich gerade Mitte dreißig, was die Wahrscheinlichkeit einer Tumorerkrankung zwar nicht auf null setzte, aber doch nicht sehr wahrscheinlich machte.

»Ihr Job macht es Ihnen ja auch nicht wirklich leicht«, sagte meine Hausärztin mitfühlend. »Jemand, der eh schon eine leichte Neigung zur Hypochondrie hat, wird natürlich in der Palliativmedizin täglich mit neuen Triggerfaktoren konfrontiert. Da war es ja eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis Sie zusammenklappen.«

Die Hausärztin kannte mich schon lange, und sie kannte mich gut. Wahrscheinlich besser als ich mich selbst, denn sie sah mir an, dass meine Arbeit mich mehr belastete, als ich mir eingestehen wollte. Wer täglich mit Menschen konfrontiert ist, die im Schnitt noch wenige Wochen zu leben haben und dann zumeist durch eine Tumorerkrankung aus dem Leben scheiden, muss wahnsinnig gut im Verdrängen sein und es schaffen, all diese Schicksale nicht mit sich selbst in Verbindung zu bringen. Das liegt mir nun leider gar nicht.

»Hier, ich gebe Ihnen was.« Die Ärztin schob ihre Lesebrille zurück auf die Nase und tippte auf der Tastatur herum. Surrend warf der Drucker ein Rezept aus, das sie unterschrieb und mir reichte. »Davon nehmen Sie jetzt mal drei Tage lang eine halbe Tablette und danach eine ganze. Und suchen Sie sich einen Psychotherapeuten.«

Wortlos und ohne darauf zu blicken, nahm ich das Rezept und steckte es in meine Tasche. Ich verabschiedete mich, stand auf und verließ die Praxis. Auf der Straße kramte ich das Rezept aus meiner Tasche und sah mir an, was mir die Hausärztin verordnet hatte. Es war ein SSRI, ein Medikament gegen Depressionen und Angststörungen. Ich riss es in der Mitte durch und warf es in den nächsten Mülleimer. Dass man mich vom Fenster der Praxis aus sehen konnte, war mir egal.

Ein paar Minuten später saß ich in einem Café und rührte lustlos mit einem Löffel in einem Latte macchiato. Wie hatte es so weit kommen können? Was war diesem akuten Zusammenbruch vorausgegangen? Ich arbeitete nun schon ein paar Jahre in der Palliativmedizin. Nach meiner Facharztausbildung in der Anästhesie wollte ich mich noch weiter spezialisieren, Palliativmedizin hatte mich schon immer interessiert. Ich hatte auch schon zu viel gesehen, gerade auf der Intensivstation, wo es dank der modernen Medizin immer öfter gelingt, den Patienten nochmals »von der Wolke zu zerren«, wie es die Pflegekräfte oft verächtlich nannten, wenn wir uns mal wieder weigerten, einen Todgeweihten gehen zu lassen. Mit Würde hatte dies auch in meinen Augen schon lange nichts mehr zu tun, umso dankbarer hatte ich das Angebot angenommen, bei einem Team der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung, kurz SAPV, anzufangen und hier meine Zusatzweiterbildung zur Palliativmedizinerin zu absolvieren. Als ich diese Prüfung hinter mich gebracht hatte, blieb ich weiter an diesem Krankenhaus angestellt.

Das Besondere ist, dass unsere Patienten nicht in der Klinik liegen, sondern zu Hause sind und in der Regel auch zu Hause versterben. Mit einem Team aus Ärzten und Pflegekräften kümmern wir uns um sie und sorgen dafür, dass sie zu Hause sterben können, ohne an Schmerzen oder anderen qualvollen Symptomen zu leiden, was mal mehr, mal weniger gut gelingt.

Meine Kollegen mag ich alle sehr, sie sind zuverlässig und nehmen ihre Arbeit ernst, ich habe eigentlich wirklich keinen Grund zur Klage. Trotzdem saß ich nun hier und machte mir das Leben selbst schwer, indem ich mir verschiedene Krankheiten andichtete. Die Worte der Hausärztin kamen mir wieder in den Sinn – sie hatte von Triggerfaktoren gesprochen. Welcher Patient hatte diese akute Reaktion bei mir getriggert? Im Geiste ging ich die Liste der Namen der kürzlich verstorbenen Patienten durch. Es waren eine Menge. Ich hatte in letzter Zeit definitiv zu viel gearbeitet – und auch wieder nicht nein sagen können, auch als die Liste der Patienten länger und länger wurde. Irgendeiner von ihnen musste es sein. Welcher? Namen kamen und gingen, Gesichter – zu manchen gab es Namen, zu anderen nicht. Ich wartete darauf, dass irgendeiner dieser Namen oder eines der Gesichter etwas in mir hervorrief. Dort wollte ich ansetzen.

Es dauerte nicht lange, bis sich ein Gesicht herauskristallisierte, das mehr war als nur ein Gesicht. Es war das Gesicht eines Mannes, gerade fünfzig Jahre alt. Entstellt von grotesken Beulen unter der Haut, Zeichen des abscheulichen Tumors, der sich wie ein wildes, gieriges Tier durch seinen Körper gefressen hatte und mich unwillkürlich an den Glöckner von Notre Dame denken ließ. Dazu eine Stimme, sanft und ohne Bitterkeit, was angesichts der Situation nur schwer nachzuvollziehen oder gar zu ertragen war. Martin Fischer. Mit ihm wollte ich die Reise in meine verquere Psyche beginnen, auf der Suche nach dem einen, dem ich posthum die Schuld an meiner Misere geben konnte.

Bis zum letzten Tag

Martin Fischer war etwa drei Wochen zuvor verstorben, und sein Tod hatte mich etwas mehr belastet, als es das Versterben meiner Patienten sonst tat. Natürlich ist es mir bei keinem Patienten egal, aber gewisse Kompensationsmechanismen sorgen dafür, dass ich auch nach einer Leichenschau schon recht bald wieder lachen kann. Kann man das nicht, so ist man in diesem Beruf wahrscheinlich schon nach wenigen Wochen am Ende. Es gibt aber trotzdem immer wieder Patienten, die einem nähergehen als andere. Warum das so ist, weiß ich nicht, wahrscheinlich gibt es etwas, das mich mit diesen Menschen besonders verbindet und mir erlaubt, mich selbst in ihnen zu sehen.

Bei Martin Fischer war es die Tatsache, dass er auch Arzt war und zudem noch relativ jung. Mit seinen fünfzig Jahren war er zwar noch ein ganzes Stück älter als ich, aber doch deutlich jünger als die meisten Patienten, die wir sonst betreuen.

Es war ein Tag im Hochsommer, an dem das Telefon bei uns im Büro klingelte. Ich hörte Waltraud, unsere Sekretärin, routiniert Fragen stellen, denen ich schon entnehmen konnte, dass es sich um eine Neuaufnahme handelte.

»Ja, Frau Doktor ruft dann gleich zurück«, hörte ich sie am Ende des Gesprächs sagen. Das galt wohl mir, denn wir waren nur zwei Ärzte und der andere war ein Mann. Arne Winkler, mein Kollege, war außerdem gerade auf Hausbesuch. Ich mochte ihn, so wie man einen alten Hund mit Flöhen mag, an den man sich gewöhnt hat. Auch wenn er gerade Ende dreißig war, sah er doch wie sein eigener Großvater aus, und sein Hang zu karierten Hemden und Strickjacken machte die Sache nicht wirklich besser. Anstatt wie andere Männer, die schon in jungem Alter mit einer Halbglatze gesegnet sind, die Haare einfach abzurasieren, kultivierte er einen ausgeprägten Heiligenschein auf seinem Kopf, und auch die randlose Brille tat nichts dazu, ihn optisch etwas aufzupeppen. Wenn er im Gespräch seine Hände gefaltet auf seinem imposanten Bauch ablegte, fehlte eigentlich nur noch der weiße Kragen und er hätte jedem Patienten die Beichte abnehmen können. Er verstand sein Handwerk, aber oft fehlte es ihm an Empathie. Waltraud schob die schwierigen Fälle daher gern mir zu, anscheinend hatte ich ihrem Verständnis nach etwas mehr Empathie zu bieten. Waltraud war seit dreißig Jahren an der Klinik und arbeitete auch schon mehrere Jahre in der Palliativmedizin. Auf ihr Urteil konnte man sich in der Regel verlassen, denn sie hatte eine hervorragende Menschenkenntnis.

»Bist du gerade beschäftigt?«, rief Waltraud von ihrem Empfangstresen in mein Büro hinein. Wenn ich mich ein wenig nach vorn beugte, konnte ich sie sogar sehen. Sie trug wie so oft eine knallbunte Bluse und hatte die langen silbergrauen Haare einem Vogelnest gleich auf ihrem Haupt aufgetürmt. Waltraud war groß, mit ihrem aufgetürmten Haar fast 1,90 Meter, und was ich besonders an ihr schätzte, war die Tatsache, dass sie kaum etwas aus der Ruhe bringen konnte.

»Auch nicht mehr als sonst!«, rief ich zurück.

»Dann hast du jetzt Kundschaft. Ich sage dir Bescheid, wenn ich die Akte angelegt habe.« Ich hörte sie energisch auf die Tastatur einhämmern. Es dauerte nicht lange, dann hatte sie ein elektronisches Profil des Neuzuganges angelegt und mir zugeteilt, was mir durch das klingende Geräusch einer neuen Nachricht in meinem Posteingang angekündigt wurde. Gleichzeitig hörte ich, wie ein Fax ankam. Wahrscheinlich ein Arztbrief, dachte ich. Waltraud war hocheffizient, sie hatte sicherlich schon sämtliche Unterlagen angefordert, noch bevor der Patient den Telefonhörer aufgelegt hatte.

Ich stand auf und lief zum Empfangsbereich. Waltraud ergriff wortlos die drei Blätter, die da aus dem Fax kamen.

»Der Arztbrief«, sagte sie, ohne den Blick von ihrem Monitor zu nehmen, und schob mir die Blätter zu. Es war tatsächlich ein Brief aus der Hämatologischen Ambulanz der Universitätsklinik.

»Und die Akte habe ich auch schon angelegt. Du mögest bitte Herrn Martin Fischer zurückrufen. Das ist der Patient. Es scheint mir eher dringlich zu sein, aber lies selbst.« Mit diesen Worten wandte sie sich wieder etwas zu, das nach Abrechnungen aussah. Ich ging zurück an meinen Schreibtisch und vertiefte mich in meine neue Lektüre.

Herr Fischer litt an einem Multiplen Myelom, einer Krebserkrankung des Knochenmarkes. Es gehört zu den sogenannten malignen Lymphomen und ist keine häufige Erkrankung. Wenn man sie hat, so ist das Wissen um die Seltenheit allerdings nutzlos, denn das Multiple Myelom ist in der Regel nicht heilbar. Man kann allerdings über viele Jahre ganz gut damit leben, was diese Sorte Patienten zu eher schwierigen Palliativpatienten werden lässt, da es ihnen oft schwerfällt, einzusehen, dass das Ende der Fahnenstange irgendwann leider trotzdem erreicht ist.

Der Arztbrief war gerade erst drei Wochen alt und führte die Therapien von Herrn Fischer auf. Er stand derzeit noch voll unter Chemotherapie. Das ist für unsere Arbeit in der SAPV eigentlich ein Ausschlusskriterium. Ein Patient, der noch Chemotherapie erhält, auch, wenn es eine sogenannte palliative Chemotherapie ist, die nicht der Heilung, sondern lediglich der Lebenszeitverlängerung dient, eignet sich nicht für die ambulante Begleitung, da es sehr schwierig ist, zu unterscheiden, ob Symptome, die wir sehen, nur Nebenwirkungen der Chemotherapie sind oder eine akute Zustandsverschlechterung im Rahmen der Tumorerkrankung darstellen. Ist Letzteres der Fall, werden nur die Symptome behandelt und dafür gesorgt, dass der Patient nicht leidet. Nebenwirkungen der Chemotherapie allerdings müssen in der Klinik therapiert werden, denn hierbei handelt es sich ja um eine behandelbare Ursache. Aber das nachts um drei zu entscheiden, wenn man im heimischen Schlafzimmer des Patienten an dessen Bett steht, ist nicht ganz so einfach. Um sich diesem Widerspruch nicht auszusetzen, lehnen die allermeisten SAPV-Teams Patienten unter Chemotherapie ab, was allerdings nicht bedeutet, dass man dem Patienten nicht auch ein Gespräch anbietet und zu klären versucht, wohin die Reise gehen soll und ob man durch eine kurzfristige Umstellung der Medikamente nicht eine Besserung der Symptome bewirken kann.

Mir fiel gleich auf, dass Herr Fischer selbst Arzt war. Das konnte die Sache erleichtern oder erschweren, je nachdem. Ärztliche Kollegen tun sich oft schwer damit, Ratschläge anzunehmen. Andererseits sind sie meist auch realistischer, was die Einschätzung ihrer eigenen Prognose angeht, sodass sich oft ganz gut mit ihnen arbeiten lässt.

Aus Waltrauds Einträgen in die elektronische Patientenakte konnte ich lesen, dass Herr Fischer über schwer zu behandelnde Schmerzen klagte. Zudem litt er an Hautmetastasen, die aufzugehen drohten. Das war nicht unbedingt typisch für das Multiple Myelom, aber auch nicht komplett undenkbar. Ich war froh, dass Waltraud den Patienten nicht gleich zu mir durchgestellt hatte. So hatte ich eine Chance, mir ein Bild zu machen, bevor ich Herrn Fischer eine Zu- oder Absage erteilen musste.

»Ich hoffe, es ist dir recht, dass ich nicht gleich zu dir durchgestellt habe«, rief Waltraud aus dem Nebenraum, als hätte sie meine Gedanken erraten. »Herr Fischer ist Arzt, genau wie du.«

»Außer, dass ich Ärztin bin«, erwiderte ich mit der Betonung auf der letzten Silbe von »Ärztin«.

Waltraud lachte laut auf. »Ja, und schöner, klüger und intelligenter bist du natürlich auch.« Waltraud war offensichtlich keine überzeugte Feministin und machte sich herzlich wenig aus genderkorrekter Nomenklatur.

»Ich rufe ihn jetzt jedenfalls gleich an«, sagte ich, um das Feuer der aufkeimenden Diskussion nicht noch zu schüren.

»Braves Mädchen.«

»Kundschaft?«, fragte Linda, die zur Tür hereinkam, als ich gerade den Brief in der einen und den Telefonhörer in der anderen Hand hielt. Ich legte den Telefonhörer vorerst wieder auf, während Linda ihre Tasche mit einem lauten Knall auf ihren Schreibtisch warf und sich geräuschvoll auf ihren Stuhl fallen ließ. Wir teilten uns ein Büro, was den multidisziplinären Ansatz unserer Arbeit noch unterstrich. Linda war eigentlich Anästhesieschwester, hatte sich aber vor drei Jahren auf Palliativmedizin spezialisiert und die Zusatzausbildung für Pflegekräfte in Palliative Care absolviert. Wir waren etwa gleich alt, doch Linda war manchmal so abgeklärt, dass man meinen könnte, sie mache den Job schon genauso lange wie Waltraud. Obwohl sie sehr gewissenhaft arbeitete, hatte ich in den letzten Monaten Anzeichen von Übermüdung bei ihr gesehen und ihre Abgeklärtheit ging gelegentlich in einen beißenden Sarkasmus über. Vielleicht war ich doch nicht die Einzige, der dieser Job auf Dauer zu schaffen machte.

»Kundschaft, ja. Multiples Myelom, fünfzig Jahre und Arzt. Ich wollte ihn gerade anrufen.«

Linda nickte und fuhr sich mit der Hand durch ihre kurzen, hellblonden Haare. Ich beneidete sie insgeheim für ihre Frisur. Nur wenige Frauen können das Haar so kurz tragen und dabei so gut und feminin aussehen wie Linda. Mit den tiefblauen Augen und den zarten Sommersprossen auf ihrer Nase sah sie aus, als wäre sie gerade dem Cover eines Hochglanzmagazins entsprungen, und das, obwohl sie sich nicht schminkte und auch keinen besonderen Wert auf ihre Kleidung zu legen schien. Heute trug sie eine enge Jeans und ein weites beigefarbenes T-Shirt, was für meinen Geschmack etwas zu viel von ihren schmalen Schultern zeigte.

»Wenn du nachher hinfahren willst – ich hätte Zeit.« Sie biss auf ihre Unterlippe und starrte in die Luft. »Oder vielleicht lieber doch erst morgen. Kann er bis morgen warten?«

Ich schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht. Ich muss erst mit ihm sprechen. Er bekommt noch Chemotherapie.«

»Dann ist er doch eh nichts für uns. Dann kannst du auch allein hinfahren, wenn es unbedingt sein muss.« Linda konnte sehr schnippisch sein.

Ich rollte mit den Augen. »Lass mich doch erst mal mit ihm telefonieren, ja?«

Linda zuckte mit den Achseln. »Ich mache mir jetzt einen Tee, und dann dokumentiere ich meine Besuche.« Sie holte ihren Laptop aus der Tasche und schloss ihn an die Stromversorgung an. Sie brachte immer ihr eigenes Gerät der neuesten Generation mit. Das Geld, das sie augenscheinlich nicht in ihre Garderobe investierte, gab sie lieber für allerhand technische Gadgets aus. Bevor sie in die Teeküche ging, nahm sie noch ein Headset aus ihrer Schublade und setzte es sich auf. Ich sah ihr nach, als sie aus dem Zimmer lief. Linda war gertenschlank und hatte auch nach zwei Schwangerschaften noch einen beneidenswert flachen Bauch, während ich mich, obwohl insgesamt auch eher zierlich, täglich in figurformende Unterwäsche zwängte, um die Zeugnisse von Schwangerschaft, Stillzeit und Schwerkraft möglichst unauffällig zu kaschieren.

Seufzend hob ich schließlich den altmodischen Telefonhörer ab und nahm mir mal wieder vor, von der Klinikleitung auch ein Headset zu verlangen. Dann rief ich endlich Herrn Fischer zurück. Nach einer kurzen Begrüßung kam er recht schnell auf den Punkt.

»Ich habe Schmerzen. Ich versuche es schon mit allem Möglichen, Fentanyl-Pflaster, Oxycodon, alles, aber es hilft nicht so richtig. Die onkologische Tagesklinik hat mir Ihre Telefonnummer gegeben. Sie sagten, es sei langsam mal Zeit.« Er lachte heiser auf. Es klang resigniert.

»Sie bekommen aber noch Chemotherapie?«

Herr Fischer seufzte. »Na ja, meine Werte sind miserabel. Ehrlich gesagt wollen die jetzt mal eine Weile Pause machen. Ich weiß nicht, ob ich dann noch mal anfange mit der Chemotherapie. Ich meine, im Moment fühle ich mich, von den Schmerzen mal abgesehen, eigentlich gar nicht so schlecht, aber die Therapie scheint nicht richtig anzuschlagen und ich brauche immer öfter Bluttransfusionen und Thrombozyten.«

Ein typischer Verlauf dieser Erkrankung. Die Blutbildung funktioniert nicht mehr richtig, und der Körper wirft mehr und mehr funktionslose Zellen aus. Wenn die Therapien nicht anschlagen, bricht dieses System über kurz oder lang zusammen. Es fehlt an roten Blutkörperchen, um den Sauerstoff zu transportieren, an weißen Blutkörperchen, um Infektionen zu bekämpfen, und an Blutplättchen – den Thrombozyten –, um Blutungen zu stillen. Mit Blutübertragungen lässt sich dies noch eine Weile stabilisieren, aber irgendwann funktioniert auch das nicht mehr. Die Chemotherapie kann hier lebensverlängernd wirken, indem sie die schädlichen Zellen ein wenig zurückdrängt, aber gleichzeitig verschlechtert die Chemotherapie selbst natürlich auch die Produktion der körpereignen Zellen, die noch nicht funktionslos sind. Als Arzt wusste Herr Fischer um dieses Dilemma, aber ich würde nicht umhinkommen, seine weiteren Optionen in Ruhe mit ihm zu besprechen. Außerdem würde ich seine Medikamente umstellen, um seine Schmerzen besser in den Griff zu bekommen.

Auch bei Patienten unter Chemotherapie machen wir eine sogenannte Koordination. Der Gesetzgeber sieht in der SAPV ein dreistufiges Modell vor. Die niedrigste Stufe ist die Beratung, in der wir uns nur kurz vorstellen und dann wieder gehen. Die Koordination erlaubt weitergehende Leistungen wie eine Medikamentenumstellung und Beratung und Hilfestellungen zu speziellen Fragestellungen und umfasst meist einen Zeitraum von ein bis zwei Wochen, in dem man sich mit den Sorgen des Patienten befasst und versucht, in dieser Zeit eine stabile Situation herzustellen. Die letzte Stufe ist die vollständige Versorgung des Patienten bis zu seinem Lebensende, von mir auch das »Rundum-sorglos-Paket« genannt. Hier sind wir für die Patienten rund um die Uhr erreichbar, sie und ihre Angehörigen haben unsere Notrufnummer und können uns jederzeit kontaktieren. Dies ist aber Patienten vorbehalten, die keine weiteren Therapien wie Chemo oder Bestrahlung mehr erhalten.

»Ich schlage vor, ich komme mal bei Ihnen vorbei und wir unterhalten uns in Ruhe. Was meinen Sie?«

»Das wäre sehr nett!« Herr Fischer klang erleichtert. »Wann könnten Sie denn kommen?«

»Wie wäre es morgen um elf Uhr?«

»Ja, das wäre gut!«

Ich verabschiedete mich vom Patienten und sah dann Linda herausfordernd an, die schon vor einer Weile wieder mitsamt ihrer Teetasse mir gegenüber Platz genommen hatte und betont desinteressiert auf ihren Monitor starrte.

»Du kommst mit«, sagte ich bestimmend.

Linda sah aus, als wollte sie mir widersprechen, dann überlegte sie es sich aber anders und machte stillschweigend eine Notiz in ihren Kalender. Ich ging nicht gern allein zu Patienten. Oft gab es Fragen zur Pflegeversicherung oder zu Hilfsmitteln, die ich allein nur schlecht beantworten konnte. Außerdem war ich froh, wenn mir hinterher jemand das zeitaufwendige Ausstellen der Rezepte und die Kommunikation mit der Apotheke abnahm. Zudem war es ganz gut, wenn eine Pflegekraft den Patienten schon kannte, falls er in die Vollversorgung aufgenommen werden musste. Diese Arbeit lief dann eh zu einem Großteil über die Pflegekräfte, die den Kontakt zu den Patienten und ihren Angehörigen hielten und sich regelmäßig ein Bild über den Zustand machten, sodass wir Ärzte nach dem Erstgespräch meistens nur noch auf Zuruf agierten.

»Gibt es unausgesprochene Konflikte, derer wir uns mal annehmen sollten?«, fragte der hochgewachsene Mittvierziger, der gerade den Raum betrat, nur halb im Scherz. Mit seiner schwarzen Hornbrille und dem dunklen Rollkragenpullover hätte Simon problemlos im Paris der Fünfzigerjahre unterkommen können und sich dort sicherlich lebhaft an philosophischen Diskussionen über den Existentialismus beteiligt. Leider war er dafür etwas zu spät geboren worden, was ihn aber nicht davon abhielt, einen Stil zu kultivieren, von dem er meinte, dass er ihn als Intellektuellen auswies, ohne dass er den Mund zu öffnen brauchte. Ich fand, er wirkte dadurch arrogant und unnahbar, ein Eindruck, der sich schnell revidierte, wenn man mit ihm sprach, denn er war im Gespräch überraschend offen und warmherzig.

»Simon, ist schon wieder Mittwoch?« Linda konnte den Psychologen nicht leiden, was sie ihn auch bei jeder Gelegenheit spüren ließ. Simon hatte eine Halbtagsstelle als Klinikpsychologe und war für die Tumorpatienten zuständig. Für unsere Patienten machte er bei Bedarf auch Hausbesuche. Und er teilte sich das Büro mit uns.

»Linda, liebreizend wie eh und je.«

»Und Simon, bevor ich mich von dir bezüglich unausgesprochener Konflikte beraten lasse, müssen sie mich unter Zwang in die Anstalt einweisen«, erwiderte Linda kühl. Ich fragte mich, was zwischen den beiden vorgefallen war. Soweit ich das beurteilen konnte, war Simon auch Linda gegenüber immer professionell und zumindest oberflächlich höflich aufgetreten. Ich hatte jedenfalls nichts gegen ihn. Er war zu mir immer freundlich und zuvorkommend und nahm sich meiner Patienten in der Regel ohne längere Diskussionen an. Außerdem war er meistens nicht da, was sich angesichts des Platzmangels als vorteilhaft erwies. Ich hatte Linda schon oft nach ihrem schwierigen Verhältnis zu Simon befragt, aber nie eine zufriedenstellende Antwort bekommen, was meine Fantasie natürlich noch mehr anheizte, als wenn sie einfach mit einer Erklärung rausrücken würde. Simon hatte sich mittlerweile an seinem Schreibtisch niedergelassen. Lindas gehässige Kommentare schienen einfach an ihm abzuprallen. Ich schüttelte den Kopf und machte mich daran, mein Gespräch mit Herrn Fischer zu dokumentieren. Es gab noch viel zu tun.

Herr Fischer öffnete uns am nächsten Vormittag in Jogginghose und T-Shirt die Tür. Er war ziemlich blass, aber sein Gang war aufrecht und sicher. Er schüttelte Linda und mir die Hand und bat uns, am Esstisch Platz zu nehmen. Ich sah, wie Linda sich mit geschultem Blick in der Wohnung umschaute. Wie viele Zimmer gab es? Lebte Herr Fischer allein? Würde man ein Pflegebett aufstellen können? Wo war das Bad? Diese Fragen hatte sie sicherlich schon für sich beantwortet, noch bevor sie ihre Tasche neben dem Stuhl am Esszimmertisch abgestellt hatte.

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte Herr Fischer höflich. Wir wehrten beide ab. Herr Fischer setzte sich schließlich uns gegenüber hin.

»Ich habe Weichteilmetastasen, sehen Sie?«, fragte er und hob sein T-Shirt an. Über seinen Bauch verteilt waren mehrere hühnereigroße Knubbel. Herr Fischer war sehr schlank, fast kachektisch, die Metastasen wirkten geradezu grotesk auf seinem eingefallenen Bauch.

»Das tut weh. Der Bauch tut weh. Die Knochen sowieso. Ich habe ein Fentanyl-Pflaster. Die Dosis habe ich schon verdoppelt, aber es hilft nicht. Ich glaube, ich habe schon alles ausprobiert. Außerdem habe ich Angst, dass die Metastasen aufgehen.«

Ich nickte verständnisvoll. Sein Bauch war durchsetzt von Metastasen, das hatte ich schon in seinem Arztbrief gelesen. Außerdem drückte ihm Tumorgewebe auf die Wirbelsäule und die Nervenfasern, die daraus hervorgingen, was ihm auch starke Schmerzen bereitete.

»Wissen Sie, in der onkologischen Tagesklinik sagten sie, dass sie nicht sicher sind, ob dieser Tumor an der Wirbelsäule nicht vielleicht doch ein eigener Tumor ist. Irgendein Non-Hodgkin-Lymphom. Sie wollen noch weitere Tests machen. Sollte sich das bewahrheiten, dann würden sie noch mal eine Chemotherapie machen. Sonst bringt es wohl nicht viel.« Er lächelte entschuldigend.

Ich verstand seinen Gedankengang sofort und damit auch, warum er sich noch nicht für das Ende der Chemotherapie entschieden hatte. Wenn sich dieser solide Tumor an seiner Wirbelsäule, möglicherweise auch die Weichteilmetastasen, als Teile eines anderen Tumors herausstellten, so könnte man dies mit einer erneuten und spezifischen Chemotherapie vielleicht komplett zurückdrängen. Zwar würde er dann noch immer an seinem Multiplen Myelom versterben, aber vielleicht nicht ganz so schnell.

Mein Blick glitt über die Kommode hinter Herrn Fischer. Fotos von Landschaften, Bilder von ihm selbst, die offensichtlich im Urlaub aufgenommen worden waren, aber nichts, was auf engere familiäre Bindungen hindeutete. Keine Bilder von Kindern bei der Einschulung, kein Hochzeitsfoto. Auch war die Wohnung mit ihren anderthalb Zimmern für mehr als eine Person sicher zu klein. Herr Fischer bemerkte meinen Blick und drehte sich um.

»Nicaragua, vor drei Jahren. Kurz vor meiner Diagnose. Das war der letzte schöne Urlaub. Obwohl, ich habe mich da auch schon recht schlapp gefühlt.«

»Wer hat das Foto aufgenommen?«, fragte Linda. Sie dachte wohl das Gleiche wie ich.

»Das? Oh, Otto. Ein Freund. Wir sind immer zusammen verreist.«

»Leben Sie allein?«

»Ja, ich bin allein. War ich immer, wird sich wohl auch jetzt nichts mehr dran ändern.«

»Wer kümmert sich um Sie, wenn es Ihnen nicht gut geht? Eltern, Geschwister, Nachbarn?«

»Ich habe viele Freunde. Meine Familie lebt in Duisburg, und der Kontakt ist nicht allzu gut.«

»Gibt es auch Freunde, die hier bei Ihnen bleiben würden, wenn es Ihnen richtig schlecht ginge?«

»Wenn ich sterbe, meinen Sie?« Er sah mich offen an. Ich nickte diskret.

»Ich hoffe mal, dass das noch nicht so bald sein wird.« Seine Stimme hob sich leicht am Ende des Satzes, so als könne er sich nicht entscheiden, ob er eine Frage stellen oder eine Aussage machen wollte.

»Das weiß ich genauso wenig wie Sie«, sagte ich mit einem zögerlichen Lächeln. Insgeheim war meine eigene Prognose aber wesentlich weniger optimistisch als seine.

»Ich wäre schon dankbar, wenn das mit den Schmerzen aufhören würde.«

»Zeigen Sie mir mal Ihren Medikamentenplan«, forderte ich ihn auf. Herr Fischer griff nach einem Stapel Papiere, der auf dem Esstisch lag, und zog ein Blatt heraus, das er selbst von Hand beschrieben hatte. Das Geschriebene war mehrfach durchgestrichen und ausgebessert worden. Die Anordnung der Medikamente war typisch für einen Patienten, der selbst Arzt ist. Alles Mögliche wurde mehr oder weniger sinnvoll miteinander kombiniert.

»Darf ich?«, fragte ich und fing nun meinerseits an, Dinge durchzustreichen und umzustellen. Nach etwa fünf Minuten hatte ich einen Plan erstellt, den ich Herrn Fischer zuschob.

»Ich würde Ihnen so was in der Art vorschlagen«, sagte ich, während er las. »Das Pflaster stellen wir auf Hydromorphon um. Sie sind zu dünn für ein Pflaster, das wirkt nicht mehr zuverlässig.«

Er nickte.

»Das Metamizol sollten Sie regelmäßig nehmen, gegen die Nervenschmerzen nehmen Sie ja schon das Pregabalin ein, aber die Dosis reicht nicht aus. Außerdem habe ich Ihnen was für Durchbruchschmerzen aufgeschrieben. Das Oxycodon lassen Sie bitte weg – es ist besser, verschiedene Opiate nicht miteinander zu kombinieren. Klingt das für Sie annehmbar?«

Er blickte kurz von dem neuen Plan auf. »Ich wäre zumindest bereit, es zu probieren«, sagte er und zog dabei leicht die Mundwinkel nach oben.

»Dann lassen wir Ihnen die Medikamente heute noch von der Apotheke liefern. Dann können Sie heute Abend damit anfangen.«

Jetzt lächelte Herr Fischer dankbar. »Das klingt doch nach einem Plan.«

»Und jetzt noch mal zu den grundsätzlicheren Dingen. Ich erzähle Ihnen mal kurz, was wir machen und was wir Ihnen anbieten können, okay? Und dann gucken wir zusammen, ob das was für Sie ist.«

Herr Fischer nickte. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Linda sich zurücklehnte. Was jetzt kam, hatte sie mich schon Hunderte von Malen sagen hören, wahrscheinlich konnte sie es Wort für Wort mitsprechen.

»Wir kümmern uns um Menschen, die an einer Erkrankung leiden, die leider nicht mehr zu heilen ist. Wir machen es ihnen möglich, zu Hause zu bleiben, und sorgen dafür, dass sie möglichst wenig an Symptomen leiden. Wir stellen ihre Medikamente ein und halten engen Kontakt. Zudem sind wir jederzeit für unsere Patienten und ihre Angehörigen erreichbar, jedenfalls dann, wenn wir voll in die Versorgung einsteigen.« Ich nickte Herrn Fischer zu, um zu sehen, ob er mir folgen konnte. Er nickte zurück.

»Bedingung für diese Vollversorgung ist, dass Sie keine weiteren Therapien mehr anstehen haben. Wir können Sie nicht unter Chemotherapie aufnehmen.« Ich erklärte Herrn Fischer die Beweggründe für diese Entscheidung. »Für Patienten, wie Sie es sind, bei denen der Entschluss gegen weitere Therapien noch nicht gefallen ist, was ich bei Ihnen auch durchaus nachvollziehen kann, bieten wir eine Koordination der weiteren Behandlung an. Wir stellen Ihre Medikamente um und bleiben eine Weile in Kontakt, bis Ihre Schmerzsymptomatik stabil eingestellt ist. Dann ziehen wir uns wieder aus der Versorgung zurück. Sie können sich aber jederzeit bei uns melden, wenn Sie etwas brauchen oder wenn die Situation für eine Vollversorgung gegeben ist. Wir lassen Sie also nicht allein.«

»Und ich kann Sie jederzeit anrufen?«

»In der Koordination leider nicht. Da haben Sie unsere Notrufnummer nicht. Sie können uns«, ich blickte zu Linda und sah an den steilen Falten auf ihrer Stirn, dass der Patient ihr nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hatte, »Sie können mich zu den Bürozeiten jederzeit anrufen. Wenn Sie mich nicht erreichen, dann rufe ich Sie zurück.«

Herr Fischer dachte nach. »Und wenn ich keine Chemotherapie oder Bestrahlung mehr bekomme, dann kommen Sie und kümmern sich um mich?«

»Ja. Dann melden Sie sich einfach.«

»Und Sie übernehmen dann die Pflege?«, fragte er an Linda gewandt. Das war die falsche Frage. Linda sog hörbar die Luft ein.

»Nein. Das macht dann ein professioneller Pflegedienst, wenn Sie einen benötigen«, sagte sie ruhig. Doch da ich sie gut kannte, konnte ich an ihrem Ton hören, dass sie sich über die Frage geärgert hatte. »Die Pflegekräfte im SAPV-Team organisieren solche Dinge für Sie. Wir rufen Sie regelmäßig an, kontrollieren, dass Ihre Symptome gut eingestellt sind, und halten Rücksprache hierüber mit den Ärzten.« Linda mochte es überhaupt nicht, wenn jemand ihren Aufgabenbereich nicht einschätzen konnte, vor allem, wenn er selbst vom Fach war.

»Ah, entschuldigen Sie bitte«, sagte Herr Fischer mit einem angedeuteten Lächeln in Lindas Richtung. »Und ich muss dann nicht in die Klinik?«

Ich sah mich noch einmal prüfend um. »Herr Fischer, ich will Sie nicht anlügen. Die Umstände hier sind nicht ganz ideal. Und Sie sind allein.«

»Ich habe Freunde, die sich um mich kümmern. Einer wohnt hier im Haus, Otto, mit dem ich immer in Urlaub gefahren bin. Er arbeitet von zu Hause aus, ist also immer da, wenn ich ihn brauchen sollte. Wenn es sich nicht vermeiden lässt.« Er lächelte entschuldigend.

»Otto hin oder her, wenn es nicht geht, können wir Ihre Aufnahme auf eine Palliativstation veranlassen. Da bin ich relativ uneitel, auch wenn es mein Job ist, den Leuten zu ermöglichen, zu Hause zu bleiben.«

Herr Fischer nickte mit dem Kopf. »Das klingt doch nach einem Angebot. Im Laufe der Woche wird sich klären, was mit dem Tumor an der Wirbelsäule ist.«

»Wir werden morgen eh telefonieren, damit Sie mir sagen können, ob die Umstellung der Schmerzmedikation Ihnen geholfen hat oder nicht. Wir müssen da unter Umständen noch ein paar Anpassungen vornehmen. Und Sie halten mich dann einfach auf dem Laufenden.«

»Das mache ich.«

Herr Fischer erzählte dann noch ein wenig aus seinem Leben, dass er gern gereist war, dies aber seit dem Beginn der Erkrankung nicht mehr möglich sei. Er hatte zuletzt in Teilzeit auf der Intensivstation eines Kreisklinikums gearbeitet und war so etwa die Hälfte des Jahres auf Reisen gewesen. Das passte auch zu seiner spartanischen Wohnungseinrichtung – sie passte zu einem Mann, der nicht viel Zeit in seiner Wohnung verbrachte. In den letzten Jahren war er immer wieder längere Zeit krankgeschrieben gewesen. Seit einem halben Jahr hatte er gar nicht mehr gearbeitet. Er hoffte aber, dass er vielleicht doch wieder für einige Zeit an seinen Arbeitsplatz zurückkehren konnte, eine Hoffnung, die mir angesichts seines Zustands sehr realitätsfern erschien, was ich jedoch für mich behielt. Warum dem Mann seine Hoffnung nehmen? Wahrscheinlich würde ich in seiner Situation genauso denken.

Schließlich verabschiedeten wir uns von ihm. Ich sah auf die Uhr, anderthalb Stunden. Ein echter Luxus, dass wir uns diese Zeit nehmen konnten.

»Da kannst du immer selbst anrufen. Ich mache da nichts«, schimpfte Linda, als wir im Auto saßen. »Das war so ein typischer Arzt, mich hat der noch nicht mal mit dem Hintern angesehen. Und dann fragt er auch noch, ob ich ein Pflegedienst bin. Unverschämtheit.«

»Linda, jetzt reg dich doch mal ab. Woher soll er das denn wissen? Der hat doch in seinem Leben gerade das erste Mal von SAPV gehört.«

Linda schwieg einen kurzen Moment, bevor sie den ersten Gang einlegte und geräuschvoll losfuhr. »Du hast sicherlich recht. Aber er hat trotzdem nur mit dir geredet und so getan, als ob ich Luft wäre.«

»Na, das war ja auch einfacher für ihn. Meine Rolle konnte er genau einschätzen. Außerdem habe ich ihn nicht mit so einer Eiseskälte angestarrt.«

Jetzt musste Linda doch ein wenig lachen, war dann aber gleich wieder ernst. »Das wird ja eh nichts mit dem. Der macht bis zum letzten Tag Chemo.«

»Da könntest du recht haben, aber wenn in dem Laden irgendjemand Hirn und Verstand besitzt, so bieten sie ihm nicht noch eine Chemotherapie an. Ich meine, das überlebt er doch nicht. Und das weiß er eigentlich auch.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wieso diese Onkologen immer wieder eine neue Therapie anbieten. Das sieht man doch, dass die Ressourcen dieses Mannes einfach aufgebraucht sind. Noch eine Chemo und er ist tot. Das muss doch nicht sein!«

»Ja, das stimmt«, pflichtete Linda mir bei. »Ich sehe das genauso wie du. Und eine Versorgung bei ihm zu Hause wird eh schwierig. Ich meine, hast du dir die Wohnung mal angesehen? In dem halben Zimmer, in dem er schläft, kann man kein Pflegebett hinstellen. Da liegt jetzt eine Matratze auf dem Boden. Eine Matratze! Und das andere Zimmer ist auch viel zu klein. Da müsste erst mal umgeräumt werden. Das Bad war auch super mickrig. Ich wundere mich, dass er da überhaupt noch zurechtkommt.«

»Das habe ich mir auch gedacht. Das wird schwierig, aber wer weiß, vielleicht hast du ja recht und er kommt gar nicht auf uns zu.«

»Wie dem auch sei, ich ruf ihn morgen nicht an. Das kannst du schön selbst machen. Der will ja eh nicht mit mir sprechen.«