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Robin Alexander

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Beschreibung

Friedrich Merz und die letzte Chance für die demokratische Mitte: Ein Report aus dem Innern der Macht

Friedrich Merz steht vor gewaltigen Aufgaben. Während Trump und Putin die alte Weltordnung zerstören, droht die AfD die politische Mitte in Deutschland zu sprengen. Der neue Bundeskanzler will ganz anders regieren als die abgewählte Ampel-Koalition. Dabei sind die Herausforderungen, an denen die Ampel krachend gescheitert ist, dieselben geblieben: Wirtschaftskrise, Klimawandel, Migration und Aufrüstung der Bundeswehr. Ist Friedrich Merz, der bislang keine Regierungserfahrung hat und schon angeschlagen sein Amt antritt, seiner Aufgabe gewachsen? Und was muss er aus dem Desaster der Ampel lernen, um die vielleicht letzte Chance zu nutzen, unsere Demokratie vor dem endgültigen Aufstieg der extremen Rechten zu bewahren?

In dieser entscheidenden Phase der deutschen Politik erzählt Bestsellerautor Robin Alexander die Geschichte hinter den Kulissen: von Merz‘ Tabubruch mit der AfD und Geheimgesprächen mit Olaf Scholz bis hin zum Drama um das Billion-Schuldenpaket. Ein packend erzähltes Buch, das zeigt, warum die politisch Handelnden in einer zersplitterten Parteienlandschaft und einer aufgeheizten Öffentlichkeit immer weniger imstande sind, die großen Herausforderungen zu bewältigen.

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Seitenzahl: 551

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

DIE LETZTE CHANCE DER DEMOKRATIE

1 Eine Welt bricht zusammen

2 Merz auf der Mailbox

3 Die Bluttat

4 Brandmauer

5 Die rechte Versuchung

DEMOKRATIE IM KRIEG

6 Scholz’ Zeitenwende, Merz’ Zeitenwende

7 Was lehrt die Geschichte?

8 Lohn der Angst

9 Deals und Röhren

DEMOKRATIE IM KLIMAWANDEL

10 Erklärer und Entscheider

11 Die Versuchung der reinen Lehre

12 Stresstest

13 Was kostet die (Rettung der) Welt?

DEMOKRATIE WIRD DYSFUNKTIONAL

14 Nachtsitzungen, Big Macs und Weißwein

15 Gönnen können

16 Offene Feldschlacht

17 »So. Doof.«

Zweiter Wahlgang: Kanzler mit Hypothek

Dank

Personenregister

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Friedrich Merz steht vor gewaltigen Aufgaben. Während Trump und Putin die alte Weltordnung zerstören, droht die AfD die politische Mitte in Deutschland zu sprengen. Der neue Bundeskanzler will ganz anders regieren als die abgewählte Ampel-Koalition. Dabei sind die Herausforderungen, an denen die Ampel krachend gescheitert ist, dieselben geblieben: Wirtschaftskrise, Klimawandel, Migration und Aufrüstung der Bundeswehr. Ist Friedrich Merz, der bislang keine Regierungserfahrung hat und schon angeschlagen sein Amt antritt, seiner Aufgabe gewachsen? Und was muss er aus dem Desaster der Ampel lernen, um die vielleicht letzte Chance zu nutzen, unsere Demokratie vor dem endgültigen Aufstieg der extremen Rechten zu bewahren?

In dieser entscheidenden Phase der deutschen Politik erzählt Bestsellerautor Robin Alexander die Geschichte hinter den Kulissen: von Merz‘ Tabubruch mit der AfD und Geheimgesprächen mit Olaf Scholz bis hin zum Drama um das Billion-Schuldenpaket. Ein packend erzähltes Buch, das zeigt, warum die politisch Handelnden in einer zersplitterten Parteienlandschaft und einer aufgeheizten Öffentlichkeit immer weniger imstande sind, die großen Herausforderungen zu bewältigen.

Robin Alexander, geboren 1975, zählt zu den Topjournalisten im politischen Berlin. Er war Redakteur bei der „taz“ und Reporter bei „Vanity Fair“, bevor er 2008 zur „Welt“-Gruppe wechselte. 2013 wurde er mit dem renommierten Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Seit 2019 ist er stellvertretender Chefredakteur Politik der „Welt“. Sein Buch „Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik“ (Siedler 2017) stand wochenlang an der Spitze der Bestsellerliste und bildet die Grundlage für das gleichnamige ARD-Dokudrama, das 2020 ein Millionenpublikum erreichte. »Machtverfall« (2021) war ebenfalls ein großer Erfolg bei Publikum und Kritik und bestätigte seinen Ruf als herausragender politischer Kommentator. In seinem erfolgreichen Podcast »Machtwechsel« diskutiert er wöchentlich mit Dagmar Rosenfeld über die wichtigsten politischen Fragen Deutschlands. Robin Alexander lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Berlin.

ROBIN ALEXANDER

LETZTE CHANCE

Der neue Kanzler und der Kampf um die Demokratie

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Copyright © 2025 by Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Beratung: Jens König

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-33097-2V003

www.siedler-verlag.de

Inhalt

DIELETZTECHANCEDERDEMOKRATIE

1 Eine Welt bricht zusammen

2 Merz auf der Mailbox

3 Die Bluttat

4 Brandmauer

5 Die rechte Versuchung

DEMOKRATIEIMKRIEG

6 Scholz’ Zeitenwende, Merz’ Zeitenwende

7 Was lehrt die Geschichte?

8 Lohn der Angst

9 Deals und Röhren

DEMOKRATIEIMKLIMAWANDEL

10 Erklärer und Entscheider

11 Die Versuchung der reinen Lehre

12 Stresstest

13 Was kostet die (Rettung der) Welt?

DEMOKRATIEWIRDDYSFUNKTIONAL

14 Nachtsitzungen, Big Macs und Weißwein

15 Gönnen können

16 Offene Feldschlacht

17 »So. Doof.«

Zweiter Wahlgang: Kanzler mit Hypothek

Dank

Personenregister

DIE LETZTE CHANCE DER DEMOKRATIE

1 Eine Welt bricht zusammen

Fünf Tage nach seinem Wahlsieg bricht für Friedrich Merz eine Welt zusammen. So wird er es später darstellen. An jenem Freitagabend steigt er von der Bühne des Cruise Center Baakenhöft im Hamburger Hafen, wo sonst Kreuzfahrtschiffe festmachen. Gerade hat man ihn als »den zukünftigen Bundeskanzler« gefeiert, mehr als tausend Parteifreunde haben ihrem Vorsitzenden zugejubelt. In der Hansestadt wird am Sonntag schon wieder gewählt, diesmal die Bürgerschaft, so heißt hier das Landesparlament.

Merz war der Stargast bei der Abschlusskundgebung der örtlichen CDU. Gegen 20.15 Uhr schüttelt er zum Abschied noch ein paar Hände, dann lässt er sich auf den Rücksitz seines Dienstwagens fallen. Es geht nicht zurück nach Berlin. Sondern ins Sauerland, ins Dorf Niedereimer am Rande von Arnsberg. Nach Hause. Das erste Wochenende als Wahlsieger, nur drei Autobahnstunden entfernt. Es ist der 28. Februar 2025.

Als Friedrich Merz die Nachrichten auf seinem Mobiltelefon checkt, fällt ihm gleich die von seinem Sprecher auf. Er solle sich ein Video anschauen, möglichst sofort. Merz holt sein iPad hervor, öffnet den Link, ein Raum ist zu erkennen, der jedem politisch interessierten Menschen vertraut vorkommt. Man sieht zwei mit goldenem Damast bezogene Sessel vor einem Kamin, in dem kein Feuer brennt. Davor ein Tisch aus edlem Holz, in dem als Intarsie ein überdimensioniertes Siegel eingearbeitet ist. Das Oval Office im Weißen Haus in Washington.

Links von Donald Trump sitzt ein kleiner, bärtiger Mann im schwarzen Militärpullover, auf dem ein stilisierter Dreizack eingestickt ist, das nationale Symbol der Ukraine. Es ist Wolodymyr Selenskyj, der Präsident des von Russland überfallenen Landes. Merz schätzt ihn sehr. Zweimal hat er ihn in Kiew besucht und noch vor wenigen Tagen Selenskyjs Glückwünsche zum Wahlsieg entgegengenommen. Mit Merz wiederum verknüpft das angegriffene Land große Hoffnungen. Der neue Kanzler soll endlich den Taurus liefern, jenen bunkerbrechenden deutschen Marschflugkörper, den Olaf Scholz bis zuletzt verweigerte.

Aber jetzt sieht Selenskyj müde aus. Müde und hilflos. Bestürzt muss Merz mit ansehen, wie der US-Präsident den Ukrainer demütigt. Er hält ihm vor, das Leben von Millionen Menschen aufs Spiel zu setzen, einen dritten Weltkrieg zu riskieren. Als Selenskyj erwidert, es sei doch Putin gewesen, der den Krieg begonnen habe, fährt Trump barsch dazwischen. Vor laufenden Kameras wird der Gast minutenlang geschulmeistert wie ein frecher Junge. Auch ein zweiter Mann hackt verbal auf Selenskyj ein: »Haben Sie jemals Danke gesagt?!«, schleudert Vizepräsident J.D. Vance ihm mehrfach entgegen.

»Das war gutes Fernsehen«, sagt Trump am Ende des Treffens hämisch. Die anschließenden Gespräche, bei denen es um Sicherheitsgarantien nach einem Waffenstillstand gehen sollte, werden abgesagt. Ein fertig ausgehandeltes Rohstoffabkommen wird nicht unterschrieben. Das feierliche Diner entfällt. Selenskyj wartet noch zwanzig Minuten in einem Nebenraum. Dann erscheint eine Beamtin und schickt ihn einfach fort.

Kaum hat Friedrich Merz die fast vierzigminütige Szene aus dem Oval Office zu Ende verfolgt und den Kontext geklärt, postet er auf der Plattform X eine Solidaritätsadresse an Selenskyj auf Englisch: »Wir dürfen in diesem Krieg nie Aggressor und Opfer verwechseln!« Er telefoniert nonstop, bis er im Sauerland angekommen ist, und dann noch die halbe Nacht lang. Auch mit Olaf Scholz wird er verbunden.

Der Kanzler und sein designierter Nachfolger sind sich einig, dass an diesem Tag in Washington etwas Historisches geschehen ist. Die Amerikaner drohen nicht nur die Ukraine im Stich zu lassen, sondern gleich sämtliche ihrer Verbündeten. Ist der Artikel 5, die Beistandspflicht innerhalb der NATO, jetzt noch ernst zu nehmen? Würden US-Soldaten Deutschland gegen einen russischen Angriff verteidigen? Sind amerikanische Atomraketen noch eine glaubhafte Abschreckung?

Unter diesen Umständen muss Deutschland selbst wehrhaft werden. So schnell wie möglich, koste es, was es wolle. Und es wird viel kosten – zwischen einer und anderthalb Billionen Euro in den nächsten zwölf Jahren. Friedrich Merz wird dieser neuen Schuldenaufnahme in den kommenden Tagen zustimmen, obwohl er vor der Wahl das Gegenteil versprochen hatte, nämlich die Schuldenbremse einzuhalten. Aber die Demütigung von Selenskyj habe alles geändert. So sagt er.

Mit Trumps Attacken ist für Friedrich Merz tatsächlich eine Welt zusammengebrochen. Die alte westliche Welt. Nur geschah dies nicht erst nach der Bundestagswahl. Sondern spätestens eine Woche davor. Da hat Merz Trumps Stellvertreter J.D. Vance in München getroffen. Eigens hatte er den Vizepräsidenten in dessen Hotel Westin Grand aufgesucht. Merz hatte den Amerikaner davon abbringen wollen, die Deutschen öffentlich zur Wahl der AfD aufzufordern. Dies seien doch keine Freunde Amerikas, sondern Parteigänger von Putin. Vance hatte beifällig genickt.

Wenige Stunden später, bei seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz, stieß Vance alle vor den Kopf: Die Einschränkung der Meinungsfreiheit in der EU, so erklärte er, sei die größere Bedrohung als Russland oder China. Er forderte, überall in Europa die Brandmauern niederzureißen und Rechtspopulisten nicht länger aus der Politik auszuschließen. Die AfD nannte der Vizepräsident zwar nicht beim Namen. Aber ein paar Stunden später kursierten die ersten Meldungen, Vance habe nicht nur Merz, sondern danach auch Alice Weidel in seinem Hotel empfangen. Davon hatte er Merz nichts gesagt.

Schon damals, also zwei Wochen vor der Demütigung von Selenskyj im Oval Office und eine Woche vor der Bundestagswahl, hat Merz seine harte finanzpolitische Kehrtwende eingeleitet. Nach dem Eklat auf der Münchner Sicherheitskonferenz bat er den ehemaligen Verfassungsrichter Udo Di Fabio diskret darum, alle Möglichkeiten auszuloten, um das Grundgesetz nach der Wahl noch mit den Stimmen des alten Bundestags ändern zu können.

Merz rechnete eine Woche vor der Bundestagswahl damit, dass er bald ein neues Sondervermögen oder eine Reform der Schuldenbremse brauchen würde. Und schon damals baute er der Möglichkeit vor, dass im neuen Parlament für ein solches Vorhaben keine Mehrheit mehr existiert. Di Fabio schickte ihm wenig später sogar ein knappes Gutachten. Grundgesetzänderungen mit den Stimmen der bereits abgewählten Abgeordneten seien sehr wohl möglich, bis zu dreißig Tage nach der Wahl. Exakt bis zum Dienstag der fünften Woche nach dem Wahlsonntag. Das wäre der 25. März.

Die neuen Milliardenschulden wie auch die unverhoffte Möglichkeit, diese zu beschließen – beides hat Friedrich Merz längst im Kopf, als er an jenem Freitagabend auf der Wahlkampfbühne in Hamburg sein Publikum aufrüttelt: »Was der neue amerikanische Präsident Donald Trump in den letzten Tagen in Washington gesagt hat – meine Damen und Herren, wir sind Zeitzeugen einer wirklich fundamentalen Veränderung des gesamten Koordinatensystems, innerhalb dessen wir Politik gestalten.« Zu diesem Zeitpunkt kann er die Bilder von Trump und Selenskyj noch nicht kennen.

Wenn sich die Lage ändert, muss sich auch die Politik ändern. Selbst wenn die Politiker ihren Wählern anderes versprochen hatten. So etwas kommt vor. Gerhard Schröder trieb mit der Agenda 2010 marktwirtschaftliche Reformen voran, für die seine SPD nie angetreten war. Helmut Kohl erhöhte nach der Deutschen Einheit die Steuern, obwohl er dies vorher ausgeschlossen hatte. Aber Schröder war zu diesem Zeitpunkt schon fünf Jahre Kanzler, Kohl sogar neun.

Merz dagegen hat noch nicht einmal den Amtseid geleistet. Die Reform der Schuldenbremse und ein Sondervermögen in astronomischer Höhe – kaum eine Woche nach dem Sieg bei der Bundestagswahl entscheidet der Wahlgewinner, das Gegenteil zu tun von dem, wofür er gewählt wurde.

Seine Kritiker werden schimpfen, was Merz zugestehe, sei gar kein Kompromiss zwischen Union und SPD, sondern eine Kombination von Vorschlägen, die der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck vor der Wahl gemacht habe, mit Ideen, wie sie Saskia Esken, die linke Co-Vorsitzende der Sozialdemokraten, seit Jahren propagiere.

Merz übernimmt die Politik der linken Konkurrenz, so kann man es sehen. Oder: Merz tut das staatspolitisch Gebotene und lässt den Parteipolitiker hinter sich. So kann man es auch sehen.

Kein Zweifel, Merz ist aufrichtig empört über den Eklat im Oval Office. Aber diese Empörung weiß er auch zu nutzen. Denn er braucht eine glaubhafte Geschichte, um zu begründen, dass unter seiner Führung eine politische Kehrtwende vollzogen wird, wie sie die Bundesrepublik noch nicht erlebt hat.

Weltpolitik schlägt Haushaltsrecht. Das gilt für Merz, kaum dass die Wahllokale am 23. Februar geschlossen sind. »Für mich wird es daher absolute Priorität haben, Europa so schnell wie möglich so zu stärken, dass wir Schritt für Schritt auch wirklich Unabhängigkeit erreichen von den USA«, doziert er in der Berliner Runde, jener Fernsehsendung, in der üblicherweise alle Parteivorsitzenden das Wahlergebnis kommentieren.

Unabhängigkeit von den USA? Olaf Scholz, der direkt neben Merz sitzt, kann es kaum glauben. Bislang haben europäische Politiker peinlichst vermieden, auch nur anzudeuten, dass Europa ohne die Amerikaner auskommen könnte. Bloß nicht auf falsche Ideen bringen, war immer die Maxime. Niemand braucht amerikanische Truppen und ihren nuklearen Schutzschirm so sehr wie Deutschland, das weder über eigene Atomwaffen noch eine wirklich robuste Armee verfügt.

Ausgerechnet Merz, den alle für einen besonders überzeugten Transatlantiker halten, gibt die USA auf? »Spätestens seit den Äußerungen von US-Präsident Donald Trump in der letzten Woche ist für mich klar, dass den Amerikanern, jedenfalls diesem Teil der Amerikaner, dieser Regierung das Schicksal Europas weitgehend gleichgültig ist«, sagt er. Ende Juni gebe es einen Gipfel des transatlantischen Militärbündnisses: »Ob wir dann überhaupt noch über die NATO in ihrer jetzigen Form sprechen? Oder ob wir dann nicht sehr viel schneller eigenständige europäische Verteidigungsfähigkeit herstellen müssen?«

Am nächsten Tag vor der Presse redet er das Wahlergebnis schön. 28,5 Prozent waren viel weniger, als sich die Union erhofft hatte. Trotzdem ein Erfolg, argumentiert Merz, wenn man nicht auf Prozentpunkte schaue, sondern auf die Stimmenzahl. 2,5 Millionen Wählerstimmen habe die CDU zugelegt im Vergleich zur vorherigen Bundestagwahl und 500 000 die CSU. Was er verschweigt: Die AfD hat über 6 Millionen Stimmen dazugewonnen. Nach einem Wahlkampf, der polarisiert war wie seit Jahrzehnten nicht, haben auch mehr Bürger abgestimmt als in den Jahrzehnten zuvor.

Und vor kaum 48 Stunden hat Merz auf einer Abschlusskundgebung im Münchener Löwenbräukeller noch kräftig eingeheizt: »Wir machen jetzt mal wieder einen richtigen Wahlkampf. Wir zeigen mal wieder, wo die Unterschiede liegen – gerade auch in der Migrationspolitik!« Seit er Spitzenkandidat sei, »heißt Wahlkampf wieder Wahlkampf und nicht mehr asymmetrische Demobilisierung!«. Ein Seitenhieb auf Angela Merkel, die das Konzept mit dem sperrigen Titel erfunden hatte. Hinter diesem komplizierten Fachbegriff steckt eine schlichte Logik: Wenn es im Wahlkampf gesittet zugeht, bleiben die Hitzköpfe zu Hause. Die Wahlbeteiligung sinkt, aber diejenigen, die noch wählen gehen, entscheiden sich für gemäßigte Parteien – und am Ende siegt die Mitte. Mit dieser Strategie gewann Merkel vier Bundestagswahlen.

Jetzt, auf der Pressekonferenz nach der Wahl, fragt der Journalist Ralph Bollmann, Autor einer Merkel-Biografie, ob die Altkanzlerin nicht vielleicht doch richtiggelegen habe. Merz’ Wahlkampf war hitzig, er hatte die Ampel-Regierung unter Dauerfeuer genommen, und das Ergebnis? 20 Prozentpunkte haben SPD, Grüne und FDP insgesamt verloren. Aber nur 4 Prozent davon hat die Union gewonnen. Der Rest ging an die Radikalen. Stark wie nie sind die Parteien der politischen Ränder geworden, AfD und Linke erhalten zusammen mehr als ein Drittel der Mandate. Ein Alarmsignal: Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es für die Parteien der Mitte keine Zweidrittelmehrheit mehr. Sie ist erforderlich, um Richter für das Bundesverfassungsgericht zu wählen, den Verteidigungsfall festzustellen oder das Grundgesetz zu ändern. Zum Beispiel für die Reform der Schuldenbremse. Oder für ein Sondervermögen.

Eine geradezu fatale Wirkung entfaltet diese Sperrminorität der politischen Ränder in Kombination mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2023 – damals beendete Karlsruhe das System von Nebenhaushalten, mit dem Olaf Scholz regiert hatte. Das Urteil war der Anfang vom Ende der Ampel-Koalition.

Fortan droht jeder neuen Regierung die gleiche Gefahr: Wer mehr ausgeben will, als die Schuldenbremse vorsieht, muss jedes Jahr von Neuem einen »Überschreitungsbeschluss« im Parlament erwirken. Und die Mittel müssen zudem im gleichen Jahr ausgegeben werden. Langfristige Investitionen, etwa für die Entwicklung und Anschaffung von modernen Waffen, werden extrem erschwert.

Ändern kann man diese Zwangslage nur mit Zweidrittelmehrheit. Die aber hat die demokratische Mitte verloren. Es erinnert an die Spätphase der Weimarer Republik. Damals hatten Nationalsozialisten und Kommunisten im Reichstag gemeinsam sogar über 50 Prozent und verhinderten, dass Sozialdemokraten, Liberale und die Vorläufer der Christdemokratie vernünftig regieren konnten – so wuchs der Frust über die Demokratie noch mehr. Ein Teufelskreis, in dem die erste Republik Anfang der Dreißigerjahre unterging.

Ein gewagter Vergleich? Eine solche »negative Mehrheit« besitzen Rechts- und Linkspopulisten schon heute in der französischen Assemblée nationale. Und AfD, Linke und BSW haben sie bereits in den Landtagen von Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Im Bundestag noch nicht. Hier können die politischen Ränder eine Politik der Mitte nicht grundsätzlich blockieren. Doch in Kombination mit der Schuldenbremse sind die politischen Extreme in der Lage, über die Blockade der Zweidrittelmehrheit zu verhindern, dass Regierungen der Mitte außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen. Die aber nötig sind, wenn Putin Angriffskriege führt, Trump den Welthandel zerstört und der Klimawandel die Erde aufheizt.

Was dies bedeutet, haben am Morgen nach der Wahl noch nicht alle verstanden. Merz sehr wohl, er hat ja eigens das Gutachten von Di Fabio erstellen lassen. Doch davon schweigt er, auch gegenüber den Führungsgremien der CDU, die am Montagmorgen beraten. Als er bei der anschließenden Pressekonferenz von Journalisten nach der Sperrminorität gefragt wird, deutet er nur an: »Das ist eine schwierige Lage.« Er wolle erst einmal mit Sozialdemokraten, Grünen und FDP reden. »Der 20. Deutsche Bundestag ist im Amt bis einschließlich 24.3. Das heißt, wir haben jetzt noch vier Wochen Zeit, darüber nachzudenken.« Genau so hat es ihm Di Fabio aufgeschrieben.

Schon diese Andeutung reicht, um die eigenen Leute in Verwirrung zu stürzen. Hatte nicht ausgerechnet Robert Habeck, gerade noch der Buhmann des Unionswahlkampfes, auf einer Pressekonferenz am selben Morgen grüne Zustimmung angeboten, um das Grundgesetz noch mit der alten Mehrheit zu ändern und auf diese Weise die Schuldenbremse zu reformieren? Die Grünen wollten eine solche Reform allerdings schon immer, die Union war bisher strikt dagegen. Abgeordnete und Funktionäre telefonieren hektisch miteinander, keiner weiß Bescheid. Alle rätseln: Gibt es jetzt eine neue Linie?

Und wenn ja, kann Merz sie überhaupt durchsetzen? Markus Söder erklärt am Dienstagmorgen in einem Fernsehinterview: »Wie ist denn die Legitimation für eine solche Entscheidung? Nachdem man schon gewählt hat? Ich bin da etwas zurückhaltend.« Merz selbst äußert sich am Nachmittag im Bundestag ausweichend: »Wir müssen erst einmal einen Kassensturz machen. Wir müssen eine Abschlussbilanz dieser Regierung ziehen. Ich lasse das gerade erarbeiten, dazu brauchen wir aber auch noch Zuarbeit aus dem Finanzministerium.« Es sei ja noch unklar, was 2026 und 2027 »auf uns zukommt«.

Neue Zahlen, neue Lage? Die SPD und das von ihr geführte Finanzministerium wissen jetzt, was sie zu tun haben.

Die Führungsfrage bei den Sozialdemokraten ist derweil überraschend schnell gelöst. Parteichef Lars Klingbeil hat sich auch noch zum Fraktionschef wählen lassen – zwei Tage nach der Wahlniederlage. Alle aus Klingbeils Team haben schon einmal Koalitionsverhandlungen geführt, die meisten mehrfach auf Bundes- und Landesebene. Es sind also Leute, die nicht mit dem Messer zur Schießerei gehen. Und auch nicht ohne Munition. »Lösungswege zur Finanzierung des Bundeshaushaltes, von Verteidigungsausgaben sowie zusätzlicher Investitionen und öffentlicher Infrastruktur« – so ist ein fünfseitiges Papier überschrieben, das dem SPD-Verhandlungsteam jetzt schon vorliegt. In einem Dutzend Varianten werden hier kleinteilig verschiedene Finanzierungsmodelle aufgeschlüsselt.

Einen Absender hat das Fünf-Seiten-Papier nicht, aber allen ist klar: Die Zahlen stammen aus dem Finanzministerium, Auftraggeber ist Jörg Kukies. Der ehemalige Investmentbanker von Goldman Sachs war lange Olaf Scholz’ wichtigster Berater im Kanzleramt, seit dem Rauswurf von Christian Lindner ist er Finanzminister.

Merz glaubt, er habe bei Kukies einen »Kassensturz« in Auftrag gegeben. In Wahrheit hat dieser schon lange vor der Bundestagswahl detaillierte Szenarien errechnen lassen. Doch die SPD-Verhandler beschließen, das Papier der Union noch nicht zur Kenntnis zu geben. Erst mal das Pulver trocken halten.

Am Donnerstag entsteht fast 600 Kilometer weiter westlich ein zweites Dokument, das noch bedeutsamer für Merz’ Kehrtwende bei der Schuldenbremse werden wird.

Der saarländische Finanzminister Jakob von Weizsäcker wählt sich in eine Videokonferenz ein. Weizsäcker stammt aus einer politischen Familie mit besonders klangvollem Namen: Vom Ministerpräsidenten des Königreichs Württemberg im 19. Jahrhundert bis zum Bundespräsidenten im 20. Jahrhundert reicht die Ahnenreihe. Der Physiker und berühmte »Friedensforscher« Carl Friedrich ist Jakobs Großvater. Und auch die eigene Karriere ist eindrucksvoll. Bevor Jakob von Weizsäcker selbst Politiker wurde, leitete er die Abteilung für Grundsatzfragen im Bundesfinanzministerium und wurde dort »Chefökonom« genannt. Sein Minister war damals Olaf Scholz. Am Konzept, für Corona aufgenommene Milliarden in einen »Klima- und Transformationsfonds« zu stecken, war Weizsäcker führend beteiligt, manche im Ministerium sagen sogar, Weizsäcker habe die ursprüngliche Idee dazu gehabt. Für eben jenen verwegenen Plan, den das Bundesverfassungsgericht zwei Jahre später für »nichtig« erklären würde. Weizsäcker stand also schon als Hebamme an der Wiege der Ampel-Koalition. Und nun will er helfen, Schwarz-Rot auf die Welt zu bringen.

Dafür hat er sich per Video mit vier weiteren einflussreichen Ökonomen verabredet: Jens Südekum, Moritz Schularick, Michael Hüther und Clemens Fuest. Letzterer ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Denn im Gegensatz zu den anderen drei hat der Präsident des ifo Instituts bisher die Schuldenbremse strikt verteidigt und noch kürzlich statt für neue Kredite für eine Abschaffung des Elterngeldes plädiert. Doch nun trägt Fuest den Vorschlag seiner Kollegen mit: Zwei neue Sondervermögen soll es geben, 400 Milliarden für die Bundeswehr und 500 Milliarden für »Infrastruktur«. Dies müsste mit »alter Mehrheit« beschlossen werden, ganz schnell also.

Zwölf knappe Punkte auf einer DIN-A4-Seite werden noch in der Nacht an die Sondierer in Berlin übermittelt. »Auf Initiative von Jakob von Weizsäcker kam am 27.2. eine ›lagerübergreifende‹ Runde von Ökonomen zusammen«, lautet der erste Satz des Papieres. »Lagerübergreifend« – dafür steht vor allem der Name Fuest. Zudem wird verschwiegen, dass Weizsäckers Kabinettschefin, die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger, die selbst für die SPD sondiert, zeitweise in der Schaltkonferenz dabei war.

Und sie macht klar: Wenn es kein Sondervermögen für Infrastruktur gibt, werden die Sozialdemokraten auch den notwendigen Milliarden für Aufrüstung nicht zustimmen. Der ordoliberale Ökonom hat also letztlich eine politische Entscheidung getroffen, keine rein fachliche.

Der Trick funktioniert. Die Union akzeptiert den vermeintlich lagerübergreifenden Vorschlag als Diskussionsgrundlage. Ja, sie wird ihn sogar selbst in die Sondierungen einbringen, als Tischvorlage.

Während die Sozialdemokraten sich für die Sondierungsgespräche also taktisch gut munitioniert haben, sind die Unionsparteien erst mal mit der Frage beschäftigt, wer überhaupt mit der SPD verhandeln dürfe.

Auslöser ist ein Foto, das am Dienstag nach der Wahl bei einem Frühstück entstand. Es zeigt Merz und Söder, dazu ihre Generalsekretäre Carsten Linnemann und Martin Huber, außerdem Thorsten Frei und Alexander Dobrindt. Söder hat das Foto in seine Social-Media-Kanäle gestellt und daruntergeschrieben: »Wir sind bereit für einen Politikwechsel in Deutschland. Enge Abstimmung von @CDU und @CSU heute Morgen im Konrad-Adenauer-Haus in Berlin.«

Da Friedrich Merz schon vor der Wahl angedeutet hatte, er wünsche sich ein möglichst kleines Verhandlungsteam, konnte nun der Eindruck entstehen: Die Frühstückstruppe soll es ein. Keine Frau? Keine einzige? »Die neue syrische Regierung wird wahrscheinlich vielfältiger als das Verhandlungsteam der Union«, kommentiert Franziska Brantner, die grüne Parteivorsitzende. In Damaskus hatten gerade Islamisten das Ruder übernommen. »Keine Frauen dabei? Was glauben Sie denn, wer den Tisch gedeckt hat?«, witzeln die Spaßvögel vom Postillon.

Nach dem verheerenden Echo auf das Frühstücksfoto muss Friedrich Merz am Donnerstag in Berlin klarstellen: Auch wir haben Frauen. Karin Prien und Dorothee Bär werden bei den Sondierungen dabei sein, also zwei stellvertretende Parteivorsitzende, eine von der CDU, eine von der CSU. Ebenso Michael Kretschmer, der Ministerpräsident aus Sachsen. Ein Ossi muss auch dazugehören.

Noch wichtiger als das Personal ist aber, mit welchem Ziel verhandelt wird. Von dem Mantra aus dem Wahlkampf, Deutschland sei schon verschuldet genug, beginnt Merz nun vorsichtig abzurücken, zuerst intern.

In einer Videokonferenz mit allen CDU-Ministerpräsidenten stellt er zwei Möglichkeiten vor, künftig mehr Kredite aufzunehmen. Entweder man stocke das alte Sondervermögen aus den Zeiten von Olaf Scholz mit frischen Milliarden auf. Oder man beschließe ein neues Sondervermögen. Das müsse schnell gehen, solange die Mitte noch die Zweidrittelmehrheit habe. Das Grundgesetz müsse man in jedem Fall ändern.

Die Länderchefs wundern sich. Denn im Pressespiegel, den jeder von ihnen bekommt, fand sich noch am Morgen ein Interview mit Thorsten Frei in der Zeit. Darin erklärt Merz’ engster Vertrauter: »Eine Reform der Schuldenbremse kann ich mir nicht vorstellen.« Die »demokratische Legitimität« des alten Bundestages sei »fast vollständig erloschen«. Ja, was denn nun?

Die Ministerpräsidenten sind ungeduldig. Denn diese Telefonkonferenz hat eine längere Vorgeschichte. Unbemerkt von der Öffentlichkeit haben die Chefs von allen CDU-Landesregierungen schon vor vielen Monaten versucht, ihren Bundesvorsitzenden zu einer Änderung seines Neins zur Reform der Schuldenbremse zu bewegen. Nicht nur Olaf Scholz kämpfte ja zunehmend verzweifelt darum, überhaupt noch einen Etat zustande zu bringen, sondern die Länder ebenso. Vom reichen Hessen bis hin zum armen Sachsen-Anhalt hatten sie größte Probleme, ausgeglichene Haushalte aufzustellen. Anders als der Bundeshaushalt dürfen die Länderetats nämlich keinerlei neue Schulden machen. Das musste sich aus ihrer Sicht unbedingt ändern. 0,15 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) wollten die Länder künftig jährlich aufnehmen dürfen. So würde man – mit den 0,35 Prozent des Bundes – gesamtstaatlich mit 0,5 Prozent vom BIP innerhalb der Vorgaben der EU bleiben.

Der Plan der CDU-Ministerpräsidenten ging so: Merz sollte als Oppositionsführer dem strauchelnden Kanzler die Hand reichen und die Union dann gemeinsam mit SPD und Grünen das Grundgesetz ändern. Ein Vorschlag von großer Tragweite, schon gar in der Rückschau. Die Geschichte der Bundesrepublik wäre wohl anders verlaufen. Denn die Ampel-Koalition ist bekanntlich am Streit um die Schuldenbremse zerbrochen – Finanzminister Christian Lindner war zu keiner Änderung bereit. Diese Position wäre aber schwerer durchzuhalten gewesen, wenn sogar die Opposition mitgemacht hätte. Und bei einer Reform der Schuldenbremse im Konsens der Demokraten hätte Scholz wohl bis zum regulären Ende seiner Amtszeit Kanzler bleiben können.

Unrealistisch, dass ausgerechnet Friedrich Merz als Oppositionsführer dabei helfen sollte? Nur, wenn man kurzfristig denkt. Kein Geringerer als Wolfgang Schäuble hatte in der letzten Fraktionssitzung, an der er vor seinem Tod am zweiten Weihnachtstag 2023 noch teilnahm, eine dramatische Mahnung ausgesprochen. Die Ampel-Koalition sei nach dem vernichtenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts über ihre Nebenhaushalte als Regierung ohnehin geschlagen, so Schäuble damals. Wann sie abgelöst werde, sei fast nebensächlich. Anstatt an den nächsten Wahlkampf zu denken, sollte die Union besser für die Regierungszeit danach planen. Die würde schwer genug!

In Schäubles Sinne wäre es also für alle besser, wenn Ampel-Koalition und Union gemeinsam eine Reform der Schuldenbremse hinbekämen. Denn dann würde es der nächste Kanzler in jedem Fall leichter haben. Ob er nun Scholz oder Merz heißt.

Friedrich Merz hat dies ernsthaft erwogen. So ernsthaft, dass er die CDU-Ministerpräsidenten zu zwei vertraulichen Treffen nach Berlin einlud, um das mögliche Vorgehen zu erörtern. Die Treffen fanden am 17. Mai und am 14. Juni 2024 statt – in der Parlamentarischen Gesellschaft. Dieser Club von Abgeordneten und Ehemaligen residiert nobel im ehemaligen Palais des Reichspräsidenten am Ufer der Spree. Doch Merz’ Plan war noch nicht fertig, da stand er plötzlich in der Zeitung. Kai Wegner, der Regierende Bürgermeister von Berlin, war zum ersten Treffen noch nicht eingeladen worden. Am zweiten aber nahm er teil und plauderte wenig später darüber in einem Interview. Merz blies im Zorn das ganze Manöver ab und verschickte eine wütende SMS an gleich mehrere Regierungschefs: »Jetzt ist das Thema erledigt. Ich lasse mich von euch nicht vorführen!«

Eine Überreaktion? Mancher CDU-Ministerpräsident glaubt, Merz habe nur auf eine Gelegenheit gewartet, den Bettel hinzuwerfen. Immerhin konnte die Union durch das Beharren auf der Schuldenbremse Olaf Scholz genüsslich als vermeintlich unfähigen Kanzler brandmarken, der nicht mehr in der Lage war, einen verfassungskonformen Etat aufzustellen. Noch dazu konnte man Christian Lindners FDP ein Alleinstellungsmerkmal rauben.

War Wahlkampftaktik wichtiger als politische Notwendigkeit?

Merz weist das zurück. Er habe einen größeren Plan verfolgt, als nur den Länderchefs dazu zu verhelfen, etwas mehr Schulden machen zu dürfen. Vielmehr habe er dem Bundeskanzler ein Angebot machen wollen, prinzipiell über die Schuldenbremse zu reden. Dafür hätte im Gegenzug aber auch Scholz etwas liefern müssen – nämlich eine Grundrevision des Bürgergeldes. Außerdem sollten ukrainische Flüchtlinge künftig nicht mehr automatisch diese Sozialleistung bekommen, sondern nur noch geringere Mittel, genauso wie Asylbewerber. Damit verknüpft, hätte die CDU-Basis die Aufweichung der Schuldenbremse mitgetragen.

Die Idee dem Kanzler zu präsentieren, setzte jedoch die Zustimmung von Markus Söder voraus. Bei jeglichen Finanzreformen hat der bayerische Ministerpräsident stets ein besonderes Interesse: nämlich den Länderfinanzausgleich zu erneuern. Der Freistaat alimentiert als Nettozahler immerhin fast alle anderen Bundesländer mit ständig wachsenden Milliardenbeträgen. Wegners Indiskretion machte alles unmöglich. Wie hätte Merz in die komplexen Verhandlungen mit Scholz und Söder einsteigen können, wenn seine Verhandlungsposition vorher öffentlich bekannt war?

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, dachten jedenfalls die Landespolitiker der CDU. Sie gingen schon seit Monaten fest davon aus, dass Merz nur noch bis zum Tag der Bundestagswahl an der Schuldenbremse festhalten werde. Und der unternahm nichts, um diesen Eindruck zu zerstreuen.

Im Gegenteil. Noch am 19. Dezember 2024 erläuterte der Kanzlerkandidat bei einem vertraulichen Gespräch mit den Ministerpräsidenten, das am Vorabend einer Bundesratssitzung im Kaminzimmer der Landesvertretung von Baden-Württemberg stattfand, wie er Steuersenkungen in seiner Kanzlerschaft plane. Als ihn daraufhin mehrere Ministerpräsidenten darauf hinwiesen, ihre Landeshaushalte seien zu sehr auf Kante genäht, um in Vorleistung zu gehen, befriedete Merz die Debatte nach übereinstimmender Darstellung mehrerer Beteiligter mit dem Satz: »Ja, man braucht ’ne zusätzliche Finanzierungsquelle.«

Später wird Merz den Vorwurf, die Wähler getäuscht zu haben, mit dem Hinweis kontern, er habe doch, immerhin ein einziges Mal, reinen Wein eingeschenkt. Tatsächlich sagte er im November bei einer Veranstaltung der Süddeutschen Zeitung: »Ehrlich gesagt, Schuldenbremse ist ein technisches Thema, kann man so oder so beantworten. Selbstverständlich kann man das reformieren. Die Frage ist, wozu? Mit welchem Zweck? Was ist das Ergebnis einer solchen Reform?« Für »Konsum und Sozialpolitik« sei eine Reform undenkbar, aber wenn es um »Investitionen« oder »die Lebensgrundlage unserer Kinder« gehe: »Dann kann die Antwort eine andere sein.« Zur Wahrheit gehört, dass sein Generalsekretär Carsten Linnemann sofort danach ein Dementi verbreiten ließ: »Die CDU steht zur Schuldenbremse, ohne Wenn und Aber.«

Jetzt, am Freitag nach der Bundestagswahl, würde sich zeigen, was dieses Bekenntnis wert ist. Die Sondierungen beginnen. Am Morgen beugen sich die Spitzenpolitiker über das »lagerübergreifende« Papier der Ökonomen, in dem die Aufnahme von 900 Milliarden Euro neuer Schulden vorgeschlagen wird. Am Mittag schildert Finanzminister Kukies die Lage des Bundeshaushaltes: Allein im Jahr 2025 fehlen 30 Milliarden, bis 2028 sind es 180 Milliarden. Das ist nur der laufende Betrieb, ohne Investitionen in neue Waffen, ohne den Nachholbedarf bei der Infrastruktur.

Merz habe sich erschüttert gezeigt, so erzählen es Teilnehmer anschließend den Journalisten. Aber das gehört zum Ritual eines »Kassensturzes« vor jedem Regierungswechsel: Mit großer Geste schlagen die Neuen die Hände über dem Kopf zusammen, wenn sie sich die Hinterlassenschaft der Vorgänger genauer anschauen. Je glaubwürdiger die Bestürzung zur Schau gestellt wird, desto eher kann man danach ungestraft etwas tun, das man im Wahlkampf noch ausgeschlossen hat. Wir hatten ja keine Ahnung!

Was dann aber, noch am selben Abend, alle aufrichtig schockiert, hat nichts mit neuen Zahlen zu tun. Es ist die Demütigung von Selenskyj im Weißen Haus.

Am Tag darauf wird erneut eine Telefonkonferenz der CDU-Ministerpräsidenten mit ihrem Parteivorsitzenden einberufen, Michael Kretschmer aus Sachsen hat darauf bestanden. Er hofft, dass der Eklat im Oval Office dem Wahlsieger Merz endlich die Begründung liefert, um sich finanzpolitisch ehrlich zu machen.

Aber dieser bleibt vorsichtig, spricht wieder von einer Ausnahme von der Schuldenbremse für die Bundeswehr oder einem Sondervermögen für die Truppe. Da wird Kretschmer deutlich: »Nur mit Geld für Panzer kann ich nicht vor meine Leute treten!« Die Menschen in Ostdeutschland, so sieht er es, sind skeptisch gegenüber der Unterstützung der Ukraine und der Aufrüstung gegen Russland. Seine Landeskinder würden Milliardenausgaben dafür nur dann tolerieren, wenn es zugleich Geld gibt für deutsche Schulen, Kitas, Brücken, Autobahnen und anderes. Die anderen Ministerpräsidenten in der Leitung stimmen ihm zu – auch die aus Westdeutschland.

Welch eine merkwürdige Ausgangslage für die Verhandlungen: Während die SPD neben dem Geld für die Bundeswehr offen ein weiteres Sondervermögen fordert, vertreten die einflussreichen Landesfürsten seiner Partei mehr oder weniger heimlich die gleiche Haltung. Und auch der Dritte im Bunde, CSU-Chef Markus Söder, muss nicht zum Jagen getragen werden. Als der Bayer merkt, in welche Richtung sich die Verhandlungen entwickeln, setzt er sich an die Spitze der Bewegung: Wenn schon Sondervermögen, dann müssen sie so groß wie möglich ausfallen, damit die Versprechungen aus dem »Bayernplan«, dem CSU-eigenen Wahlprogramm, erfüllt werden können. Sie wollen also alle, dass Merz seine Wahlversprechen bricht.

Während viele Journalisten kritisieren, dass sich Union und SPD angesichts der dramatischen Weltlage zum Karnevalswochenende eine extra lange Verhandlungspause gönnen, sitzt man unbemerkt von der Öffentlichkeit schon wieder zusammen. Allerdings nur ein Kernteam, das sich um die Finanzen kümmern soll: Kukies, der Fraktionsvize Achim Post und die rheinland-pfälzische Finanzministerin Doris Ahnen für die SPD. Frei, Kretschmer und Jens Spahn für die Union. Letzterer ist eine Überraschung. Denn der 44-Jährige gehört nicht zum neunköpfigen Verhandlungsteam, das von Merz und Söder ursprünglich nominiert wurde. Aber jetzt ist er doch dabei, sogar an entscheidender Stelle.

Als diese kleine Finanzgruppe einen Tag später die Ergebnisse ihrer Beratung der größeren Runde vorstellt, bleibt Spahn anschließend einfach im Raum sitzen. Die Sozialdemokraten beschweren sich bei Merz darüber. Doch der hält Spahn für unverzichtbar. So wird später aus zwei Teams von je neun Teilnehmern die »Neunzehnerrunde«. Sie wird die Koalitionsverhandlungen steuern.

Spahn genießt zwar nicht das Grundvertrauen von Merz, doch schafft er es mit Expertise, sich unentbehrlich zu machen. Für den Erfolg der neuen Regierung könnte diese Dynamik zwischen dem Kanzler und dem Vorsitzenden der größten Regierungsfraktion noch sehr wichtig werden. Angela Merkel nominierte Volker Kauder als Fraktionsvorsitzenden, einen Loyalisten. Sie erntete verlässliche Gefolgschaft, aber auch Verödung der Debatten. Helmut Kohl hingegen ertrug seinerzeit auf gleichem Posten Wolfgang Schäuble, der Innovation und Diskurs in der Fraktion organisierte, als das Kanzleramt längst schon intellektuell versteinert war. Merz riskiert freilich viel, indem er einen so ambitionierten Mann wie Spahn in dieser Schlüsselposition duldet. Aber für die CDU wäre es langfristig vielleicht noch riskanter, unabhängige Köpfe nicht in die Führung einzubinden.

An diesem Sonntag, in der kleinen Finanzgruppe, rückt die SPD endlich die Zahlen heraus, die ihr schon die ganze Woche vorlagen. Anschließend beraten die Unionspolitiker viele Stunden allein und halten auch telefonisch Rücksprache mit Merz. Erst am Abend treffen sie wieder auf ihre sozialdemokratischen Konterparts. Und sie haben Neuigkeiten. Die Union stimmt nun erstmals zu, dass es für Verteidigung eine »Bereichsausnahme« von der Schuldenbremse geben soll.

Merz hatte zunächst den Plan, jenes Sondervermögen, das seit Olaf Scholz’ Zeitenwende im Grundgesetz steht, einfach aufzustocken. Doch vor allem Boris Pistorius überzeugte ihn von einer anderen Idee. Jede festgeschriebene Obergrenze für Rüstungsausgaben würde Deutschland für Putin berechenbarer machen. »Wenn wir den Deckel wegnehmen«, hatte der alte und neue Verteidigungsminister erklärt, »liegen unsere Karten nicht mehr auf dem Tisch.« Deutschland gewönne strategische Unberechenbarkeit. Merz beugt sich diesem Argument.

Und noch ein weiterer Sozialdemokrat hat dazu beigetragen, dass Merz seine Position verändert: Olaf Scholz. Unbemerkt von der Öffentlichkeit hat es seit der Bundestagswahl im Kanzleramt mehrere Gespräche zwischen den beiden gegeben, manchmal waren auch andere Unionspolitiker dabei. Bei einem dieser Treffen präsentierte Scholz Erkenntnisse von Nachrichtendiensten über das ungeheure Ausmaß der russischen Aufrüstung. Trotz der enormen Verluste in der Ukraine werde Putin schon in wenigen Jahren wesentlich mehr Panzer und Raketen zur Verfügung haben als vor der Invasion. Er bereite sich darauf vor, einen weiteren Krieg führen zu können, diesmal gegen Europa. Derselbe Mann, der als Friedenskanzler Wahlkampf machte, rät nach seiner Niederlage dem Wahlsieger, massiv aufzurüsten.

Plötzlich steigen die Summen, die im Raum stehen, beinahe stündlich. Zunächst erhalten die CDU-Ministerpräsidenten von Merz das Plazet für jene zusätzlichen Verschuldungsmöglichkeiten, die sie schon im Sommer anmahnten. Und die Sondervermögen? 100 Milliarden Euro kostete die historische Zeitenwende von Olaf Scholz vor kaum drei Jahren. Von einem weiteren Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro war in der Unionsführung zunächst die Rede. Dann sprach man von 200 Milliarden, nun von 300 Milliarden. Und schließlich von weiteren 300 Milliarden, die man »für die SPD« danebenstellen müsse. Schwarz-Rot verhandelt jetzt fast ohne Pause, abwechselnd in der großen »Neunzehnerrunde«, dann im Format »Parteivorsitzende plus eins«. Am Schluss sprechen nur noch die Parteichefs miteinander.

Als sie wieder auftauchen, ist das Erstaunen groß. Für die Rüstung existiert keinerlei Grenze mehr. Verteidigungsausgaben werden nur noch bis zu einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf die Schuldenbremse angerechnet. Hier wurde bis zuletzt gerungen: SPD-Chef Klingbeil wollte durchsetzen, dass Verteidigungsausgaben prinzipiell nicht mehr angerechnet werden. Also auch nicht die rund 53 Milliarden, die bereits im aktuellen Etat stehen. Damit wären gewaltige Spielräume entstanden für neue Sozialausgaben. Doch darauf lässt sich Merz nicht ein. Er bietet an, alles über 1,25 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt von der Schuldenbremse auszunehmen. Das entspricht etwa dem aktuellen Etat für Verteidigung. Keine neuen Spielräume also.

Am Ende einigt man sich auf 1 Prozent, das entspricht gut 43 Milliarden, was immerhin 10 Milliarden Euro zusätzliche Kredite bedeutet. Allein damit hätte Scholz seine Ampel-Koalition über die Ziellinie retten können. Doch jetzt fällt es kaum noch ins Gewicht. Denn für Infrastruktur wird ein Sondervermögen von sagenhaften 500 Milliarden Euro vereinbart.

Als Merz mit diesem Ergebnis zu seinem Team zurückkehrt, herrscht allgemeine Verblüffung. Der CDU-Vorsitzende hat ein Sondervermögen für die kommenden zehn Jahre ermöglicht, das fünf Mal so groß ist wie jenes von Olaf Scholz drei Jahre zuvor. Die Bundesländer sollen sich künftig bis zu 0,35 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts verschulden dürfen – dabei hatten sie nur auf 0,15 gehofft! Außerdem sind 100 Milliarden aus dem Infrastrukturpaket für sie reserviert.

Alle haben von Friedrich Merz bekommen, was sie wollten – und noch mehr. Mehr, als sie jemals für möglich hielten. Warum war er so freigebig?

»Angesichts der Bedrohungen unserer Freiheit und des Friedens auf unserem Kontinent muss jetzt auch für unsere Verteidigung gelten: Whatever it takes!« Mit diesen Worten stellt er seine Pläne vor. Der Spruch ist ein Zitat von Mario Draghi. Der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank schreckte mit dieser Parole 2012 alle Spekulanten ab, die auf ein Auseinanderbrechen der Eurozone wetten wollten. Weil das jeder Journalist weiß, fragt keiner nach, was Merz mit dem Hinweis auf die Bedrohung von Freiheit und Frieden eigentlich genau meint.

Er reise morgen nach Brüssel, berichtet er in einer anschließenden Fraktionssitzung, um vor dem EU-Rat am Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Volkspartei teilzunehmen: »Wenn Trump heute Nacht den Austritt aus der NATO verkündet, dann sind wir als Bundesrepublik Deutschland die Ersten, die bereits im Vorgriff darauf richtig reagiert haben.«

Entsetzen unter den Abgeordneten. Merz meint es todernst.

Die finanzpolitische Totalwende begann nach dem Schockauftritt von J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Merz hat sie dann begründet mit der Demütigung von Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Jetzt vollzieht er sie radikal, in der Erwartung, dass ein Austritt der USA aus der NATO unmittelbar bevorsteht. Wie kam Merz darauf?

Wenige Stunden nach der schwarz-roten Einigung über das gigantische Sondervermögen hielt der neu gewählte Präsident Donald Trump seine erste Rede vor dem Kongress. Merz besaß Informationen aus einer amerikanischen Quelle, denen zufolge Trump in dieser Nacht den Ausstieg der USA aus dem westlichen Verteidigungsbündnis ankündigen werde. Er hatte Grund, seiner Quelle zu vertrauen: Zwei Wochen zuvor hatte sie ihn mit Vorabinformationen zur Rede von Vance vor der Münchner Sicherheitskonferenz versorgt. Damals berief er noch in der Nacht vor der Rede eine Telefonkonferenz ein und warnte die CDU-Führungsleute, Vance werde die transatlantische Freundschaft erschüttern und einen rhetorischen Angriff auf Europa starten. Genau so kam es.

Erneut gewarnt, erwartete Merz bei Trumps Kongressrede eine Katastrophe. In Gesprächen und Telefonaten mit Vertrauten wurde er noch deutlicher als in der Fraktionssitzung: Wenn Trump in der Nacht den NATO-Austritt ankündige, sei nicht auszuschließen, dass Putin darauf sofort reagieren würde – mit einem unmittelbaren Angriff auf das Baltikum.

Merz hielt in jenen Stunden, als er in die Billionenverschuldung einwilligte, den Ausbruch eines neuen Krieges in Europa für möglich. Vor diesem dramatischen Hintergrund ist sein Votum für die Rekordverschuldung zu begreifen.

Bekanntlich kam es anders. Trump hielt seine Kongressrede, erwähnte die NATO jedoch mit keinem Wort. Merz glaubt bis heute nicht, dass er aus Washington falsch informiert worden sei. Der Austritt sei vorbereitet gewesen. Trump habe sich in letzter Minute anders entschieden.

2 Merz auf der Mailbox

Während Friedrich Merz schon Weltpolitik macht, kümmert sich Carsten Linnemann um Flensburg, Viersen und Mannheim. Das sind die letzten drei Wahlkreise, die ihr Ergebnis noch melden müssen an diesem Wahlabend, der längst eine Wahlnacht geworden ist. Es ist halb zwei Uhr morgens. Der CDU-Generalsekretär steht in der fünften Etage des Konrad-Adenauer-Hauses in einem für die Parteiführung abgesperrten VIP-Bereich und trinkt Pils. Paderborner Pils. Ein ganzes Fass haben Freunde aus seiner westfälischen Heimat mitgebracht, die extra für den großen Tag in die Hauptstadt gereist sind.

Im umbauten Innenhof der Parteizentrale ist ein DJ-Pult aufgebaut, »Rambo Zambo« solle es dort geben, hat Merz am frühen Abend versprochen. Am Tag danach wird er von »vollbesetzter Tanzfläche bis in den frühen Morgen« erzählen. In Wahrheit haben sich bis auf ein paar Betrunkene fast alle Besucher zerstreut. Merz ist auch nicht mehr da. Immerhin, seine Tochter Carola und der Schwiegersohn halten die Stellung bei Linnemann, dem Pils und den Westfalen.

Die Union hat die Bundestagswahl gewonnen. Merz wird Kanzler. Linnemann hatte noch eine Woche zuvor 35 Prozent für die Union für möglich gehalten. Jetzt liegt man in der zweiten Hochrechnung schon unter 29 Prozent. Tendenz weiter fallend. »Mit 27 oder 28 Prozent werden wir den Politikwechsel nicht organisieren können«, hat er unvorsichtigerweise einige Wochen zuvor im Fernsehen gesagt. Und er meint es auch so.

Merz war der Spitzenkandidat. Aber Linnemann hat die Kampagne organisiert. Eine Chance wie diese werde er im Leben nicht mehr bekommen, sagt er an diesem Abend immer wieder, vor jedem neuen Glas. Als habe er es persönlich vermasselt. Er könnte sich jetzt einfach mit seinem Frust ins Bett legen, aber er wartet.

Denn noch in dieser Nacht wird sich entscheiden, ob Linnemann seinen Traum von einer bürgerlichen Regierung endgültig begraben muss. Wenn nämlich Merz als Kanzler nicht nur einen linken Koalitionspartner bekommt, sondern gleich zwei. Es hängt ausgerechnet an Sahra Wagenknecht. Schafft ihre Parteineugründung den Einzug ins Parlament, dann schrumpft automatisch der Anteil der Sitze aller anderen Fraktionen. Und dann gäbe es nur noch eine verbleibende Koalitionsoption in der Mitte: Merz müsste mit SPDund Grünen koalieren. Schwarz-Rot-Grün – das wäre ein Dreierbündnis mit zwei linken Partnern, also eine Ampel 2.0. Eine Horrorvision für Linnemann! Dann würde er Konsequenzen ziehen. Wenn die Union nur mit beiden linken Parteien regieren kann, wird Linnemann als Generalsekretär am nächsten Morgen zurücktreten. Er hat es Merz noch nicht gesagt. Aber er hat es für sich entschieden. SPDund Grüne auf Augenhöhe mit der Union – damit wäre eine neue Politik unmöglich. Auch wenn sie Merz zum Kanzler wählen. Dann ist Linnemann raus.

Nach Mitternacht war das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) plötzlich über 5 Prozent geklettert, die Zahlen aus den großen Oststädten Halle, Rostock und Dresden waren gerade bei der Bundeswahlleiterin eingetroffen. Ein Mitarbeiter, der im »Maschinenraum« sitzt, wie die CDU ihre Wahlkampfzentrale nennt, registriert alle neuen Ergebnisse in Echtzeit. Er schickt sie auf das Handy von CDU-Geschäftsführer Philipp Birkenmaier, der in der VIP-Etage steht und sie sofort Linnemann zeigt. Wahlkreis für Wahlkreis.

Jetzt ist nur noch westdeutsche Provinz offen: Viersen, eine niederrheinische CDU-Hochburg. Aber auch Mannheim und Flensburg, zwei Städte, in denen früher die SPD stark war. Wenn zu viele von deren enttäuschten Anhängern zu Wagenknecht wechseln, hat Merz vier Jahre lang die Grünen an der Backe. Und morgen früh keinen Generalsekretär mehr.

Um 1.44 Uhr kommen die Zahlen: In Flensburg sind die Frustrierten vor allem zur AfD und zur Linken gegangen, weniger zum BSW. Ebenso in Mannheim. Am Ende fehlen Wagenknecht in ganz Deutschland nur wenige Tausend Stimmen, um in den Bundestag einzuziehen. Das BSW ist raus aus dem Parlament. Und damit sind die Grünen raus aus der Regierung Merz. Linnemann wird Generalsekretär bleiben. Das letzte Pils stürzt er.

Carsten Linnemann ist 22 Jahre jünger als Friedrich Merz. Ihn einen Fan zu nennen, wäre eine Untertreibung. Ein Held war Merz für ihn in seiner politischen Jugend. Ein Held, der sich nie entzauberte. Denn als Linnemann und andere Christdemokraten seiner Generation selbst in politische Verantwortung und Ämter kamen, hatte sich Merz aus der Politik schon wieder verabschiedet. Sie blieben zurück mit Merkel. Die regierte immer. Aber immer seltener fühlte es sich für Linnemann und viele seiner Parteifreunde nach CDU an. Merz wurde in diesen langen Jahren zur Sehnsuchtsfigur für eine andere CDU, eine echtere. Ein belesener Christdemokrat pflegte Mitte der 2010er-Jahre den milden Spott, das Verhältnis der Generation Linnemann zu Merz erinnere ihn an die Barbarossa-Sage: Der gute Kaiser Friedrich ist gar nicht tot, sondern schläft im Kyffhäuser. Aber wenn sein Bart dreimal um den Tisch gewachsen ist, dann kehrt er zurück und führt das Reich zu alter Größe.

Anders als Friedrich Barbarossa kehrte Friedrich Merz allerdings wirklich zurück. Linnemann half dabei tüchtig mit. Am Ende der Ära Merkel kämpfte er zweimal vergeblich dafür, dass Merz Parteivorsitzender würde, bis es im dritten Versuch doch noch gelang. Und dann, als sein Idol nach unbedachten Sprüchen und mit schlechten Beliebtheitswerten schon fast in diesem Amt gescheitert war, wurde er 2023 sein Generalsekretär. Er machte die Arbeit, auf die sein Idol selbst nie Lust hatte – rastlos bereiste Linnemann die Kreis- und Ortsverbände, von der Küste bis zur Schwäbischen Alb, vom Niederrhein bis in die Lausitz, um allen Parteifreunden die Botschaft zu bringen: Jetzt kommt CDU pur. Und es hat funktioniert. Jetzt wird Merz Kanzler. Für Linnemann geht ein Jugendtraum in Erfüllung.

Doch was für ein Kanzler wird dieser Merz werden?

Diese Frage stellen sich nicht nur seine Fans, sondern auch all diejenigen, die ihn ablehnen. Zuweilen schon seit ihrer Jugend, genauso leidenschaftlich, wie Linnemann ihn verehrt. Etwa Katharina Dröge. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen war fünf Jahre alt, als Merz zum ersten Mal in den Bundestag gewählt wurde. Wie Linnemann gehört sie zur Generation, die unter Merkel politisch sozialisiert wurde, aber anders als dieser hat sie die Merkel-Jahre überwiegend in guter Erinnerung. Mit dem Schönheitsfehler, dass die Grünen mit dieser – aus ihrer Sicht großen – Kanzlerin nie gemeinsam regierten.

Mittlerweile darf man diese Wertschätzung als Grüne auch offen bekennen, wenn man wie Dröge für den linken Flügel der Fraktion steht. Als ihr Vorvorgänger Jürgen Trittin 2024 seinen Abschied aus dem Bundestag feierte, hielt Merkel eine sehr charmante Rede. Für die grüne Sause damals schlug die Ex-Kanzlerin übrigens eine Einladung von Linnemann aus – zum CDU-Bundesparteitag, der zeitgleich stattfand.

So sehr Dröge Merkel schätzt, so sehr kann sie Merz nicht leiden. Und dem scheint es ähnlich zu gehen. Jedenfalls ignoriert er sie nach der Bundestagswahl. Das ist erstaunlich. Ohne die Grünen gibt es ja keine Zweidrittelmehrheit im alten Bundestag. Für die gerade erst angekündigte spektakuläre Kehrtwende zur Reform der Schuldenbremse und das riesige Sondervermögen braucht Merz die Grünen.

Und er braucht Dröge. Denn das Machtzentrum der Ökopartei verändert sich jetzt rasend schnell. In den Ampel-Jahren wurde die grüne Partei, kurz gesagt, von einer Chatgruppe des Messenger-Dienstes Signal gesteuert. Sechs Menschen schickten sich auf dieser Plattform regelmäßig Kurznachrichten, die sich nach einer Woche von selbst wieder löschten. Zwei von den sechs, Ricarda Lang und Omid Nouripour, sind als Parteivorsitzende schon vor der Wahl zurückgetreten. Zwei weitere, Robert Habeck und Annalena Baerbock, werden nach der Niederlage bei der Bundestagswahl die erste Reihe der Berliner Politik verlassen. So bleiben Britta Haßelmann und Katharina Dröge, die beiden Fraktionsvorsitzenden. Ausgerechnet die beiden, zu denen Merz keinen Draht hat.

Beim Versuch, einen Gesprächsfaden zur neuen grünen Führung zu knüpfen, wird ein interessantes Muster beim neuen Kanzler erkennbar: Wenn Merz mit Menschen fremdelt, versucht er ihnen aus dem Weg zu gehen. Was im Alltag viele so machen, ist in der Politik keineswegs selbstverständlich. Im Gegenteil, wer Mehrheiten braucht, muss Brücken bauen, gerade in jene Milieus, die ganz anders ticken. Angela Merkel etwa war eine Meisterin darin, persönliche Verbindungen zu Menschen aufzubauen, die ihr fremd waren oder zunächst sogar feindlich gegenüberstanden. Zum Beispiel Saskia Esken: Die SPD-Linke setzte sich 2019 in einem Mitgliedervotum als neue Parteivorsitzende durch, weil sie versprochen hatte, die Große Koalition zu beenden. Schon nach dem ersten Koalitionsausschuss lud Merkel sie ein, noch etwas länger im Kanzleramt zu bleiben und bei einem Glas Rotwein über das Politikerinnenleben in »Männerparteien« zu klönen. Es fanden sich auch ein paar digitalpolitische Aufgaben für Esken. Die Große Koalition platzte nie.

Ganz anders Merz. Er ignoriert Esken. Nach der Bundestagswahl ruft er nur bei ihrem Co-Vorsitzenden Klingbeil an. Am Sonntag gratuliert er ihm zum Geburtstag, am Dienstag zu seiner Wahl zum Fraktionsvorsitzenden. Eskens Telefon bleibt stumm. Genauso bei den Grünen. Hier gibt es keinen Mann, den Merz anrufen kann, aber Haßelmann hält er für etwas weniger links. Also kriegt sie alle Aufmerksamkeit, die Co-Vorsitzende Dröge wird einfach ignoriert. Als Lars Klingbeil bemerkt, wie einseitig sein künftiger Koalitionspartner kommuniziert, versucht er die Lücke zu füllen. Der SPD-Vorsitzende ruft Dröge regelmäßig an und schildert ihr den Stand der Verhandlungen.

Dennoch ist Dröge beleidigt, dass Merz sie volle acht Tage lang nicht fragt, was die Grünen für ihre Zustimmung zur Grundgesetzänderung als Gegenleistung erwarten. Dann, bei einer Pressekonferenz der Spitzen von Union und SPD, wird deutlich, was sie wollen sollen: den Klimaschutz nachträglich in die schwarz-rote Einigung hineinverhandeln. Union und SPD haben das Wort »Klima« demonstrativ weggelassen, in ihren Statements wie auch auf der DIN-A4-Seite der schriftlichen Einigung.

Ist das die Zukunft des Klimaschutzes? Gerade noch Querschnittsaufgabe mit eigenem Ministerium unter dem Vizekanzler, jetzt bloß ein Steckenpferd, mit dem die Grünen spielen dürfen? Nachdem die Erwachsenen die wichtigen Fragen geklärt haben? Der hält uns für doof, sagt Dröge zu Haßelmann.

Einen Tag später bekommen die grünen Fraktionsvorsitzenden einen ersten Termin in Merz’ Büro in den Räumen der Unionsfraktion. Klingbeil und Dobrindt sind auch da. Dröge und Haßelmann sagen, das Wort »Klima« allein reiche nicht. Sie tragen detailliert vor, welche gesetzgeberischen Veränderungen sie bei der Reform der Schuldenbremse und dem neuen Sondervermögen verlangen. Merz macht sich nicht einmal Notizen.

Vorher waren die Frauen sauer. Jetzt sind sie zornig. Sie würden Merz am liebsten auflaufen lassen. Aber haben sie die politische Kraft dazu? Nach der Wahlniederlage der Grünen auf Bundesebene ist absehbar, dass die innerpolitische Macht in die Länder wandern wird. Dort gibt es noch Regierungsbeteiligungen, also Gestaltungsmöglichkeiten und Posten. Die grünen Landespolitiker, die zumeist mit der CDU regieren, waren schon in den Ampel-Jahren viel pragmatischer eingestellt als die Bundestagsfraktion. Und jetzt haben sie ein Interesse daran, dass Merz seine Grundgesetzänderung bekommt. Denn dann fließen die Milliarden auch in die Provinz. In Baden-Württemberg etwa tritt der seit vierzehn Jahren regierende grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei der Landtagswahl im März 2026 nicht mehr an. Ein Sparhaushalt wäre kein schönes Umfeld für den Nachfolgekandidaten Cem Özdemir. Der ist noch Landwirtschaftsminister in der Regierung Scholz und klug genug, nicht persönlich Druck auf Dröge und Haßelmann auszuüben. Das erledigt Rudi Hoogvliet für ihn, der Bevollmächtigte des Landes Baden-Württemberg. Auch Danyal Bayaz, der Finanzminister im Ländle, bearbeitet die beiden telefonisch: Schluckt euren Ärger hinunter, Take the money and run! Mona Neubaur, die angesehene stellvertretende Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, macht deutlich, dass sie es genauso sieht. Und Björn Fecker, der Finanzsenator von Bremen, der nicht mit der CDU regiert, sondern mit SPD und Linken.

Vielleicht wären Dröge und Haßelmann eingeknickt. Aber nun springen ihnen zwei Männer bei, mit deren Hilfe niemand rechnen konnte, Robert Habeck und Markus Söder. Der grüne Vizekanzler hat jahrelang den Oberrealo gegeben und noch im Wahlkampf jeden Fauxpas von Merz schön- oder zumindest kleingeredet. Er wollte ja nach der Wahl mit ihm regieren. Aber jetzt, nach der Niederlage, ist damit Schluss. Habeck ist nicht nur sauer, weil er verloren hat. Er ist wütend, denn er findet, er habe unfair verloren. Die Union hat ihn erst madig gemacht als »schlechtesten Wirtschaftsminister aller Zeiten«. Und nach der Wahl haben sie alle seine Vorschläge übernommen. Höhe, Laufzeit und sogar der Name des Sondervermögens – alles original Habeck!

Der gescheiterte Kanzlerkandidat fühlt sich um einen Sieg betrogen. Und spielt nun nicht mehr im Team Konzilianz. Vielmehr bestärkt er Katharina Dröge darin, Maximalforderungen zu stellen. Eine bizarre Wendung. Denn Dröge hatte in der Ampel-Regierung drei Jahre lang Habeck gequält, er dürfe gegenüber SPD und FDP nicht zu nachgiebig sein. Nun rät er ihr, das Gleiche zu tun bei Merz. Dass ausgerechnet Habeck das Lager der kompromissbereiten Realos verlässt und in dieser entscheidenden Frage zu den kategorischen Linken wechselt, ändert schon die Machtbalance bei den Grünen. Zum Kippen aber bringt sie erst Markus Söder.

Denn dessen CSU veranstaltet wenige Stunden nach dem Gespräch in Merz’ Büro ihren politischen Aschermittwoch. 6000 Zuschauer warten in der Dreiländerhalle in Passau darauf, dass CSU-Politiker den politischen Gegner möglichst derb beschimpfen. Und als politischen Hauptgegner definiert die Söder-CSU offenbar weder die Linke noch die AfD, sondern die Grünen. Generalsekretär Martin Huber erklärt hämisch, sie seien nach ihrer Wahlniederlage »Ramschware«, Habeck könne ab jetzt »Kinderbücher von der Oppositionsbank« aus schreiben. Hubers Parolen werden im politischen Berlin aufmerksam wahrgenommen, mit wachsendem Entsetzen. »Hat der den Schuss nicht gehört?«, heißt es in einer Chatgruppe führender Christdemokraten. Einige glauben, Söder habe seinen Generalsekretär beauftragt, die niederen Instinkte im Saal voll zu befriedigen, damit er als Parteivorsitzender anschließend nicht auch noch auf die Grünen einschlagen müsse. Aber weit gefehlt, Söder legt sogar nach: »Ein Minister muss nicht alles wissen, aber ein Minister, der gar nichts weiß, den kannst du in Deutschland nicht brauchen«, mokiert er sich über Habeck. Und ruft ihm höhnisch zu: »Goodbye, gute Reise, auf Nimmerwiedersehen!«

In der CDU bricht Panik aus. Will Söder Schwarz-Rot absichtlich scheitern lassen? Vielleicht, um Merz doch noch als Kanzler zu verhindern? Daniel Günther, der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, und Karin Prien, die stellvertretende Parteivorsitzende, rügen den CSU-Chef öffentlich. Aber für Dröge und Haßelmann liefern die bayerischen Schmähungen das, was sie brauchen. In dieser Atmosphäre gelingt es ihnen, ihre gerade noch kompromissbereiten Landesfürsten nun auf die harte Linie festzulegen.

Am Freitag überreicht Merz den Grünen in seinem Büro einen Textentwurf, wie das Grundgesetz geändert werden soll, samt Begründung. Und siehe da, das Wort »Klima« ist eingefügt worden. Danke, sagt Dröge trocken: »Kennen wir schon aus dem Internet.« Am Tag zuvor war das Dokument an Journalisten durchgestochen worden. Ein Reporter hatte es hochgeladen, und die Metadaten verrieten seine Quelle. Unter »Bearbeiter« stand dort »Bayerische Staatskanzlei«. Merz bleibt ungerührt. Die Grünen müssen der Aufrüstung zustimmen, meint er, es geht doch gegen Putin. Und auch den Milliarden für die Infrastruktur, weil die Grünen doch schon immer dafür waren. Am Ende, so ist er überzeugt, würde die staatspolitische Verantwortung zählen, nicht die Streitigkeiten am Rande.

Einen Tag später erhält Dröge eine Kurznachricht, um halb zwei mittags: »Die machen eine PK!« Die Nachricht kommt von Habeck. Ob der Vizekanzler von Schwarz-Rot informiert wurde oder einfach nur Nachrichtenfernsehen schaut, weiß Dröge nicht. Dort läuft auch schon die Meldung, Union und SPD würden in Kürze ihre Sondierungsergebnisse im Paul-Löbe-Haus, unweit des Reichstages, präsentieren.

Dröge müsste eigentlich sofort telefonieren, aber das ist gerade schwierig. Denn sie sitzt im Berliner Olympiastadion, beim Spiel Hertha gegen Schalke 04, auf der Gegengerade mit Blick auf die Kurve der Gästefans. Dröge schwärmt seit ihrer Kindheit im Münsterland für Schalke. Ihr Bruder gehörte zeitweise der Ultra-Szene des Gelsenkirchener Traditionsvereins an.

Als HabecksSMS eintrifft, läuft noch die erste Halbzeit. Schalke ist gerade 1:0 in Führung gegangen. Dröge bleibt bis zum Ende des Spiels, es wird noch richtig spannend, die Königsblauen retten den Auswärtssieg mit 2:1 über die Zeit. Auf dem Rückweg bleibt wenig Zeit zum Jubeln, denn die grüne Fraktionsvorsitzende erhält jetzt eine Nachricht nach der anderen, von vielen Journalisten, alle mit der gleichen Frage: »Nehmen Sie das Angebot an?«

Aber Dröge weiß nichts von einem Angebot. Sie hat die Pressekonferenz von Schwarz-Rot nicht gesehen. Deren elfseitige Sondierungsergebnisse lässt sie sich auf das Handy schicken, aber darin wird ein Angebot nicht erwähnt. Sie ruft Britta Haßelmann an, ihre Co-Vorsitzende. Die Grüne, mit der Merz spricht. Doch Haßelmann ist gerade nicht zu erreichen, sie ist zum Wochenende in ihre westfälische Heimat gereist. Sie wandert auf dem Leberblümchenweg im Teutoburger Wald, dort gibt es keinen stabilen Mobilfunkempfang. Schalke gucken und wandern gehen – die Grünen hatten sich einen Tag freigenommen, weil sie von Schwarz-Rot nicht vorgewarnt wurden. Derweil sagt Merz in Berlin: »Ich habe Frau Haßelmann unmittelbar nach Ende unserer Sondierungsgespräche informiert.« Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: »Ich habe ihr eine Nachricht hinterlassen.«

Diese Aussage löst in grünen Chatgruppen Rätselraten aus, Dröge sieht es auf dem Rückweg vom Stadion. Dort liest sie plötzlich, wie Haßelmann einem der Chatmitglieder zum Geburtstag gratuliert. Sie hat ihre Wanderung beendet und ihr Handy angeschaltet. Aber einer Gewohnheit folgend arbeitet Haßelmann ihre Nachrichten nach der Reihenfolge des Eingangs ab, die ältesten zuerst.

Dröge ruft sie sofort an. »Du hast eine Nachricht von Merz, schau mal nach.« Haßelmann scrollt durch ihre Nachrichten: »Da ist nichts.« Da ist wirklich nichts. Denn Merz hat keine Textnachricht geschrieben, sondern einfach bei Haßelmann auf den Anrufbeantworter gesprochen. Die beiden Frauen lachen schallend. Sie wissen, das reicht, um die Grünen zur Ablehnung zu bewegen.

Ein wichtiges Angebot auf dem AB zu hinterlassen und es anschließend öffentlich zu machen, gilt im politischen Berlin als krass unprofessionell. Niemand spricht dort mehr auf Mailboxen. Vermutlich seit Bundespräsident Christian Wulff dem damaligen Chefredakteur der Bild, Kai Diekmann, eine Nachricht auf Band sprach, die mit dem legendären Satz »Bin grad auf dem Weg zum Emir« begann und am Ende den Rücktritt des Staatsoberhauptes auslöste. Das war 2011. Damals war Merz schon nicht mehr dabei.

Der Kanzler in spe glaubt immer noch, die grünen Stimmen im Sack zu haben: »Wenn ich es richtig einschätze, dann ist ja vieles von dem, um nicht zu sagen, fast alles, was wir da vorschlagen, auch von den Grünen in der letzten Wahlperiode schon einmal vorgetragen worden, wenn auch unter ganz anderen internationalen und globalen Umständen«, doziert er öffentlich. »Aber diese Zustände haben sich jetzt noch einmal so zugespitzt, dass die Zustimmung der Grünen eigentlich gerade jetzt sicher sein müsste.«

Staatspolitische Verantwortung eben. Was Merz nicht weiß: Dröge und Haßelmann haben eine Idee entwickelt, wie sie ihm dieses Argument aus der Hand schlagen können. Zunächst in der grünen Sechsergruppe bei Signal schlagen sie vor, in der folgenden Woche einen eigenen Gesetzentwurf einzubringen, der Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse freistellt. Die zusätzlichen Milliarden für die Infrastruktur wollen sie hingegen nicht beschließen.

Wieder eine spektakuläre Wende. Die Grünen wollen Geld für Panzer und Raketen, nicht aber für Brücken und die Bahn? In der Tat. Denn so können sie Schwarz-Rot spalten, indem nicht beschlossen wird, was die SPD der Union als Bedingung für die Koalition abgehandelt hat. Die Absicht ist klar: Merz kann nicht auf die SPD verzichten. Der Vorschlag erhöht also den Druck auf ihn, endlich mit den Grünen zu verhandeln.

Ein verwegenes Manöver. Doch mittlerweile sind auch die grünen Landespolitiker verärgert. Die CSU hat nämlich jede Menge Extrawünsche für ihre Klientel schon ins Sondierungspapier geschrieben: Mütterrente, Subvention von Agrardiesel, Pendlerpauschale – diese Wohltaten sollen mit der neuen Verschuldung bezahlt werden.

»Substitutionseffekte« – davor hatten die vier Ökonomen noch in ihrem Papier gewarnt, auf dessen Grundlage die Verschuldung beschlossen wurde. Gemeint ist eine Art Verschiebebahnhof. Investitionen, die bisher aus dem Bundeshaushalt gestemmt wurden, werden künftig aus dem Sondervermögen bezahlt. Das im normalen Etat frei gewordene Geld kann beliebig ausgegeben werden. Die Grünen fürchten, dass Merz auf diese Weise sogar noch seine im Wahlkampf versprochenen Steuersenkungen durchzieht. Am Ende ruft Habeck persönlich bei Winfried Kretschmann an und erwirkt dessen Segen für den Konfrontationskurs.

Plötzlich nimmt Merz die Grünen ernst. Als Geste des guten Willens beschließt er, die anderen nicht in sein Büro zu bestellen, sondern seinerseits in Haßelmanns Büro zu kommen. Um sie geheim zu halten, werden die Termine für die Treffen fortan nicht in die Kalender der Spitzenpolitiker eingestellt. Aber es funktioniert nicht. Dutzende Kamerateams warten auf dem Flur der Grünen. Die Verhandler weichen in einen Besprechungsraum aus, der zwei Stockwerke darunter liegt. Dort hängen Devotionalien aus der Parteivergangenheit an der Wand. Anti-Atom-Aufkleber und Plakate, eines mit dem Porträt von Helmut Kohl samt Headline: »Über Italien lacht die Sonne, über Deutschland die ganze Welt.« Merz fühlt sich merklich unwohl, auch das Gespräch nimmt eine konfrontative Wendung, weil der CDU-Vorsitzende noch einmal auf das Ökonomenpapier zur Verschuldung zu sprechen kommt und einen Tonfall anschlägt, den Dröge als belehrend empfindet. Das kann sie als Feministin auf keinen Fall über sich ergehen lassen, meint sie. Als Merz »Professor Fuest« erwähnt, fällt sie ihm ins Wort: »Ich weiß, ich habe bei Fuest studiert.«

Es ist Alexander Dobrindt, der Landesgruppenchef der CSU, der das Treffen beendet, bevor es zum großen Streit kommt. Und Dobrindt bleibt sitzen, nachdem Merz und Klingbeil gegangen sind. Um die Stimmung aufzuheitern, macht er Selfies vor dem grünen Wandschmuck. Der CSU-Landesgruppenchef grinsend mit Stoppt-Strauß-Button! Daraufhin bietet Haßelmann ihm eine Cola an, und man kommt ins Gespräch.