Machtverfall - Robin Alexander - E-Book
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Machtverfall E-Book

Robin Alexander

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Beschreibung

Ein Jahr nach der Bundestagswahl: Der Topseller über Merkels Ende jetzt als aktualisiertes Taschenbuch

Zum Ende ihrer Amtszeit hatte Angela Merkel ihre wohl größte Herausforderung zu bestehen. Doch die Kanzlerin, die in Notsituationen oft zur Hochform aufgelaufen war, geriet in dieser Krise an die Grenzen ihrer Autorität. In seinem brillant geschriebenen Buch, das zum Bestseller wurde, hat Robin Alexander den spektakulären Machtverfall einer Kanzlerin und zugleich das Ende einer ganzen Ära beschrieben.

Er erzählt die Geschichte hinter den Kulissen: vom harten, langen Kampf in den inneren Machtzirkeln der Republik und vom Showdown um Merkels Nachfolge, der die Union zerrissen hat - und zur Wahlniederlage im September 2021 entscheidend beitrug. Ein glänzend recherchiertes Buch, das zeigt, wie nah in der Politik der unbedingte Wille zur Macht und die Machtlosigkeit beieinander liegen.

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Seitenzahl: 571

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ROBIN ALEXANDER, geboren 1975, zählt zu den Topjournalisten im politischen Berlin. Er war Redakteur bei der »taz« und Reporter bei »Vanity Fair«, bevor er 2008 zur »Welt«-Gruppe wechselte. 2013 wurde er mit dem renommierten Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Seit 2019 ist er stellvertretender Chefredakteur Politik der »Welt«. Sein Buch »Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik« (Siedler 2017) stand wochenlang an der Spitze der Bestsellerliste und bildet die Grundlage für das gleichnamige ARD-Dokudrama, das 2020 ein Millionenpublikum erreichte. »Machtverfall« (2021) war ebenfalls ein großer Erfolg bei Publikum und Kritik und bestätigte seinen Ruf als herausragender politischer Kommentator. Robin Alexander lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Berlin.

Machtverfall in der Presse:

»Wer an den prachtvollen Abgründen der Politik, die immer unsichtbar bleiben sollen, Gefallen findet, wird sich mit diesem Buch bestens unterhalten fühlen.«DIE ZEIT

»Wer wissen will, wie Politik und vor allem politische Karrieren gemacht werden, sollte dieses Buch lesen.«T-Online, Florian Harms

»Mit ›Machtverfall‹ ist Robin Alexander ein Pageturner gelungen, der die Leser*innen tief in die Machtzirkel der Union hineinzieht.«Cem Özdemir, Tagesspiegel

»Glänzend geschriebenes Kabinettstück des investigativen Journalismus.«Neue Zürcher Zeitung

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ROBIN ALEXANDER

MACHTVERFALL

Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik: Ein Report

Aktualisierte Ausgabe

Die Originalausgabe erschien 2021 Im Siedler Verlag, München. Für diese Ausgabe wurde das Nachwort neu verfasst.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Siedler Verlag, München und © 2022 by Penguin Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Beratung: Jens König

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München

Umschlagabbildung: © picture alliance/dpa, Michael Kappeler

Satz: Uhl + Massopust GmbH, AalenISBN 978-3-641-27539-6V006

www.penguin-verlag.de

Inhalt

KANZLERSCHATTEN

1 – »Uns ist das Ding entglitten«

2 – Laschets Exit

3 – Vati an Muttis Seite

4 – Söders Nahtoderfahrung

HETZJAGD

5 – »Ich kann. Ich will. Ich werde.«

6 – Cocktails unter Freundinnen

7 – »Du willst mich stürzen?«

8 – Blut im Wasser

FIASKO

9 – Merkels Trip nach Wuhan

10 – Ein Erfolg, der blind macht

11 – »Ich bringe Leute in Position, laufen müssen sie selber«

12 – »Du wirst es schon mal nicht!«

13 – Merz und die Machtprobe

14 – Männerballett

LOCKDOWN

15 – »Wir werden uns noch viel verzeihen müssen«

16 – Die Kurve auf dem Handy der Kanzlerin

17 – Södern statt Zögern

18 – Merkels Angst

ENDSPIEL

19 – Zeit für Blümchenprints!

20 – Mehr Merkel wagen

21 – Impfen? »Richtig scheiße gelaufen«

22 – Merkel und die Mutanten

23 – »813 AL«

24 – Schmutzeleien

25 – Ich bin der Stärkere!

Ein Jahr später: Nachwort zur Taschenbuchausgabe

Personenregister

KANZLERSCHATTEN

1 »Uns ist das Ding entglitten«

Die letzte Etappe ihres langen Weges beginnt im Nieselregen. Angela Merkel geht mit kleinen, vorsichtigen Schritten die nasse Gangway herunter. Ein Sicherheitsbeamter hält einen großen schwarzen Schirm über sie, aber die Treppe unter ihren Füßen ist rutschig. Stolpere oder fiele sie gar, würde das Missgeschick auf der ganzen Welt zu sehen sein. Merkels Ankunft auf dem Flughafen Washington Dulles International, obwohl kurz vor Mitternacht, wird von vielen Fernsehsendern live übertragen. Die Bundeskanzlerin war schon oft in den USA, aber heute besucht sie zum ersten Mal Donald Trumps Amerika. Ein historisches Ereignis. Es ist der 16. März 2017.

Angela Merkel hat sich auf diese Reise so intensiv vorbereitet wie auf keine andere in ihrer langen Kanzlerschaft. Alle wichtigen Bücher über Trump sind für sie im Kanzleramt exzerpiert worden, natürlich auch The Art of the Deal aus dem Jahr 1987, in dem Trump sich seines rücksichtslosen Verhandlungsstils rühmt – das »zweitbeste Buch nach der Bibel«, wie er später anmerkte. Auf dem Hinflug hat Merkel vor Mitreisenden Passagen aus dem Playboy zitiert, dem Trump 1990 als junger Immobilienhai ein langes Interview gab; es gewährt tiefe Einblicke in sein Denken. Ein knappes Dutzend CEO von großen deutschen Unternehmen begleiten die Kanzlerin nach Washington, weil Trump es liebt, sich mit Bossen zu umgeben.

Aus den Wahlkampfreden und Pressekonferenzen des US-Präsidenten sind für Merkel eigens Videos zusammengeschnitten worden, die seine Rhetorik, Gestik und Mimik analysieren. Merkel schaute sich alte Folgen von The Apprentice an, der Fernseh-Reality-Show, mit der Trump berühmt wurde und deren legendären Spruch »You’re fired!« (»Du bist gefeuert!«) jeder in Amerika kennt. Sie hat Theresa May, die britische Premierministerin, angerufen, die vor ihr bei Trump im Weißen Haus war – beim Spaziergang durch den Rosengarten hatte Trump ungefragt nach ihrer Hand gegriffen. Merkel wollte auf keinen Fall Händchen haltend mit dem Präsidenten gefilmt werden. Sie hat sich mit der Britin beraten, wie man dem als Frau am geschicktesten ausweicht.

Mit ihrem Besuch im Weißen Haus im Frühjahr 2017 beginnt das letzte Kapitel von Merkels Kanzlerschaft. Wäre Trump nicht US-Präsident geworden, hätte sie darauf verzichtet, bei der Bundestagswahl ein paar Monate später erneut anzutreten.

Angela Merkel hatte sich monatelang mit ihrer Entscheidung gequält. Sie hatte den Knochenjob schon zwölf Jahre gemacht, hatte die Finanzkrise, die Eurokrise und zuletzt die Flüchtlingskrise bewältigen müssen, war dabei oft an ihre Grenzen geraten. Warum sollte sie sich das vier weitere Jahre antun?

Weil ihr die Geschichte eigentlich keine andere Wahl ließ.

Trump wurde am 8. November 2016 zum amerikanischen Präsidenten gewählt, acht Tage später empfing Merkel seinen Vorgänger Barack Obama zu einem Abschiedsessen unter vier Augen im Hotel Adlon in Berlin. Der scheidende Präsident war extra noch einmal nach Europa geflogen, um die deutsche Kanzlerin zu sehen, bevor er das Weiße Haus verlassen würde – sie war ihm in seinen acht Jahren im Amt zur wichtigsten Partnerin geworden. Die beiden saßen allein im Adlon an einem kleinen Tisch und redeten drei Stunden lang.

Obama erzählte später seinem Redenschreiber Ben Rhodes, er habe mit Merkel auch über die Frage gesprochen, ob sie noch einmal als Kanzlerin antreten solle. Sie fühle sich nach Trumps Wahl noch mehr verpflichtet, soll sie gesagt haben, für eine weitere Amtszeit zu kandidieren, um die liberale internationale Ordnung zu verteidigen. Als Merkel Obama verabschiedete, so Rhodes, habe »eine einzelne Träne« in ihren Augen gestanden. Obama habe hinterher zu seinem Redenschreiber gesagt: »Sie ist nun ganz allein.«

Vier Tage später gab Merkel bekannt, dass sie bei der nächsten Bundestagswahl erneut antreten werde. Gefragt, ob sie das wegen Trump tue, antwortete sie ausweichend: »Ich brauche lange, und die Entscheidungen fallen spät. Dann stehe ich aber auch dazu.« Sie sprach von Herausforderungen »für unsere Art zu leben« und einer Weltlage, die, »vorsichtig gesagt, erst mal neu zu definieren« sei. Merkel wollte das Feld nicht räumen. Nicht für Trump.

»Auf die Führerin der freien Welt« hatten Obamas Mitarbeiter im Adlon einen Toast ausgesprochen. Zuvor hatte schon die New York Times die Bundeskanzlerin zur »letzten Verteidigerin des freien Westens« stilisiert. Solange Amerika wegen Trump ausfiel, sollte Angela Merkel, sollte Deutschland, so gut es geht, die Rolle der westlichen Supermacht ausfüllen. Eine solche Aufgabe ist noch keinem deutschen Kanzler gestellt worden, nicht ihrem Vorgänger Gerhard Schröder, nicht ihrem Mentor Helmut Kohl. Nicht einmal Konrad Adenauer oder Willy Brandt.

Zu Merkel passt diese Mission eigentlich am allerwenigsten. Sie hat bis hierhin zwölf Jahre lang sehr kleinteilig regiert, eher mit Blick auf den nächsten Koalitionsausschuss als auf den Eintrag ins Geschichtsbuch. Historisch war allenfalls ihre Flüchtlingspolitik, in die sie ungeplant hineingestolpert ist und die sie fast ihr Amt gekostet hat.

Über den »Mantel der Geschichte«, den ein Kanzler im richtigen Moment ergreifen müsse, wie Helmut Kohl es gern ausdrückte, hat Angela Merkel nie gesprochen. Und für unentbehrlich hat sie sich auch nie gehalten. Sie hat bei Kohl aus nächster Nähe miterlebt, was eine solche Haltung aus Menschen macht. »Ich möchte irgendwann den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Politik finden«, hatte Merkel 1998, dem Jahr, in dem Kohl abgewählt wurde, der Fotografin Herlinde Koelbl für deren Buch Spuren der Macht erzählt. »Dann will ich kein halb totes Wrack sein.«

Später hat sie oft bedauert, diese Worte gesagt zu haben. Sie wusste, sie würde daran gemessen werden. Schließlich hat das noch keiner ihrer Vorgänger geschafft: einen Abgang aus freiem Willen. Hat Merkel den richtigen Zeitpunkt zum Ausstieg aus der Politik verfehlt, als sie sich, unter dem Eindruck von Trumps Wahl, zum Weitermachen entschloss? Der Gedanke muss sie umgetrieben haben. Ihr Ehemann Joachim Sauer soll bei ihrem Entschluss zum Weitermachen eine entscheidende Rolle gespielt haben, so jedenfalls haben es Merkel-Vertraute im Kanzleramt berichtet. Er habe seiner Frau gesagt, ihr Wunsch, die Erste zu sein, die freiwillig das Kanzleramt verlasse, sei eitel. Bei ihrer Überlegung, ob sie weitermache oder nicht, dürfe diese Eitelkeit gerade nicht den Ausschlag geben. »Ich will Deutschland dienen«, hatte Angela Merkel bei ihrer Antrittsrede 2005 gesagt. Daran wird sie sich, als sie entschied, doch noch einmal anzutreten, erinnert haben.

Nun, ein »halb totes Wrack« ist Merkel nicht. Aber die vielen Jahre an der Macht haben ihre Spuren hinterlassen. Ihre hängenden Mundwinkel haben sich so tief in ihr Gesicht eingegraben, dass man sie auch dann noch sieht, wenn Merkel lächelt. Ihr Körper ist gezeichnet, vor zwei Jahren hatte sie mehrere Zitteranfälle in der Öffentlichkeit. Auch ihre Seele ist strapaziert. In ihrer letzten Amtszeit zeigt sie Gefühle, die sie in all den Jahren zuvor zu verbergen wusste.

Merkel muss klar gewesen sein, wie mühsam und schwer ihre letzte Etappe werden würde. Schon beim Betreten des Weißen Hauses in Washington an diesem Freitag im März 2017 sieht sie, dass kaum noch etwas so ist, wie es mal war. Alle Bilder der ehemaligen US-Präsidenten sind verschwunden. An den Wänden hängen nur noch Fotos von Donald Trump: Trump beim Schwur zum Amtsantritt, Trump bei der Parade, Trump beim Ball. Im berühmten Oval Office hängen jetzt goldene Vorhänge, die dem Machtzentrum der mächtigsten Demokratie der Welt eine feudale Note geben.

Der neue Präsident stellt seine Entourage vor. Ein dicker Mann in einem Anzug, der zwei Nummern zu groß wirkt, grinst Merkel frech an. Es ist Steve Bannon. Als Chef der rechtsradikalen Webseite Breitbart berühmt geworden, ist er jetzt Trumps Chefstratege im Weißen Haus. Er hält den Westen, den Merkel retten will, für dekadent und schwach, die universalen Menschenrechte für einen Witz. Bannon will die Welt brennen sehen: »Ein großer Krieg kündigt sich an«, prophezeit er. »Ein Krieg gewaltigen Ausmaßes«, ein »globaler Krieg gegen den islamischen Faschismus«. Trumps Revolution will er nach Europa tragen mit einem Netzwerk neuer rechter Parteien. »Merkel und Macron werden fallen wie die Kegel.«

Merkel sieht eine blondierte Frau. Auf High Heels überragt sie die Kanzlerin fast um zwei Köpfe. Sie trägt eine Handtasche, auf der die Sterne und Streifen der amerikanischen Flagge prangen – in glitzerndem Strass. Es ist Kellyanne Conway, Trumps Wahlkampfmanagerin, die Erfinderin des Begriffs »alternative Fakten«. In ihrer Kampagne spielte Merkel eine große Rolle. Weil diese »verrückte Kanzlerin« die deutschen Grenzen für Flüchtlinge geöffnet habe, so hieß es bei Conway, könnten Frauen in Deutschland nicht mehr ohne Gefahr auf die Straße gehen. Das war ein Argument für Trumps geplanten Mauerbau an der Grenze zu Mexiko.

Im Gespräch unter vier Augen versucht Merkel, Trump von einer gemeinsamen Linie gegenüber Russland zu überzeugen. Sie befürchtet, dass Putin sonst den Waffenstillstand in der Ukraine bricht, den sie gerade erst mit ihm ausgehandelt hat. In diesem Fall würde ein Krieg in Europa drohen.

Merkel hat sich auf Trumps notorisch kurze Aufmerksamkeitsspanne vorbereitet. Wie ein verzogenes Kind schaltet er trotzig ab, wenn er sich länger als ein paar Minuten konzentrieren muss. Deshalb erzählt sie ihm eine einfache, persönliche Geschichte von der Unfreiheit in der DDR, ihren Reisen durch Russland, ihren Erfahrungen mit Putin. Er hört zu, dann fragt er plötzlich: »Was ist eigentlich schwerer zu lernen, Englisch oder Russisch?«

Sie versucht, ihm auszureden, das Pariser Klimaabkommen aufzukündigen. In den kommenden Jahren wird sie das immer wieder tun. Auf dem G-20-Gipfel in Hamburg wird sich Trump weigern, die von der Kanzlerin vorbereitete Abschlusserklärung zu unterzeichnen, weil darin die Erderhitzung erwähnt wird. Beim nächsten Gipfel in Kanada wird sie ihn gemeinsam mit Gastgeber Justin Trudeau beknien, ihnen beim Klimaschutz wenigstens ein bisschen entgegenzukommen. Daraufhin wird Trump zwei Bonbons aus dem Jackett ziehen, sie vor Merkel auf den Tisch werfen und spotten: »Hey Angela, sag nicht, dass ich dir nichts gebe.«

Jetzt, im Weißen Haus, kündigt sie Zugeständnisse bei den NATOZahlungen an, damit Trump das Verteidigungsbündnis nicht in Trümmer legt. Deutschland werde seine Verteidigungsausgaben erhöhen und amerikanische Waffen kaufen, sagt sie. Der Präsident schockiert Merkel daraufhin, indem er ihr vorrechnet, Deutschland müsse nicht nur jetzt zwei Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Rüstung ausgeben, sondern auch das ganze Geld nachzahlen für all die Jahre, in denen es dafür nicht genügend Finanzmittel bereitstellte – mit Zinsen!

Während des gesamten Besuches hält die Kanzlerin, das Schicksal der britischen Premierministerin vor Augen, ihre Arme eng am Körper. Bei dem im Protokoll als »colonnade walk« vorgesehenen Gang durch eine Säulenreihe steigen die beiden eine abschüssige Rampe herab, die einst für den Rollstuhl von Franklin D. Roosevelt gebaut worden ist. Merkel läuft betont vorsichtig. Er spürt ihre Unsicherheit. »Soll ich deine Hand halten?«, fragt Trump. »Nein«, antwortet Merkel entschieden.

Der Präsident ist noch nicht fertig mit ihr. Die anschließende gemeinsame Pressekonferenz im East Room des Weißen Hauses ist fast zu Ende, da setzt er zur ultimativen Provokation an. Die Telefone von ihnen beiden seien von Obama abgehört worden, behauptet Trump: »Wir haben vielleicht wenigstens etwas gemeinsam.« Das ist eine Frechheit, denn es bedeutet in Wahrheit: Wir haben gar nichts gemeinsam. Dabei hatte Merkel den ganzen Tag über versucht, Gemeinsamkeiten auszuloten. Und noch schlimmer: Das Telefon der Kanzlerin war vom amerikanischen Geheimdienst NSA ja tatsächlich angezapft worden. Aber Trumps angebliche Telefonüberwachung durch Obama während seines Wahlkampfes ist reine Fantasie. Trump bringt es fertig, Merkel in seine Lügengespinste zu verwickeln.

Merkel kann darauf nicht antworten, ohne einen Eklat zu produzieren. Dann wäre ihr Besuch endgültig gescheitert und schon kurz nach Trumps Amtsantritt vor aller Welt bewiesen, dass die deutsche Kanzlerin den Westen doch nicht zusammenhalten kann. Sie muss die Unverschämtheit stehen lassen. Bannon lacht dröhnend. Trumps Mitarbeiter stimmen ein, einige Journalisten auch. Den Saal hat er gewonnen.

Aber nicht das öffentliche Bild. Denn im entscheidenden Moment zoomen die Fernsehkameras auf ihr Gesicht. Merkel schaut kurz zu Trump und wendet ihren Blick, in dem ihre ganze Verachtung für ihn liegt, demonstrativ ab. Jeder, der verstehen will, versteht. Die Szene geht im Netz sofort viral, aus ihrem Gesichtsausdruck wird ein millionenfach geteiltes Meme. »Wir sind alle Angela Merkel«, steht darunter. Die deutsche Kanzlerin ist plötzlich die Heldin des liberalen Amerika – und des liberalen Teils der restlichen Welt.

Sie hat ihre Rolle gefunden. Sie nimmt den Platz in der Weltgeschichte ein, den Obama ihr beim Essen im Hotel Adlon angetragen hatte. Ihre letzte Amtszeit als Kanzlerin findet darin – und nur darin – ihren Sinn.

Öffentlich weist Merkel die Rolle als letzte Verteidigerin des freien Westens zurück, sie nennt diese Stilisierung »grotesk«, ja »geradezu absurd«. Aber ihr schmeichelt der ihr zugeschriebene Ruhm natürlich auch. Sie ist sich ihrer Rolle sehr bewusst und spielt mit ihr. Deshalb hält sie die größte Rede ihrer Kanzlerschaft auch nicht im Deutschen Bundestag, sondern in Cambridge an der Ostküste der USA. Am 30. Mai 2019 spricht sie auf der Graduiertenfeier der Universität Harvard vor 20 000 Gästen. So viele haben sich in ihrer Heimat nie um sie herum versammelt. Hier in Harvard ist die liberale Elite Amerikas zusammengekommen. Die älteste Universität der USA ist Anti-Trump-Land. Aus dem gleichen Grund, aus dem sie ihren dauerlügenden Präsidenten hassen, verehren sie die deutsche Bundeskanzlerin: »Sie ist eine der am meisten respektierten globalen Führer mit beeindruckendem Intellekt und beeindruckendem Witz, Zivilcourage, Empathie und Einsatz nicht nur, um ihre eigene Nation zu formen, sondern unsere Welt als Ganzes« – mit diesen hymnischen Worten wird sie von der Präsidentin der Harvard-Studentenvereinigung, einer jungen Amerikanerin asiatischer Herkunft, vorgestellt.

In die Bewunderung schleichen sich ein paar Schönfärbereien ein. Merkel habe in Deutschland den Mindestlohn und die Ehe für alle eingeführt, die Atomkraftwerke abgeschaltet, den Klimawandel konsequent bekämpft und einer Million Kriegsflüchtlingen eine neue Heimat gegeben. Auf der Bühne schüttelt Merkel zwar leicht den Kopf, als sie gelobt wird. Aber sie strahlt übers ganze Gesicht. Dass ihr die Mehrzahl dieser Errungenschaften vom sozialdemokratischen Koalitionspartner und einer Gesellschaft, die längst moderner war, als es die CDU wahrhaben wollte, mühsam abgerungen werden mussten, interessiert in Harvard niemanden. Auch Historiker werden über manche Details hinwegsehen.

In die Geschichte eingehen wird Angela Merkel als Gegenspielerin von Donald Trump. In Harvard sollte sie den jungen Leuten etwas aus ihrem Leben mitgeben, war sie von der Universitätsleitung gebeten worden. Also erzählt sie von schwierigen Entscheidungen auf ihrem Lebensweg vor und nach dem Mauerfall, von ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin in der DDR und als Politikerin im wiedervereinigten Deutschland, von Mut und Wahrhaftigkeit. »Dazu gehört«, sagt sie, »dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen.«

An dieser Stelle springen die Amerikaner auf und jubeln frenetisch. Obwohl Merkel den Namen des amerikanischen Präsidenten in ihrer Rede kein einziges Mal erwähnt, wird jedes Wort von ihr als Abrechnung mit ihm verstanden. Sie feiern Merkel wie eine Heldin – und als Vertreterin der Werte des guten Amerika. »Veränderungen zum Guten sind möglich, wenn wir es gemeinsam angehen«, sagt die Kanzlerin. »In Alleingängen wird das nicht gelingen. Mehr denn je müssen wir multilateral denken und handeln, global statt national, weltoffen statt isolationistisch.« Das Publikum ist wieder und wieder begeistert. Sie verstehen Merkels Worte als Aufruf zum Kampf gegen den Trumpismus: »Nichts ist selbstverständlich. Unsere individuellen Freiheiten sind nicht selbstverständlich. Demokratie ist nicht selbstverständlich, Frieden nicht und Wohlstand auch nicht.«

Knapp zwei Jahre später hat die Geschichte der Kanzlerin recht gegeben. Sie hat über Donald Trump obsiegt. Er ist als Präsident abgewählt worden, die NATO ist nicht zerbrochen, die USA sind dem Pariser Klimaabkommen wieder beigetreten. Trumps endlose Lügen über eine angebliche Fälschung der Wahl sowie der Sturm aufs Kapitol durch einen Mob haben ihn endgültig ins Unrecht gesetzt. Steve Bannons Versuch, in Europa eine rechtsradikale Revolution anzustacheln, ist gescheitert. Kellyanne Conway, die Frau mit der glitzernden Handtasche und den alternativen Fakten, hat aufgegeben und sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, nachdem ihre Tochter sie öffentlich angeklagt hatte: »Der Job meiner Mutter hat mein Leben ruiniert.« Im Weißen Haus hängen keine goldenen Vorhänge mehr.

Und es gibt wieder einen amerikanischen Präsidenten, der verlässliche Politik machen will. Politik nicht nur für Amerika, sondern für und mit der Welt. Auf den Besuch im Weißen Haus müsste sich Merkel diesmal nicht besonders vorbereiten, sie kennt Joe Biden lange und gut. Obamas ehemaliger Vizepräsident hat sich zum Ziel gesetzt, mit den westlichen Verbündeten wieder zusammenzuarbeiten und die Macht Amerikas in den Dienst des Kampfes für Menschenrechte in der ganzen Welt zu stellen. Er ist zwar 14 Jahre älter als die Kanzlerin und wirkt noch weniger fit als sie. Aber mit dem neuen US-Präsidenten hat die freie Welt ihren angestammten Anführer zurück.

Merkels historische Mission ist erfüllt. Die letzte Etappe ihres langen Weges könnte hier zu Ende sein. Sie wäre frei, ein neues Leben in Angriff zu nehmen, so wie sie es in Harvard angekündigt hatte: »Und wer weiß, was für mich nach dem Leben als Politikerin folgt? Es ist völlig offen. Nur eines ist klar: Es wird wieder etwas anderes und Neues sein.« Jeder spürte, wie sehr sie sich darauf freut.

Das letzte Dreivierteljahr bis zur Bundestagswahl 2021 hätte sie mit einer glanzvollen internationalen Abschiedstournee verbringen können. Aber sie ist schon seit Monaten nicht mehr gereist. Die Männer, mit denen Merkel ringt, heißen auch nicht mehr Wladimir Putin und Xi Jinping, Boris Johnson und Recep Tayyip Erdoğan, sondern Armin Laschet und Markus Söder, Bodo Ramelow und Reiner Haseloff. Die Geschichte hat ihr am Ende ihrer Amtszeit noch einmal eine völlig neue, ihre bislang wohl größte Herausforderung aufgebürdet. Statt G-20-Gipfel gibt es jetzt »Beratungen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten«.

Angela Merkel kämpft gegen das Corona-Virus – und die Tücken des Föderalismus. Es geht um Inzidenzwerte, den R-Faktor, PCR-Tests und FFP2-Masken. In dieser Großkrise geht es aber auch um Merkels Erbe, ihren Nachfolger im Kanzleramt, die Zukunft der CDU als letzte Volkspartei Europas – und um das historische Urteil über Angela Merkel und ihre 16 Jahre an der Spitze Deutschlands. Sie weiß, dass die Geschichtsbücher in diesen Monaten neu geschrieben werden.

So kämpft sie mit zunehmender Verzweiflung um die Lösung der Krise – und um ihren Ruf. Die zwanzigste Konferenz mit den Ministerpräsidenten am 3. März 2021 dauert quälende neun Stunden. Zuerst wird über das Impfen gestritten. Es ist zu wenig Impfstoff da. Merkel wollte mit ihrer Vertrauten, der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Impfstoffe für ganz Europa organisieren – und sogar für die armen Länder der Welt. Jetzt reicht es nicht einmal für die eigenen Leute. Und der wenige Impfstoff, den es gibt, wird in Zweifel gezogen, viel zu bürokratisch verteilt, viel zu langsam eingesetzt. Bis Ende Mai werden die USA, so hat es Präsident Joe Biden angekündigt, Impfstoff für alle erwachsenen Amerikaner organisiert haben. Merkel hat den Deutschen versprochen, bis Ende September jedem ein Angebot zum Impfen zu machen. Sie weiß nicht mal, ob sie überhaupt diesen späten Termin einhalten kann. Ausgerechnet Donald Trump war besser als sie darin, die lebensrettenden Vakzine zu besorgen. Und Boris Johnson in Großbritannien auch. Ebenso Benjamin Netanjahu, der konservative israelische Ministerpräsident. Alles Politiker, die ihrer Meinung nach auf der falschen Seite der Geschichte stehen.

Auch die Corona-Tests hat Merkels Regierung zu spät besorgt. Schulen und Kitas haben Anfang März wieder aufgemacht, ohne die versprochenen Schnelltests erhalten zu haben. Bei Aldi und Lidl standen sie zu diesem Zeitpunkt längst im Regal. Die Hilfen für geschlossene Restaurants, Läden und Unternehmen kommen bei den Betroffenen nicht an, weil die Bundesregierung es lange nicht schafft, Webseiten zu programmieren, auf denen sie beantragt werden können. Bei der digitalen Nachverfolgung von Infektionsketten ist das Land ebenso kläglich gescheitert wie bei der Organisation des digitalen Schulunterrichts.

»Uns ist das Ding entglitten«, hat Merkel Anfang des Jahres zugeben müssen. Mutierte Corona-Viren verbreiteten sich immer schneller, das Land sitze »auf einem Pulverfass«, erklärte sie. Der Kanzlerin war es im Herbst nicht gelungen, rechtzeitig einen zweiten Lockdown durchzusetzen.

Ihre Staatskunst hatte bislang in erfolgreicher Krisenbewältigung bestanden. Doch obwohl sie die Bürger stets in dem Glauben gelassen hat, diese Krisen hätten nichts mit dem Alltag in Deutschland zu tun, wuchs im Land mit jeder globalen Krise das Gefühl, nicht länger unverwundbar zu sein. In der internationalen Finanzkrise fürchteten die Deutschen um ihre Spareinlagen. In der Eurokrise standen die Gemeinschaftswährung und die Europäische Union auf dem Spiel. In der Flüchtlingskrise wussten viele Städte und Gemeinden schon nicht mehr, wo sie die vielen Migranten unterbringen und wie sie das konfliktreiche Zusammenleben organisieren sollten. Aber erst jetzt, mit der Corona-Krise, Merkels letzter und größter Herausforderung, die bis in die letzte Familie vordrang und Zehntausende von Menschen das Leben kostete, war es mit deutscher Selbstzufriedenheit und Sorglosigkeit endgültig vorbei.

Dabei ist Merkels Macht in ihrer letzten großen Krise noch einmal gewachsen, sie ist größer als die Macht jedes anderen Kanzlers nach dem Krieg. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, schrieb Carl Schmitt. Merkel gebietet über ihn wie kein Regierungschef vor ihr. Theater und Restaurants werden geschlossen, Büros und Spielplätze bleiben leer, Reisen sind abgesagt. Bürger werden von der Polizei aus Grünanlagen gewiesen. Selbst Landkreise haben plötzlich Grenzen, die die Menschen zwingen, haltzumachen und wieder umzukehren. Ein Wochenende lang streitet Deutschland sogar darüber, ob man auf einer Parkbank ein Buch lesen darf. Das Demonstrationsrecht ist eingeschränkt, die Religionsfreiheit suspendiert. Die Kinder gehen nicht mehr zur Schule, und die Großeltern bleiben allein zu Hause. Wer in der Öffentlichkeit unterwegs ist, muss an vielen Orten eine Maske tragen.

So viel Staat war nie. Aber auch nie so viel Staatsversagen. Die Bundeskanzlerin kann nicht einmal dafür sorgen, dass die Gesundheitsämter eine einheitliche Software installieren. Dass die Bürger überall in Deutschland unter der gleichen Telefonnummer einen Impftermin vereinbaren können. Oder dass die Lehrer im Homeoffice ein Tablet oder wenigstens eine dienstliche E-Mail-Adresse bekommen. Je länger die Pandemie dauert, desto radikaler setzt Merkel auf den kompletten Lockdown. Am Ende regiert sie vor allem mit Appellen und Verboten – vielleicht auch deswegen, weil sie realisiert, was alles in dem von ihr seit 16 Jahren regierten Land nicht klappt. Als ihre Macht verfällt, klammert sie sich umso fester an ihre Autorität. Aber auch die schwindet zusehends.

Merkel kämpft schon seit über einem Jahr nicht mehr für die Rettung des Westens, der NATO oder des Klimas. Sie ringt jetzt darum, ob nach den Friseuren auch Fußpflegerinnen wieder öffnen dürfen. Ob für Küchenstudios andere Regeln gelten als für Möbelhäuser. Ob Campingplätze in Mecklenburg-Vorpommern geschlossen bleiben. Und ob Kinder nur noch einen Freund gleichzeitig treffen dürfen oder überhaupt nur noch einen Freund.

Die Wissenschaftler, von denen sich die Kanzlerin während der Pandemie beraten lässt, empfehlen ihr eine »No Covid«-Strategie: die Ausrottung des Virus durch einen zeitlich begrenzten, aber knallharten Lockdown. Doch im Jahr der Bundestagswahl und von fünf Landtagswahlen wollen die Politiker ihren Wählern das offenbar nicht zumuten. Sie lavieren. Anfang Februar hatte Merkel den Ministerpräsidenten immerhin noch einen Grenzwert von 35 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner in 7 Tagen abgepresst. Drei Wochen später hat sie sich auf 50 hochhandeln lassen. Der Lockdown sollte erst wieder bei einem Inzidenzwert von 100 in Kraft treten. Die einzelnen Öffnungsschritte bei unterschiedlichen Werten sind so verwirrend, dass sie in einer komplizierten Grafik zusammengefasst wurden. Das sorgte erneut für Hohn und Spott. Die dritte Corona-Welle war da längst im Anmarsch.

Als Merkel zwei Wochen vor Ostern daran scheitert, eine Ausgangssperre durchzusetzen, kommt sie in einer wirren Nachtsitzung vor dem 23. März auf die Idee, wenigstens die Feiertage zu verlängern. Aber nicht einmal eine fünftägige »Osterruhe« kann ihre Regierung organisieren. Zwei Tage später nimmt sie alles zerknirscht zurück und bittet die Bürger um »Verzeihung«: ein einmaliger Vorgang.

Deutschland erlebt sich in der Pandemie als schlecht regiertes Land. Sogar die Regierenden selbst gehen sich auf die Nerven. »Ich weiß nicht, was Sie getrunken haben. Sie sind hier nicht Kanzler«, giftete Bayerns Ministerpräsident Markus Söder gegen SPD-Finanzminister Olaf Scholz, als sie um milliardenschwere Härtefallfonds für angeschlagene Firmen stritten: »Sie sind nicht der König von Deutschland oder der Weltenherrscher. Da brauchen Sie gar nicht so schlumpfig herumzugrinsen!« Wenige Wochen zuvor hatte der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow erzählt, dass er während der Sitzungen mit Merkel Candy Crush auf seinem Handy spiele. Andere Teilnehmer würden Sudokus lösen. Das Gremium, mit dem Merkel Deutschland durch die Corona-Krise steuert, ist zur Lachnummer geworden.

Merkels letzte Etappe ihrer Amtszeit hatte im Weißen Haus begonnen. Sie endet in Schlumpfhausen.

Es sind nicht nur die Ministerpräsidenten, die Merkel zur Verzweiflung treiben. Sie dringt auch bei den Bürgern nicht mehr durch. »Wie gerne würde ich auch einmal etwas Gutes verkünden«, seufzte sie in einer Regierungserklärung. Sie weiß wohl, dass man ihr nicht mehr folgt und ihr nicht mehr glaubt. Sie redet unablässig von R-Werten, der 7-Tage-Inzidenz, von Mutanten, dem Sequenzieren des Virus, ganz so, als sei sie die Virologie-Beauftragte der Regierung und nicht die Bundeskanzlerin und mächtigste Frau der Welt. Die Leute wollen einfach nur gut regiert werden und sehnen ansonsten den nächsten Urlaub herbei und das nächste Treffen mit Freunden im Restaurant. Die Krise und das große Versagen haben sie zermürbt, sie entweder still, verzweifelt oder wütend werden lassen. Der Kanzlerin hingegen kommen ihre Bürger unvernünftig vor, wie drängelnde Kinder, die die Anstrengungen der Eltern nicht zu würdigen wissen. Am Ende eines langen gemeinsamen Weges, so scheint es, haben sich die Bürger und ihre Regierungschefin auseinandergelebt.

Sogar die Anerkennung der Welt bleibt Angela Merkel jetzt versagt. Eben noch als letzte Heldin der freien Welt verehrt, von den Liberalen in New York, London oder Tel Aviv als kluge, den Werten der Aufklärung verpflichtete Staatenlenkerin gefeiert, sieht die Weltöffentlichkeit in ihr plötzlich die müde Regentin eines risikoscheuen, überbürokratisierten, technisch abgehängten Landes. Viele deutsche Medien, die lange nibelungentreu das Lied der besten Kanzlerin des besten Landes der Welt sangen, wenden sich nun von ihr ab. Es lohne sich nicht mehr, ihren Rücktritt zu fordern, hieß es in einem Leitartikel, sie sei eh nur noch ein paar Monate im Amt.

Auch der Bundestagswahlkampf, die Frage, wer der nächste Kanzler der Republik werden wird, ist längst in den Sog der schier ewig andauernden Corona-Krise geraten. Das Versagen der Bundesregierung schadet vor allem der CDU dramatisch. Ihr Markenkern bestand doch seit Jahrzehnten in dem Versprechen, die Republik verlässlich zu regieren. Dieses Vertrauen der Bürger in ihre Fähigkeiten hat sie verspielt. Die Union ist darüber in eine schwere Identitätskrise gestürzt, die ihre Versäumnisse der letzten Jahre offenbart. In den Umfragen befindet sie sich im Frühjahr 2021 im freien Fall.

Angela Merkel hatte sich eine kluge, liberale, pragmatische, unsentimentale Powerfrau als Nachfolgerin gewünscht. Eine wie sie. Annegret Kramp-Karrenbauer ist an den hohen Ansprüchen gescheitert. Anschließend rangen drei Männer um das Erbe Merkels, die ihre Politik in entscheidenden Fragen bekämpft haben. Armin Laschet trug ihre Corona-Maßnahmen nur widerwillig mit, Markus Söder hielt ihre Flüchtlingspolitik für einen Jahrhundertfehler und Friedrich Merz ihre Kanzlerschaft für einen historischen Irrtum. Aus den verlustreichen Machtkämpfen, die am Ende Armin Laschet für sich entschied, hat sich die Kanzlerin herausgehalten. Es wirkte, als ginge sie in dieser Schicksalsfrage demonstrativ auf Distanz zu ihrer Partei. Ausgerechnet in dieser für die CDU so heiklen Lage inszenieren sich die Grünen, die mit Annalena Baerbock zum ersten Mal eine Kanzlerkandidatin aufbieten, als wahre Nachfolger Merkels.

Der Ausgang der Bundestagswahl im Herbst ist offen wie nie. Wer Angela Merkels Erbe antritt, auch.

2 Laschets Exit

Als Markus Söder und Armin Laschet zum ersten Mal über ihre Rivalität beim Kampf ums Kanzleramt reden, tun sie das in Gegenwart eines weiteren ambitionierten Provinzpolitikers: Friedrich August II. von Sachsen, er steht direkt unter ihnen auf dem Dresdner Neumarkt. Der König fiel zwar schon vor fast 170 Jahren aus einer Postkutsche und starb, aber seine Bronzestatue glänzt wie eh und je in der sommerlichen Abendsonne. Söder und Laschet machen gerade eine Pause, sie stehen auf dem Balkon des Nobelhotels »Steigenberger de Saxe«. Am König vorbei können sie bis zur Frauenkirche sehen. Laschet zündet sich ein Zigarillo der Marke »Buena Vista« an, zu Deutsch: gute Aussicht. Passt ja.

Im Steigenberger Hotel tagen an diesem 26. August 2019 die Parteiführungen von CDU und CSU. Sie streiten über den Ausstieg aus der Kohleindustrie, Söder will ihn um ein paar Jahre vorziehen, weil auch in Bayern gerade viele Bürgerkinder jeden Freitag fürs Klima demonstrieren. Laschet will das nicht, er regiert das Bundesland, das bei der Stilllegung von Braunkohlekraftwerken bis 2030 die Hauptlast trägt. Im Konferenzraum »Frauenkirche 1/2« führt Angela Merkel zwar immer noch das Wort, aber die Kanzlerin ist angeschlagen, sie hat in den vergangenen Wochen bei mehreren öffentlichen Auftritten am ganzen Körper gezittert. Und Annegret Kramp-Karrenbauer, die sie sich als Nachfolgerin wünscht, hat als CDU-Vorsitzende schon viel Autorität verloren.

Der Kampf um Merkels Erbe wird noch nicht offen ausgetragen, aber die beiden potenziellen Nachfolger beschnuppern sich in der Sitzungspause auf dem Hotelbalkon wie junge Hunde. Laschet fragt Söder, warum er ihm nicht einfach offen sage, dass er Bundeskanzler werden wolle. Mit großer Geste weist es Söder von sich: Kanzler? Er? Niemals! In Bayern sei es viel zu schön. Sein Ehrgeiz liege allein darin, die CSU wieder groß zu machen. Als CSU-Vorsitzender könne er bundesweiten Ambitionen aber natürlich nicht öffentlich abschwören. Die Parteimitglieder erwarteten vom bayerischen Ministerpräsidenten nun mal, dass er mit der CDU auf Augenhöhe verhandele. Mehr sei da wirklich nicht dran.

Dann kontert Söder: Aber er, Laschet, könne doch einfach bekennen, dass er Bundeskanzler werden wolle. Woraufhin Laschet alles abstreitet: Kanzler? Auf keinen Fall! Nordrhein-Westfalen liege ihm sehr am Herzen. Seine Aufgabe, das Land voranzubringen, habe er doch gerade erst begonnen. Ihn ziehe es überhaupt nicht nach Berlin. Offen sagen könne er das leider nicht, denn die Landeskinder an Rhein und Ruhr erwarteten doch, dass der Ministerpräsident des größten Bundeslandes als kanzlerfähig gelte. Mehr sei da wirklich nicht dran.

So ging das eine ganze Weile hin und her. Beide auf dem Balkon in Dresden schworen wortreich, nicht das geringste Interesse an einer Kanzlerkandidatur zu haben. Einige ihrer Unionskollegen standen ganz in der Nähe und konnten das Gespräch mithören; deshalb ist es überliefert.

Keiner der Umstehenden glaubte den beiden auch nur ein einziges Wort. Söder und Laschet sich gegenseitig wohl auch nicht. Trotzdem spielten sie einander den Arglosen vor. Bloß nicht zu früh eigene Ambitionen erkennen lassen. Auf den richtigen Moment warten, wie Radrennfahrer, die erst aus dem Windschatten starten, wenn sie wissen, dass sie den Sprint gewinnen können.

Söder startet im März 2020. Er folgt keiner strategischen Planung, er handelt intuitiv in der heraufziehenden Krise. Söder spürt, dass die Rolle des entschlossenen Corona-Bekämpfers ihn ganz in die Nähe der Kanzlerin bringt und an die Spitze des Beliebtheitsrankings.

Laschet bemerkt Söders Antritt zu spät. Vielleicht, weil er abgelenkt ist. Annegret Kramp-Karrenbauer hat im Februar ihren Rückzug als Parteichefin und den Verzicht auf die Kanzlerkandidatur verkündet. Das hat Laschets Plan über den Haufen geworfen. Er wollte Kramp-Karrenbauer die Kanzlerkandidatur abnehmen – aber erst zu einem viel späteren Zeitpunkt. Sie sollte noch ein paar Monate den Gegenwind abbekommen, bevor er sie zur Seite schieben würde.

Auch die Einbindung von Friedrich Merz, auf die Laschet gesetzt hat, ist gescheitert. Und dann startet auch noch Norbert Röttgen völlig überraschend eine Solotour zum Parteivorsitz. Laschet hat Mühe, seine gute Ausgangsposition im Rennen um die Merkel-Nachfolge zu halten. Immerhin konnte er seinen alten Kontrahenten Jens Spahn in sein Führungsteam einbinden. Aber die Manöver haben seine ganze Aufmerksamkeit gebunden.

Laschet versteht am Anfang lange nicht, welche Dimension die Corona-Krise hat. Und er muss mitansehen, dass Söder an ihm vorbeizieht. Ende März ist er Laschet in den Umfragen bereits enteilt. Der muss nun kontern, selbst raus aus dem Windschatten. Und damit voll rein in den Gegenwind.

Jetzt, im Frühjahr 2020, wird nicht nur die Rivalität der beiden Ministerpräsidenten offen sichtbar – es zeigt sich in der Krise, wie unterschiedlich sie ticken und Politik verstehen. Jetzt werden Strategien und Charaktereigenschaften sichtbar, die ein Jahr später den Showdown um die Kandidatur bestimmen werden – und offenbaren, wie sie im Falle eines Wahlsiegs als Kanzler regieren würden.

Armin Laschet fasst einen Plan: Söder hat die Deutschen in den Lockdown geführt – er, Laschet, will sie nun aus dem Lockdown herausführen. Irgendwann müssen Schulen, Theater und Läden ja wieder öffnen. Und diesmal will er derjenige sein, der das zuerst auf seine Fahnen geschrieben hat.

So ruft Laschet Merkel an und verkündet, die Debatten über die richtige Corona-Strategie offener als bisher führen zu wollen. Ganz schlechte Idee, antwortet ihm die Kanzlerin. Die Leute sollen nicht über den Lockdown diskutieren, sondern weiter brav im Lockdown bleiben.

Merkel warnt die Deutschen vor »Ungeduld«. Dazu nimmt sie per Telefon einen Podcast auf, direkt aus ihrer Wohnung, in der sie in Quarantäne sitzt. Der besondere Klang, der Ältere an eine Radioübertragung im Zweiten Weltkrieg erinnert, passt zur Dramatik der Botschaft. Wie lange »diese schwere Zeit« anhalte, könne niemand mit gutem Gewissen sagen, verkündet die Kanzlerin und schwört die Menschen auf Durchhalten ein: »Noch geben uns die täglichen Zahlen der Neuinfektionen leider keinen Grund, nachzulassen oder die Regeln zu lockern.«

Natürlich könnte die Regierung, während das Land im Lockdown ausharrt, schon eine Exitstrategie planen. Aber so funktioniert Politik nicht, jedenfalls nicht bei Merkel. Die Kanzlerin regiert kleinteilig, von Tag zu Tag. Pläne sind hinderlich, verbauen nur Raum für Manöver. Weil ständig neue Probleme auftauchen, hält sich Merkel lieber alles offen. Dieser radikal reaktive Regierungsstil hat sich in den großen, unvorhergesehenen Krisen, die ihre Amtszeit prägten, bewährt. Und genauso wie die Eurokrise, die Finanzkrise und die Flüchtlingskrise bearbeitet sie jetzt die Corona-Krise.

Die Politiker müssten mit einer Stimme sprechen, erklärt sie Laschet am Telefon. Unterschiedliche, einander widersprechende Meinungen sorgten in der Bevölkerung nur für Verunsicherung. Laschet glaubt, das Gegenteil sei richtig: Nur wenn die Bürger sehen würden, dass ihre Belastungen von der Politik wahrgenommen werden, vertrauten sie den Vorgaben. Die Glaubwürdigkeit der Corona-Maßnahmen werde durch Streit darüber nicht erschüttert. In einer Demokratie würde eine kontroverse Debatte überhaupt erst die Legitimation schaffen für so weitreichende Eingriffe in Grundrechte. Aber Laschet dringt bei der Kanzlerin damit nicht durch. Merkel hält sein Menschenbild für naiv. Und ihn wohl auch.

Den Ärger darüber merkt man Laschet in jeder Zeile seines Gastbeitrags an, den er am 29. März in der Welt am Sonntag veröffentlicht. Es ist der Startschuss für die von ihm gewollte Öffnungsdebatte: »Der Satz, es sei zu früh, über eine Exitstrategie nachzudenken, ist falsch.« Eine Abrechnung mit Merkel. »Das Gerede von der Alternativlosigkeit, das nun wieder ungeahnte Popularität genießt, wird der Komplexität dieser Herausforderung nicht gerecht«, schreibt er.

»Alternativlosigkeit« ist ja das Merkel-Motto schlechthin, auch wenn die Kanzlerin den Begriff nicht mehr benutzt, seit er 2010 zum Unwort des Jahres gewählt wurde. Auch die AfD hat sich als Anti-Merkel-Partei ganz bewusst für ihren Namen entschieden: »Alternative für Deutschland«. »Es gibt immer Alternativen«, stellt Laschet jetzt fest. »Keine Krise rechtfertigt es, im Vorfeld solcher massiven Eingriffe nicht das Für und Wider zu überdenken und abzuwägen. Selbst in der größten Krise gilt unsere Verfassung. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gelten immer.« Das ist ein starkes Stück. Laschet zweifelt damit implizit die Verfassungsmäßigkeit der Corona-Maßnahmen an.

Sein Text zielt jedoch nicht nur auf Merkel, sondern auch auf seinen direkten Kontrahenten Söder. »Nicht die schnellste Entscheidung ist die beste«, schreibt er, »sondern diejenige, die wirksam ist und gleichzeitig dem Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit entspricht. Wir als Politiker sind deshalb gut beraten, nicht dem Rausch des Ausnahmezustands und der Tatkraft zu verfallen, sondern auch in dieser Stunde der Exekutive Maß und Mitte zu wahren.«

Laschets Gastbeitrag ist am Samstagabend gerade erst in Druck gegangen, da erschüttert die Nachricht von einer Tragödie das politische Berlin. Der hessische CDU-Finanzminister Thomas Schäfer hat sich am selben Morgen vor einen Zug geworfen. In einem Abschiedsbrief, so berichtet die FAZ, habe Schäfer geschrieben, er fürchte, die Erwartungen der Bürger an die Corona-Hilfen nicht erfüllen zu können. Dieser Hinweis auf den Inhalt des Abschiedsbriefs wird wenige Stunden später aus der Onlineversion des Berichtes wieder entfernt, um die Bevölkerung nicht zu verunsichern.

Aber da haben alle Politiker längst gelesen, dass einer der ihren unter der Last der Krise so sehr litt, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah, als sich das Leben zu nehmen. Und Thomas Schäfer war nicht irgendein Politiker aus der Provinz. Jenseits seiner hessischen Heimat mochte er kein Prominenter gewesen sein, aber im politischen Berlin kannte ihn fast jeder, nicht nur wegen seiner Größe von zwei Metern und seiner breiten Schultern. Er war als herausragender Fachmann anerkannt. Schäfer war als Nachfolger von Volker Bouffier vorgesehen. Er wäre als neuer hessischer Ministerpräsident einer der wichtigsten Politiker der CDU, ja des ganzen Landes geworden.

Einen entsetzt der Freitod besonders: Helge Braun. Der Kanzleramtsminister war seit 25 Jahren mit Schäfer befreundet, folgte ihm schon in der Jungen Union in dessen Ämtern nach und nahm später eine CDU-typische Machtteilung mit seinem Freund vor: Schäfer sollte auf Landesebene aufsteigen, Braun im Bund. Beides gelang. Braun hatte mit Schäfer noch wenige Tage vor dessen Freitod telefoniert. Er habe überhaupt nicht niedergeschlagen gewirkt, berichtet der Kanzleramtschef der Bundeskanzlerin. Angela Merkel und Helge Braun sind erschüttert: Wie alle anderen können sie den Selbstmord des stets fröhlich wirkenden Mannes nicht verstehen.

Eine weitere traurige Nachricht erreicht an diesem Samstag die politische Hauptstadt: Jörn Kubicki, der Mann von Klaus Wowereit, ist an Corona gestorben. Auch ihn kannten viele Politiker aller Parteien, nicht nur die der SPD. Wowereit, Berlins ehemaliger Regierender Bürgermeister und der erste offen homosexuell lebende Spitzenpolitiker Deutschlands, hatte seinen Lebenspartner oft stolz zu Empfängen mitgenommen. Die beiden feierten viel und gern. Wowereit und die Freunde Kubickis werden wochenlang warten müssen, bis unter Corona-Bedingungen eine Abschiedsfeier möglich ist.

Schäfer tötete sich selbst, Kubicki war Kettenraucher und litt an einer schweren Vorerkrankung der Lunge. Und trotzdem: Mit ihrem Tod wächst das Gefühl der Bedrohung durch Corona unter Bundespolitikern, Mitarbeitern und Journalisten. Hier ist das politische Berlin nicht anders als ein Dorf, das aufgeschreckt diskutiert, wenn »einer von hier« an etwas gestorben ist, das man bislang nur aus den Medien zu kennen glaubte.

In dieser Stimmungslage dringen Laschets Kritik an Merkel und Söder sowie seine Forderung nach einer offenen Debatte über die richtige Corona-Strategie nicht durch. Nach Lockerungen ist gerade niemandem zumute. Und einen Tag später liefert Laschet seinen Kritikern einen weiteren Beleg dafür, dass er Corona nicht ernst genug nimmt.

Er besucht in seiner Heimatstadt Aachen ein »virtuelles Krankenhaus«: Ärzte der Uniklinik, die Covid-Patienten aus dem Hotspot Heinsberg behandelt haben, werden von anderen Kliniken in NRW per Telemedizin in die Diagnostik eingebunden. Ein gutes Projekt – doch die Medien berichten nur über einen kleinen Fehltritt: Laschet hat seine Maske falsch aufgesetzt, die Nase guckt oben raus. Das wird in den nächsten Monaten noch Millionen Deutschen passieren. Doch dem Ministerpräsidenten und Lockdown-Kritiker verzeiht die Öffentlichkeit diese Schusseligkeit nicht: So sieht einer aus, der die Pandemie nicht ernst nimmt!

Wie man es richtig macht, zeigt kurz darauf Markus Söder. Er hat sich eigens eine Maske in den bayerischen Landesfarben schneidern lassen, mit großen weiß-blauen Rauten darauf. Im Landtag legt er die Maske vor laufenden Kameras an, ganz langsam, betont sorgfältig. Söder weiß, dass die Medien Bilder brauchen, die sie als Kontrast zu Laschets Fauxpas montieren können. Der bayerische Ministerpräsident hat seine Karriere als Fernsehjournalist begonnen.

Die Posse überdeckt indes einen dramatischen Wandel der deutschen Corona-Politik. Anfang April revidiert das Robert Koch-Institut (RKI) seine bisherige Einschätzung, dass das Tragen von Masken nicht sinnvoll sei, still und leise wird der entsprechende Absatz auf der Internetseite des Instituts geändert. Noch vor wenigen Wochen hatte dessen Direktor Lothar Wieler vor der Benutzung von Masken sogar gewarnt. Auch die Kanzlerin riet davon ab. Intern bezeichnete sie Masken als »Virenschleudern«. Die Bundesregierung hatte es versäumt, medizinische Masken in ausreichender Zahl rechtzeitig zu besorgen. So musste die Bevölkerung mit selbst genähten Masken improvisieren. Erst jetzt wird die Benutzung eines der wichtigsten Hilfsmittel im Kampf gegen das Virus empfohlen. Bevor das Maskentragen teilweise sogar im Freien zur Pflicht erklärt wird, vergehen noch ein paar Monate. Als Erstes wird diese strenge Regelung in, na klar, Bayern eingeführt werden.

Später wird sich Gesundheitsminister Jens Spahn für die fatale Maskenpolitik als einen zentralen Fehler der Pandemiebekämpfung entschuldigen. Doch im Moment steht nicht die Bundesregierung am Pranger, sondern Armin Laschet. Der Ministerpräsident glaubt dennoch weiter an seine Strategie. Er hofft sogar immer noch, die Kanzlerin auf seine Seite ziehen zu können. Laschet glaubt, Merkel werde ihren harten Kurs verlassen, wenn die Stimmung in der Bevölkerung kippt.

Genauso hat sie es in ihrer langen Kanzlerschaft immer wieder getan. Merkel hat erst Laufzeiten für Kernkraftwerke verlängert, um dann radikal aus der Atomkraft auszusteigen. Sie hat sich als »eiserne Kanzlerin« feiern lassen, die die südeuropäischen Schulden keinesfalls mit dem Geld deutscher Steuerzahler begleicht – und die Griechen dann doch nicht aus dem Euro geworfen. Jahrelang hat Merkel sich gegen eine Reform der europäischen Asylpolitik gestemmt, damit nicht mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen – und dann 2015 eine Million ins Land gelassen. Es ist Merkels feste Überzeugung: Politiker können sich nicht gegen den Zeitgeist stemmen, sondern ihn nur in halbwegs vernünftige Bahnen lenken.

Armin Laschet hat also allen Grund zu hoffen, dass sie bald auf eine Corona-Politik einschwenken wird, in der die Folgen des Lockdowns stärker abgewogen werden. Doch er täuscht sich. Merkel wird ihre kompromisslose Haltung diesmal nicht ändern.

So zündet Laschet die nächste Stufe: Er stellt einen sogenannten Expertenrat vor. Dieser Rat soll »transparente Kriterien und Strategien für die Rückkehr ins soziale und öffentliche Leben« entwickeln. Also genau für das, worüber die Kanzlerin nicht reden will. Das Gremium ist hochkarätig besetzt, ein eindrucksvoller Kreis von Wissenschaftlern und Praktikern mit leicht konservativer Schlagseite, darunter der Psychologe Stephan Grünewald, die Chefin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach Renate Köcher, der Philosoph Otfried Höffe, der Soziologe Armin Nassehi und die Ethikerin Christiane Woopen. Auch die Bundeskanzlerin hätte ihn kaum prominenter zusammenstellen können. Mit Hendrik Streeck ist auch ein Virologe dabei. Das ist die eigentliche Botschaft: nur ein Virologe.

Ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass Merkel sich zu einseitig beraten lässt. Als die Ministerpräsidentenkonferenz – noch als Präsenzveranstaltung – ungeplant in Schulschließungen taumelte, hatte die Kanzlerin drei Experten zu den Beratungen hinzugebeten: den mittlerweile berühmten Virologen Christian Drosten, Lothar Wieler vom RKI und Heyo K. Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Berliner Charité. Drei Mediziner. Keine Wissenschaftler aus anderen Fachbereichen. Laschet hingegen signalisiert: Ich will genau erfahren, was die Pandemie mit der Bildung macht, mit der Wirtschaft, mit den Familien. Sein Ansatz ist ganzheitlich, Merkels und Söders einseitig. So jedenfalls will es Laschet verstanden wissen.

Der NRW-Ministerpräsident geht noch einen Schritt weiter: Er versucht, Merkels Lockdown mit wissenschaftlichen Argumenten auszuhebeln. Es ist Gründonnerstag, Laschet möchte unbedingt noch vor Ostern eine dringende Botschaft loswerden. Am Morgen lädt er zur Pressekonferenz in seine Staatskanzlei. Dort lässt er Hendrik Streeck eine Studie vorstellen, sie ist in Heinsberg, dem ersten deutschen Corona-Hotspot, durchgeführt worden.

Der Virologe Hendrik Streeck hat im Herbst 2019 Christian Drostens Professur an der Universität Bonn übernommen. Die Männer kennen sich, sind per Du. Die Corona-Krise bewerten sie indes sehr unterschiedlich. Streeck kritisierte noch Ende Januar, dass die Weltgesundheitsorganisation die Pandemie überhaupt als »Gesundheitsnotstand von internationaler Bedeutung« einstufte: »Nach den bisherigen Daten ist die Influenza dieses Jahr eine größere Gefahr als das neue Corona-Virus. Die meisten Menschen scheinen nur milde Symptome zu haben.« Als das Virus Anfang März in Deutschland angekommen war, beruhigte er: »Es sollte Mut machen, dass wir, trotz der bisher fast einhundert Infektionen, nur selten schwere Verläufe sehen und keine Todesfälle zu beklagen haben.« Den Grippevergleich wird er später wieder fallen lassen, er bleibt jedoch lange bei seiner Grundthese: Corona ist nicht so schlimm, wie behauptet wird.

Doch erst Laschet macht Streeck und dessen Thesen populär. Mit der Einladung in die Düsseldorfer Staatskanzlei erhebt er ihn quasi zum Gegenpapst – der von einer breiten Öffentlichkeit anerkannte Corona-Papst ist Christian Drosten, alle Welt sieht ihn als die wissenschaftliche Autorität hinter dem Kurs der Kanzlerin. Streeck wird bei seinem Auftritt von zwei weiteren Bonner Universitätsprofessoren begleitet, sie wirken aber nur wie Sekundanten.

Worum es hier und heute geht, macht Laschet selbst klar, als er Streecks Forschungsprojekt »COVID-19 Case-Cluster-Study« vorstellt: »Die Erkenntnisse sollen unsere politischen Entscheidungen in der nächsten Woche, wenn die Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin zusammenkommen, unterstützen.«

Laschet hat das erste Duell mit Markus Söder in der Ministerpräsidentenkonferenz verloren, als es um die Schließung der Schulen ging. Für das Rückspiel hat sich Laschet nun selbst wissenschaftliche Munition besorgt.

Mit seiner Studie in Heinsberg hat Streeck ermittelt, wie viele Menschen dort bereits mit Corona infiziert waren oder sind. Er will mehr erfahren über die Dunkelziffer, die Sterblichkeitsrate und die Verbreitungswege des Virus. Und er hat es eilig. Streeck will nicht warten, bis seine Studie, wie es üblich ist, von einem wissenschaftlichen Fachmagazin überprüft wurde. Ja, er geht bereits in die Öffentlichkeit, nachdem sein Team gerade einmal die Hälfte der Proben analysiert hat. Laschet soll seine »wissenschaftlichen« Argumente noch vor dem nächsten entscheidenden Treffen mit Merkel und Söder bekommen. Streecks »Zwischenergebnisse« füllen nicht einmal zwei DIN-A4-Seiten.

Sie haben es trotzdem in sich. 15 Prozent der Bevölkerung in der Gemeinde Gangelt haben der Studie zufolge schon eine Immunität ausgebildet. Damit sei »der Prozess bis zum Erreichen einer Herdenimmunität bereits eingeleitet«. Die Letalität, also der Anteil der Infizierten, die an der Krankheit sterben, betrage »ca. 0,37 Prozent«. Ein spektakulärer Wert. Im Kanzleramt geht man von 1,98 Prozent aus – diesen Wert hat die anerkannte amerikanische Johns-Hopkins-Universität für Deutschland errechnet. Die Todesgefahr wäre demnach fünfmal niedriger als bisher angenommen.

Das sind die Zahlen, die Laschet braucht. Und Streeck geht noch einen Schritt weiter. Es sei aus seiner Sicht »jetzt möglich«, den Lockdown wieder aufzuheben, insofern sich die Bevölkerung an die Hygienevorschriften gewöhnt habe. Laschet kann zufrieden sein.

Aber die Freude hält nicht lange. Bereits eine Stunde nach der Pressekonferenz weckt Christian Drosten in einer Schaltkonferenz mit Wissenschaftsjournalisten grundsätzliche Zweifel. Ein einziger Satz reicht: »Da wird einfach so wenig erklärt, dass man nicht alles versteht.« Dies löst eine Lawine von Kritik an Streeck aus. Zeit, Süddeutsche Zeitung und andere Leitmedien bezweifeln den Wert der Studie: Die verwendeten Tests seien zweifelhaft, die Untersuchten würden falsch gezählt, die Schlüsse seien voreilig.

Und auch Merkel selbst geht an diesem Tag an die Öffentlichkeit. Sie erwähnt die von Laschet vorgestellte Studie mit keinem einzigen Wort. Nur indirekt kritisiert sie die partielle Entwarnung, die Streeck ausgegeben hat: »Der Chef des Robert Koch-Instituts hat gerade wieder gesagt, es gibt keinen Grund für Entspannung. Wir können uns sehr, sehr schnell das zerstören, was wir jetzt erreicht haben.«

Dabei scheint der Alarmton nicht mehr zu den Zahlen zu passen. Zu Ostern hatte sich das Land auf einen neuen Höchstwert der Infektionen vorbereitet, die Kliniken haben Notfallpläne erarbeitet, jede Krankenschwester im Lande ist zum Dienst eingeteilt. Doch die Betten bleiben leer, in den Stationen ist sogar weniger los als sonst, denn viele Operationen sind ja eigens verschoben worden, um Kapazitäten für Covid-Patienten frei zu halten. Die kommen aber nicht, jedenfalls nicht annähernd in der befürchteten Größenordnung. Und auch die Infektionen gehen jetzt schon deutlich zurück.

Haben Streeck und Laschet vielleicht doch recht, dass die Deutschen schon gelernt haben, mit dem Virus zu leben? Waren Drosten, Merkel und Söder zu alarmistisch?

In der Politik sind Fakten nur Munition in der Schlacht darum, welche Erzählung – welches »Narrativ« – den Sinn stiftet, der sich durchsetzt. Man kann ein Narrativ mit Fakten infrage stellen. Oder man erschüttert die Glaubwürdigkeit des Erzählers.

Laschets Autorität wird am nächsten Tag jedenfalls massiv angegriffen: Hat er seine »Heinsberg-Studie« aus unlauteren Motiven erstellen lassen? Ist sie gar von der Industrie bezahlt? Der Vorwurf trifft Laschet völlig unvorbereitet, denn Streeck hat seine Forschung aus eigenen Mitteln und mit Unterstützung des Landes NRW in Höhe von 65 000 Euro finanziert. Daran gibt es nichts auszusetzen.

Aber Streeck hat einen Fehler begangen. Er hat seine Arbeit von einer PR-Agentur begleiten lassen: Storymachine heißt die junge Firma, zu deren Gründern unter anderem der ehemalige Bild-Chefredakteur Kai Diekmann gehört. Die Boulevardzeitung ist seit Generationen ein liebevoll gepflegtes Feindbild linksliberaler Journalisten: Bild trauen sie aus Prinzip jede Schandtat zu.

Storymachine verdient mit dem »Heinsberg-Protokoll« kein Geld, im Gegenteil, für die Agentur ist das Ganze eher eine Investition: Die junge Agentur übernimmt Aufträge im politischen Raum, wo vergleichsweise wenig finanzielle Ressourcen vorhanden sind, um bekannt zu werden bei großen Unternehmen, die ganz andere Honorare zahlen können.

So hielt der Storymachine-Mitbegründer Philipp Jessen im Juni 2019 auf einer Klausur des CDU-Vorstandes in Anwesenheit von Kanzlerin Merkel einen Vortrag, wie moderne Kommunikation im Netz funktioniert. Auch Ursula von der Leyen ließ sich im Dezember 2019 bei ihrer Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin bei einer europaweiten Social-Media-Kampagne von Storymachine helfen.

Deshalb denkt sich Laschet nichts dabei, als er in der Karwoche am Rande erfährt, dass Storymachine auch für die Heinsberg-Studie aktiv wird. Was er nicht weiß: Um auf den Kosten nicht allein sitzen zu bleiben, hat Storymachine bei Unternehmen um finanzielle Unterstützung für die mediale Begleitung des Heinsberg-Projekts geworben. Gezahlt haben zwar nur zwei Mittelständler, aber als die Zeitschrift Capital darüber berichtet, entsteht der Eindruck, wirtschaftliche Interessen stünden hinter Laschets Forderung, Wege aus dem Lockdown zu suchen.

Der Verdacht steht im Raum, Streeck sei käuflich. Und Laschet damit auch.

Der fühlt sich verleumdet und schwingt sich jetzt erst recht zum Antipoden von Merkels Corona-Politik auf. Er lässt ein Corona-Dashboard für Nordrhein-Westfalen einrichten und ins Internet stellen, eindeutig das Gegenprojekt zum »Covid-19-Dashboard« des Robert Koch-Instituts, in dem jeden Tag die neuen Infektionszahlen der Gesundheitsämter veröffentlicht werden. Das RKI liefert damit die Informationen, auf die sich alle Wissenschaftler, Politiker und die Öffentlichkeit stützen: Das RKI-Dashboard zeigt neben den Infektionszahlen die 7-Tages-Inzidenz, die Todesfälle und eine Karte, auf der die Landkreise je nach Infektionsgeschehen farbig dargestellt werden.

Laschets NRW-Dashboard ist fast identisch aufgebaut, enthält aber einen entscheidenden Unterschied: Neben Zahlen, Statistiken und einer Karte für »Epidemiologische & Medizinische Aspekte« gibt es das Gleiche auch für »Ökonomische Aspekte« und »Soziale Aspekte«. So wird etwa die »Gesamtarbeitslosenquote auf Kreisebene« gezeigt, der Ifo-Geschäftsklimaindex, die »Entwicklung der Kurzarbeit«, »Genehmigte Soforthilfeanträge je PLZ-Gebiet«, der »Anteil der Schüler/-innen im Präsenzunterricht je Schulform in NRW« sowie die »Anzahl an Frauenhäusern mit freien Akutschutzplätzen«.

Die Botschaft ist klar: Das RKI informiert einseitig. Der Lockdown schadet – das zeigt Laschets Dashboard jetzt täglich neu. Aus Düsseldorf wird der Ruf nach Lockerungen immer lauter, er wird nun täglich angestimmt. Laschets FDP-Vizeministerpräsident Joachim Stamp warnt: »Politische Entscheidungsträger dürfen sich nicht allein den Empfehlungen einzelner Wissenschaftler unterwerfen.«

Dass Merkel und Drosten gemeint sind, muss er nicht eigens erwähnen. Die FDP-Schulministerin kündigt bereits einen Tag vor dem Treffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten an, nach den Osterferien schrittweise wieder unterrichten zu lassen. Erneut eine Provokation, denn die Runde bei Merkel hatte sich in die Hand versprochen, nur gemeinsam und gleichzeitig aus dem Lockdown zu kommen.

Söder reicht es jetzt. Er lässt sich am Abend in den Tagesthemen interviewen und greift Laschets Landesregierung frontal an: »Wir sollten nicht zu ungeduldig sein. Wir sollten keine hektischen und überstürzten Risiken eingehen.« Etliche Ministerpräsidenten hätten ihn angerufen, sie seien »etwas skeptisch« gegenüber »dem Weg, den Nordrhein-Westfalen geht«. Es dürfe keinen »Überbietungswettbewerb« geben, warnt Söder. »Wir wollen ja auch nicht, dass sich das Virus innerhalb Deutschlands verlagert, in die Gebiete, die jetzt schneller lockern.« Das ist eine echte Drohung: Laschet bringt euch Corona!

Söder gegen Laschet auf offener Bühne.

Auf wessen Seite die Kanzlerin steht, erfahren die anderen Ministerpräsidenten am nächsten Tag, noch bevor ein einziges Wort gesprochen ist – auf der ersten Ministerpräsidentenkonferenz, die per Video ausgerichtet wird.

Hier ist die Schlachtordnung erkennbar, in der nicht nur um die Corona-Politik der nächsten Monate gerungen wird, sondern auch um die Macht der nächsten Jahre: Wer prägt die letzte, die entscheidende Phase der Ära Merkel? Und wer wird ihr Nachfolger als Bundeskanzler?

Die Regierungschefs sitzen in ihren Staatskanzleien vor einem übergroßen Monitor, der entweder in ihrem Büro oder in einem Extraraum aufgestellt ist. Als das Bild sich aufbaut, erblicken sie fast in Lebensgröße: Merkel und Söder, einträchtig nebeneinander im Kanzleramt in Berlin, an einem kleinen Tisch, auf dem Papier, Stifte und geöffnete Unterlagen liegen. Hier wurde schon gearbeitet – und das soll auch jeder sehen.

Die beiden haben die Konferenz gemeinsam vorbereitet, schon das ist ein Politikum. Eigentlich hätte der Bayer als turnusmäßiger Vorsitzender des Gremiums mit den anderen Ministerpräsidenten eine Position abstimmen und die dann der Kanzlerin übermitteln müssen. Söders Beamte hätten nach Rücksprache mit den anderen Bundesländern eine Beschlussvorlage erarbeiten müssen. Doch die kommt stattdessen von Kanzleramtschef Helge Braun. Allen ist klar: Söder sucht nicht den Konsens mit seinen Kollegen, sondern die Nähe der Bundeskanzlerin.

Diese Nähe gewährt Merkel nicht jedem. Peter Tschentscher, Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, ist als stellvertretender Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz ebenfalls nach Berlin gefahren. Aber auf dem großen Bildschirm ist der SPD-Politiker nicht neben der Kanzlerin zu sehen. Tschentscher durfte zwar ins Kanzleramt, Merkels Leute haben ihn aber vor einen Computer in einem Nebenraum platziert.

Nach und nach ploppen unten auf den Bildschirmen kleine Vierecke auf, die einen Ministerpräsidenten nach dem anderen zeigen. Als NRW dran ist, sehen alle nur einen leeren Stuhl. Ganz unten am Bildrand plötzlich ein paar Haare. Es ist Laschet, er fummelt an seinem Computer herum.

»Armin, was machst du da?«, fragt die Kanzlerin.

»Ich suche den Ton zum Lauterstellen«, antwortet Laschet genervt.

Söder ist im Kanzleramt angekommen. Laschet ringt noch mit der Technik.

Nicht alle Teilnehmer der Videokonferenz wissen, dass Laschet vor Beginn massiven Einspruch gegen die Beschlussvorlage des Kanzleramtes angemeldet hat. Für seinen Vorstoß hat er Unterstützer gesammelt, innerhalb und außerhalb der Ministerpräsidentenkonferenz. Hier zeigt sich die neue, völlig veränderte politische Landschaft der Corona-Republik Deutschland: Merkel und Söder regieren über ein Gremium, das im Grundgesetz nirgendwo festgeschrieben ist. Und Laschet, der aus der gleichen politischen Familie kommt, schwingt sich zum Oppositionsführer auf.

Aber Merkel und Söder sind vorbereitet: Öffnungen von Schulen und Unis soll es nicht geben. Restaurants, Sportanlagen und die meisten anderen Freizeiteinrichtungen sollen ebenfalls geschlossen bleiben. Den Angriff wagt Laschet bei den Geschäften, hierfür hat er Verbündete unter den anderen Regierungschefs gesammelt. Fast alle von ihnen fürchten, dass nach einem Ladensterben die Innenstädte für lange Zeit leer und trist bleiben werden.

Merkel will bei kleinen Läden nachgeben, aber große Läden unbedingt geschlossen halten. Wer mehr als 800 Quadratmeter Verkaufsfläche habe, solle geschlossen bleiben, steht in ihrem Papier. »Warum?«, fragt Laschet. Das sei doch willkürlich. »Nein«, entgegnet Merkel. Und dann zeigt sie, dass sie sogar Details der Baunutzungsverordnung draufhat. Diese regele nämlich präzise, dass ab 800 Quadratmeter Verkaufsfläche der Einzelhandel als »großflächig« einzuordnen sei. Laschet will das nicht einsehen. Die Baunutzungsverordnung stamme aus den Sechzigerjahren. Seitdem sei der Handel enorm gewachsen. Und gerade große Kaufhäuser könnten doch mit Hygienekonzepten arbeiten.

Die Kanzlerin zielt mit ihrem Hinweis allerdings auf etwas anderes. Die Baunutzungsverordnung von 1962 findet nämlich seit 2005, nach einem Gerichtsurteil, auch für »faktische Einkaufszentren« Anwendung, wenn diese sich unter einem Dach befinden.

Auf diesem Umweg kann Merkel weiter kleine Läden geschlossen halten, nämlich dann, wenn sie sich in einer Shoppingmall befinden. Dazu haben ihr die Virologen dringend geraten, weil viele Jugendliche, die schulfrei haben, nicht zu Hause bleiben, sondern sich in den Malls treffen.

Als Wirtschaftsminister Peter Altmaier die Kanzlerin unterstützt und sogar vorschlägt, die Öffnung aller Geschäfte zu vertagen, ist Laschet fassungslos: »Warum sagt ausgerechnet der Wirtschaftsminister das?«, fragt er. Altmaier entgegnet kleinlaut, wenn kleine Läden nur noch wenige Kunden einließen, so wie es die Hygienevorschriften vorschreiben, würden sich doch vor den Geschäften lange Warteschlangen bilden. Gerade dort sei die Ansteckungsgefahr aber besonders groß. »Peter, bei aller Liebe«, ruft Laschet entrüstet. »Vielleicht gibt es solche Geschäfte dann bald überhaupt nicht mehr!« Merkel antwortet spitz: »Armin, alle können sehen, wie du dich aufregst!«

Die Mehrheit der Ministerpräsidenten plädiert für eine Öffnung aller Läden. Doch Merkel interveniert schroff: »Dann ist das nicht mehr mein Papier!« Den offenen Bruch mit der Kanzlerin wagen die Länderchefs nicht. Alle Läden über 800 Quadratmeter bleiben zu. Noch hat Merkel die Kontrolle über die Ministerpräsidenten nicht verloren.

Doch auch für Laschet ist die Ministerpräsidentenkonferenz nicht schlecht gelaufen. Er hat den Einstieg in die Lockerungen durchgesetzt. Der Rheinländer, der Merkel in ihrem Kampf gegen die Konservativen in der Partei jahrelang unterstützt hat, besonders in der Flüchtlingskrise, hat sich damit zum ersten Mal gegen die Kanzlerin gestellt. Was das für ihn und seinen Traum von der Kanzlerschaft bedeutet, wird er bald schmerzhaft lernen müssen.

Kurz darauf ist er zum Live-Interview mit dem Deutschlandfunk verabredet. Der gastgebende Journalist Stephan Detjen interviewt Laschet nicht – er verhört ihn. Immer wieder wirft er dem Ministerpräsidenten vor, hinter dessen Politik der Lockerungen stünden »wirtschaftliche Interessen«. Laschet ist sauer. »Aber das ist doch albern, Herr Detjen, das ist doch wirklich albern«, sagt er. Dann reagiert er unwirsch: »Mit Verlaub, mir sagen nicht Virologen, was ich zu entscheiden habe!«

Das Zitat wirkt auf den ersten Blick so, als habe Laschet erklärt, er stehe über der Wissenschaft. Unter dem Hashtag #laschetfordert wird er im Netz zur Witzfigur gemacht: »#laschetfordert ein IKEA-Regal mit dem Namen LASCHØT. Es soll ohne Plan und ohne die notwendigen Schrauben zu einem ungünstigen Zeitpunkt zugestellt werden«, witzelt einer auf Twitter. Ein anderer schreibt: »#laschetfordert alle Ampeln auf Dauergrün zu schalten, damit alle Bürger freie Fahrt haben.« Kein Gag ist zu flach, um den NRW-Ministerpräsidenten als verantwortungslosen Trottel darzustellen. Die heute show des ZDF dichtet sogar ein kleines Spottlied: »Sie müssen durch die Krise mit dem #Laschet ziehen/ Dann wird die Kurve wieder ganz nach oben gehen/ Das wär nicht wirklich geil/ Und es gehen viele drauf/ Doch dann sind Kitas wieder auf.«

Merkel trägt auch ihren Teil dazu bei, Laschets Position als unverantwortlich dastehen zu lassen. In einer Telefonkonferenz des CDU-Präsidiums einen Tag nach Laschets Interview warnt sie vor »Öffnungsdiskussionsorgien«. Eigentlich tagt die Runde vertraulich, aber sie ist noch nicht mal zu Ende, da melden alle Nachrichtenseiten bereits, Merkel habe Laschet gemaßregelt.