Libellenzorn - B.E. Pfeiffer - E-Book

Libellenzorn E-Book

B. E. Pfeiffer

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Beschreibung

Kurz nachdem Hermes und Shenan aus Venedig entkommen sind, müssen sie in einer kleinen Wohnung in San Francisco untertauchen. Erneut sind sie auf Mr Bournes Hilfe angewiesen, der nur über Mittelsmänner mit ihnen kommuniziert. Inzwischen findet Shenan heraus, dass alles, was er ihr über ihre Vergangenheit erzählt hat, eine Lüge ist. Doch die Zeit drängt und Shenans eigene Kraft kann die fremde Magie in ihren Adern nicht mehr lange kontrollieren. Noch einmal müssen die beiden so tun, als würden sie Mr Bourne vertrauen, und sich von seinen Leuten zu einem Tempel in Guatemala führen lassen. Das Schicksal der Welt hängt davon ab, das letzte Artefakt zu finden und zu verhindern, was sich längst über ihren Köpfen zusammenbraut: den Libellenzorn. Band 3 der "Gott der Diebe" Reihe. Band 1 erschienen im Mai 2020 Band 2 erschienen im September 2020

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Der Gott der Diebe

LIBELLENZORN

GOTT DER DIEBE

BUCH DREI

B.E. PFEIFFER

Copyright © 2022 by B.E. Pfeiffer

c/o WirFinden.Es

Naß und Hellie GbR

Kirchgasse 19

65817 Eppstein

www.bepfeiffer.com

[email protected]

Umschlaggestaltung: Vivien Summer

Lektorat: Diana Steigerwald

Korrektorat: Carolin Diefenbach

Satz: Bettina Pfeiffer

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Für alle Abenteurer, die uns bis zum Ende begleitet haben. Denn jedes Ende ist ein neuer Anfang.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Danksagung

Über den Autor

Bücher von B.E. Pfeiffer

KapitelEins

Die Kleine im Starbucks lächelt mich an, als sie mir meine Bestellung reicht. Sie zwinkert sogar und wirft mir einen Kussmund zu. Ich schaue noch finsterer drein, als ich es ohnehin schon mache, ziehe mein Baseballcap tiefer in die Stirn und gehe grußlos zur Tür. Ich will ihre Aufmerksamkeit nicht und falls sie auf die Idee kommt, über den Tresen zu klettern und mir um den Hals zu fallen, habe ich ein Problem, denn dann sind mir die Blicke der anderen Gäste gewiss.

Deswegen stelle ich den Kragen meines dünnen Mantels auf und verlasse den Laden zügig. Kühler Wind empfängt mich, was ich angenehm finde. Ich muss die steilen Straßen von San Francisco entlanggehen, um die winzige Wohnung zu betreten, die ich mir mit Shenan teile.

Mein Atem geht schneller, weil gerade diese Straße besonders steil ist. Aber es ist der schnellste Weg. Die Cablecars, die genau vor dem Haus, in dem die Wohnung liegt, halten, sind zu überfüllt und außerdem ein Risiko. Vielleicht ist einer von ihnen darin. Einer jener Menschen oder jener Wesen, die uns suchen.

Als wir vor etwa zwei Monaten mit dem Flugzeug auf dem Weg nach San Francisco waren, wurden wir abgeschossen. Ich weiß noch, dass ich Shenan umklammert habe und mit ihr gemeinsam Giorgio, dem Mann, der uns aus Venedig gebracht hat, nachgesprungen bin. Eines der Triebwerke brannte und es war nur eine Frage der Zeit, bis das Flugzeug abgestürzt wäre. Deswegen der Fallschirmsprung. Allerdings ist alles, woran ich mich danach erinnere, ein lauter Knall. Danach verschwindet meine Erinnerung im Nichts.

Vermutlich wäre ich ohne Shenan tot. Natürlich ist mein Körper robuster, aber eine Sturz aus Tausenden Metern Höhe hätte ich nicht unbeschadet überstanden. Auch als Gott nicht. Wenn sie nicht da gewesen wäre … Ich nehme an, dass sie meinen Fallschirm ausgelöst hat, weil ich es nicht mehr konnte. Dabei hätte ich sie beschützen sollen und nicht umgekehrt … Was bin ich doch für ein wunderbarer Held in dieser Geschichte. Nicht.

Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich auf der Ladefläche eines Pick-ups lag. Shenan hielt mich und Giorgio telefonierte mit jemandem in einer Sprache, die ich noch nie gehört habe. Da ich gleich danach wieder die Besinnung verlor, konnte ich nicht nachfragen, wer der Gesprächspartner war, Shenan hat mir aber anschließend meine Vermutung bestätigt. Mr Bourne. Wo genau wir abgestürzt sind, konnte ich allerdings nicht herausfinden. Ich habe alle Medien tagelang danach abgesucht. Nichts. Als wäre nie ein Flugzeug vom Himmel gefallen.

Ich atme tief ein und versuche, meinen Herzschlag zu beruhigen, als ich vor der purpurnen Tür anhalte. Es heißt, Purpur sei die Farbe der Könige und Hexen. In jedem Fall verströmt sie eine Magie, die mir wohlgesonnen ist, vermutlich aber andere Lebewesen fernhält. Erst dachte ich, dass zumindest hier keine Libellensymbole versteckt sind. Aber wenn man genau hinsieht, findet man eine in dem kunstvollen Relief, das sich über den Eingangsbereich der Tür spannt, und in dem Glasfenster, das sich seitlich befindet und zu keiner Wohnung gehört. Es erinnert mich an die Fenster von Kirchen oder an jene Bilder aus »Die Schöne und das Biest«.

Immer noch um Atem ringend, stecke ich den Schlüssel ins Schloss und ertrage den leichten Stromstoß, der mich abtastet, bevor ich ihn herumdrehen kann, es klickt und die Tür aufgeht. Ich frage mich manchmal, ob alle Bewohner des Hauses so untersucht werden und ob es ihnen seltsam vorkommt, dass sie jedes Mal einen kleinen Schlag bekommen. Ich persönliche finde es seltsam, aber das nehme ich auf mich. Shenan ist hier sicher und nur das zählt.

Die Wohnung, in der wir seit Wochen leben, liegt in der obersten Etage. Das bedeutet, vier Stockwerke Treppen steigen, denn es gibt in dem alten Gebäude keinen Lift. Die Stufen sehen bereits ausgetreten aus, das Haus selbst ist allerdings gut in Schuss. Im zweiten Stock ist eine Wohnung frei geworden, denn durch das Fenster erkenne ich ein Schild, das damit wirbt, im schönsten Viertel der Stadt eine einmalige Gelegenheit zu bekommen. »Voll möblierte Traumwohnung in Nob Hill« steht darauf. Ich will gar nicht wissen, was die Miete hier kostet.

Mr Bourne besitzt diese Wohnung, seit Shenans Großmutter vor über zwanzig Jahren gestorben ist. Ich war nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, hier zu wohnen. Schließlich kann man schnell herausfinden, dass Shenan mit ihr verwandt ist.

Aber Mr Bourne hat wohl dafür gesorgt, dass niemand etwas darüber herausbekommt. Genauso wie dafür, dass niemand herausfindet, wer Shenans Mutter oder ihre Brüder sind. Denn ihre größte Sorge war, dass sie in Gefahr geraten könnten …

Keine Ahnung, wie er das anstellt. Doch obwohl ich ihm immer noch nicht traue, nehme ich seine Hilfe an. Denn in den letzten Monaten wurde mir mehr als einmal eindrucksvoll bewiesen, dass ich nicht in der Lage bin, die Frau, die ich liebe, zu schützen. Das nagt an mir, mehr, als mir lieb ist. Weil ich immer noch denke, sie wäre nicht in Gefahr, wenn ich manchmal etwas mutiger auftreten würde.

Weihnachtliche Musik schlägt mir entgegen, als ich den Schlüssel wieder an mich nehme, und beendet meine Gedanken. Es ist Ende November und die Stadt erstrahlt bereits im Lichterglanz. Wenn der Nebel sie nicht verschluckt. San Francisco ist eine Stadt der Widersprüche, aber ich fühle mich hier erstaunlich wohl. Shenan weniger, weil sie die Wohnung nie verlässt und sich eingesperrt fühlt. Am liebsten würde ich jeden Tag mit ihr hinausgehen. Das Meer und die Stimmung, die hier so locker und angenehm ist, würden ihr guttun. Aber es ist einfach zu gefährlich, dass sie jemand erkennt.

Bei mir muss man schon genauer hinsehen, wenn man mich mit den Fahndungsbildern vergleicht, die regelmäßig über die Nachrichtensender ausgestrahlt werden. Ich färbe meine Haare mit meiner Magie schwarz und meine Augen braun, wenn ich hinausgehe. Niemand, der meine Magie nicht wahrnimmt, kann mich also erkennen.

Bedauerlicherweise hat der Kronleuchter, den ich auf die Menschen des Maskenballs in Venedig fallen lassen habe, ziemlich viele Leben gekostet. Dabei habe ich zwar einen Dämon unschädlich gemacht, aber die Filii Equitibus, die nach den Libellenartefakten suchen, haben das genutzt, um Shenan und mir ein Verbrechen anzuhängen. Irgendwie haben sie Wind davon bekommen, dass wir auch an dem Doppelmord in Thailand beteiligt waren, und schon war ein internationaler Haftbefehl erstellt. Es gehören wohl einige Regierungsmitglieder der westlichen Staaten zu diesem Geheimbund. Das macht die Sache für die Filii natürlich leichter, weil jetzt die ganze Welt für sie nach uns sucht.

Und als ob das nicht genug wäre, sucht auch noch der Libellenorden nach uns, weil wir für sie – genau wie Shenans Großmutter – Verräter sind.

Vor denen habe ich aber weniger Angst als vor Mr Bourne, bei dem Orion und ich noch immer im Dunkeln tappen. Er ist göttlich und dann auch wieder nicht. Bei den wenigen Gesprächen, die wir seit unserer Flucht geführt haben, hat er sich mit Informationen zurückgehalten. Nein, ich traue dem Mann kein Stück.

Aber immerhin hat er uns geholfen, zu fliehen, und falsche Spuren gelegt, indem er auf der ganzen Welt Hotelzimmer und Wohnungen auf unsere Namen gemietet hat.

Das hilft uns, um den Zirkel und die Filii fernzuhalten, die Dämonen, die ebenfalls hinter uns her sind, können uns jedoch durch die Magie aufspüren. Mittlerweile bestätigt Orions kollektives Bewusstsein, dass ein uralter Dämon erwacht ist, der die Macht der Libellenartefakte, die einst benutzt wurden, um ihn und seinesgleichen zu vernichten, an sich reißen will, um die Welt zu zerstören.

Es blitzt und ich zucke zusammen. Dabei ist es nur ein Straßenschild, das flackert. Ich erwarte fast ständig, dass mein Vater Zeus und mein Halbbruder Ares hinter einer Ecke lauern. Ja, ich leide unter Verfolgungswahn, aber wen wundert das? Meine eigene Familie will mich genauso tot sehen wie unzählige andere. Und was sie mit Shenan machen würden … Nein, daran sollte ich nicht denken. Niemals. Ich werde nicht zulassen, dass ihr etwas zustößt.

Endlich bin ich oben angekommen und öffne die Tür zu unserer Wohnung. Sie ist wirklich nicht groß, misst keine fünfzig Quadratmeter, ist aber schön eingerichtet. Es gibt einen Bereich mit einem großen Bücherregal, einem kleinen Fernseher und einer Zweiercouch, daneben ein großes Fenster und einen Essbereich. Eine Tür trennt das Schlafzimmer ab, eine zweite Tür führt ins Bad. Die Küchenzeile befindet sich direkt neben der Eingangstür. Wenn wir nicht auf der Flucht wären, würde ich mich hier richtig wohlfühlen.

»Schatz, ich bin zu Hause!«, rufe ich unnötigerweise.

Denn Shenan sitzt wie immer am Fenster auf der breiten Bank, eine große Tasse in der Hand, und blickt hinaus. Sie trägt noch ihren gestreiften Pyjama, in dem sie wach im Bett lag, als ich die Wohnung verlassen habe, um Frühstück zu besorgen. Allerdings hat sie sich eine flauschige graue Strickjacke übergeworfen. Ihr dunkles Haar ist zu einem Zopf geflochten. Ich weiß nicht, warum, aber sie trägt ihre lange Mähne selten offen, obwohl ich das unglaublich schön an ihr finde.

Shenan bewegt sich nicht, sondern saugt das Sonnenlicht, das durch das Glas strahlt, gierig in sich auf. Ich weiß, dass sie darunter leidet, eingesperrt zu sein. Hätten wir eine Dachterrasse, würde ich mit ihr hochgehen. Aber es gibt nur dieses Fenster und eines im Schlafzimmer und man kann beide kaum öffnen.

Es würde mich nicht beunruhigen, sie so zu sehen, wenn da nicht das schwache Glimmen wäre, das von ihr ausgeht. Shenan hat die Magie zweier uralter Artefakte in sich aufgenommen. Irgendwann, früher oder später, wird diese Magie ihr Bewusstsein verdrängen. Ich fürchte mich jeden Tag davor, dass ihre eigenen Kräfte, die sie besitzt, nicht mehr ausreichen, um die Libellenmagie zu unterdrücken … An manchen Tagen erstrahlt sie in goldenem und türkisem Licht, heute schimmert sie nur schwach. Aber die Magie, die sie verändert hat, ist immer da. Und sie wird stärker. »Sie hat vorhin ihrer Mum geschrieben«, sagt Orion, der Wächterdämon der auf sie aufpasst, seit sie ihn in Thailand geschenkt bekommen hat. »Es geht ihr gut, sie ist nur besorgt, ob die Vorwürfe, die man Shenan macht, stimmen. Und Shenan weiß noch immer nicht, was sie ihr dazu sagen soll.«

Ich seufze und reiche dem Wächter, dessen Körper aus Metall besteht und halb Mensch, halb Affe ist, ein Croissant sowie einen Becher. Er nickt mir zu und verschlingt es gierig, spült es mit der heißen Schokolade, die ich besorgt habe, hinunter.

Das Schmunzeln kann ich mir nicht verkneifen und frage mich einmal mehr, ob er nicht nur mit einem kollektiven Bewusstsein verbunden ist, sondern auch einen gemeinsamen Magen besitzt.

Als ich mich Shenan nähere, dreht sie den Kopf leicht und ringt sich ein Lächeln ab. Ich weiß, dass sie mir keinen Kummer machen will, aber wenn ich so ein falsches Lächeln sehe, verknotet sich mein Magen.

»Heute warst du früh wach«, sagt sie, rückt ein Stück auf der Fensterbank und streckt ihre Arme nach mir aus, nachdem sie die Tasse auf einem kleinen Beistelltisch abgestellt hat.

Ich setze mich hinter sie, die Papiertüte in der einen und meinen Kaffee in der anderen Hand. »Heute hast du die Wahl zwischen einem Triple-Chocolate-Brownie und einer weihnachtlichen Zimtschnecke«, verkünde ich ihr die Auswahl.

»Halbe-halbe?«, schlägt sie vor.

»Einverstanden«, sage ich, stelle Tüte und Kaffeebecher allerdings auf dem Tisch ab und schließe meine Arme um sie. »Wie fühlst du dich?«

»Gut. Nur müde. Mir fehlt die Sonne und frische Luft«, seufzt sie. »Und die Bücher, die hier sind, habe ich alle schon gelesen. Von dem Sammelband von 1929 über Ethik abgesehen. Der hat mich überhaupt nicht interessiert.«

Mein Blick fällt auf das Regal, das einen Großteil der Wohnzimmerwand einnimmt. Darin befinden sich locker dreihundert Bücher.

»Alle außer dem Sammelband?«, hake ich nach.

Sie nickt, nimmt ihre Tasse wieder auf und trinkt einen Schluck Tee. Das Aroma steigt mir in die Nase, mischt sich mit Shenans Duft nach Jasmin. Ich weiß, dass sie oft nicht schlafen kann und dann liest. Romane wie Sachbücher, sie findet fast alles interessant.

»Dann besorge ich neue«, schlage ich deswegen vor und ziehe sie enger an mich.

Sie seufzt noch einmal und stellt die Tasse wieder ab.

Wir sind ein Paar. Irgendwie. Wobei eigentlich nur ich ihr meine Liebe in Worten gestanden habe. Sie hat es nie ausgesprochen. Ich weiß aber, dass ich ihr viel bedeute. Schließlich hat sie mir mehrfach das Leben gerettet und ich bemerke, wie sie mich ansieht, wenn sie denkt, ich bekomme es nicht mit. Deswegen muss sie es nicht aussprechen.

Mehr als Küsse und Umarmungen haben wir bisher auch nicht ausgetauscht. Das liegt allerdings daran, dass die Libellenmagie darauf reagiert und wir nicht wissen, was passiert, wenn unsere Küsse intensiv werden oder es sogar darüber hinausgeht.

»Denkst du, Giorgio weiß heute etwas Neues?«, fragt sie hoffnungsvoll.

Der Italiener, der uns bei der Flucht geholfen hat, kommt einmal die Woche zu uns, um uns über den Fortschritt – oder eben die Tatsache, dass es keinen gibt – zu unterrichten.

»Ich weiß es nicht«, flüstere ich und hauche einen Kuss auf ihre Schläfe. »Aber selbst wenn nicht … Orions kollektives Bewusstsein scheint eine Spur zu haben. Ich denke, wir werden noch vor Weihnachten das dritte Artefakt finden. Dann kannst du deine Mum besuchen und ein normales Leben führen.«

Die Wahrheit ist … ich bin mir nicht sicher, was aus Shenan wird, wenn sie die Magie aller Artefakte in sich trägt. Ich kann nur hoffen, dass es stimmt, was Mr Bourne einmal erwähnt hat: Die Götter, die diese Schmuckstücke erschufen, gewähren denen, die sie vereint zurückbringen, einen Wunsch. Also könnte sie sich ein normales Leben wünschen. Allerdings schließt mich das wohl aus. Denn als Gott bin ich nicht »normal«. Und außerdem jagt mich meine eigene Familie, was ziemlich unpraktisch ist.

»Klingt märchenhaft«, murmelt sie. »Und du kommst dann mit?«

»Wenn du das willst«, sage ich und schließe die Augen.

Ich kann mir nicht vorstellen, ohne sie weiterzuleben. Ich weiß, dass sie irgendwann sterben wird, wie alle Menschen, und das bricht mir jeden Tag ein Stück mehr das Herz. Aber solange es geht, will ich sie halten und ihr beweisen, dass ich ihre Liebe verdient habe, obwohl ich der Gott der Diebe bin.

KapitelZwei

Giorgio besitzt zwar einen eigenen Schlüssel, läutet aber dennoch und wie jedes Mal, wenn er uns besucht, bringt er etwas zu essen mit. Diesmal handelt es sich um etwas aus dem japanischen Viertel San Franciscos.

Erstaunt stelle ich fest, dass Orion mit Sushi nichts anfangen kann, obwohl er sonst alles verschlingt, was ich nicht vor ihm in Sicherheit bringe. Gut zu wissen.

Wir setzen uns an den Tisch und Giorgio berichtet uns, was Mr Bourne angeblich herausgefunden hat. Er befindet sich auf einer Reise. Wo genau, erzählt Giorgio nicht und er geht auch nicht auf den Gesundheitszustand des alten Mannes ein, obwohl ich bereits befürchtet habe, dass er gestorben ist, so schwach, wie er ausgesehen hat bei unserer letzten Begegnung. Einerseits versetzt mich das in Angst, weil wir ohne ihn nur hoffen können, dass Orions Bewusstsein wirklich Hinweise zum Artefakt findet. Andererseits würde es mich erleichtern, so grausam es klingt. Denn ich habe die Befürchtung, dass er Shenan nur benutzt und opfert, sobald er sie nicht mehr benötigt.

»Ich weiß, das fällt euch schwer, aber ihr müsst Geduld haben«, beendet Giorgio seinen Bericht. Wie immer.

»Geduld?«, frage ich und lache freudlos. »Wie lange denn? Bis Shenan so hell strahlt wie die Weihnachtsbeleuchtung, die gerade überall hängt?«

Auch jetzt geht ein seltsames Licht von ihr aus, das man gut sehen kann, obwohl es draußen noch hell ist. Wobei ich nicht weiß, ob gewöhnliche Menschen es wahrnehmen.

Der Italiener hebt beschwichtigend die Hände. »Ich weiß, es ist nicht einfach.«

»Ach, weißt du das?«, brumme ich. »Verbringst du auch den Großteil des Tages eingesperrt in einer Wohnung und fragst dich, ob die Schritte, die du hörst, wirklich dem betrunkenen Nachbarn von nebenan gehören oder einem Kreuzritter, der dich umbringen will?«

Giorgio erhebt sich und erst jetzt bemerke ich, dass auch ich aufgestanden bin. »Ich kann mir denken, dass eure Nerven zum Zerreißen gespannt sind. Aber ich bin nur der Bote, Mann.« Seine Mundwinkel heben sich. »Wenn einer weiß, dass der Bote nichts für die Nachrichten kann, die er überbringt, dann ja wohl du.«

Ich kneife die Augen zusammen. »Versuchst du gerade, witzig zu sein?«

Er zuckt die Schultern. »Du warst doch der Götterbote«, meint er. »Wenn du dich besser fühlst, kannst du mich gerne weiterhin so finster ansehen oder du grinst über meinen Scherz. Es ändert für mich nichts, weil ich nichts anderes sagen kann.«

»Würdest du Mr Bourne einmal fragen, ob er sich bei mir persönlich melden könnte?«, wirft Shenan ein.

Ich weiß nicht, ob sie mit ihm sprechen will, weil sie hofft, etwas über ihre Großmutter zu erfahren, oder ob sie nur versucht, eine Beziehung zu ihrem vermeintlichen Großvater aufzubauen. Wirklich tiefe Gefühle kann er allerdings für sie nicht hegen, wenn er sie so in Gefahr bringt.

Außerdem schweben immer noch die Worte, die er bei einem unserer Telefonate benutzt hat, in meinen Gedanken umher. Er meinte, er wolle eine alte Schuld bezahlen. Ich frage mich nur, welche, denn falls er sich wegen des Schicksals von Shenans Großmutter und allem, was ihr deswegen widerfahren ist, schuldig fühlt, hat er eine seltsame Art, es zu zeigen.

»Ich weiß nicht, ob er das machen wird«, erwidert Giorgio und ich sehe Bedauern in seiner Miene.

»Es ist nur … er hat mir Antworten versprochen«, murmelt Shenan. »Ich möchte mehr über meine Großmutter wissen.«

Giorgio seufzt. »Ich werde es ansprechen«, versichert er ihr. »Aber jetzt sollte ich gehen und euch in Ruhe lassen.«

Shenan steht auf und begleitet Giorgio, der wie immer sein Geschirr auf dem Tisch stehen lässt, zur Tür. Nachdem sie sich verabschiedet hat, versperrt sie die fünf Schlösser, die wir angebracht haben, und legt einen Zauber auf das Holz. Woher sie ihn kennt, weiß ich nicht. Vielleicht hat sie ihn in einem der Bücher gefunden.

Immerhin war Shenans Großmutter Schamanin und da dies ihre Wohnung war, hat sie hier vielleicht einige Bücher mit Beschwörungen aufgehoben. Vor unserer Reise nach Thailand konnte Shenan nicht einmal an Magie glauben. Aber sie lernt erstaunlich schnell, sie zu nutzen. Anders als ich braucht sie keine fremde Energie dazu. Darum beneide ich sie irgendwie.

Ich beginne, den Tisch abzuräumen, und Shenan hilft mir. Wir bringen die Teller in die Küche und spülen, wie jeden Abend, gemeinsam ab. An den Tagen, an denen Giorgio nicht vorbeikommt, kochen wir zusammen oder ich hole etwas zu essen. Es ist ein ruhiger Tagesablauf und wenn uns nicht die halbe Welt jagen würde, könnte ich mir vorstellen, jeden Abend so mit ihr zu verbringen.

Nachdem wir fertig sind, setzt Shenan sich wieder an das Fenster. Orion nimmt vor ihren Füßen Platz und blickt ebenfalls in die Dämmerung. Ich koche Tee, dann geselle ich mich zu den beiden und lasse mich, wie immer, hinter Shenan nieder. Sie lehnt sich gegen mich und ich schlinge die Arme um sie, während der Geruch von Orange-Pekoe-Tee uns umgibt. Es könnte so schön sein …

Draußen zieht der Nebel auf und hüllt die Häuser ein. Wir befinden uns hoch genug, um bis zur Bucht zu blicken, die Nebelschwaden bereits verschluckt haben. Es ist gespenstisch und wunderschön zugleich.

»Harrison?«, flüstert Shenan, rückt ein Stück von mir und dreht sich um, damit wir uns ansehen können.

Sie nennt mich nie Hermes. Und ehrlich gesagt bin ich froh darüber.

»Ja?«, frage ich, als sie mich nur schweigend mustert.

Das Licht, das sie umgibt, ist jetzt stärker wahrnehmbar, schwankt zwischen Türkis und Gold. Ich kann ihre eigene Magie spüren, die gegen die Libellenkräfte kämpft. Und diese Unsterblichkeit, die sie seit Venedig umgibt.

Shenan war immer ruhig und vernünftig. Aber bis zu dem Moment, als sie die Libellenunsterblichkeit aufgenommen hat, konnte ich die Angst in ihren Augen sehen. Jetzt sehe ich nichts mehr, nur Gelassenheit.

Sie kann auch beruhigt sein. Wir haben ausprobiert, ob sie wie ich verwundbar ist. Shenan hat sich mit einem Messer einen Schnitt auf dem Handrücken zugefügt. Noch während die Klinge ihre Haut ritzte, leuchtete goldenes Licht auf und schloss die Wunde, bevor auch nur ein Tröpfchen Blut heraustrat. Shenan meinte auch, sie fühle keine Schmerzen mehr, und ich bemerke, wie sich ihr Verhalten langsam verändert.

Ich betrachte Shenan eindringlich. In den letzten Wochen hat sie etwas angenommen, das ich an anderen Göttern oft wahrgenommen habe. Und wenn sie einmal schläft, dann flüstert sie Worte in einer uralten Sprache, während ihre Miene so anders ist, als ich sie kenne. Es ist klar, dass in ihrem Unterbewusstsein ein Kampf ausgebrochen ist und es sich Stück für Stück in den Libellenkräften verliert. Auch wenn sie immer noch die Frau ist, in die ich mich verliebt habe, weiß ich, dass sie mich irgendwann nicht mehr erkennen wird. Und vor dem Moment habe ich unglaubliche Angst.

»Denkst du manchmal darüber nach, wie es sein könnte, wenn wir all das hinter uns haben?«, flüstert sie und lässt mich dabei nicht aus den Augen.

»Ständig«, erwidere ich.

Sie zögert einen Moment. »Komme ich in diesen Überlegungen vor?«

Ich lege eine Hand an ihre Wange. »Natürlich. Ich will mir eine Zukunft ohne dich nicht vorstellen.«

Sie mag jetzt unsterblich sein, aber wenn sie die Libellenkräfte abgegeben hat, wird sie ein gewöhnlicher Mensch sein. Und irgendwann, in vielen Jahren, sterben. Ich weiß noch nicht, wie ich mit ihrem Tod umgehen werde. Alleine der Gedanke bringt mich fast um den Verstand. Deswegen verdränge ich ihn immer und nehme mir vor, jeden Moment mit ihr zu genießen. In vollen Zügen.

»Und ich? Komme ich denn in deinen Überlegungen vor?«

Shenan seufzt und nickt. »In jeder einzelnen davon.«

Sie berührt mit ihren Fingerspitzen meine Hüften und rückt näher an mich heran.

»Wenn wir das alles hinter uns haben«, sagt sie und sieht mir dabei in die Augen, »möchte ich mit dir nach Paris, wie wir es geplant haben. Ich will dort mit dir auf dem Eiffelturm stehen und die Lichter betrachten. Und danach würde ich gerne noch ein paar Städte sehen, Rom etwa, und du erzählst mir, wie es wirklich war und welche Fehler unsere Forscher bei ihrer Arbeit gemacht haben.«

Ich muss schmunzeln, als ich an die Scherbe denke, die sich in der Ausstellung der Etrusker befindet, aber eigentlich nach Rom gehört. Und dass dies nicht der einzige Fehler ist, den die menschlichen Wissenschaftler gemacht haben.

»Vielleicht können wir auch nach Ägypten«, fährt sie fort. »Ich wollte schon immer die Pyramiden sehen. Hoffentlich sind dort nicht zu viele Mumien, ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass sie sprechen können.«

»Was denkst du, wie es ihnen damit geht?«, frage ich grinsend. Die armen Mumien wollten ins Jenseits gelangen und jetzt sind sie auf ewig in zerfallenden Körpern gefangen. Grausam.

»Nach der Reise würde ich gerne arbeiten gehen«, erklärt sie entschlossen.

»Das musst du nicht. Ich besitze mehr Geld, als man ausgeben kann.«

»Ich weiß. Aber ich würde mich gerne an einer Uni als Dozentin bewerben. Mich mit dir niederlassen. Wenn ich in San Francisco eine Lehrstelle bekomme, könnten wir hier leben. Aber ich hätte eigentlich gerne ein kleines Haus mit Garten. Orion braucht die Sonne genauso wie ich. Und außerdem ...« Sie hält den Atem an und sagt dann kaum hörbar: »… hätte ich gerne Kinder.«

Das Lächeln auf meinem Gesicht fühlt sich wärmer an als alles, was ich in den letzten Monaten gespürt habe. Ich streiche mit meinem Daumen über ihre Wange. »Dann hoffe ich, dass sie wie du werden, sonst müssen wir ihre Zimmer ›göttersicher‹ machen und sie dort einsperren, bis sie um die dreißig sind, damit sie keinen Unfug anstellen. Wenn sie nach mir kommen, stehlen sie Kühe und ärgern andere Lebewesen aus Spaß.«

»Ich würde es trotzdem schön finden, wenn sie etwas von deinem Charakter abbekommen.« Shenan rückt noch ein Stück näher und ich kann die abwechselnde Hitze und Kälte spüren, die sie wegen der Kräfte in ihrem Körper verströmt, die gegeneinander kämpfen. »Denn ich liebe dich, Harrison. Genau so, wie du bist.«

Einen Moment reagiere ich nicht und bewege mich erst wieder, als ich gierig einatme, weil ich die Luft angehalten habe. »Was hast du gesagt?«, hauche ich.

Shenan verschränkt ihre Finger in meinem Nacken. »Ich liebe dich, Harrison. Genau so …«

Weiter kommt sie nicht, denn ich bedecke ihre Lippen mit meinen. Von ihren Händen strömt eisige Kälte aus und überzieht meine nun blonden Haare mit einer Schicht aus Eis, während mein Mund in Flammen steht von der Hitze, die Shenan ausstrahlt. Ich verdränge den Schmerz, denn sie hat mir zum ersten Mal ihre Liebe gestanden. Also, mit Worten.

Ich löse meine Lippen von ihren und blicke in ihre goldenen Augen. Ihre Magie kämpft gegen die Libellenkräfte an, weil wir uns so nahe sind. Meine Hände gleiten ihre Arme hinab und ich umfasse ihre Taille. Dann lege ich meine Stirn an ihre, fühle die Hitze und die Kälte, die sich stetig auf ihrer Haut abwechseln.

Sie schließt ihre Lider und ringt um Atem, weil sie gegen die Libellenmagie ankämpft.

»Ich liebe dich, Shenan«, hauche ich und sie öffnet ihre Augen ein Stück. »Und ich möchte diese Zukunft mit dir. Genau so, wie du sie dir wünschst.«

Ihre Lider schließen sich flatternd. »Ich kann es kaum erwarten«, seufzt sie und sinkt dann vollständig gegen mich.

Es ist das erste Mal seit Tagen, dass sie schläft, und ich will sie nicht wecken. Sie hat so erschöpft ausgesehen und ich habe es mit dem Kuss wohl nicht leichter für sie gemacht, weil sie jetzt ihre Kräfte einsetzen muss. Was bin ich doch für ein Idiot. Ich kann ihr nicht helfen und mache es noch schlimmer … Ganz toll, Hermes.

Orion bringt mir eine Decke, die ich über ihre Schultern lege. »Sie muss sich jetzt ausruhen. Die Libellenmagie …«

»Sie wird stärker. Meinetwegen.«

»Nein, Hermes. Sie wird auch ohne dich stärker. Das, was gerade geschehen ist, war der Versuch ihrer eigenen Kräfte, die Libellenmagie zu besiegen.«

»Was?«

»Wenn ihr euch nahekommt, flammen nicht die Libellenkräfte auf. Sie wehren sich nur gegen den Versuch von Shenan, sie mit ihrer Magie zu zerstören.«

»Aber ich dachte …«

»Dass du sie entfachst?« Der Wächter schüttelt den Kopf. »Es hat auch bei meinem kollektivem Bewusstsein ein wenig gedauert, bis wir es verstanden haben. Aber wir sind uns sicher. Sie kämpft dagegen an. Für dich.«

Ich streiche über ihren Rücken und ziehe sie enger an mich, bevor ich mich ein Stück zurücklehne, damit sie es bequemer hat. »Denkst du, sie kann diesen Kampf gewinnen?«

Orion mustert erst sie, dann mich. »Ich fürchte, nein. Diese Magie ist stärker als alles, was ich je gesehen habe. Sie stammt von den ältesten Göttern dieser Welt. Jenen, die alle anderen Götter erschaffen haben. Nichts kann gegen diese Kräfte bestehen. Noch nicht einmal ein Herz, das aus Liebe jedes Hindernis beseitigen will.«

Die Nacht bricht vor unserem Fenster herein, doch in dieser Wohnung ist es taghell. Weil Shenan wieder leuchtet. Ich schlucke und hauche einen Kuss auf ihren Scheitel.

»Kann dein Bewusstsein das dritte Artefakt aufspüren? Oder Mr Bourne?«, frage ich leise.

»Wir versuchen es. Aber unsere Stärke liegt in Asien und dort befindet es sich nicht.« Er tätschelt meine Hand. »Wir finden eine Lösung. Sie wird sich nicht in dieser Magie auflösen, Hermes. Das lasse ich nicht zu.«

Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Danke, mein Freund.«

Orion nickt und hüpft dann von der Fensterbank, um seinen Platz vor der Tür einzunehmen, wo er Wache schiebt. Ich bleibe mit Shenan sitzen und halte sie fest. Ich sehe in die Nacht hinaus und wünsche mir, dass ich endlich eine Möglichkeit finde, ihr zu helfen und nicht noch mehr zu schaden.

KapitelDrei

Auch ich bin wohl eingeschlafen, obwohl ich nicht müde war. Und das Erste, das mich überkommt, als ich die Augen aufschlage, ist Panik. Shenan liegt nicht mehr auf mir. Da Orion noch vor der Tür auf und ab läuft, bin ich jedoch ziemlich sicher, dass sie die Wohnung nicht verlassen hat, und bringe meinen Atem wieder unter Kontrolle.

Es dauert einen Moment, dann entdecke ich sie. Shenan sitzt auf der kleinen Couch und blättert in einem Buch. Sie erstrahlt nicht mehr, kann aber trotzdem lesen. Im Dunkeln. Es hat auch Vorteile, göttliche Kräfte zu besitzen.

»Welches Buch liest du?«, frage ich, als ich hinter ihr stehe und über ihre Schulter blicke.

»Ich hatte einen Traum«, erwidert sie, statt meine Frage zu beantworten. »Meine Großmutter stand vor mir und meinte, ich müsse das richtige Buch lesen, um Antworten zu finden. Sie hat es für mich in der Wohnung versteckt. Diese Libelle, die manchmal auftaucht und auf mich aufpasst, war bei ihr. Ich denke, Grandma hat sie mir geschickt, damit sie mir hilft, das Rätsel zu lösen.« Sie dreht den Kopf und sieht mich an. »Das war kein gewöhnlicher Traum. Das war ein Zeichen.«

Mein Blick wandert zu dem Bücherregal. Ein kurzes Brennen entsteht in meinem Magen, als ich mit meiner göttlichen Magie hinter die Bücher und das Holz blicke. Es kostet nicht viel Kraft, deswegen sind die Schmerzen erträglich. Ich entdecke allerdings kein Versteck.

»Du hast doch alle Bücher gelesen. Nirgendwo befand sich ein Hinweis.«

»Alle … bis auf das eine, das nicht zu den ganzen alten Klassikern passt.«

Sie schlägt das Buch zu und hält mir den Sammelband von 1929 zum Thema Ethik hin. Ich umrunde die Couch und setze mich neben sie. Der Einband wirkt wie neu. Als hätte man dieses Buch kein einziges Mal gelesen. Was, bei dem Thema, nicht verwunderlich für mich ist.

»Hast du schon etwas gefunden?«, frage ich, als Shenan das Buch wieder aufschlägt.

»Nein. Bisher nicht. Aber ich bin auch erst vor fünf Minuten wach geworden. Ich bin sicher, dass dies das richtige Buch ist. Es stammt aus dem Jahr, in dem sie geboren wurde.«

Sie blättert weiter und überfliegt die Zeilen, bevor sie die nächste Seite aufschlägt.

»Wonach genau suchst du?«, will ich wissen, als ich sie beobachte.

»Ich weiß es nicht«, murmelt sie. »Ein unterstrichenes Wort, etwas, das nicht ins Bild passt.«

»Darf ich?«

Shenan sieht mich einen Moment an, dann reicht sie mir das Buch. Ich weiß, dass man so nicht damit umgeht, trotzdem greife ich mir den Umschlag und schüttle es durch. Enttäuscht gebe ich es ihr zurück.

»Das habe ich schon versucht«, verkündet sie schmunzelnd und blättert wieder dorthin, wo sie vorhin angehalten hat.

»Schade«, seufze ich und überfliege mit ihr die Seiten.

Die Sonne geht gerade auf, als Shenan das Buch zuklappt und sich die Augen reibt. »Nichts«, brummt sie. »Dann war es wohl doch nur Wunschdenken, dass meine Großmutter mir helfen will.«

»Vielleicht haben wir etwas übersehen«, murmle ich und nehme ihr das Buch aus den Händen.

»Nein, ich glaube, ich habe nur geträumt, was ich träumen wollte. Es wäre zu einfach gewesen.«

Sie legt den Wälzer auf die Couch, steht auf und streckt sich. Mein Blick fällt auf das Libellenmal, das sie auf dem Handgelenk trägt, seit sie die Magie des Armbands aufgenommen hat. Es pulsiert in Türkis, Gold und Purpur und leuchtet so hell, dass man es vermutlich noch auf der Straße blinken sieht.

Das Mal, das auf ihrer Stirn erschienen ist, kann man jedoch kaum erkennen. Zum Glück. Etwas am Handgelenk zu verstecken, ist einfacher als eine glühende Libelle auf der Stirn.

»Ich mache mal Tee«, schlägt Shenan vor und geht zur Küche.

Der Wasserkocher brodelt vor sich hin, während ich noch einmal das Buch in die Hand nehme. Ich glaube nicht, dass ihr Traum Zufall war. Seit Mr Bourne ihr erzählt hat, wie ihre Großmutter starb, hat sie nicht mehr von ihr geträumt. Und dann war auch noch diese Libelle dabei. Sie taucht immer auf, wenn Shenan Schutz braucht. Ich muss daran denken, was Shenan mir über Libellen erzählt hat: Sie sind Wesen, die angeblich die Seelen der Verstorbenen ins Jenseits begleiten. Was, wenn diese Libelle mehr als das ist? Wenn sie die Seele von Shenans Großmutter in sich trägt?

»Du verschwendest deine Zeit«, meint Shenan, als sie mir eine Tasse Tee vor die Nase hält.

Ich würde ihr gerne widersprechen, aber ich muss gestehen, dass auch ich nichts finden kann. Noch einmal lasse ich die Seiten schnell durch meine Finger gleiten, bis ich bei der ersten Seite ankomme. Seufzend will ich das Buch zuschlagen und halte inne.

»Shenan?«, sage ich und hebe den Kopf.

Langsam wendet sie sich vom Fenster, aus dem sie gedankenverloren gestarrt hat, ab und mir zu. Ich deute auf das Symbol, das mir erst jetzt aufgefallen ist. Es befindet sich auf der weißen Innenseite des Buchdeckels und ist so klein, dass ich es auch jetzt nur schwer erkenne. Trotzdem bin ich sicher, worum es sich handelt.

Shenan keucht und die Tasse fällt ihr aus der Hand.

---ENDE DER LESEPROBE---