Licht und Schatten - Victor Klemperer - E-Book

Licht und Schatten E-Book

Victor Klemperer

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Beschreibung

Eine bemerkenswerte Erstveröffentlichung: der große Chronist über seine Filmleidenschaft. Erstmals vollständig gedruckt: Victor Klemperers Tagebuchnotizen über seine Kinobesuche zu Beginn der Tonfilm-Ära. Von Anfang an erlebt der Cineast mit, wie die technische Neuerung 1929 in Deutschland Einzug hält. Nicht selten geht er mehrmals pro Woche ins Kino. Zunächst kritisch, lässt er sich schon bald von den neuen Möglichkeiten mitreißen. Von den Nationalsozialisten aber wird das Medium immer weiter vereinnahmt, Klemperer schließlich durch das Kinoverbot für »Nichtarier« 1938 ganz aus den Lichtspielhäusern verbannt. Doch nicht einmal das kann ihn fernhalten. Das leidenschaftliche Bekenntnis eines Kinomanen, der uns den Tonfilm als Spiegel deutscher Geschichte mit allen Licht- und Schattenseiten vorführt. »Aus der Geschichtsschreibung über den Alltag der Judenverfolgung im ›Dritten Reich‹ ist das Zeugnis Victor Klemperers nicht mehr wegzudenken.« DIE ZEIT. Zu einer Schattenexistenz gezwungen, erlebte Klemperer im Kino Lichtmomente: »So viel Musik, Humor, Schauspielkunst y todo. Es war mir eine richtige Erlösung.« Victor Klemperer, 1933. Mit einem Vorwort von Knut Elstermann

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Über das Buch

Eine bemerkenswerte Erstveröffentlichung: der große Chronist über seine Filmleidenschaft.

Erstmals vollständig gedruckt: Victor Klemperers Tagebuchnotizen über seine Kinobesuche zu Beginn der Tonfilm-Ära. Von Anfang an erlebt der Cineast mit, wie die technische Neuerung 1929 in Deutschland Einzug hält. Nicht selten geht er mehrmals pro Woche ins Kino. Zunächst kritisch, lässt er sich schon bald von den neuen Möglichkeiten mitreißen. Von den Nationalsozialisten aber wird das Medium immer weiter vereinnahmt, Klemperer schließlich durch das Kinoverbot für »Nichtarier« 1938 ganz aus den Lichtspielhäusern verbannt. Doch nicht einmal das kann ihn fernhalten.

Das leidenschaftliche Bekenntnis eines Kinomanen, der uns den Tonfilm als Spiegel deutscher Geschichte mit allen Licht- und Schattenseiten vorführt.

»Aus der Geschichtsschreibung über den Alltag der Judenverfolgung im ›Dritten Reich‹ ist das Zeugnis Victor Klemperers nicht mehr wegzudenken.« DIE ZEIT.

Zu einer Schattenexistenz gezwungen, erlebte Klemperer im Kino Lichtmomente: »So viel Musik, Humor, Schauspielkunst y todo. Es war mir eine richtige Erlösung.« Victor Klemperer, 1933.

Mit einem Vorwort von Knut Elstermann

Über Victor Klemperer

Victor Klemperer wurde 1881 in Landsberg/Warthe als neuntes Kind eines Rabbiners geboren. 1890 übersiedelte die Familie nach Berlin, wo der Vater zweiter Prediger einer Reformgemeinde wurde. Nach dem Besuch verschiedener Gymnasien, unterbrochen durch eine Kaufmannslehre, studierte Klemperer von 1902 bis 1905 Philosophie, Romanistik und Germanistik in München, Genf, Paris, Berlin. Bis er 1912 das Studium in München wieder aufnahm, lebte er in Berlin als Journalist und Schriftsteller. 1912 konvertierte er zum Protestantismus. 1913 Promotion, 1914 bei Karl Vossler Habilitation. 1914/15 Lektor an der Universität Neapel. Hier entstand eine zweibändige Montesquieu-Studie. Als Kriegsfreiwilliger zunächst an der Front, dann als Zensor im Buchprüfungsamt in Kowno und Leipzig. 1919 o. a. Professor an der Universität München. 1920 erhielt er ein Lehramt für Romanistik an der Technischen Hochschule in Dresden, aus dem er 1935 wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen wurde. 1938 begann Klemperer mit der Niederschrift seiner Lebensgeschichte »Curriculum vitae«. 1940 Zwangseinweisung in ein Dresdener Judenhaus. Nach seiner Flucht aus Dresden im Februar 1945 kehrte Klemperer im Juni aus Bayern nach Dresden zurück. Im November wurde er zum ordentlichen Professor an der Technischen Universität Dresden ernannt. Eintritt in die KPD. 1947 erschien seine Sprach-Analyse des Dritten Reiches, »LTI« (Lingua Tertii Imperii), im Aufbau-Verlag. Von 1947 bis 1960 lehrte Klemperer an den Universitäten Greifswald, Halle und Berlin. 1950 Abgeordneter des Kulturbundes in der Volkskammer der DDR. 1952 Nationalpreis III. Klasse. 1953 wurde er Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Victor Klemperer starb 1960 in Dresden. Geschwister-Scholl-Preis 1995.

Weitere Veröffentlichungen u.a.: »Moderne Französische Prosa« (1923); »Die französische Literatur von Napoleon bis zur Gegenwart«, 4 Bände (1925-1931); »Pierre Corneille« (1933); »Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert« (Band 1 1954, Band 2 1966).

Aus dem Nachlaß: »Curriculum vitae« (1989), »Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945« (1995), »Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918-1932« (1996),»So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945-1959« (1999), »Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919« (2015), »Warum soll man nicht auf bessere Zeiten hoffen. Ein Leben in Briefen« (2017 und »Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929-1945« (2020).

Knut Elstermann, 1960 in Berlin geboren, studierte Journalistik in Leipzig und arbeitete bei verschiedenen DDR-Medien. Inzwischen ist er freier Moderator und Filmkritiker und arbeitet vor allem für den rbb und den MDR (Hörfunk und Fernsehen).

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Tagebuchseite mit dem Eintrag vom 9. Juni 1929, in dem Klemperer zum ersten Mal den Tonfilm erwähnt.

Victor Klemperer

Licht und Schatten

Kinotagebuch 1929–1945

Herausgegeben von Nele Holdack und Christian Löser Mit einem Vorwort von Knut Elstermann

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Klemperer im Kino

»Eine gemordete Kunst, der Tonfilm!« 1929–1932

1929

1930

1931

1932

»Wir waren vom ersten bis zum letzten Bild und Ton entzückt.« 1933–1938

1933

1934

1935

1936

1937

1938

»Es ist nur mit den Augen wie mit dem Hut: der dazugehörige Kopf muss erhalten bleiben.« 1939–1945

1939

1940

1941

1942

1943

1944

1945

Anhang

Anmerkungen

Victor Klemperer Das Lichtspiel (1912)

Filmregister

Editorische Notiz

Bildteil

Bildnachweis

Impressum

Klemperer im Kino

Von Knut Elstermann

Für Leserinnen und Leser in der DDR wurde über Generationen hinweg ein kleines unscheinbares Reclam-Heftchen aus der Wissenschaftsreihe zum wahren Erweckungserlebnis. Ich kenne in meinem Freundeskreis niemanden, der es nicht gelesen hätte: »LTI« (Lingua Tertii Imperii – Sprache des Dritten Reiches) des Romanisten Victor Klemperer, das bereits 1947 im Aufbau-Verlag erschien und unzählige Male nachaufgelegt wurde. Mit seinem sprachkritischen Ansatz wirkte es auf uns sehr gegenwärtig und unterschied sich völlig vom ritualisierten offiziellen Umgang mit dem Dritten Reich. Klemperer untersuchte die Hetzreden der Nazis, ihre Marschlieder, aber auch das Durchsickern der brauen Ideologie in die Alltagssprache. Anhand dieser Sprache, die nach Schiller »für dich dichtet und denkt«, deckte er die Mechanismen der Manipulierung, der Brutalisierung, der Entmenschlichung auf. Wir lasen das als einen subversiven Text. In Klemperers Analyse wurden fatale Parallelen im propagandistischen Sprachgebrauch der beiden Systeme deutlich, die ihm in der sowjetischen Zone noch vor Gründung der DDR durchaus auffielen.

Ich verdanke »LTI« bis heute sehr viel, vor allem ein andauerndes Misstrauen gegen Pathosformeln aller Art. Auch über den Autor, über sein Überleben als Jude im Dritten Reich erfuhr man einiges in diesem autobiographisch grundierten Buch, doch dass er einer der wichtigsten Zeitzeugen des 20.Jahrhunderts war, wurde mir – und nicht nur mir – erst durch die Herausgabe seiner Tagebücher ab Mitte der neunziger Jahre klar. Man kann nicht genug bewundern, wie Klemperer in höchster Bedrängnis, in tiefster Erniedrigung, unter ständiger Todesangst Tag für Tag gewissenhaft Zeugnis ablegte, wie anschaulich und sprachmächtig er das Leben in den finsteren Zeiten für die Nachwelt festhielt.

Eine Seite seiner Persönlichkeit kam in diesen umfangreichen Bänden aufgrund notwendiger Kürzungen kaum zum Tragen: seine sympathische Leidenschaft für das Kino. Dieses Buch schließt nun die Lücke und zeigt uns einen wahrhaft Filmliebenden, den es manchmal gleich mehrfach die Woche in die Dresdner Lichtspielhäuser zieht, ohne jeden bildungsbürgerlichen Dünkel. Wie Thomas Mann lässt sich auch Klemperer gern von filmischer Unterhaltungsware, vom Genrekino bezaubern und fesseln. Er liebt Produktionen mit dem Tenor Jan Kiepura und erwartet im Kino keineswegs immer große Kunst, er weiß den Wert von heiterer Ablenkung sehr zu schätzen. Das Kino spendet ihm in Zeiten persönlicher Not und gesellschaftlicher Krisen immer wieder Trost und Hoffnung. »Ich bin so sehr gern im Kino; es entrückt mich«, schreibt er im März 1933. Das Kino schafft in den Tagen voller Depressionen und Zukunftsangst, aber auch in der Melancholie des Älterwerdens eine Gemeinsamkeit mit seiner nichtjüdischen Frau Eva, die ihm mit ihrer Treue das Leben rettete. Sie teilen diese Leidenschaft, gehen zusammen ins Kino und reden ausführlich über das Gesehene, wobei sie sich nicht immer einig sind. Klemperer hält auch Evas abweichende Einschätzungen fest, denn ihm ist die Subjektivität jedes Kunsturteils sehr wohl bewusst.

Mit Klemperer wandern wir durch die Fläche des damaligen Kinoangebots, das wie heute zum größten Teil aus schnell vergessenen Werken bestand. Wer kennt noch Filme wie »Heut’ war ich bei der Frieda«, den Klemperer einen »erotischen Irrungsschwank« nennt, oder »Der nackte Spatz«, dieses seiner Meinung nach »törichte Volksstück«? Eine Filmgeschichtsschreibung, die sich nur von Meisterwerk zu Meisterwerk hangelt, verfehlt das Wesen der Massenattraktion Kino. Mit Klemperer sehen wir das, was die Leute damals täglich im Kino konsumierten, und verstehen diese Produkte als Spiegel der Gesellschaft, als Ausdruck verborgener Wünsche und Sehnsüchte. So packte ihn Fritz Langs technikbegeisterter Science-Fiction-Klassiker »Frau im Mond« von 1929 – mit diesem Jahr, in dem der Tonfilm nach Deutschland kam, setzt die vorliegende Ausgabe ein. Er sieht in ihm ein »Stück Zeitsehnsucht«, eine schöne und treffende Formulierung für die Modernität des epochemachenden Films.

Klemperers Urteil ist unbestechlich, er fordert auch von den Unterhaltungsfilmen beste Qualität und lässt den Schauspielern nichts durchgehen, keine Ungenauigkeit, keine Schludrigkeit. Die Präzision seiner Beobachtungen und Schilderungen ist für einen professionellen Filmjournalisten neiderregend, allein wie er mit wenigen Sätzen die Handlung, das Sujet eines Films anschaulich umreißen kann, erzeugt bei mir höchsten Respekt.

Klemperer ist Liebender und Enthusiast, doch seine Begeisterung verstellt ihm nie den klaren Blick. Als Wissenschaftler analysiert und kategorisiert er die Filme sehr genau, in einer witzigen, funkelnden Sprache, wunderbar etwa seine Einteilung der drei Arten des amerikanischen Filmhumors. Man gewinnt sofort einen Eindruck vom Film, von seiner Atmosphäre, seiner Tonlage. Klemperer ist, ohne es je angestrebt zu haben, ein Meister der pointierten Kurzkritik, dessen Filmbetrachtungen heute jedes Stadtmagazin zieren könnten.

In seinen Texten zum Kino ist Klemperer ein gewissenhafter Chronist, der uns eine Geschichte des Übergangs vom Stumm- zum Tonfilm liefert. Heute mag uns seine heftige Ablehnung der tönenden Filme anachronistisch erscheinen, doch ist sie aus der Zeit heraus völlig verständlich. Der Stummfilm hatte seine höchste Blüte visueller Ausdruckskraft erreicht, er hatte den Reichtum seiner Mittel vervollkommnet und verfeinert, als sein Ende eingeläutet wurde. Ein Meisterwerk wie der deutsche Film »Der letzte Mann« von 1924 konnte seine Geschichte nur mit Bildern, ohne Zwischentitel erzählen. Dagegen mussten die knarrenden Stimmen und überlauten Geräusche der ersten Tonfilme Klemperers Ohr beleidigen. Die meist simple dialogische Erzählweise erschien ihm als ein Rückschritt, obwohl er in dem Titanic-Film »Atlantic« von 1929 immerhin die Stimme von Fritz Kortner als natürlich empfindet und ein »Etappen-Ereignis« erkennt. Die Stimmen aller anderen, vor allem der Frauen, aber seien entstellt, wie »in einen Topf gesprochen«. Über die »Tonfilmseuche« klagt Klemperer und erlegt sich 1930 einen Boykott auf, den er etwa ein Jahr durchhält. Chaplin, der noch lange am Stummfilm festhielt, gelten seine Sympathien. In dessen Film »Lichter der Großstadt« (»City Lights«) sieht er durch die grotesken Klangeffekte sogar eine Verhöhnung des Tonfilms.

Mit den verbesserten technischen Möglichkeiten werden auch Klemperers Urteile freundlicher. »Das lockende Ziel« mit Richard Tauber (1930) ist für ihn zum ersten Mal »ein wirklich guter Tonfilm«. Die künstlerisch bedeutende deutsche Produktion »Der blaue Engel« sieht er erst 1932, also zwei Jahre nach der spektakulären Premiere in Berlin, von der er gehört haben mag. Vielleicht fiel der Tonfilm noch dem selbst auferlegten Boykott zum Opfer, den Klemperer nun glücklicherweise durchbricht. Dank der Wiederaufnahme ins Programm kann er den »Blauen Engel« in Dresden sehen, ist mit der Tonqualität vollauf zufrieden und erkennt als Fachmann die besondere Schönheit des Films trotz der melodramatisch-kitschigen Handlung, wie er zu Recht meint. Marlene Dietrich findet er »fast noch besser als Jannings«. Sein Gespür für überzeugende schauspielerische Leistungen ist untrüglich. Was Klemperer an ihr rühmt, trifft genau die einzigartige Natürlichkeit, die berlinische Frische des aufstrebenden Stars: »Diese selbstverständliche Tönung, nicht gemein, nicht schlecht, nicht sentimental – unbewusst menschlich […].«

Wie so oft würdigt er auch hier die Nebendarsteller. Damals gab es noch Begleithefte zu den Filmen, die über Besetzung und Stab informierten und die von Klemperer als Quelle für seine Aufzeichnungen genutzt wurden. Als er 1940 mit seiner Frau ins »Judenhaus« ziehen und ans Aufräumen gehen muss, trennt er sich von vielen wissenschaftlichen Ausgaben, aber die großen Kinoprogramme »mit ihren amüsanten Bildern« will er unbedingt aufbewahren. Bedauerlicherweise verbrennen sie in den Dresdner Bombennächten im Februar 1945.

Zu den schönsten und eindrucksvollsten Abschnitten dieses Film-Tagebuchs gehören für mich die Schilderungen eines Besuchs in Berlin im Juli 1931. Klemperer, der sich in Dresden zuweilen als »hängen geblieben« empfindet, kennt die deutsche Hauptstadt aus seiner Kindheit und Jugend sehr gut. Er geht mit Eva ins Museum, in die Bauausstellung, sieht im Deutschen Theater Zuckmayers »Hauptmann von Köpenick« mit Max Adalbert, der auch in der Verfilmung von 1931 die Titelrolle spielte. Stück und Inszenierung bewegen ihn tief. »Das Ganze ergreifendstes Zeitbild, erschütterndste Tragikomödie.« Klemperer, dieser assoziative Kulturkritiker, sieht das Stück über die »Macht der Uniform« als eine Art Vorspiel für den von den Rechten damals heftig attackierten amerikanischen Film »Im Westen nichts Neues«. Den ewigen Konflikt des Theaterstücks »Individuum, Staat – Submission, Auflehnung, Naturrecht« findet er in der Remarque-Verfilmung wieder. »Dieser Film war nun das Allererschütterndste der letzten Tage, als Kunstwerk, Dokument u. Erinnerung.« Er, der selbst im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, hebt mit innerer Bewegung die Zurichtung zum Töten hervor, den »Drill auf dem Kasernenhof«, »das mechanische Arbeiten des Maschinengewehrs […], der Mordmaschine«. Die ausführliche Besprechung des pazifistischen Films sagt ebenso viel über das Werk wie über ihn selbst aus, über seine zutiefst menschliche Haltung. Er spürt als einer der Ersten, wie sehr seine humanistischen Werte bedroht sind, als andere sich noch in Sicherheit wiegen. Auch darüber gibt das Tagebuch Auskunft.

Das Kino bietet bald keinen Schutzraum mehr vor der sich verdüsternden Lage im Land. In den Wochenschauen sieht Klemperer die Aufmärsche der Nazis, die Appelle und Hitler-Reden, das verzerrte Gesicht, das wilde Schreien, die Massenregie des Nürnberger Parteitages. »Genial verstehen sie sich auf die Reklame.« Bereits hier sammelt er täglich entlarvendes Material für sein Buch »LTI« und notiert Zitate wie: »Sprache des 3.Reichs: ›Der deutsche Lustspielfilmmarschiert.‹« Die Drohungen, die Hetze in den Kino-Wochenschauen betreffen ihn, den Juden, ganz unmittelbar. Aber auch hier analysiert der Literaturexperte mit wissenschaftlicher Nüchternheit. Die heldische Propaganda der Nazis etwa arbeite »ganz nach dem Schema des Ritterromans«. Noch gibt es neben dem »qualvollen politischen Teil« bis zum Kriegsausbruch sogar internationale Importe, worunter ihn die amerikanische »Broadway-Melodie« mit ihrer swingenden Musik besonders erfreut.

In dem deutschen Spielfilm »Spiegel des Lebens«, einem der letzten, den er 1938 noch sehen kann, erweist sich wieder seine filmanalytische Brillanz, sein Blick buchstäblich hinter die Kulissen der Unterhaltungsproduktion, die seine Aufzeichnungen so wertvoll machen. Das Stück aus dem Medizinermilieu sei »wesentlich als Zeitdokument deutscher Mentalität. Es ist verlogen in seiner geheuchelten Überparteilichkeit.« Es appelliere an das deutsche Gemüt und sei »tückisches Rattengift«. Diese scharfsinnige Kritik an der scheinbar harmlosen Massenunterhaltung in der mörderischen Gesellschaft des Dritten Reichs ist noch immer mustergültig, weil sie das perfekte mediale Ineinandergreifen aufzeigt: unterhaltender, gemütvoller Spielfilm, Verherrlichung »nationalsozialistischer Zeitgeschichte« in den Wochenschauen und propagandistische Inszenierung des gesellschaftlichen Lebens. Das »deutsche Gesamtkino«, wie Klemperer den totalitär beherrschten Alltag der Nazidiktatur auf den Punkt bringt.

Klemperers Tagebuch seiner Filmerfahrungen ist in der zweiten Hälfte auch die bittere Chronik eines Mannes, der sein geliebtes Kino nicht mehr betreten darf. Das Verbot von 1938 gehörte zu den insgesamt etwa 2000 perfiden Verordnungen und Gesetzen, die den Juden in Nazideutschland das Leben zur Hölle machten. Dieser Verlust ist für ihn so schmerzlich wie der seines Autos oder seines eigenen Heims. Nun können auch die Filme keinen Trost mehr spenden. Von den üblen Hetzfilmen »Jud Süß« und »Der ewige Jude« hört oder liest er nur noch.

Doch im Tagebuch können wir auch erfahren, wie sehr Filme seine Wahrnehmung geprägt haben, darin ist Klemperer ganz Mensch des 20.Jahrhunderts. Die Absurdität, das Unglaubliche und Unwahrscheinliche der wahnwitzigen Nazidiktatur kommen ihm immer wieder wie »im Kino« vor. Als er für acht Tage ins Gefängnis muss – diese Episode gehört zu den Höhepunkten seiner Erzählkunst –, schildert er geradezu filmisch die demütigenden Regeln, das eintönige Zellenleben, das Verhalten der Beamten. Auch diese Tage erscheinen ihm, als hätte er sie schon einmal im Kino gesehen. Und noch vor Kriegsende sind die ersten Besuche von Filmvorführungen für den Überlebenden des Naziterrors und der Bombardierung Dresdens ein kleines Stück Normalität, während er sich noch auf der Flucht und in absoluter Ungewissheit befindet.

Dass Klemperer das Kino schon in dessen Anfangsjahren als Kunstform begreift, während das Bildungsbürgertum über diese Jahrmarktsattraktion noch die Nase rümpft, zeigt ein Text aus dem Jahre 1912, der in diesem Band wieder veröffentlicht wird. Klemperer sieht den Wert des Kinos gerade in seiner Volkstümlichkeit und nimmt den Begriff des »Lichtspiels« ganz wörtlich als heiteres Spiel mit den Dingen. Noch die unscheinbarsten Erscheinungen werden im Film bewahrt und zur Kunst erhoben. Er scheint damit Siegfried Kracauers berühmte Formel vom Kino als »Errettung der äußeren Wirklichkeit« vorwegzunehmen. Es ist Klemperers frühe, hellsichtige Liebeserklärung an eine Kunst, die noch im Werden war und deren Magie ihn ein Leben lang begleiten sollte.

»Eine gemordete Kunst, der Tonfilm!« 1929–1932

Victor Klemperers Tagebücher aus den Jahren 1933 bis 1945 machten den Dresdner Romanistikprofessor, der – zunächst in einem sogenannten »Judenhaus«, dann inkognito auf der Flucht – die Gräuel der Nazizeit überlebt hatte, über Nacht zu einem weltweit bekannten Chronisten und menschlich bewunderten Zeitzeugen. Seine Tagebücher, ein einzigartiges Dokument des unmittelbar erlebten Alltags in Nazideutschland, führten zu einem völlig neuen Nachdenken über die Zeit des Nationalsozialismus.

Seine wohl größte Leidenschaft jenseits der akademischen Welt war das Kino. Schon als junger Mann begeisterte er sich für den Film, und nicht selten zog es ihn gleich mehrmals pro Woche in die Vorführsäle. Bereits in der Stummfilmära galten ihm die Lichtspielhäuser nicht als bloße »Erholungsstätten«, ihm imponierte die Internationalität und Gleichheit des Films: »Freilich die Eleganz des Zuschauerraumes wechselt von der jämmerlichsten Schenke bis zum üppigsten Saal, aber die Einfachheit der Form, das schmale Rechteck bleibt bestehen«, schrieb der Cineast 1912 in einer (am Ende dieses Bandes nachzulesenden) Verteidigungsschrift, die unter dem Titel »Das Lichtspiel« erschien.

Alles andere als begeistert zeigte er sich allerdings, als 1929 der Tonfilm nach Deutschland kam und das Kino revolutionierte. Während die einen den Fortschritt bejubelten, gehörte Klemperer zu denen, die den künstlerischen Wert heftig anfochten, die Künstlichkeit beklagten, die »entstellten Stimmen, die das Wenigste, das Belanglose langsam u. mechanisch herausquetschen«, wodurch die Schauspieler wie Puppen wirkten, »die ohne das Menschen sein könnten«. Doch auch in dieser Zeit ließ er nicht davon ab, mit der Direktheit des hochgebildeten, engagierten und unabhängigen Mannes, der aus Überzeugung einer kulturellen Leidenschaft frönte, pointierte Notizen über die Filme zu verfassen, die er mit seiner Frau Eva sah. Und selbst als die Nationalsozialisten das Medium immer weiter vereinnahmten und Klemperer schließlich durch das Kinoverbot für »Nichtarier« Ende 1938 aus den Lichtspielhäusern verbannt wurde, blieb ihm das Kino als gesellschaftlicher Gradmesser und tiefverankerter Reflexionsort unverzichtbar.

Victor Klemperers Kinonotizen, in denen er persönliche Urteile wagt und Irrtümer eingesteht, fügen der Essenz all dessen, was ihn als Chronisten auszeichnet, etwas Neues, besonders Reizvolles hinzu, indem er sich völlig frei von allen Zwängen und Zwecken über seine vielleicht unbefangenste Leidenschaft mitteilt. Seine Notate ermöglichen, eine entscheidende Wende in der Kinogeschichte unmittelbar nachzuvollziehen, und sind zugleich nichts Geringeres als ein eindringliches Plädoyer für die Bedeutung der Kultur in kulturfeindlichen Zeiten, und zwar von einem, für den das Vergnügen, im Kinosessel zu sitzen, zugleich ein Symbol der Freiheit war.

1929 wohnten Eva und er in Dresden in der Hohen Straße 8. Für den 48-Jährigen, 1920 zum ordentlichen Professor der Technischen Hochschule (TH) Dresden berufen, war es eine Zeit intensiver wissenschaftlicher Arbeit, während sich der politische Himmel zunehmend verdüsterte. Ein frühes untrügerisches Zeichen waren die Brüning’schen Notverordnungen mit Gehaltskürzungen für staatlich Bedienstete. Gemeinsam träumten Klemperers vom eigenen Haus mit Garten und hielten den Tonfilm für eine »gemordete Kunst«.

1929

9. Juni, Sonntag gegen Abend, Dresden.

Seit ich aus Wien zurück bin, wohnen wir in der hübschen bunten abenteuerlichen Dachkammer, der Lieblingsschöpfung E.s. Zuerst, weil unten die große Ablackung u. Neustreichung des Ehebettes vorgenommen wurde, dann des vielen Logierbesuches wegen, denen wir das Schlafzimmer überlassen u. – weil es uns oben so gut gefällt. Man ist dort geborgen, für sich, im Bunten, ein bisschen in unbeschwerte Bohèmezeit zurückversetzt. Ich wünschte, wir blieben den ganzen Sommer dort oben.

An dem Abend der Möblierten Zimmer gab es als Hors d’Œuvre zwei kleine »Tonfilme«. Eine Schubertlied-Szene u., einfacher, Der spanische Tenor Sarobe singt (im Frack) den Bajazzoprolog. Es klingt noch recht hässlich: das wird sich beseitigen lassen. Aber was sich nicht beseitigen lassen wird, weil es ein immanentes Vitium ist: die Künstlichkeit, das Tote, der »Ersatz«. »Panoptikum«, sagt E., die auf diese Seite der Sache gleich hinwies u. hinzufügte: hier werde aber wirklich nur künstlicher Theater-Ersatz geboten, während die Filmkunst sui generis sei. – Aber man sagt, der Tonfilm sei das Kommende, die Zukunft. Wir sind ihm jetzt das zweite Mal begegnet u. fanden ihn beide Mal scheußlich.

21. Dezember, Sonnabend.

Nun sind vierzehn Filme zu skizzieren. Davon der grausigste gestern:

1) Die Herrin der Liebe. Man fragt sich immer wieder, wie das noch möglich. Eine große schwedische Schauspielerin in solchem Mist u. Nonsens. Freilich unter lauter Amerikanern. Greta Garbo, die dämonisch Liebende. Von ihrem ersten u. wahren Freund getrennt, wirrste Schicksale, dann er zwischen sie u. die tugendhafte Gattin gestellt. Der Ihre noch einmal, u. dann geht sie, nein, fährt mit dem Auto in den Tod. All das völlig wirr, sinnlos, kitschig – aber die Garbo ist schön u. ausdrucksvoll. Dennoch: Verzweiflung am Film!

2) Das letzte Fort. Auch eine ziemliche Kitscherei; aber nicht ganz so sinnlos und glänzend, phantastisch gespielt. Aufständische Araber gegen Franzosen. Geführt von drei verkommenen, halb irrsinnigen Deutschen: Steinrück, Odemar (dem liebenden Helden) u. Heinrich George, dem Messer-Akrobaten. Ein gefangener französ. Offizier. Dessen Tochter, die als Journalistin eindringt, ihn zu befreien. Maria Paudler. Wilde Handlung u. halbes happy end nebensächlich.

3) Der Staatsanwalt klagt an. Rührstück alter Art, nicht ganz unmöglich, sehr gut gespielt. Niederschlag aus Eifersucht, den eine Hyäne dann (F. Kampers) in Raubmord vollendet. Der tugendhafte Staatsanwalt klagt an. Auf Tod. Die Schwester des Unschuldig-Schuldigen, eine Bardame, Geliebte des Staatsanwalts geworden, bittet für den Bruder. Er glaubend, es sei ihr Liebhaber, würgt sie. Nun kann er nicht mehr in alter Strenge anklagen, nun weiß er … Sehr, sehr gut wird dieser uralte Kitsch gespielt. Staatsanwalt: Goetzke (dem immer die grausigen u. tödlichen Rollen zufallen), die tugendhafte Bardame Lafayette, eine ausgezeichnete Französin, von der E. glaubt, wir hätten sie schon gesehen. (Paris 25 im Wolfsfilm?) Der Erschlagene: Robert Garrison, der Vossler so ungemein ähnlich sieht u. der immer die komische oder brutale Rolle des dicken begehrlichen Kerls gibt. Kampers als gewissengeplagter Raubmörder, John (der Märchen-John) als Wirt.

4) Heut’ war ich bei der Frida. Zu dem bekannten Schlager ein üblichster erotischer Irrungsschwank französischer Machart, aber ein allerlustigster u. hervorragend gespielter. Frida, die Bardame, Mary Parker, kriegt schließlich den Chauffeur, den Brausewetter hinreißend spielt. Garrison ist hier der lüsterne Kommerzienrat, Margarete Kupfer seine herrschende Frau, Evi Eva seine Pensionsmädel-Tochter, die den Rechtsanwalt Hahn, Albers, bekommt, nachdem die Frida bei dem Kommerzienrat, dem Anwalt, dem Chauffeur, auch bei einem reichen Münchener Onkel des Anwalts (Bender) Verwirrung, Unfug, Liebe erregt, entzündet usw. hat. Einer der lustigsten u. hübschesten Filmabende dieser Wochen. Ganz u. gar Farce, als solche ein Kunstwerk u. höchst künstlerisch gespielt.

5) Der Hund von Baskerville. Ein schlechter Kriminalfilm. Vieles bleibt dunkel, keine Person interessiert, die Schauereffekte – Mord im Moor, Verfolgung, Versinken im Moor, Meuchelmord, Falltreppe, Fesselung, eine phosphoreszierende Dogge, der geniale Conan Doyle-Sherlock Holmes – alles abgeleiert. Schauspielerisch nicht gut, nicht böse, gar nichts.

6) Manolescu. Als Stück eigentlich auch nur abgeleierter Kitsch. M. wird durch die dämonische Verführerin zum Hochstapeln gedrängt, er findet treue Liebe, u. die Sanfte wird auf ihn warten, bis er aus dem Gefängnis kommt. Da hinein bringt ihn der Verrat der Dämonischen, über welchen Verrat sie auch ihren andern Liebhaber, den brutalen Widersacher M.’s u. schweren Jungen, verliert. Die Dämonische ist Brigitte Helm, der schwere Junge Heinrich George, die Sanfte Dita Parlo, Manolescu der Russe Mosjukin, den ich schon lebendiger gesehen habe.

7) Meine Schwester u. Ich. Ein sehr harmloser Schwank. Mady Christians, fett u. alt geworden (die schöne Mary Ch.! Die Tochter des schönen jungen Heldenspielers vom Kgl. Schauspielhaus – alles das habe ich schon überlebt, ist ein »altes Lied« heute wie Hildachs »Lenz« […]), kann ihren bürgerlichen Bibliothekar als Fürstin nicht kriegen u. kriegt ihn als entgleiste Schwester ihrer selbst, als Schuhverkäuferin. Der Witz hält nicht durch, u. die Situationen sind abgegriffen. In diesem Film tauchte nach Jahren der dicke Karl Huszar wieder auf, als Schuhhändler. Und Junkermann gibt den Serenissimus zum 10000. Male.

8) Die vier Teufel. Im Grunde auch ein abgegriffenes Stück. Aber menschlich, u. gut gespielt. Wandercircus. Ein brutaler Säufer, vier Kinder quälend. Der Clown nimmt sich ihrer an, flieht mit ihnen. Sie werden Circusgrößen. Der Clown Vater, die Kinder lieben sich paarweise. Dämonische Verführung von außen, Gefühlsverwirrung, Selbstmordversuch durch Sturz vom Trapez – happy end. Handlung u. Szenen bekannt, 100-mal da gewesen – aber wirklich gut. Und so als menschlich ergreifend. Die Spielenden durchweg Amerikaner, die ich nicht kenne u. die der Zettel nicht auf die Rollen verteilt. Aber gute Namen für Ms. u. Regie: Viertel u. Murnau.

9) Weibergeschichten des Captain Lash. Die Amerikaner haben drei Arten von Humor. a) den für uns sinnlos ungenießbaren, der mit Sinn durchsetzt sein will. b) den reinen Bewegungs- u. Clownhumor. c) den realistischen, sehr trocken witzigen, lebenswahren (dessen Wesen u. Sonderart ich nur fühle, noch nicht erfassen kann). Unter No 3 gehört dieses Stück. Der Captain ist ein riesiger Heizer u. gutmütiger Weiberfreund, u. unzertrennlich zu ihm gehört ein drolliger kleiner Kerl mit Ziehharmonika. Der Heizer fällt auf eine Hochstaplerin herein, lässt sich für sie verbrühen, wird in ein Schmuggelabenteuer verwickelt, boxt sich zuletzt aus allem heraus u. versöhnt sich mit der getreuen kleinen Freundin aus der Hafenkneipe, die sozial, herzlich u. geistig zu ihm gehört, die durcheinander weint u. Gummi kaut. Das sind nun wieder durchweg ausgezeichnete schauspielerische Leistungen, u. wieder ist nach dem Zettel nicht festzustellen, wer wen spielt.

10) Übern Sonntag, lieber Schatz. Auch das gehört wohl zu Amerika No 3, aber es gehört auch in eine andere Rubrik, die des amerikanischen Sittenstückes. Und als solches ist es mir interessant. Amerikanisches Kleinbürgertum in aller Enge. Mietskaserne, jeder sieht dem andern ins Zimmer. Jeder möchte reich werden. Gladys O’Brian die Heldin auch. Sie verliebt sich in einen hübschen jungen Mann mit Automobil u. großem Schmuck. Aber beides gehört seinem Chef, einem Versicherungsdirektor, der ihn herauswirft, weil er den reichen jungen Turner nicht zu versichern vermag. Da ist nun Herzenskonflikt in Gladys, die eine kleine Tänzerin ist, in verfänglichster Situation mit Turner. Und natürlich happy end. Turner wird versichert, James bekommt die Anstellung wieder, dazu eine Prämie von tausend Dollars, Gladys’ Unschuld steht fest, u. die Liebe siegt (u. die Enge bleibt). Dazu Fest des reichen jungen Mannes, Week-End-Freuden, Boxen u. ein bisschen Clownerie. Die bürgerlich kleinbürgerliche Comédie der Amerikaner. Die Heldin heißt hier Clara Bow (Eva machte auf Ähnlichkeiten mit der Paudler aufmerksam). Die beiden Helden, der reiche junge Mann (Harrison Ford) u. der arme (Neil Hamilton), waren von derselben Stange bekleidet, beseelt, mit Gesichtern versehen.

11) Die Straße der verlorenen Seelen. Eine nicht sehr originelle Geschichte zum bedeutendsten Kammerspiel gemacht. Die Dirne. Der Leuchtturmwärter heiratet sie. Liebe u. Anschmiegungswille auf beiden Seiten. Die Vergangenheit. Der Freund von damals, ein flüchtiger Mörder. Sie versteckt, unterstützt den Gehetzten. Eifersucht des Gatten. Sie geht in den Tod. Ergreifend gespielt von Pola Negri, Hans Rehmann als Leuchtturmwärter, Warwick Ward als Zuhälter u. gehetzter Verbrecher. Szenerie: Hafennest der Bretagne u. Inselchen davor.

Endlich die drei großen Filme dieser Monate.

12) Skt. Helena. Als Drama ganz missglückt. Ohne innere u. äußere Handlung. Aber die Gestalt des gefangenen, immer eingeengteren, kränkeren Kaisers: Werner Krauß. (Rücksichtslos im Entstellen des Körpers.) Und der angstvolle Fanatismus des Gegenspielers Hudson Lowe: Albert Bassermann. Auch die Frau, die dem Kaiser erst widerstrebt, dann für Augenblicke Geliebte ist, Mme Bertrand durch Hanna Ralph gut gespielt. Aber das Stück als Ganzes ermüdet. Weil es kein Stück ist.

13) Frau im Mond. Der große Jules-Verne-Film dieser Gegenwart: Raketenflug zum Monde. Technisch ungemein packend dargestellt. Das Modell, der Start, die Qual des Luftdrucks usw. usw. Die Liebeshandlung unwichtig, aber auch nicht störend. Unnötig, nicht zwingend der tragische Ausgang: das liebende Paar bleibt auf dem Mond zurück, wahrscheinlich verloren. Unter den Gestalten gut der fanatische Astronom u. Goldsucher Klaus Pohl; der amerikanische Agent, der sich Mitfahrt erzwingt u. für sein Syndikat zum (sinnlosen) Verbrecher wird, der kleine blinde Passagier. Der Professor: Klaus Pohl, der Kleine: Gustl Starck-Gstettenbaur, der unheimliche Agent: Fritz Rasp. Sehr fein im Aussehen u. Spiel die Heldin: Gerda Maurus (»stud. astr.«). Üblich die beiden rivalisierenden Feinde, junge Leute, Ingenieure u. Sportler. Der ganz Edle natürlich Willy Fritsch. Der Versagende: G. v. Wangenheim. Der Film (Fritz Lang, Thea Harbou, die Nibelungenleute) packte mich sehr. Es ist ein Stück Zeitsehnsucht darin.

14) Ganz ungemein aber erschütterte mich die große Neuigkeit, der erste große u. durchgeführte Tonfilm Atlantic. Der Untergang der Titanic nach Zusammenstoß mit einem Eisberg, bei ruhigem Wetter, drei Stunden nach der Katastrophe, drei etwa, bevor erste Hilfe (»bei Sonnenaufgang«) da sein kann. Zumeist ein Kammerspiel im Salon. Wenige Personen. Etliche wissen oder erfahren, dass es zu Ende geht. Der Zusammenstoß ist ganz diskret erfolgt. Nur dazwischen, nur am Schluss Massenszenen der Verzweiflung, der Panik, des Betens, Ertrinkens. Alles aber ungeheuer ergreifend. Schauspielerisch im Mittelpunkt Kortner als gelähmter Schriftsteller, der rasch alles erfährt, nur einen Augenblick entsetzt ist, dann stoisch über dem Schicksal bleibt. Eine ganz große Leistung. Und seine Stimme klingt vollkommen natürlich. Die Stimmen der andern, besonders weibliche, noch entstellt, wie in einen Topf gesprochen. Gut die Geräusche des einströmenden Wassers etc. Schauspielerisch gut, in Geste u. Sprechen, der stoische Alkoholiker Herm. Vallentin; der genusssüchtige junge Wiener, erst haltlos, dann gefasst, verträumt am Klavier (»es wird a Wein sein, es werden Madeln sein, u. wir werden nimmer sein!«). Willi Forst; das junge Ehepaar Lucie Mannheim u. Franz Lederer. Grandios in einer einzigen stummen Szene mit halbverdecktem Gesicht ein ungenannter Heizer. Halb im Wasser stehend; mit verzerrtem Gesicht auf den gekrampften Arm starrend, in dem ein üppiges Weibsbild eingraviert ist. – Ungemein hat mich dieser Film als Film u. Tragödie erschüttert. Und als Sprechfilm ist er wohl ein ganz großes Etappen-Ereignis. (Man spielt jetzt den weiter zurückliegenden Singing Fool. Wir können uns aber zu diesem Kitsch nicht aufraffen.)

1930

4. August, Montag Morgen vor 7 Uhr.

Seit gestern Nachm. räume ich auf. Ich stoße nun zuerst auf das Bündel Kino. Hier sind Nachträge von vielen Monaten zu erledigen. Wiederum ist es gar nicht so viel, da wir alle Tonfilme mit Erbitterung meiden u. seit Monaten die Tonfilme beinahe absolut herrschen. Doch hat die Reaktion schon deutlich eingesetzt. Zeitungsangriffe; kleine Zettel an großen Schaufenstern: »Lehnt den Tonfilm ab; er macht die Musiker brotlos.« (So geht es natürlich nicht. Aber dies ist interessant als Wiederkehr des Kampfs gegen die Maschine. Zu beachten wäre noch als Thema die Sehnsucht nach »natürlicher« Musik. Auch Radio-Abneigung etc.)

Meine letzten Film-Notizen tragen das Datum 21.XII.29. In beinahe acht Monaten also, Dezember 29–August 30 sahen wir im Film 20 Sachen.

1) Ein Werbefilm für Reklame (Matinee); gab uns wenig Neues.

2) Ein Werbefilm Sowjetrusslands Turksib. Bau der Eisenbahn Sibirien – Turkestan. Da waren sehr hübsche Kulturbilder u. gute Aufnahmen. Künstlerisch, wie es die Russen können. Aber verstimmend wirkte das Brimborium. Als ob es sich um eine ganz besonders geniale technische Sache, um einen Weltruhm Russlands handelte. Während es doch ein völlig übliches Unternehmen war.

3) Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht. Ein Schwank, von dem gar nichts haftet. Dina Gralla macht eine Detektivin, die natürlich ihr Opfer »kriegt«, ich glaube wenigstens.

4) Autobus Nr. 2. Halb Berliner Rühr- u. Lokalstück. Leben der Autoschaffner, Fund-Unterschlagung (ein hübsches Kleid). Halb üblicher Schwank: der Rechtsanwalt u. die freche Geliebte. Szenen auf der Polizeiwache. Eifersucht, Verfolgungen (im Autobus), happy end. Kampers der Chauffeur. Lee Parry seine gute Frau, Georg Alexander, der R.A. – Ich habe schlechtere Schwänke gesehen.

5) Das Schiff der verlorenen Seelen. Ganz wüster Schundroman. Räuberschiff, Meuterer, ein junger Arzt, eine gescheiterte Ozeanfliegerin in höchster Gefahr – natürlich gerettet u. sich kriegend. Aber große Kanonenbesetzung. Kortner der brutale Kapitän, Marlene Dietrich die Fliegerin. Schlimm!

6) Fundvogel. Ein H.-H.-Ewers-Film. Noch viel schlimmer. Gemeinster Film. Erotisch, pervers aufgepeitscht, bei Sinnlosigkeit. Der irrsinnige Professor, der Geschlechtsänderung experimental vornehmen will – wobei die Arme-Heinrich-Szene der Operation ins Perverse u. Szientifische transponiert wird. Den Unfug spielen gut Camilla Horn u. Paul Wegener. Um diesen Unfug gruppiert sich a) die Marlittiade der strengen gräflichen Großmutter, die das junge Mädchen in Verzweiflung bringt; b) die »moderne« Triebhaftigkeit des Mädchens, das allerlei Schlafzimmerszenen jusqu’au bout durchlebt, c) das »mondäne« Pariser Leben. Und schließlich wird alles gut. Die Mischung in allen Einzelheiten u. als Mischung: man weiß nicht, wo sie mehr zum Kotzen ist. Aber: Camilla Horn, P. Wegener.

7) Der Nächste, bitte. Nicht ganz so schlimm – bloß blödsinnig u. so ein Gefühl der Leere u. Beschämung hinterlassend. Ein Berliner Friseurladen, (Huszar, der Dicke); die kleine Nichte vom Lande, bald berlinisiert; sehr nett von einer neuen Größe gespielt (Lien Deyers); die Erbtante, die auf altem Ross in Berlin Unter den Linden einreitet, der bummelnde Herr vom Lande, das vorgetäuschte Familienglück. Lauter sinnlose, uralte Szenen. Einzelnes hübsch als Einzelnes. Zu wenig!

8) Ehestreik. Nicht viel tieferer Schwank. Ehegefahr zwischen zwei Paaren, die sich dann doch wieder richtig gruppieren. Aber sehr witzig. Berliner Haus, Wochenend-Ausflug u. happy end. Ausgezeichnete Besetzung. Die Paare: Paudler/Pavanelli und G. Alexander/Hanni Weisse. Dazu als zerstreuter u. alkoholisierter Professor Jul. Falkenstein.

9) Die stärkere Macht. Hintertreppe aus zaristischem Russland. Ein harter Gouverneur, Sibirien. Die »Tochter des Sträflings«, der idealistische Gouverneurssohn. Aufregende Szene, hübsche Bilder, gutes Ende. Der Gouverneur: Kortner.

10) Katharina Knie. Ein guter Film, auch inhaltlich gut, nach einem Stück von Zuckmayer. Eine Circusfamilie, fahrende Leute alten Stils. Die Tochter trennt sich vom Beruf, aus Liebe zum Besitzerssohn. Der Circus ist mächtiger. Sie kann nicht sesshaft werden, gibt den Ring zurück, übernimmt nach dem Tod des Vaters das Kommando der Truppe. Jeder Einzelne charakterisiert, u. alle spielen gut. Klöpfer, der alte Knie. Carmen Boni: Katharina. Frida Richard, die alte Besitzersmutter; Peter Voß, der junge Ökonom. Kampers, Sandrock beim Circuswagen.

11) Die Lady von der Straße. Mindestens nicht uninteressant. Am Hofe Napoléons III. Ein adliger preußischer Attaché. Von seiner adligen Braut mit dem Kaiser betrogen. Brüskiert sie. Sie rächt sich, indem sie ihm ein »Mädchen von der Straße«, eine proletarische Chansonnette, als adliges Mädchen vorführt. Die beiden lieben sich wirklich. Und kriegen sich. Natürlich durchaus Stil Eugène Sue. Mit all seinen Schwächen u. all seinen Vorzügen. Gut gespielt, gut in der skrupellosen Handlung geführt. Das Mädchen: Lupe Velez, der Attaché William Boyd, die Salonschlange Jetta Goudal, Regie D. W. Griffith.

12) Wenn du einmal dein Herz verschenkst. Ganz harmloser Schwank. Ein bisschen: Huronin. Die Kolonialwaise brennt durch, ist Schiffsjunge usw., als Mädel entdeckt, Liebling der Mannschaft, kriegt den jungen Reeder. Man muss nicht nach Möglichkeit fragen, nicht einmal nach Sue-Möglichkeit. Aber es ist frisch u. lustig. (Und wie der Steward den Kolonialen Kinovorstellung gibt: dies ist die Liebe in Europa, in der feinen Welt!) Das Mädel: Lilian Harvey. Der Steward Harry Halm, der schöne junge Reeder Igo Sym.

13) Spielereien einer Kaiserin. Das Stück sah ich vor langen Jahren, u. es machte mir großen Eindruck. Auf dem Film schien es mir ganz zu Historienbildern ausgewalzt. Aber all diese Bilder sehr fesselnd u. oft hervorragend gespielt. Einer der wertvollen Film-Abende. Heldin: Lil Dagover. Menschikow: Peter Voß. Zar: Dimitri Smirnow.

14) Laila, Tochter des Nordens. Landschaftlich, kulturell u. schauspielerisch ganz ausgezeichneter Norwegerfilm. Norwegisches Kind wächst zwischen Lappen (christlichen, kultivierten Nomaden, aber doch Nomaden) umhegt u. doch barbarisch auf. Die lappischen Pflegeeltern, der Lappenliebhaber wollen sie bewahren, ihr Herz entscheidet für einen Norweger: Ohne Härte, Zerreißungen, es geht alles im Wesentlichen friedlich u. unübertrieben. Das gibt dem Ganzen große Wahrheit.

15) Die neuen Herren. Französischer Film nach Flers u. Croisset, Les nouveaux Messieurs. Ausgezeichneter Schwank, kann wirklich neben »Kaiser von Amerika« genannt werden, den wir in eben diesen Tagen im gleichen Hause gesehen (Komödie – Prinzess) u. neben »Dictateur«! Die neuen Herren: die Linke regiert, der Arbeiterführer wird Minister u. macht es wie die Vorgänger. Suzanne, die Tänzerin, ist ihrem feinen Aristokraten untreu geworden, als Jacques noch »Volk«, Volksführer, siegreicher Rebell war. Der Minister im Zylinder enttäuscht sie, sie kehrt reuig zum feinen u. verstehenden Grafen zurück, der dem rasch gestürzten Jacques einen Posten in den Kolonien verschafft. (Der Minister bei Eröffnung u. Besichtigung in der Provinz; Telegramm erreicht ihn: eilig zurück, wir wackeln! – Bilder vom Parlament.) Suzanne: Gaby Morlay. Graf: Henry Roussell. Jacques: Albert Prejean.

16) Sünden der Väter. Der letzte große Janningsfilm, ehe er zum Tonfilm ging. Hier ist er der Alkoholschieber (mit Methylalkohol), mehr in den Händen einer gemeinen Frau als selber schlecht, der mürrische Vater, der den Jungen erzieht, u. dann der Verzweifelnde: der Junge trinkt sich am Gift des Vaters blind. Jannings hat also alle seine Möglichkeiten: Budiker, rührend dummer Kerl, Verzweifelter – weh- u. demütiges Ende. Das Ganze ein Rührstück wie »Mein Leopold«, modernisiert u. amerikanisiert.

17) Das Land ohne Frauen (Die Braut 68). Einer der wenigen Tonfilme, die wir gehört haben. Man spinnt Wirtshausszenen, Gesangseinlagen aus. Der Gesang ist erträglich, die allgemeine Musik schlecht, die Sprechstimme absolut unerträglich (u. meist aufreizend unnötig). Das Stück ist aber inhaltlich interessant. Art Maupassant-Novelle. Frauenloses Kolonialland, in das ein Brautschiff kommt. Eines von den angezeigten u. schon vergebenen Mädchen stirbt unterwegs. Das Los entscheidet, wer ohne Braut bleiben soll. Trifft den nervenkranken Telegraphisten. Er glaubt sich betrogen, seine Frau in den Händen eines andern. Wahnsinn. Dies in Kolonial- u. Goldgräberhandlung gestellt. Tragische Rolle des amerikanischen Arztes, der die umworbene 68 liebt. Ausgezeichnete Spielleistungen u. Bilder. Die No 68 Elga Brink, der kranke Telegraphist Conrad Veidt (ein nervöses Lachen im Cabaret, das in Krampf übergeht, in Schluchzen, bis er eine Spritze bekommt, ist beste Tonleistung, die mir begegnet). Verebes, der gutmütige Goldgräber, der 68 heiratet u. allein lässt, weil er erst einmal sein Gold ergraben muss. Huszar in einer komischen Rolle als »schmutziger Mann«.

18) Hai-Tang. Inhaltlich wieder ein Hintertreppenroman aus zaristischem Russland, Stückchen Tosca chinoise. Gouverneur, chinesisches Geschwisterpaar. Sie rettet den Bruder, indem sie sich hingibt u. dann sich vergiftet. Sie ist Anna May Wong u. spielt hervorragend. (Auch liebt sie einen kleinen Leutnant u. muss ihn verraten, um ihn u. ihren Bruder zu sichern.) – Aber leider ist dieser bestgespielte Schund nicht nur Schund, sondern auch Tonfilm, u. das gibt ihm den Rest. (Wenn ich aus dem Programm sehe: Russischer Gouverneur, Sibirien etc., dann weiß ich schon alles. Eigentlich sind die Hintertreppler arm an Situationen.) Bei diesem Film gipfelte sich E.s Empörung auf den »Ton«, u. es wurde ein für alle Mal abgeschworen. Der junge Leutnant: Lederer. Hai-Tang ist Tänzerin, ihr Bruder Kellner. Es ist noch ein Klavierspieler Birnbaum da, mir peinlich. Es ist mir immer peinlich, wenn sich Juden im Cabaret als »Juden« zur Belustigung des Publikums hergeben, sich prostituieren. Dieser ist der Gutmütige, Mitleidige, aber Schwache, Verängstete, Mauschelnde – die komische Figur, gütiger Clown, aber Clown. Und das Ganze (Eichberg-Regie) ist doch jüdische Mache.

19) Der weiße Teufel. Tolstoi-Novelle (Hadschi Murat). Kaukasier kämpfen um ihre Unabhängigkeit. Hadschi, Führer, von Fanatikern gehemmt, zu den Russen, später wieder bei den Seinen, fällt für sie. Sittengeschichtlich sehr fesselnd, Stück Mérimée. Landschaftsbilder, Märsche, Kämpfe, Ritte, Zarenhof, Lager, Gebirgspass, Russen u. Kaukasier. Mosjukin in Hauptrolle. Seine Landsmännin, von ihm beschützt: Betty Amann, eine große Dame u. Mätresse: Lil Dagover, der Zar: F. Alberti.

20) Chang. Diesen Film haben wir vor etlichen Jahren schon einmal gesehen, u. er packte auch jetzt wieder. Einfachste Handlung, nur Ethnographisches aus dem Dschungel in Nord-Siam. Die kleine Familie im Urwald, wie sie rodet, ackert, jagt, mit Tieren lebt, von Tieren bedroht wird. Das Dorf. Die einbrechende Elefantenherde. Zerstörung des Dorfes. Verfolgung, Einfangen der Elefanten.

So ist unter diesen zwanzig Filmen doch allerhand Gutes. Aber 20 in mehr als einem halben Jahr! Und in den letzten Monaten fast gar nichts mehr. Mir fehlt das Kino ganz ungemein; ich wäre glücklich, wenn die Tonfilmseuche erlösche. Oder wenigstens eingeschränkt würde.

26. August, Dienstag früh, Heringsdorf. (Aufenthalt 8.8.–12.9.)

Am Montagabend waren wir im Kino. Wir dachten, im »weißen Saal« des Atlantic würde es besser sein als vor drei Jahren in den sehr eingeborenen Ostseelichtspielen, wo wir den Potemkin bei grässlicher Klavierbegleitung grässlich sahen. Es war aber wieder das gleiche Elend, bloß ein Klavier, schlechteste Vorführung u. sehr wenig Publikum in dem Riesensaal. Es war aber auch wieder ein berühmter Film, den wir seinerzeit versäumt hatten. Er enttäuschte. Der Patriot. Die Ermordung des wahnsinnigen Zaren Paul nach dem Drama des »Teufels«-Mannes Neumann. Inhaltliche Enttäuschung: Erst habe ich einen absolut Wahnsinnigen vor mir. Von dem man nicht begreift, wie er überhaupt sich halten kann u. wieso es notwendig ist, ihn durch sonderliche Verschwörung zu beseitigen. Die üblichen Grausamkeiten russischer Tyrannei, blutrünstig amerikanisch dargestellt. (Dabei Lubitsch-Film.) Danach soll ich glauben, einen unglücklichen, verfolgten Menschen in ihm zu finden, der weder ohne Größe noch ohne Güte ist, nur brutal, gehetzt, grausam aus Angst, verraten von allen, voller Freundschaft für Pahlen u. gerade von diesem verraten. Ebenso: was hat es mit Pahlen auf sich, er verrät als »Patriot« den Zaren, seinen Freund, u. die Geliebte. Warum, ist kaum motiviert. Und warum lässt er sich nachher von seinem Diener erschießen? Warum gerade Punkt zwei Uhr? Alles hat eine äußerliche Spannung, die unberechtigt u. abgeklappert ist, u. alles ist voller Sadismus. Sadismus + Erotik, die Neumann’sche Note amerikanisch u. filmisch ins Widerliche übersteigert. – Und das Spiel? Jannings als Zar. Das Gesicht durch eine ungeheuerliche Plastik verfettet. Erst gibt er einen Wahnsinnigen. Ein bloß Wahnwitziger, Kranker interessiert mich nicht auf die Dauer. Nachher – nachher gibt er in Zarenkostüm, mit Plastik u. Aufmachung dasselbe, was ich ihn oft ohne Plastik u. Kostüm natürlicher geben sah: den Brutalen, den auf seine Art Gutmütigen, den Verratenen, Angstvollen, auch den Großen – wie er sich auf den Thron rettet u. nun auf seine göttliche Unnahbarkeit pocht. Bis er heruntergerissen u. erwürgt wird.

Es bleiben genug interessante Bilder. Wie alles flüchtet, wenn der Zar im Schlitten vorüberfährt, wie das Kind, die Mutter auf der Straße, der Baron am Fenster erschossen werden, u. dies u. das. Aber das Ganze ist abgeklappert, ist Hintertreppe u. Sadismus. Und Jannings ist mir sozusagen in Zivilrollen lieber. (Übrigens stimmt der Plural kaum. Er hat nur eine Rolle).

1931

4. April, Sonnabend Nachm.

Das Entscheidende u. Böse dieser ersten Woche zu Haus ist die tiefe, tiefe Depression, unter der Eva leidet. Vielleicht war es ein schwerer Fehler, das Harmonium anzuschaffen; es erinnert sie quälerisch daran, dass »etwas in ihr zu Ende sei«. Sie fühlt sich beschäftigungslos. Musik gibt ihr nichts Eigenes mehr. Der Kreis ihrer Interessen sei verengt. Ich habe oft eine geradezu würgende Angst um sie u. fühle mich hilflos. Sie glaubt sich einigermaßen dauernd gelähmt, sie ist in ihrem Lebenswillen getroffen. – Die Fußbehandlung mag sie nicht fortsetzen; es sei nicht ganz schlecht, es werde nie mehr gut. Einlagen hätten keinen Zweck; die in Leipzig angefertigte trägt sie nicht.

Die Tage schleppen sich hin, bisweilen ganz traurig, bisweilen annähernd neutral, immer [gedrückt], eigentlich immer trostlos. Ich habe Angst, ich prüfe mein Gewissen, ich fühle mich hilflos.

Das Schlimmste sind die kleinen Spaziergänge. Völlig verdüstert, jedes Gespräch stockt oder nimmt eine Wendung ins Trostlose. Ich komme nicht mehr an E. heran. Und alles Tröstenwollen wird von ihr nur mit Bitterkeit aufgenommen u. logisch zerpflückt. – Wenn ich mich in eigene Arbeit vergrabe, geschieht es immer mit schlechtem Gewissen u. Unterbrechungen der Angst.

Ob mich eine Schuld trifft? Und wenn ich schuldlos bin – ist Eva dadurch glücklicher? Ich frage mich oft, ob ich sie je wieder froh sehen werde. –

Bei alledem recht ausgefüllte Tage. […]

Am Sonntag Mittag u. Nachm. war Frau Wieghardt bei uns, die dann nach Berlin reiste u. bei Grete wohnte. Als wir sie gegen fünf ein Stück heimwärts begleiteten, gingen wir in plötzlichem Entschluss ins Capitol-Kino. Nach wohl einjähriger Pause in einen Tonfilm. Er war scheußlich, u. wir beschlossen weiteren Boykott. Scheußlich die entstellten Stimmen, die das Wenigste, das Belanglose langsam u. mechanisch herausquetschen. Film muss Ausdruckskunst sein, dem Ballett ähnlich, von Musik getragen, oder er ist ein widerwärtiger toter Mechanismus u. ein misstöniger dazu. Es war auch ein schlechtes Filmstück. Nach den Brüdern Karamasow gearbeitet. Ich kenne sie nicht oder habe sie bei meiner großen Aversion gegen die Russen vergessen; aber so sinnlos können sie nicht sein. Im Film verrät der Held die Braut, wirft sich an die Dirne weg, die mit seinem Vater spielt, will den Vater ermorden, ermordet beinahe einen alten Diener, wird schuldlos-schuldig nach Sibirien geschickt; u. wird dorthin von der Dirne begleitet, die plötzlich eine wirkliche Liebende u. bedeutende Person ist. Im Film wird man aus den Beweggründen eines verbrecherischen Dieners, Anstifters, Intriganten nicht im Geringsten klug. All das gibt hübsche, aber abgedroschene Einzelbilder u. Situationen (Gericht, Gelage, Totschlag), die gut wären, wenn das sinnlose automatische Sprechen weniger, gedehnter, unnötiger Worte nicht störte. Auch kommt es wie von den Lippen der Puppen, die ohne das Menschen sein könnten. Natürlich ist Kortner als Held sehr gut. Auch Anna Sten als Dirne, Rasp als Bösewicht Smerdjakow. Aber nichts lebt wirklich. Trübselig. Eine gemordete Kunst, der Tonfilm!

6. April, Ostermontag Nachm.

Gestern Nachm., am Ostersonntag Nachm.!, im Kino. Wieghardts waren zum Kaffee bei uns u. hatten die Billette besorgt; wegen Überfüllung des Parketts bekamen wir sehr gute Rangplätze. Es war erst der zweite Tag, dass der neue Chaplin im UT lief. Großstadtlichter. Ein stummer Film mit Verspottung des Tonfilms a) durch die Rede zur Denkmalweihe, von der man kein Wort versteht, b) durch die von Chaplin verschluckte Pfeife, die immer zu pfeifen beginnt, sooft der Vortragende bei einer Soirée loslegen will. Eine hübsch aus Komik u. Ernst komponierte Geschichte. Der arme Vagabund Chaplin setzt sich für ein blindes armes Mädchen ein. Er rettet sie, rettet ihr Augenlicht; sie glaubt von einem reichen Herrn gerettet, geliebt zu sein u. findet den zerlumpten armen Teufel. Im Augenblick des gerührten Sich-Erkennens schließt das Stück; es ist aber weder durch die Handlung noch durch den Gesichtsausdruck gesagt, dass dieser Schluss ein unglückliches Ende bedeuten muss. Denn das Mädchen ist jetzt Inhaberin eines guten Blumenladens, sie liebt das gute Herz des zerlumpten Charlie, u. Charlie ist jung u. hübsch usw. … Der Vagabund Charlie ist in diesem Stück zusammengekoppelt mit einem spleenigen Reichen, der ihn in der Betrunkenheit als Freund behandelt, nüchtern nicht anerkennt. So gibt es allerhand bunte Szenen. Und immer ist Chaplin der Gleiche wie in seinen früheren Filmen: der Clown mit dem guten Herzen, der tapfere Feigling, der geschickte Schlemihl. Alle seine früheren Situationen, die clownischen u. die herzlichen, sind wieder da … Sehr schön – aber kein Fortschritt. Und ich glaube auch nicht, dass es bei Chaplin noch eine Weiterentwicklung gibt.

Wohltat, dass es ein stummer Film ist; scheußlich, dass seine Musik aus dem Radio kreischt.

11. April, Sonnabend Abend ½ 8.

Manchmal glaube ich, Eva überwinde ihre Niedergeschlagenheit; aber dann wieder ist alles so schlimm wie zuvor. –

Selber leide ich mehr als seit langem unter Augenschmerzen u. eigentlich auch Sehtrübungen. Irgendwann werde ich erblinden. Ich wünschte es wäre vorher mit mir zu Ende. –

Gedanken über meine Erfolglosigkeit, u. dass ich alt geworden bin u. keinerlei Berufsaussichten mehr habe, quälen immerfort.

19. Mai, Dienstag Morgen ½ 7, Dresden.

Berthold *11.12.71, †15.5.31, begraben 19.5.31.

Hier liegen bei Georgs erste Karte, mein Brief, den ich nicht absandte, u. die späteren Zeilen G.s. Als ich am 15. den Brief schrieb, B. schon tot. Von seinem Leiden wusste ich seit Anfang April von Grete. Sie schrieb »Gicht«, u. ich glaubte nicht an Tödliches. Ich habe ihm damals ganz harmlos herzlich geschrieben, ohne Vergangenes zu berühren, unter Beilegung eines Senatorbildchens, wie es Alexis Dember geknipst hat. Er antwortete nicht, wie er mir seit zwei Jahren keine Zeile mehr geschrieben hat. Es muss 4 Jahre her sein, dass ich ihn zum letzten Mal sah. Er brachte mich am Abend vor die Tür seines Hauses, sehr ergraut, gealtert, müde.

Ich komme über die dumpfesten und wirrsten Gefühle nicht hinaus. Alles an dieser Sache ist trübe, unklar, traurig, gemein. Kinder-, Jugenderinnerungen engster Zusammengehörigkeit, Einzelheiten tauchen auf. Viel Wohltat u. Brüderlichkeit seinerseits. Dann 27 Jahre des Zerwürfnisses, Verfolgung, Kränkung in weitere »Wohltat« gemischt, zuletzt nur Kränkung. – Eva empfindet ihn als Feind, einheitlich u. erbittert. Sie kann mir kein gutes Wort sagen; ich kann es von ihr nicht verlangen, dass sie anders empfindet. In mir die ständige Mischung von Liebe u. Bitterkeit B. gegenüber. Dazu das Bedrückende, dass hier nie mehr zwischen uns Klarheit werden kann. Vorher war doch immer das Vielleicht, das Möglicherweise einer ganz fernen Zukunft. Jetzt – nichts, diese Sache, so dumm von Anfang an, geht sinnlos zu Ende, hat kein Ende. – Dann das ganz Gemeine: Er, mir so ähnlich, ist mit 59 Jahren gestorben, »am Herzen«, wo er so lange, wie ich, immer nur »das nervöse Herz« gehabt hat. Das gemeine Memento, selber vielleicht der Nächste zu sein. Und noch gemeiner: Geldgedanken. Alles ist wieder aufgewühlt, vom ersten missglückten Versuch, das Haus zu bauen, wo B. mich im Sommer 28 im Stich ließ, über die Verzweiflungen E.s hinweg zu meiner jetzigen Bedrücktheit durch die Baufinanzierung. So kann ich es mir nicht versagen, mit dem Gedanken zu spielen, wie schön es sein müsste, etwas zu erben, wie heroisch, diese Erbschaft abzulehnen etc. etc. – Was ist bei alledem wirkliche Liebe u. wirkliche Trauer? Herzlich wenig. Vielleicht aber übertreibe ich auch das Gemisch der andern Regungen. In der Hauptsache ist Dumpfheit, Fühllosigkeit vorhanden, ein Mirzusehen, ein Ablaufenlassen der Dinge. – Ich fahre um 1625 zur Beerdigung hinüber; das Äußerliche, Absage des Di. Kollegs, wie ich mich kleide (bei furchtbarer Schwüle u. Hitze etc.), ist im Grunde das Einzige, was mich wirklich beschäftigt. – Ich weiß nicht recht, warum ich für meine Person den Tod fürchte, da ich längst so viele anästhesierte Stellen meines Bewusstseins u. Fühlens besitze.

20. Juni, Sonnabend, mittags u. später.

Am 11. wieder einmal in einem Kino, am Freiberger Platz. Der Musikclown Grock. Er selber in seiner Cabaretnummer ausgezeichnet, ebenso die Wiedergabe seiner