Lieb oder stirb - Jana Winschek - E-Book

Lieb oder stirb E-Book

Jana Winschek

4,3

Beschreibung

Das Leben hat Hanna übel mitgespielt. Aus ihrer letzten Beziehung bleibt nur eine Erinnerung: das Tattoo mit dem Namen des Ex auf ihrem Allerwertesten. Nach dieser herben Enttäuschung schwört Hanna den Männern gänzlich ab. Doch sie hat die Rechnung ohne den Tod gemacht, der plötzlich vor ihrer Tür steht und ihr ein Ultimatum stellt: Entweder sie verliebt sich - oder sie stirbt. Wie soll Hanna es nur anstellen, den Richtigen zu finden? Und will sie das überhaupt?

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Jana Winschek

Lieb oder stirb

Roman

Impressum

Ausgewählt von

Claudia Senghaas

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © portokalis / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-4436-4

1. Bube sticht Dame

»Wann ist es denn so weit?«, fragt die Verkäuferin.

Neben meinem Spiegelbild erscheint ein geschultes Vorfreudelächeln in einem rotbackigen Gesicht. Der akkurat geschnittene Ponybob thront wie ein blonder Helm auf dem viel zu runden Kopf. Miss Piggy Eisenherz: Schweinchengesicht mit Bobfrisur. Dagegen wirken meine locker hochgesteckten rotblonden Locken fast liederlich.

Irritiert schaue ich an mir hinunter, greife mir reflex­artig an den Bauch. Das Mittagessen war zwar etwas mächtig, aber so schlimm sieht es auch nicht aus. Selbst wenn mich die aufwendig drapierten Tüllschichten des Brautkleides wie ein aufgeschwemmtes Sahnebaiser wirken lassen.

»Da ist nur ein Döner drin, mit allem und scharf, sonst nichts«, beruhige ich die Frau und mich selbst ein bisschen. Die reife Matrone grunzt beim Lachen. Freundschaftlich klopft sie mir auf mein nacktes Schulterblatt und rückt meinen angegrauten, einst weißen BH-Träger zurück an seinen Platz.

»Nein, keine Sorge, junge Frau, Sie haben eine tolle Figur, vor allem in diesem Kleid. Der Cremeton lässt ihre grünen Augen wunderbar zur Geltung kommen. Und erst Ihr Dekolleté – einfach wundervoll!«, jauchzt die dralle Dame verkaufsfördernd und fast verschwörerisch fügt sie hinzu: »Wissen Sie, diese Korsagen sehen am besten aus, wenn man keine üppige Oberweite hat – steht Ihnen also wirklich ganz prima.«

Man muss als Frau immer das Positive sehen, insofern man dazu in der Stimmung ist. Dass meine kleinen Brüste mal vorteilhafter in einem Kleid aussehen als große, macht mich ein bisschen stolz. Und ›junge Frau‹ hört man mit Mitte 30 sehr gerne. Bevor ich mich über den glücklichen Zufall, einen perfekten Korsagenbusen zu haben, gebührend freuen kann, zerstört die Verkäuferin das zarte Pflänzchen unserer gerade frisch entstandenen Verkäufer-Kunden-Freundschaft mit der meiner Meinung nach völlig überflüssigen, weil total unangebrachten Frage: »Wann sagten Sie noch gleich ist die Hochzeit?«

Ich atme tief durch. Oder besser gesagt, ich versuche es. In dem eng geschnürten Kleid ist nicht genug Platz für einen theatralischen Seufzer, deshalb stöhne ich eher flach atmend meine Standard-Antwort: »Wenn ich den Richtigen gefunden habe, also vermutlich nie …«

Und stets die gleiche, vor Mitleid triefende Reaktion der Verkäuferin: betretenes Schweigen.

Ich kann es einfach nicht bleiben lassen. Etliche Brautmoden-Fachverkäuferinnen werden mich bereits dafür hassen, dass ich ein Hochzeitskleid nach dem anderen anprobiere und am Ende einer langen Überzeugungsprozedur seitens des bemühten Brautmodenpersonals, etlichen Reißverschlüssen, die rauf und runter geratscht wurden, doch keins kaufe. Immerhin fehlt mir ein wesentliches Puzzleteil zum trauten Trauungsspiel: der passende Mann. Allein zum Streichen, Putzen oder Kochen trage ich lieber einlagige Schürze als mehrlagige Seidenträume. Also, wenn ich Streichen, Putzen oder Kochen könnte. Das heißt, selbst die unpassenden Gelegenheiten, es zu tragen, fallen weg. Aber anprobieren und mich darin drehen und wenden – das muss ich hin und wieder, vor allem wenn mich eine Krise überkommt. Andere gehen zum Therapeuten, ich probiere Hochzeitskleider an, um mich wenigstens für ein paar Minuten zu fühlen, als hätte ich einen Verlobten, der mir vor Kurzem einen seifenoperwürdigen Heiratsantrag gemacht hat, mit allem, was dazu gehört. Kerzenschein und schöne Musik, bestenfalls selbst komponiert und gesungen, wenn er es könnte. Würde er dazu noch eigenhändig am Klavier sitzen, wäre es umso perfekter. Alternativ ginge ein gechartertes Flugzeug, das am Himmel seine Runden dreht und mich mittels herzverzierter Banderole fragt: ›Willst du, Hanna Ostermann, mich heiraten?‹ Es ist Kitsch, es ist Klischee – ich würde es lieben!

Leider, leider fehlt mir dazu etwas Unabdingbares für diese eine besondere Situation: ein Freund, und im Speziellen einer, der heiratswillig ist und mich als seine heiratswürdige Auserwählte betrachtet. Wenn ich diesen einen hätte, würde ich eventuell, also im äußersten Notfall, auf das Klavier verzichten …

Von all dem ganzen Liebesgedöns bin ich meilenweit entfernt. Meine emotionalen Ausbrüche, die meistens in einem Brautmodengeschäft enden, lassen meine Stimmung nach der Anprobe erst recht unter den Gefrierpunkt sinken. Spätestens wenn mir die Verkäuferin die Frage aller Fragen stellt, platzt mein Traum in Weiß wie ein Schaumkuss in der Mikrowelle und ich möchte allen anderen Bräuten ihren weißen Tüll am liebsten wie Zuckerwatte in den Hals stopfen. Warum die und ich nicht?

Dabei stand ich doch schon so kurz davor …

*

Ich habe damals gedacht, er war es – der Mann, mit dem ich den Rest meiner Jahre verbringen würde, bis unsere Zähne einträchtig neben uns im Zahnputzbecher nächtigten. Der Mann, bei dem ich mich immer wieder fragte, wie ich es geschafft hatte, bis dahin ohne ihn ausgekommen zu sein. Der Mann, der mich auch ohne Schminke und in Schlabberhosen, mit fettigen Haaren und unrasierten Beinen, liebte. Nicht dass ich mich jemals derart gehen lassen wollte … nur für den Fall.

Kurt ließ mich nicht einen Moment daran zweifeln, dass er es sich zu seinem Lebensinhalt gemacht hatte, mich von sich und seinen ehrlichen wie ernsthaften Absichten zu überzeugen.

Wie er vor mir stand, in der kleinen Baden-Badener-Bankfiliale in der Rheinstraße und seinen dicken Strumpf gefüllt mit rostig roten Sparmünzen auf dem Tresen ausschüttete. Da wusste ich genau: Das ist er! Prototyp des antiquierten Spießersparbrötchens. Ein männliches No-Go, wenngleich ein attraktives. Und seine Erklärung war für mich als Dauerauftragbeauftragte und gleichzeitige Singlefrau noch viel attraktiver.

»Wissen Sie, Frau Ostermann, den Strumpf habe ich beim Umzug hinter dieser hässlichen Blümchencouch gefunden, die meine Ex mit in die Wohnung gebracht hat. Vermutlich aus der Fundgrube. Das scheußliche Ding wollte ich schon lange entsorgen, ähem, ich meine, also das Sofa … Der Socken hier gehört vermutlich auch ihr. Aber sie will ja nichts mehr von mir wissen, also dachte ich mir, tausche ich den Strumpf ein und investiere das Geld in sinnvollere Momente. Essen gehen zum Beispiel – wie sieht’s aus, haben Sie Lust und Zeit?«

Welche Frau konnte zu solch einer nassforschen Einladung Nein sagen, wenn zu Hause nichts anders als ein Blümchensofa aus der Fundgrube auf sie wartete und kein Mann, der es hasste? Ich konnte es nicht.

Kurt war ein Phänomen. Er schaffte es auf unnachahmliche Art und Weise mit jedem Satz, jeder Bewegung, jeder Geste unbemerkt Besitz von mir zu nehmen. Er war ein Mann, wie ein Mann meiner Ansicht nach sein sollte: zuvorkommend, aufmerksam und vor allem unaufhaltsam. Spätestens bei dieser Erkenntnis – also sofort bei unserer ersten Begegnung am Schalter – hätten bei mir die Alarmglocken schrillen sollen: Mann und gleichzeitig Phänomen – das stank zum Himmel.

Was ignoriert frau nicht alles, wenn sie verliebt ist. Kurts mehrfach gescheiterte Ehen? Pillepalle, erfolgreich verdrängt. Kurt war mein König unter allen emotional Einäugigen und ich die blinde Närrin unter den weiblichen Zweiäugigen. Er sah hervorragend aus. So hervorragend, dass ich ab und an überlegen musste, ob nicht sogar ein bisschen zu hervorragend für mich. Nicht dass ich hässlich wäre, also ich würde sagen gutes Mittelmaß, vielleicht ein bisschen drüber, je nachdem, wie gut oder schlecht ich geschlafen habe. Sicher könnte man das ein oder andere ändern: Ohren anlegen, Nase verkleinern, Schlupflider entfernen. Nach 34 Jahren hab ich mich eigentlich an mein Aussehen gewöhnt, inklusive den Anteilen meines Aussehens, das über die Jahre ungefragt hinzugekommen ist. Die ungebetenen Gäste haben es sich in meinem Gesicht, links und rechts der Augen, gemütlich gemacht, sich regelrechte Schutzgräben gebaut, um darin zu überwintern. Ich muss zu einseitig gelacht haben und mich zu vielfältig geärgert. Vor allem zwischen den Brauen ist mir ein ganzer Schwertransporter voller Sorgen über die Haut geprescht, dicht verfolgt von drei bis vier Grübelkettcars, die sich ungefragt jahrelang ein Wettrennen auf meiner Stirn geliefert haben, von rechts nach links und von links nach rechts oder umgekehrt. Einer hat dabei das Lenkrad verrissen und einen anderen beinahe touchiert, was eine interessante Verästelung auf meiner Stirn beweisen kann. Von den ersten grauen Haaren, die wie widerspenstige Nylonfäden aus meinem Kopf sprießen, will ich gar nicht erst reden. Steht der Wind schlecht und fliegen meine Haare hoch, sehe ich aus wie eine herrenlose Marionette, an dessen Nylonfäden keiner ziehen mag.

Kurt aber gab mir dieses herausragende Gefühl, die beste, schönste, klügste und einzige Frau auf Erden zu sein. Er war einfach ein Traum und wäre besser ein Traum geblieben.

Es dauerte nicht lange, und er machte mir fast beiläufig einen Heiratsantrag. Vielleicht nicht in allen Punkten vergleichsweise romantisch wie ich mir das vorgestellt hatte … aber hey, wer ritt auf Prinzipien herum, wenn mein Traummann, mein King, mein Koi im Karpfenteich, seinen Ehewillen verkündete? Obwohl ich ehrlicherweise ein klitzekleines bisschen enttäuscht war, dass es nicht rote Rosen auf mich regnete.

Kurt rief mich mit Samt in der Stimme und Zucker in den Worten im Büro an. »Was hältst du davon, wenn wir heute zur Feier des Tages chic ausgehen?«, fragte er mich am Telefon auf seine nonchalante Art, die mich selbst durch den Hörer spüren ließ, wie er mir zur Begrüßung einen Kuss aufdrückte, mir – ganz Gentleman – den Mantel abnahm und mir galant, dem Kellner bedeutend, dass er überflüssig war, den Stuhl reichte und zurechtrückte, bevor er sich, die Krawatte an das Hemd streichend, mir gegenüber hinsetzte.

Schon bei unserem ersten Sparstrumpfessen war es um mich geschehen, und nicht erst, als er mich zum dritten Mal ausführte und mir bei Spaghetti al dente mit Frutti di Mare romantisch wie einst bei Susi und Strolch in die Augen blickte, um zu sagen: »Du bist das Beste, was mir je passiert ist.«

Ein Satz, der mein Frauenherz höher schlagen ließ und meinen Verstand in den Keller der Umnachtung schickte.

Nicht dass Kurt ein Säuselheini war, der mit Gesülze nur so um sich warf. Überhaupt nicht. Er dosierte seine Zuneigung perfekt wie ein Dreisternekoch. Er konnte auch anders, und zwar immer genau dann, wenn es angebracht war. Was dem Profi sein Chili, Ingwer oder schwarzer Pfeffer, das waren Kurt seine würzigen Worte, die er mir genau zum richtigen Zeitpunkt ins Ohr hauchte. Oder schrie, je nachdem was der Situation zuträglicher war.

Das hieß, Kurt hatte es in sich, in jeglicher Beziehung und das war so interessant an ihm.

Ich hörte, wie Kurt am anderen Ende der Leitung tief Luft holte und fragte: »Hanna, willst du mit mir einen Dauerauftrag schließen – bis an unser Lebensende?«

»Hä?« Ich wusste nicht genau, was er mir sagen wollte. Meinte er wirklich das, was ich zu hören glaubte? Bei solch einer wichtigen Angelegenheit fragte ich lieber nach. Nichts ist peinlicher, als zu glauben, einen Heiratsantrag zu bekommen – und dann stellt sich heraus, dass es gar keiner war.

»Ob du mich heiraten willst, habe ich gefragt.«

Okay, ein Heiratsantrag am Telefon war ziemlich weit entfernt von meiner heimlich erhofften Flugzeugvariante oder dem Klaviersolo – aber irgendwas war doch immer. Und in solchen Momenten kleinlich zu sein, war vermutlich grundverkehrt. Obwohl mein Enthusiasmus ehrlicherweise aufgrund der fehlenden Liebesbanderole spartanisch ausfiel.

»Du fragst mich am Telefon, ob ich dich heiraten will?«

»Äh, ja, aber … nur«, stotterte er plötzlich, ganz untypisch für ihn, »weil ich es nicht mehr abwarten kann, bitte, jetzt sag endlich was dazu.«

Hmm, ich musste kurz überlegen, für welche Reaktion ich mich entscheiden sollte? Mich für die Flugzeuge im Bauch entscheiden und nachgiebig sein – oder enttäuscht und einen ordentlichen Antrag mit Flugzeug am Himmel fordern? Schließlich wollte Kurt mich heiraten, das würde er sich doch nicht anders überlegen, bloß weil ich ein bisschen mehr Romantik verlangte, oder? Andererseits sollte man sich nie zu sicher sein, also sagte ich lieber ein tränenersticktes: »Ja, ich will!«

*

»Was will der Kerl?«

Henry schaute mich entsetzt an, als hätte mich Kurt dazu überredet, mit ihm maskiert und nur mit billigen Beate-Uhse-Dessous bekleidet einen Swingerclub zu besuchen.

»Heiraten, ich habe gesagt: Kurt will heiraten.«

In meiner Stimme schwang ein bisschen Stolz mit, begleitet von einer gewissen Unsicherheit. Ich hoffte, dass Henry als mein bester Freund und Hobbypsychologe, was vermutlich seinem Beruf als Schönheitschirurg geschuldet war, meine Gemütsschwankung nicht gleich wahrnahm.

Er lehnte sich mit verschränkten Armen in seinem weißen Ledersessel zurück und legte die Beine auf einen Stapel Vorher-Nachher-Bilder, die seinen Schreibtisch überfluteten. Es wunderte mich, dass Henry noch keinen Stempel entwickelt hatte, den er auf die neuen Brüste drückte, wie ein Farmer, der seinen Kühen ein Branding verpasste. Meine Kuh – mein Busen. So stolz wie er auf seine Arbeit war. Ein Knopf im Ohr wäre auch ein schönes Andenken für die Patientin.

»Heiraten will er? Na, dann bist du ihn wenigstens los. Wer ist denn die Glückliche?«

Ich verdrehte die Augen. Von Anfang an hatte Henry Kurt gegenüber ein gewisses Misstrauen an den Tag gelegt.

»Mich natürlich, wen sonst?«, sagte ich enttäuscht. Selbst wenn er es nicht böse meinte und sich Sorgen um mich machte, hätte ich ein bisschen mehr Empathie von meinem besten Freund erwartet.

»Das kommt gar nicht infrage!«, entrüstet wippte Henry mit dem Stuhl nach vorne und stützte sich auf die Tischplatte; oder besser gesagt, auf die frisch gepimpten Pobacken einer Kundin.

»Was sagt Julia dazu?«

»Die freut sich für mich! Sie findet Kurt toll!«

Henry äffte mich nach: »›Sie findet Kurt toll!‹ Och, der liebe Kurti. Und Julia. Ausgerechnet! Kein Wunder, die guckt ausschließlich aufs Äußere und auf den Geldbeutel, die dumme Nudel.«

»Täuscht mich meine Erinnerung, oder wart ihr mal zusammen?«

»Sag ich doch: dumme Nudel.«

»Wie gut, dass wir beide nie was miteinander hatten, sonst würdest du im Nachhinein vielleicht genauso über mich reden, du altes Lästermaul«, schimpfte ich überzogen.

»Vielleicht wären wir heute noch zusammen, wenn du dich auf mich eingelassen hättest«, sagte Henry, seltsamerweise ohne den von ihm in Beziehungsdingen gerne gebrauchten ironischen Unterton.

»Ich paare mich nicht mit einem Mann, der wie ein fleischgewordener Rasensprenger wahllos seinen Samen in der Damenwelt verspritzt.«

Henry verschränkte leicht eingeschnappt die Arme vor seiner durchtrainierten Brust. »Also, bitte, es ist jetzt wirklich nicht fair, mich zu verurteilen, weil ich möglicherweise ein paar Frauen mehr kennengelernt habe als der männliche Durchschnittsliebhaber.«

»Ein paar mehr? Casanova wirkt gegen dich wie ein unreifer Klosterschüler.«

»Aber ich habe nie eine betrogen, ich bin immer vorher gegangen.«

»Wie kann man untreu sein, wenn man die Frauen schneller wechselt als seine Unterhosen?«

Zugegeben, es war wirklich faszinierend, wie die Frauen reihenweise auf Henry hereinfielen. Gut, echtes Hereinfallen kann man es nicht nennen, weil Henry den Mädels tatsächlich nicht, wie viele Männer vor ihm, neben ihm und nach ihm, irgendwas von großer Liebe vorgaukelte. Eigentlich musste er gar nichts machen, außer er selbst sein, und die Frauen lagen sabbernd vor ihm im Staub, darum bettelnd, ihn einmal anfassen zu dürfen – oder gerne ein bisschen mehr. Und Henry war nicht kleinlich, er gab vielen, was sie wollten, weil er das Gleiche wollte, nur eben nicht lange. Seine Affären besaßen eine maximale Haltbarkeitsdauer von zwei Wochen und selbst das grenzte an Zeitverschwendung.

Henry hob eine Hand, an der jetzt eine fast perfekte apfelrunde Pobacke klebte. Er schüttelte das Bild ab und ging um den Schreibtisch herum, stellte sich hinter mich, streichelte mir den Rücken und drückte mir die Schultern. Anscheinend wollte er seine schwitzigen Finger an mir abtrocknen.

»Hanna, der Mann, dieser Kurt, der ist nichts für dich. Der ist wie ich, der meint es nicht ernst mit den Frauen.«

Ehrliche Worte.

»Kurt muss es ernst meinen, schließlich hat er mir einen Heiratsantrag gemacht. Hast du einer Frau schon mal einen Antrag gemacht?«, fragte ich Henry und griff nach seiner Hand. Ich zog ihn vor mich, damit ich ihm in die Augen sehen konnte.

Träge hockte er sich auf die Tischplatte und antwortete: »Ich bin nicht lebensmüde, nachher sagt noch eine Ja!«

Henry grinste dasselbe jungenhafte Grinsen wie sonst, wenn er mich erheitern wollte. Sein Blick wirkte belegt, sorgenvoll. Er runzelte sogar die Stirn, was er sonst tunlichst unterließ. Der Falten wegen. Obwohl er an der Quelle saß, hatte er bisher auf jegliche Verschönerung seiner selbst verzichtet. Henry hatte Angst vor Spritzen.

Ich fürchtete mich mehr vor Falten.

»Bist du eifersüchtig?«, fragte ich und schaute ihn herausfordernd an.

»Nein, aber bei dir scheinen alle Sicherungen durchzuknallen. Im Gegensatz zu mir war der Kerl nämlich mehrmals verheiratet. Hallo, Hanna? Da müsste der Glöckner bei dir Überstunden schieben.«

Natürlich ist man hinterher meistens schlauer. Und ich hätte auf Henry hören sollen, vor allem weil er der vermutlich einzige Mann der Welt war, der es ehrlich mit mir meinte.

Hinterher ist man immer rauer.

»Ich will was, das bleibt«, verkündete Kurt am Abend des Heiratsantrages, als ich ihm meine im Büro gezeichneten Vorschläge für unsere Trauringe über den Esstisch schob. Kurt griff nach meiner Hand, die auf einen geschmiedeten, breiten Ring tippte, und eröffnete feierlich: »Hanna, du sollst mir unter die Haut gehen. Ich lasse mich für dich tätowieren. Das währt ewig.«

Ich schaute Kurt erschrocken an und zog im Affekt meine Hand unter seiner weg.

»Was ist denn das für ein Liebesbeweis, wenn du dir einen Anker oder einen Rosenkranz auf den Arm stechen lässt?«, fragte ich ihn wohlwollend begriffsstutzig.

»Ich dachte eher an eine Seemannsbraut«, grinste Kurt, »die dein Konterfei trägt.«

Ich rollte daraufhin nur mit den Augen.

»Nein, im Ernst. Was hältst du davon? Tattoos statt Trauringe. Ich lasse mir deinen Namen eintätowieren und du dir meinen.«

»Ach, Kurt, das ist total albern. Und was willst du machen, wenn das mit uns nicht ewig hält?«

»Aha, du findest mich also albern. Und an meine Liebe und an uns glaubst du nicht. Weißt du, was ich denke? Du willst mich nicht heiraten, weil du mich gar nicht liebst!« Kurt stürzten Tränen in die Augen. Ich war schockiert, gleichzeitig irgendwie berührt. Ein Mann, der seine Gefühle offen zeigen konnte. Wäre ich es nicht bereits gewesen, ich hätte mich auf der Stelle in ihn verliebt.

Wieder musste ich mich entscheiden, ob ich mich über die emotionale Erpressung aufregen sollte oder mich über diesen hoffnungslos romantischen Anflug freuen. War das nicht das absolute Zeichen für Liebe und Treue? Wenn er meinen Namen auf sich trug, Schwarz auf Weiß, Tinte in Haut? Einen Ehering konnte man ablegen, heimlich in der Tasche verschwinden lassen, ein Tattoo nicht. Das war soooooooo romantisch und machte den fehlenden Antrag fast wett.

»Wir machen es!«, polterten mir die Worte unüberlegt aus dem Mund.

Manchmal ist frau einfach doofer, als man denkt.

Wer im Leben alles richtig machen will, steht unter Druck. Da ist es fast befreiend, offensichtlich Schwachsinniges zu tun. Nur hatte ich das Gefühl, in meinen rebellischen Momenten stets den falschesten Fehler überhaupt zu begehen. Getreu dem Motto, erst ein Besäufnis mit Kater ist ein richtiges Besäufnis. Und dieser Kater, mein Kater, hieß Kurt, und er hätte mir lieber einen Tag über der Kloschüssel eingebracht als einen bleibenden Beweis für meine Maßlosigkeit in unüberlegtem Handeln.

»Also, ich habe für morgen in der Mittagspause einen Termin beim Tätowierer meines Vertrauens gemacht. Oder willst du noch einen Rückzieher machen, Hanna?«, fragte mich Kurt direkt nach dem Sex, was ohnehin eine Gemeinheit war, wenn die Hormone gerade aus der Reihe tanzten. Ich kuschelte mich dichter an seine durchaus muskulöse Brust und nuschelte benommen: »Sicher bin ich mir sicher, lass und das morgen machen. Woher kennst du überhaupt einen Tätowierer?«

Ich hob die Decke an, um Kurts nackte Haut noch einmal eingehend auf Beweisbilder hin zu überprüfen. Außer einer gleichmäßigen Bräune und definierten Körperteilen, von Männerhaaren im genau richtigen Ausmaß bewachsen, fand ich keine verräterischen Intimgemälde.

»Meine Exfrau ist tätowiert.«

Ich musste schlucken. Das durfte nicht wahr sein!

Aufgebracht richtete ich mich im Bett auf.

Wir lagen in meiner Wohnung, in meinem Schlafzimmer und der Mann neben mir sprach davon, dass seine Exfrau genau dasselbe für ihn getan hatte.

»Du glaubst nicht im Ernst, dass ich mich tätowieren lasse, wenn deine Frau, also deine Ex, ebenfalls mit ’nem Kurt auf dem Oberarm herum läuft.«

Kurt grinste. Ich fand, er benahm sich unmöglich, ein Gefühl der Enttäuschung kroch langsam meine Herzwände hoch.

»Hey, da gibt’s nichts zu lachen. Das hättest du mir vorher sagen müssen! Was soll das denn für ein Liebesbeweis sein, wenn du das bei jeder x-Beliebigen machst? Wie viele Kurt-Anhängerinnen laufen da draußen denn noch herum?«

»Och, Süße, jetzt reg dich nicht auf. Tattoo-Horst ist der Exschwager meiner Ex – ich bin also komplett unschuldig! Außerdem würde ich das mit keiner anderen Frau auf der Welt tun«, beruhigte mich Kurt, und ich schämte mich fast ein bisschen wegen meines Vorwurfes.

»Schatz, es tut mir leid, aber ich kann nicht rechtzeitig kommen«, entschuldigte sich Kurt am Handy.

Tattoo-Horst hatte bereits seinen Tintenstift – oder wie immer man das Teufelszeug nannte – gezückt und war zum Ansetzen bereit. Wir hatten alles besprochen. Ort, Schrift, Farbe. Oberhalb meiner linken Pobacke, Großbuchstaben und in stilechtem Schwarz mit einem kleinen Schwung drumherum.

Und jetzt kam Kurt nicht.

Tattoo-Horst wurde langsam nervös, ich erst recht. Vor allem beunruhigte mich diese tintengetränkte Schweineschwarte auf dem Werkzeugwagen neben meinem Behandlungsstuhl, die aussah, als hätte jemand an ihr Malen nach Zahlen geübt und wäre an der Herausforderung kläglich gescheitert.

»Kurt, ohne dich schaff ich das nicht.«

Mit der frei verfügbaren Hand krallte ich mich an der kunstledernen Sessellehne fest.

»Das packst du, Liebes. Natürlich würde ich lieber neben dir sitzen und deine zarte Hand halten, aber der Termin hier ist immens wichtig für mich.«

»Wo bist du überhaupt?«, fragte ich, unsicher, ob Tattoo-Horst nicht ohne mein Zeichen mit dem Stechen begann. Sein Gesicht verriet mir, dass er zu allem bereit war. Er schaltete das Gerät ein. Ein bedrohliches Surren ließ mich aufschrecken. Das Geräusch löste bei mir noch mehr Unbehagen aus als das Rumoren eines Zahnarztbohrers.

Ich drückte das Handy fester an mein Ohr, um Kurt näher zu sein.

»Das erzähle ich dir alles heute Abend, wenn wir deinen ›Van Kurt‹ feiern. Ich verspreche dir, nachher noch bei Horst reinzuschneien, wenn ich hier fertig bin, dann lass ich mir ein Herz zusätzlich stechen. Sei so lieb, mein Schatz und sag ihm gleich Bescheid. Ich denk an dich, bis später!«

Ich nickte ins Telefon, als könnte Kurt es sehen. Er hatte aufgelegt.

»Kurt kommt später – ist das okay für dich, Horst?«

»Klaro, soll kommen, ich schiebe ihn irgendwie rein, den alten Aufschneider!«

Alter Aufschneider? Sollte Horst meinen Kurt wohl näher kennen, als ich dachte? Vielleicht wurde er öfter mit der ein oder anderen Frau in diesem Schuppen gesichtet, der er ein bleibendes Andenken verpasst hatte.

Horst, der gar nicht dem Bild eines Tattookünstlers entsprach, also wie ich ihn mir vorstellte: lange Haare, Vollbart, stark beringt, in Lederkluft und natürlich über und über mit bunten Bildchen bestückt. Nein, Horst erinnerte mich vielmehr an einen Buchhalter, der in einen Topf bunter und viel schwarzer Farbe gefallen war, die ihm zum Hemdkragen in Form von Krakenarmen und Dornenranken den Hals entlang kroch.

Er hatte ein rundliches Gesicht, ein ebensolches Brillengestell und auf dem Kopf einen wilden Heiligenschein aus rotblonden Löckchen. Seine zu kurz geratenen Arme und Beine steckten in einem biederen, hellgrauen Anzug, frisch gebügelt und gestärkt.

»Was meinst du denn mit Aufschneider? War Kurt schon öfter hier, vielleicht in Begleitung?«, hakte ich beiläufig nach und hoffte, dass Horst meine brennende Neugierde nicht spürte.

»In meinem früheren Leben war ich Steuerberater und habe ihm halt das ein oder andere Mal aus der Patsche geholfen«, schnaubte Horst. »Wie das eben ist mit dem Geld, von dem keiner was wissen soll. Und diese Frauengeschichten, die sind ihn oft teuer zu stehen gekommen.«

Ich riss die Augenbrauen nach oben. Horst guckte mich fast genauso entsetzt an und sagte: »Oh, sorry, du bist natürlich die Ausnahme. Das mit den anderen ist ewig her, zehn Jahre bestimmt, also lange vor deiner Zeit. Damals habe ich den Laden hier aufgemacht und mir meinen Traum verwirklicht. Eine Erinnerung an mein früheres Leben habe ich dennoch zurückbehalten. Schau, hier.«

Horst zog den zerknitterten Hemdsaum aus dem Hosenbund, öffnete den oberen Knopf und zog den Reißverschluss ein Stück weit nach unten. Mir schwante Übles. Mein Kopf machte eine halbe Kehrtwendung nach links gen rettendem Ausgang, als ich mit meinem rechten Auge weiter zu Horst schielte. Wie das eben so ist. Manche Sachen sind so schrecklich, dass man einfach hingucken muss. Eine Handbreit unter dem entblößten Bauchnabel, gerade dort, wo sich kleine Kraushaare den Weg aus dem Dunkel bahnten, erkannte ich ein paar tätowierte Zahlen, jede einzeln umrahmt von einem Herzchen.

»Meine Steuernummer«, grinste Horst stolz.

*

Benommen stolperte ich die Stufen hinauf, die mich aus dem Tattoo-Laden zurück auf die Straße führten. Mein Po schmerzte, genauer gesagt meine Pobacke. Horst meinte, es würde höchstens das Wochenende über dauern, bis ich meinen Hintern wieder einwandfrei benutzen konnte. Obwohl ich mich fragte, welchen aktiven Part mein Po im Alltagsleben an sich übernahm, außer männliche Blicke auf sich zu ziehen. Im Grunde war er doch einer der Körperteile, den man selten aktiv wahrnahm, solange einem niemand den Namen des Geliebten darauf tätowierte.

Es sollte eine Stelle sein, die nicht sofort ins Auge fiel und im Hochsommer leicht zu verdecken war. In der Bank würden sie sonst austicken, wenn ich mit einem Tattoo auf dem Arm Sparanlagen verkaufte, auch wenn ich natürlich nicht quasi dadurch weniger qualifiziert wäre.

Auf dem Weg zu meinem Wagen entdeckte ich auf der anderen Straßenseite Julia, die anscheinend Ausschau nach einem Taxi hielt. Meine Freundin war nicht zu übersehen, sogar in Trainingsklamotten nicht. Allerdings lagen die Sachen bei ihr an wie eine zweite Haut, sodass man unschwer ihren durch täglichen Sport perfekt geformten Körper erahnen konnte.

Julia ist als selbstständige Personaltrainerin sehr erfolgreich und hat viele Stammkunden. Darunter auch Bernhard, einen stolzen Vorstandsbanker mit dickem Konto und dünner Muskulatur. Als Stand-up-Single nimmt sie, was kommt, auch wenn das Dilemma damit meistens vorprogrammiert ist. Aber Julia hat anscheinend die Zeit und die unstillbare Lust dazu, sich mit den Falschen herumzuschlagen, solange der Richtige nicht in Sicht ist.

Ich tippte ihre Nummer in mein Handy und beobachtete sie dabei, wie sie sich ihre Sporttasche ans Ohr hielt. Nach längerem Kramen hatte sie ihr iPhone endlich gezückt und starrte auf das Display. Dabei müsste sie mein Foto schon lange anlächeln. Warum ging sie nicht ran?

»Nun, nimm endlich ab«, murmelte ich.

»Hallo, Hanna«, meldete sich Julia endlich.

»Hey, Süße. Schau mal nach rechts über die Straße!«

Julia hob ihren Kopf und guckte nach links.

»Rechts ist die andere Richtung.« Ich winkte wie wild.

»Was machst du denn da?«, fragte Julia irritiert, anstatt endlich zu mir herüberzukommen.

»Brauchst du ein Taxi?«

»Ja, eigentlich schon.«

»Dann komm her, ich fahr dich.«

Freude sah anders aus, wenn man die beste Freundin unverhofft auf der Straße traf, dachte ich mir, als Julia mir mit sauertöpfisch gestimmtem Gesicht entgegenkam. Sie wirkte fast ein bisschen entsetzt, mich hier zu treffen. Doch dann bemühte sie sich um ein entspanntes Lächeln, so wie ich es sonst von ihr kannte. Ihre Umarmung hingegen war fester als sonst.

»Hanna, schön dich zu sehen, aber was machst du hier in dieser, dieser … Ecke?«

Diese Ecke war nichts anderes als der Beginn des Rotlichtviertels dieser Stadt und somit nicht unbedingt der passende Ort für ein Damenkränzchen alter Freundinnen.

Langsam legte sich Julias aufgeschreckter Rehblick und wanderte über meinen Kopf hinweg zu der Leuchtreklame des Tattoostudios.

›Horst, der Stecher‹ blinkte es Rot auf Schwarz wie pulsierendes Blut.

Julias linke Augenbraue reckte sich gen Haaransatz, als sie mich ungläubig fragte: »Du warst doch nicht etwa da drin? Hannilein, machst du etwa Unsinn?«

Was sollte ich sagen? Ich hatte Julia und Henry nichts von meinem einstechenden Vorhaben erzählt, weil ich genau wusste, wie sie reagieren würden. Mit verständnislosem Kopfschütteln über meinen schwindenden Verstand in dieser Sache. Ich wollte nicht, dass mich jemand zurückhielt, einen Fehler zu begehen – ich wollte ihn machen.

»Ach, der Laden«, flunkerte ich, »der Tätowierer ist ein Bekannter von Kurt, und er ist Steuerberater. Ich brauche doch endlich mal jemanden, der sich um meine Unterlagen kümmert.«

Jetzt guckte mich Julia noch eindringlicher an. Bisher hatte ich meine Finanzen nie aus der Hand gegeben, mich immer selbst um alles gekümmert. Sie wusste genau, dass ich nur schwer jemandem vertraue, und wenn’s um Geld geht erst recht nicht. Aber Menschen konnten sich ändern, selbst ich, oder etwa nicht? Trotzdem versuchte ich besser, von mir abzulenken.

»Was machst du eigentlich hier?«, fragte ich, während ich mich bei ihr unterhakte und wir gemeinsam Richtung Auto liefen.

Julia wurde plötzlich ein bisschen rot. Das machte mir Sorgen. Diese Frau wechselte sonst nie die Gesichtsfarbe, weil ihr nichts peinlich war. Ich kannte niemanden, der sich so schamlos mit Männern vergnügte und sie am nächsten Tag so hemmungslos abservierte wie sie, der weibliche Macho schlechthin. Und sie wusste genau, dass ich ihren Lebensstil zwar fragwürdig fand, sie mir aber trotzdem alles erzählen konnte.

Mit einem Scanner für Männerhirne wäre Julia gut bedient, selbst wenn das Gerät bei den meisten ihrer Bekannten nur Error anzeigen würde. Aber das störte sie nicht und mich auch nicht, weil sie mir so garantiert jede Woche neuen Gesprächsstoff lieferte. Wenigstens eine von uns beiden, ich war ja eher Typ Mauerblümchen.

Wer eine Freundin wie Julia hatte, brauchte keinen Fernseher. Das war Doku-Soap live. Was also sollte ihr vor mir peinlich sein?

»Sag’s mir. Welchen Typ hast du gerade wieder in die Mangel genommen?«

Aufgrund Julias durchtrainierter Figur ging ich immer davon aus, dass sie auch beim Sex zu Höchstleistungen imstande war, die jeden Mann, insofern er mithalten konnte, um den Verstand brachten.

Julia schaute mich ratlos an. Sie legte ihre Hand auf meinen Arm und fragte eine Spur zu ernst: »Hast du Zeit?«

Ich nickte überrascht.

»Dann lass uns einen Latte trinken, ich muss dir was erzählen.«

Ich wärmte meine Hände an dem heißen Milchkaffeeglas. Es fröstelte mich. Wahrscheinlich war ich ausgekühlt, als ich für meinen Geschmack, zu leicht bekleidet, bei Tattoo-Horst Kurt eine meiner Backen opferte. Gerne hätte ich mich stärker in das kalte Ledersofa gepresst, um meine Wunde zu kühlen. Aber Druck kam gar nicht gut. Also rutschte ich lieber ein Stück nach vorn und hing nur mit halbem Hintern auf der Sitzfläche.

Julia musterte mich argwöhnisch.

»Ist bei dir alles in Ordnung? Was sitzt du denn so steif da, hast du wieder Rücken?«, fragte sie besorgt und schaute unter den Tisch, um zu erkennen, wie ich mit den Füßen meine merkwürdige Sitzhaltung stabilisierte.

»Die Übung habe ich in einer Frauenzeitschrift gefunden«, flunkerte ich. »Eine halbe Stunde am Tag reicht und du kriegst dermaßen straffe Pobacken, dass du mit ihnen Nüsse knacken kannst.«

»Dafür hab ich einen Nussknacker«, lachte Julia. »Wenn du jetzt noch mit der Hand dein Getränk für eine halbe Stunde 20 Zentimeter über der Tischplatte balancierst, bekommst du sogar flatterfreie Oberarme. Mitleidige Blicke der anderen Gäste inklusive. Jetzt entspann dich doch mal, das sieht total affig aus, wie du da hockst.«

Stück für Stück sackte ich ein bisschen mehr in mir zusammen, darauf bedacht, keine Sehne und keinen Nerv zu bewegen, der mit meinem Gesäß verbunden war. Halb gekrümmt verharrte ich in einer Sitzposition, die den Schmerz für mich gerade noch erträglich machte, jedoch nicht minder lächerlich aussehen durfte.

Julia schmunzelte weiterhin.

»Weißt du, wie du da sitzt?«

»Nein, aber du wirst es mir sicher gleich verraten.«

»Als wärst du gerade frisch entjungfert worden, und zwar anal.«

Genau genommen hatte sie voll ins Schwarze getroffen. Gewissermaßen hatte ich ja gerade einen Jungfernstich im Po.

»Mach dich nicht lustig über mich. Du weißt, ich habe keine Zeit für Sport, also muss ich jede Minute effektiv nutzen.«

»Blabla, alles nur Ausreden. Ich müsste dir wirklich mehr in den Hintern treten. Da hast du eine Fitnesstrainerin sozusagen in der Familie und kommst trotzdem nicht aus den Puschen. Schlimm mit dir!«, schimpfte Julia, meinte es aber nicht ganz so ernst.

»Du hast recht. Ich sollte wirklich mehr in mich investieren, aber das mit dem Hinterntreten verschieben wir lieber auf nächste Woche. Außerdem habe ich jetzt einen Mann gefunden. Ich kann also damit anfangen, mich gehen zu lassen. Kurt liebt mich, wie ich bin«, scherzte ich.

»Ach, der Kurt«, sagte Julia mit Grabesstimme, als würden wir bei seinem Leichenschmaus sitzen.

»Ist was mit Kurt?«, fragte ich.

»Das ist so eine Sache mit dem Kurt.«

»Was meinst du damit?« Julia sprach in Rätseln. »Kurt ist doch keine Sache. Ich dachte, du findest ihn auch gut, gut für mich.«

»Ja, das habe ich wohl gesagt, und der Kurt ist wirklich ein Netter und sehr sympathisch.«

»Nett ist die kleine Schwester von scheiße. Du findest Kurt also scheiße?«

»Nein, er ist super, fantastisch! Mein Gott, Hanna, ich will sagen, dass bestimmt sehr viele Frauen auf ihn fliegen, weil er einer ist, der die Frauen umgarnt, sie um den Finger wickelt mit seinem Charme und seinem…«

»Schwärmst du jetzt etwa von ihm? Kannst du dich vielleicht entscheiden, wie du ihn findest? Und überhaupt, warum reden wir jetzt über Kurt? Ich dachte, du wolltest mir eigentlich von deinem Lover erzählen, den du gerade abgefertigt…«

Meine Augäpfel fingen an zu brennen, so sehr riss ich die Lider auseinander und starrte Julia an.

Sie zog gequält die Mundwinkel in die Breite.

»Mein Gott, Julia, sag, dass das nicht wahr ist. Hast du was mit Kurt? Mit meinem Kurt? Kommst du gerade von ihm?«

Ich wusste nicht, ob ich wütend oder enttäuscht sein sollte oder beides gleichzeitig. Julia konnte jeden haben. Jeden! Warum machte sie sich ausgerechnet an meinen Freund ran, an den Mann, der mich heiraten wollte?

Meine Augen verjüngten sich zu bedrohlich wirkenden Schlitzen, damit erschreckte ich sonst plärrende Kinder im Flugzeug oder Supermarkt.

»Reg dich nicht auf, Hanna!«

Julia legte ihre Hand auf meine, die auf einem bierlosen Bierdeckel ruhte. Ich zog sie weg und schob sie unter meinen Oberschenkel.

»Wirklich, ich habe nichts mit Kurt. Also, bitte. Ich würde garantiert nie etwas mit ihm anfangen!« Julia schüttelte vehement den Kopf.

»Was soll das denn heißen? Nie etwas mit ihm anfangen! Findest du ihn etwa abstoßend? Du hast gerade gesagt, er wäre toll. Bin ich in deinen Augen etwa mit Quasimodo zusammen oder was?«

Ich hechtete von einer Aufregung in die nächste und schmiss mich entrüstet gegen die Rückenlehne. Dafür wurde ich mit einem beißenden Wundschmerz belohnt. Ich hielt die Luft an.

»Was ist denn los mit dir? Geht’s dir nicht gut? Du siehst irgendwie … verzerrt aus«, fragte Julia besorgt.

»Nichts, gar nichts, passt schon, hab nur ein Ziehen im Unterleib, ist gleich besser.«

Julia schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. Sie spreizte ihre Fingerklaviatur und nuschelte durch die Ritzen: »Bist du etwa schwanger?«

»Schwanger? Jetzt mach halblang. Du weißt genau, ich wäre keine gute Vollzeitmutti.« Ich schaute Julia eindringlich an. »Was wäre eigentlich so schlimm daran, wenn ich ein Kind von Kurt bekommen würde? Sag mal, was ist denn los mit dir? Ich dachte, du freust dich für mich, dass ich endlich einen Mann gefunden habe, der zu mir passt.«

»Kurt passt nicht zu dir!« Julia schlug mit der Faust auf den Tisch, dass der Salzstreuer umkippte, das Salz auslief und einen kleinen Strand auf der Tischplatte bildete. Wie in einem Zen-Garten fuhr sie mit dem Finger darin herum, malte Kreise und Striche. Mich machte das nervös. Mit einer Handbewegung wischte ich die Kristalle vom Tisch.

»Also, raus mit der Sprache. Sag mir endlich, was mit dir los ist!«

Julia richtete sich kerzengerade auf und faltete die Hände auf dem Tisch wie zu einem Gebet.

»Also gut … Ich hatte vorhin ein Date mit einem Mann, also nicht mit Kurt.«

Ich guckte argwöhnisch, was Julia sicherheitshalber zu einer Richtigstellung veranlasste.

»Natürlich will ich damit nicht sagen, Kurt wäre kein richtiger Mann, ich wollte dir nur klar machen, dass ich nicht mit Kurt verabredet war.«

»Gut.«

»Gut. Auf jeden Fall habe ich mich mit meiner Verabredung in einem Seitensprunghotel verabredet, weil der Typ verheiratet ist.«

»Was bitte ist ein Seitensprunghotel?«

Mit einem Schulterzucken entschuldigte ich mich für meine wahrscheinlich naive Frage.

»Du weißt doch, dass ich mich am liebsten mit Ehemännern einlasse, weil ich da sichergehen kann, dass der Sex wirklich unverbindlich ist und ich nicht das Risiko eingehe, mir einen einzufangen.«

»Höchstens einen Tripper.«

Julia zog einen Flunsch. »Also, diese Hotels sind nichts anderes als ein Stundenhotel, in dem eigentlich Nutten verkehren. Wenn die ein Zimmer frei haben, was öfter der Fall ist als gedacht, können sich normale Leute einmieten, um sich, na ja, um sich eben miteinander zu vergnügen.«