Liebe - Chaos des Lebens - Roslyn Sinclair - E-Book

Liebe - Chaos des Lebens E-Book

Roslyn Sinclair

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Beschreibung

Gefühle bringen Chaos ins Leben. Vor allem, wenn man sich in seine Chefin verliebt. Jules Moretti stürzt sich jeden Tag mit Feuereifer in ihren anspruchsvollen Job als Assistentin. Dabei ist das alles andere als einfach, denn ihre Chefin Vivian Carlisle ist eine echte Ice Queen, die von ihrem Team genauso viel Perfektion erwartet wie von sich selbst. Dass Jules eine hyperkompetente Mitarbeiterin ist, hilft ... Dass sie ein bisschen für ihre Chefin schwärmt, leider weniger. Vivian Carlisle, Chefredakteurin und mächtigste Frau der Modewelt, steckt mitten in einer schmutzigen Scheidung. Doch Schwäche kann sie sich nicht leisten, und wer in der obersten Liga mitspielen will, muss Opfer bringen. Die ohnehin angespannte Situation wird noch komplizierter, als Vivian feststellt, dass sie von ihrem zukünftigen Ex-Mann schwanger ist. Doch inmitten des Chaos entpuppt sich Jules plötzlich als echter Fels in der Brandung, auf den sich Vivian auch privat immer mehr verlässt. Dass Jules deutlich jünger und viel zu hübsch ist, spielt dabei keine Rolle – wären da nicht die immer stärker werdenden Gefühle zwischen ihnen, mit denen sich beide Frauen früher oder später auseinandersetzen müssen. "Liebe – Chaos des Lebens" ist der erste Teil der romantischen Carlisle-Saga, in der es um Leidenschaft, eine gehörige Portion Mode-Glamour und die Macht des Unerwarteten geht.

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Seitenzahl: 602

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Von Roslyn Sinclair außerdem lieferbar

Widmung

Danksagung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Über Roslyn Sinclair

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Von Roslyn Sinclair außerdem lieferbar

Wie Frau eine Anwältin verführt

The Lily and the Crown

Carlisle-Saga

Liebe – Chaos des Lebens

Liebe – Melodie des Glücks

Widmung

Die Carlisle-Saga ist allen Leser*innen gewidmet, die mir im Lauf der Jahre eine Quelle der Unterstützung und Freude waren. Ihr alle bedeutet mir mehr, als ihr euch vorstellen könnt.

Danksagung

Vielen Dank an Lee Winter und das Team vom Ylva Verlag, die dieses Buch zu dem gemacht haben, was es jetzt ist. Vor allem danke ich meiner wunderbaren Frau, die mich beim Schreiben nicht im Stich gelassen und mir oft den Weg gewiesen hat. Ohne sie hätte ich das Buch nicht fertiggestellt.

For above all things love means sweetness, and truth, and measure; yea, loyalty to the loved one, and to your word.

– Anonymous, The Lay of Graelent, 13th century CE

Kapitel 1

»Für Gelb konnte ich mich noch nie begeistern«, sagte Vivian Carlisle geistesabwesend, nachdem sie einen Blick auf den Entwurf der Fotostrecke geworfen hatte, der vor ihr auf dem Tisch lag. »Viel zu grell. Sogar in Pastell.«

Die meisten Menschen hätten das als beiläufige Bemerkung abgetan. Jules Moretti wusste jedoch, dass die Aussage ihrer Chefin nur die Ruhe vor dem Sturm war und somit der perfekte Moment, um konzentriert auf die Notizbuch-App ihres Tablets zu starren.

Sie fragte sich, welcher Pechvogel heute wohl zu Vivians Zielscheibe werden würde. Jules sicher nicht. Vivian besprach ihre ästhetische Vorlieben nie mit ihren persönlichen Assistentinnen. Nein, es würde jemanden treffen, der in der Unternehmenshierarchie höher stand als Jules, aber immer noch unter Vivian. Simon zum Beispiel, der Creative Director. Oder Angie, die Leiterin der Werbetextabteilung.

Oder Gott.

Irgendwann ertrug Jules die angespannte Stille nicht mehr und als sie schließlich aufblickte, begegnete sie Vivians durchdringendem Blick. Simon und Angie, die Glücklichen, hatten den Raum mittlerweile verlassen, und der Himmel schwieg hartnäckig.

Jules fing an zu schwitzen. Wenn Vivian Carlisle jemanden ansprach, hatte man etwa zwei Sekunden Zeit, um herauszufinden, ob sie eine Antwort erwartete oder nicht. Eine dieser kostbaren Sekunden war bereits verstrichen. Sie suchte fieberhaft nach einer Lösung. Gelb trug sie generell nur selten und heute überhaupt nicht, im Gegensatz zu einigen der Models der Fotostrecke, also zielte Vivians Kritik nicht auf Jules persönlich. Noch nicht.

Denk nach. Denk nach. Denk nach.

»Neueste Studien zeigen, dass Gelb die Stimmung gar nicht hebt. Im Gegenteil, bei manchen Menschen löst es sogar Anspannung aus«, plapperte Jules einfach drauf los, ohne richtig zu realisieren, was sie da sagte. Aber ganz so konnte sie ihre Aussage nicht stehen lassen. »Äh … Pink wirkt viel beruhigender.« Klang das durchdacht? Im Moment hatte sie eher das Gefühl, als würden ihr die Felle wegschwimmen. Vivian konnte dumme Menschen nicht ausstehen. Und wahrscheinlich hatte Jules’ Bemerkung dumm geklungen.

Vivian zog eine Augenbraue hoch.

Auf die Information, dass Gefängniszellen manchmal pink gestrichen wurden, um die Stimmung der Insassen zu verbessern, verzichtete Jules lieber. Das könnte Vivian in den falschen Hals bekommen.

Doch anstatt ihr an den Kopf zu werfen, wie dumm sie war, schaute ihre Chefin erneut auf die Entwürfe.

Jules machte sich auf das Schlimmste gefasst.

»Mallory«, sagte Vivian.

Umgehend zückte Jules ihr Smartphone und schickte Mallory eine Nachricht mit der Aufforderung, sofort zu ihnen ins Büro zu kommen.

Das würde jetzt bestimmt ganz schön hässlich werden. Mallory arbeitete seit zwei Jahren als Photography Director für Du Jour. Dank ihrer modernen, innovativen Ideen war erst Simon, dann Vivian auf sie aufmerksam geworden. Doch ihrem letzten Projekt hatte bereits das gewisse Flair gefehlt – Vivian hatte es als »nichtssagend« bezeichnet. Das hier war nun schon ihr zweiter Fehltritt und Vivian würde sicher dafür sorgen, dass Mallory merkte, wie nah sie gerade am Abgrund entlangtänzelte.

Beim Betreten des Raums schien Mallory direkt zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Ihr Blick wanderte über das elegante Mobiliar im Mid-Century-Modern-Stil und die riesige Fensterfront, die eine herrliche Aussicht über ganz Manhattan bot. Ein Ambiente, in das Mallory wunderbar passte: Sie war hochgewachsen, gertenschlank und trug immer die neueste Designerkleidung. Darüber hinaus war sie elegant, unglaublich attraktiv und ehrgeizig. Sie wollte glänzen. Vielleicht ein bisschen zu sehr. Mit dieser Einstellung unter Vivian Carlisle zu arbeiten war, als würde man einem Hai einen Köder vor die Nase halten.

»Sie wollten mich sprechen?«, fragte Mallory etwas atemlos. In ihrer Stimme lag diese Mischung aus Bewunderung und Todesangst, die Vivian in jedem Menschen auszulösen schien.

»Hmm.« Vivian schaute nicht von dem Entwurf auf, sondern betrachtete immer noch die Fotos, Bildunterschriften und Texte auf dem A3-Ausdruck. »Gelb ist hier offenbar die vorherrschende Farbe, Mallory.«

Mallory wurde blass um die Nase. »Äh … Nun, ja.«

Da muss dir schon was Besseres einfallen.

Vivian ging über die Erwiderung hinweg, als hätte sie sie nicht gehört. »Neuesten Studien zufolge hebt Gelb die Stimmung gar nicht. Oder, Julia?«

Jules rutschte das Herz in die Hose. Sie hatte Mallory nie sonderlich gemocht, aber sie wollte sie auch nicht zu Fall bringen. »Hm …«, sagte sie kleinlaut, »das hab ich … Also, irgendwo habe ich gelesen –«

»Das ist mir völlig neu«, erwiderte Mallory scharf.

Jetzt blickte Vivian doch auf.

Mallory warf ihr kastanienbraunes Haar mit einer Handbewegung über ihre Schulter. »Ich beschäftige mich mit Stil, nicht mit Pop-Psychologie.« Erst jetzt ließ Mallory sich zu einem Blick auf Jules herab. »Hast du das für eine Hausarbeit nachgeschlagen?«

Wie bitte? Jules arbeitete schon länger bei Du Jour als Mallory! »Ich habe vor drei Jahren meinen Abschluss an der –«

»Okay.« Mallory wandte sich wieder Vivian zu. »Tatsächlich möchte ich eine emotionale Reaktion beim Publikum provozieren. Ich … hm … will, dass sie sich unwohl fühlen.«

Bullshit. Jules presste die Lippen zusammen, um ein spöttisches Schnauben zu unterdrücken.

»Ach ja?«, fragte Vivian neutral.

Mallory hätte eigentlich klar sein müssen, dass sie das nicht als Ermunterung auffassen durfte. Vivian ermutigte niemanden.

»Natürlich nicht. Bei Mode geht es doch darum, Grenzen auszutesten, oder?«

»Das ist wohl eine rhetorische Frage.«

Mallory schluckte schwer. »Sich unbehaglich zu fühlen, kann dabei durchaus hilfreich sein. Also … Das war mein Gedanke. Ich habe das bewusst so gestaltet. Ein bisschen provokativ.«

»Provokativ.« Vivian griff nach dem Ausdruck und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm vor sich. Wahrscheinlich wollte sie das Gesamtbild auf sich wirken lassen, aber es sah eher aus, als würde sie eine ganz besonders übel riechende Mülltüte mit spitzen Fingern von sich weghalten. »Schauen wir uns das mal genauer an. ›Kuschelig und elegant: Diese Modetrends lassen Sie vor jedem Kamin glänzen.‹«

Wieder unterdrückte Jules ein amüsiertes Schnauben.

Mallory fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer Haut, als Vivian den Blick wieder auf sie richtete.

»Provokant«, wiederholte Vivian.

»Hm, ich verstehe schon, wo das Problem –«

»Das ist erbärmlich.«

Mallory klappte den Mund zu.

»Es ist ja eine Sache, wenn man eine schlechte Entscheidung trifft. Man sollte meinen, dass Sie nicht auf die Idee kommen, die Farbe Gelb in Verbindung mit Schnee zu verwenden, aber das war wohl ein Irrtum.«

»Ich –«

»Aber das ist nicht Ihr eigentliches Problem, Mallory. Ihr Problem ist, dass Sie nicht zuhören, sich Ihre Fehler nicht eingestehen und dann auch noch aus mir völlig unbegreiflichen Gründen von Ihrer eigenen Genialität überzeugt sind.«

Uff. Das hatte gesessen. Als Nächstes würde Vivian ihr eine Abmahnung schicken.

Mallory stemmte die Hände in die Hüften. »Als Simon mich eingestellt hat –«

»Als Simon Sie eingestellt hat, hat er damit einen Fehler begangen. Aber im Gegensatz zu Ihnen wird er dafür geradestehen.«

Mallory wurde noch blasser.

»Packen Sie Ihre Sachen. Nach der Mittagspause will ich Sie hier nicht mehr sehen.«

Puh, so viel zum Thema Abmahnung – Mallory hatte bereits auf der Abschussliste gestanden. Jules setzte ihr bestes Pokerface auf und hielt den Blick fest auf die Wand gerichtet. Das habe ich nicht erwartet.

Wenn Vivian diesen Tonfall anschlug, diskutierte niemand mit ihr. Mallory schluckte schwer, drehte sich um und verließ das Büro.

Jules atmete vorsichtig auf. Sie mochte Mallory nicht, aber das war jetzt wirklich unangenehm gewesen.

»Julia«, sagte Vivian.

Sie presste die Lippen zusammen und wandte sich ihrer Chefin zu.

Vivian Carlisle war eine beeindruckende Frau. Ihre platinblonde Pixie-Frisur und die strahlend blauen Augen fielen überall auf, und mit ihrem Gesicht könnte sie problemlos Werbung für namhaftes Make-up machen. Mit ihrer Nase wäre sie in der Antike ein begehrtes Objekt für Bildhauer gewesen. Außerdem war sie mehr als schlank und ziemlich groß – sie überragte Jules, die schon fast eins siebzig war, um gut einen halben Kopf. Außerdem trug sie nie Absätze unter zehn Zentimeter Höhe, als wollte sie möglichst viel Raum einnehmen. Vivian war keine Hollywood-Schönheit, stellte aber problemlos Models und Stars in den Schatten.

Faszinierend. Sie war einfach faszinierend.

»Informieren Sie Simon, dass er eine Nachfolgerin für Mallory finden soll«, sagte Vivian.

Jules drückte ihr Tablet an die Brust und nickte.

»Und erinnern Sie ihn noch einmal an unser Budget, damit er die Gehaltsangabe in der Stellenausschreibung entsprechend anpasst«, fügte Vivian hörbar genervt hinzu.

Jules nickte noch eifriger und wandte sich zum Gehen.

»Habe ich gesagt, dass Sie gehen können?«

Als Kind hatte Jules gern Stopptanz gespielt, bei dem man sich so lange wild zur Musik bewegen musste, bis sie ausgeschaltet wurde – dann mussten alle in ihrer aktuellen Position verharren, und wer sich bewegte, hatte verloren. Genau so fühlte sie sich jetzt, wie sie da stand, wie angewurzelt, einem Fuß in der Luft, halb von Vivian abgewandt. »Nein?«, sagte sie zaghaft.

»Genau. Wir müssen das so schnell wie möglich ändern und Sie müssen die Notizen für mich machen.« Sie stützte sich zu beiden Seiten des Ausdrucks auf die Tischplatte und betrachtete ihn stirnrunzelnd.

Jules machte auf dem Absatz kehrt und bezog vor dem Schreibtisch Posten, den Stift ihres Tablets gezückt. Keine zitternden Hände. Immer schön ruhig bleiben.

Eine ganze Weile betrachtete Vivian den Entwurf und schwieg. Ihr Anblick erinnerte Jules an eine Dirigentin, die ihre Musiker genau unter die Lupe nimmt, bevor sie den Taktstock hebt.

»Das müssen wir komplett neu gestalten«, meinte Vivian schließlich. »Simon fand das Thema gut, aber wenn wir nichts Besseres hinbekommen, ist Romantischer Winter eben das falsche Konzept.«

»Alles neu gestalten?«, entfuhr es Jules mit einer viel zu hohen Stimme. »Das heißt –«

»Das heißt: ein neues Konzept. Neue Skizzen. Ein neues Shooting. Und zwar schnell.«

»Wird das nicht teuer?«

Diesen Einwand würdigte Vivian mit keiner Antwort, sondern griff nach dem großen Ausdruck und riss ihn in der Mitte durch. »Mallory hatte mit ›provokant‹ gar keine so schlechte Idee«, fuhr sie fort. »Das Wort als solches ist völlig bedeutungslos, aber wir werden ihm eine Form geben. Vielleicht …« Sie verstummte und drückte die Zunge von innen gegen die Wange. Ihr Blick ging ins Leere. »Wir kombinieren Provokation mit einer intimen Atmosphäre«, beendete sie schließlich den Gedanken.

Das passt aber irgendwie nicht zusammen. Jules hatte sofort zwei kuschelnde Menschen vor Augen, die Messer in den Händen hielten. Warum wollte Vivian so etwas?

Als hätte Jules das laut ausgesprochen, sagte Vivian: »Ich will, dass der Entwurf zwei scheinbar widersprüchliche Konzepte miteinander verbindet, wobei diese eine harmonische Verbindung eingehen. Keine Kompromisse.« Bei ihr klang das wie etwas furchtbar Schmutziges. »Sondern eine Ergänzung.«

»Ich kann dem Creative Team Bescheid geben, dass sie ein Brainstorming –«

»Es gibt nichts Klischeehafteres als Schnee oder Skihütten«, sinnierte Vivian weiter, als hätte Jules nichts gesagt. »Bloß keine gemütliche Holzhütte. Wir brauchen Kontraste. Etwas Überraschendes, Unerwartetes.«

Jules überlegte. Welcher Ort war kalt, ohne dass es klischeehaft wirkte? »Vielleicht eine verschneite Ebene unter einem grauen Himmel?«

Vivian hob eine Hand. »Ich sagte unerwartet. Aber eine verschneite Ebene ist schon mal besser als eine Hütte.« Aber auch nicht viel besser, sagte sie zwar nicht laut, aber das musste sie auch nicht.

»Natürlich«, murmelte Jules und machte weiter Notizen. Ihr Gesicht war bestimmt feuerrot. Unerwartet. Kontraste. Intim/provokant.

»Keine Romantik«, fuhr Vivian fort. »Einsamkeit. Winter beschränkt sich nicht auf eine Jahreszeit oder bestimmte Orte. Er ist ein Gemütszustand. Alle sind zu Hause eingesperrt und versuchen, sich warm zu halten. Wir wollen unser Publikum nicht in eine depressive Stimmung versetzen«, fügte sie hinzu.

Genau das Gefühl bekam Jules allerdings gerade.

»Wir überraschen sie. In dem Artikel soll es um Zusammenhalt gehen, nicht um Isolation. Wir können die Unbarmherzigkeit des Winters abbilden und gleichzeitig zeigen, dass er uns nicht in die Knie zwingt. Und das selbstverständlich mit Stil.«

Jules’ Gedanken drehten sich wie in einem Hamsterrad. Wo sollte man so ein Shooting durchführen? Vor einer menschenleeren Stadtkulisse? Hinter einer verlassenen Lagerhalle? Solche Orte gab es in New York zuhauf und die Kosten würden sich in Grenzen –

»Eine Wüste«, sagte Vivian.

Jules hielt mitten im Schreiben inne.

»Welches Bild haben die Leute im Kopf, wenn sie an eine Wüste denken?«, fragte Vivian. »Das genaue Gegenteil von einem gemütlichen Kaminfeuer. Ursprünglich. Kein Wasser, keine Nahrung. Man kämpft ganz allein gegen die Elemente.«

»Und man denkt sofort an Hitze, aber nachts wird es echt kalt«, warf Jules eifrig ein. »Das ist das Unerwartete. Ich habe mal in der Sonora-Wüste gezeltet, und –«

»Das Shooting findet bei Sonnenaufgang statt. Die Models tragen am Anfang einen Lagen-Look. So können wir Pullover und Jacken präsentieren. Sie kuscheln sich aneinander, um sich warm zu halten – und um gegen die Einsamkeit anzukämpfen, die der Winter mit sich bringen kann. Außerdem kann man ihren Atem in der Luft sehen. Im Verlauf der Fotostrecke legen sie nach und nach Kleidung ab, sodass man die darunterliegenden Outfits sieht. Und ihre Körpersprache wird offener, je besser sie sich an die Umwelt und die Widersprüchlichkeit anpassen.«

Jules notierte alles hektisch in ihrem Tablet. Großer Gott. Mallory hatte vermutlich wochenlang an ihrem Konzept gefeilt, und jetzt hatte Vivian innerhalb weniger Augenblicke so etwas aus dem Hut gezaubert? Da wurde einem ja schwindelig. »Anpassen. Widersprüchlichkeit. Okay.«

»Die Mojave-Wüste wird es wohl tun.« Vivian runzelte die Stirn. »Wirklich schade, dass wir keine Zeit für ein Übersee-Shooting haben. Schnee in der Sahara ist ein unvergesslicher Anblick.«

»Es gibt Schnee in der Sahara?«

»Ab und zu. Vor einigen Jahren hat es mal geschneit. Allerdings im Januar.« Vivians Stirnrunzeln vertiefte sich. Dass das nicht in ihren Zeitplan passte, schien ihr gar nicht zu gefallen.

Unwillkürlich stellte Jules sich vor, wie Vivian auf einer Düne in der Sahara stand und dem Himmel befahl, es mitten im Oktober schneien zu lassen – und wie der Himmel ihr gehorchte.

»In der Nachbearbeitung werden wir die kühlen Farbtöne stärker betonen«, sagte Vivian. »Bringen Sie Simon auf den neuesten Stand und machen Sie ihm klar, dass er es diesmal richtig machen soll. Ich will mich nicht noch mal damit herumschlagen.«

Jetzt durfte Jules also das Büro verlassen. Völlig überwältigt nickte sie und wandte sich zum Gehen.

»University of Pennsylvania, oder?«

Wieder spielte Jules Stopptanz und drehte sich dann ganz langsam zu Vivian um.

»Doppelstudium in Kommunikationswissenschaften und Englisch«, fügte Vivian hinzu. »Oder so was in der Richtung.«

Jules musste all ihre Selbstbeherrschung aufbieten, um sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Vivian erinnerte sich, an welchem College Jules ihren Abschluss gemacht hatte? Und dann auch noch in welchen Fächern? »Englisch und Kommunikationswissenschaften an der Penn, genau«, sagte sie und versuchte, entspannt zu klingen. »Ich komme aus der Gegend. Aus einem Vorort von Philly.«

Vivian runzelte die Stirn.

»Philadelphia«, murmelte Jules.

»Simon«, wiederholte Vivian.

Und damit floh Jules aus dem Büro.

Heute war wohl ihr Glückstag – sie war mit heiler Haut davongekommen.

Kapitel 2

Als Jules in Simons Büro trat, hob er den Kopf und seufzte. »Was hat sie diesmal getan?«

»Mallory gefeuert.«

»Ah.« Er nahm seine Lesebrille ab und massierte seine Nasenwurzel.

Kein Wunder, dass Simon Kopfschmerzen hatte. Bevor Vivian sich Jules geschnappt hatte, war sie seine Assistentin gewesen, und in der ganzen Branche gab es keinen so hart arbeitenden Creative Director wie Simon Carvalho. Jules hatte sich damals die Nächte um die Ohren geschlagen, während er versucht hatte, Kreativität und Kapitalismus unter einen Hut zu bringen: Werbeagenturen kontaktiert und mit jähzornigen Designern gestritten, die ihre zarten Hände nicht mit wirtschaftlichem Kleinkram beschmutzen wollten. Ein zermürbender Job.

Vivians ständige Machtspiele hatten das nicht gerade einfacher gemacht. Jules hatte sehr viel Zeit an Simons Seite verbracht und sich gefragt, wieso Vivian nicht wenigstens ein bisschen kompromissbereiter war. Und auch ihre spätere Zusammenarbeit mit Vivian hatte diese Frage bisher nicht beantwortet.

»Ich dachte, Mallory hätte noch eine Chance«, sagte sie. »Bisher hat sie doch gute Arbeit geleistet.«

»Willkommen in der Modebranche, wo die Vergangenheit erst zwanzig Jahre später zählt. Vielleicht sehen wir Mallory also eines Tages wieder. Bis dahin solltest du Vivians Entscheidungen nicht infrage stellen. Zumindest nicht, wenn sie es hört.«

Als ob ich das nicht wüsste. »Sie meinte, du sollst für die Stellenausschreibung unser Budget nicht vergessen.«

Simon seufzte. »Ich frage mich, ob Mark ihr inzwischen auf die Pelle rückt.«

Das vermutete Jules auch. Mark Tavio, Vorstandsvorsitzender der Verlagsgruppe Koening, hatte nicht viele Fans. Topmanager galten generell nicht als sonderlich nette, warmherzige Typen, aber Mr. Tavio spielte in einer ganz anderen Liga. Manchmal schien er es auf Vivian persönlich abgesehen zu haben. Hätte Vivian Du Jour nicht vor fünf Jahren vor dem Bankrott gerettet, hätte er sie bestimmt am liebsten rausgeworfen.

Ja, Vivian war wirklich nicht die umgänglichste Person auf der Welt. Aber Jules hielt Mr. Tavio trotzdem für sexistisch. So nannte man es ja wohl, wenn ein Mann es einer Frau übel nahm, dass sie ihren Job besser machte als er. Mr. Tavio hatte verschiedene kleinkarierte Taktiken: Vivian in sein Büro zitieren, um mit belanglosen Lageberichten ihre Zeit zu vergeuden; immer wieder andeuten, dass sie sich auf dünnem Eis bewegte; sie bei Entscheidungen, die das gesamte Unternehmen betrafen, einfach übergehen. Erstaunlicherweise gelang es ihr trotzdem immer wieder, diese Entscheidungen zu beeinflussen, egal ob sie nun an den Meetings teilnahm oder nicht.

Grummelnd ließ Simon die Schultern kreisen. Sein rosafarbenes Anzughemd wirkte brandneu, und das marineblaue Sakko, das über seiner Stuhllehne hing, passte perfekt dazu. Er war, wie die meisten Menschen sagen würden, überdurchschnittlich attraktiv – groß, breitschultrig, haselnussbraune Augen. Aber wenn man tagtäglich von Models und Schauspielerinnen umgeben war, galt überdurchschnittlich attraktiv bestenfalls noch als na ja.

Etwas, das Jules selbst oft zu spüren bekam. Sie war hübsch, aber nicht umwerfend. Dieser Job konnte ganz schön am Selbstbewusstsein nagen, wenn man es zuließ. »Alles okay?«, fragte sie.

»Wegen Mallory? Ach. Wie gewonnen, so zerronnen. Ich wette, auf ihre Stelle gehen Hunderte von Bewerbungen ein.« Er sah Jules hoffnungsvoll an. »Würdest du für mich gern Hunderte Bewerbungen durchsehen?«

»Absolut«, sagte sie. »Wir tauschen einfach die Plätze, dann kannst du den ganzen Tag lang meinen Job machen.«

»Bei meinem jetzigen Gehalt?«

»Na klar.«

»Das reicht nicht. Eigentlich sollten wir eine Million Dollar pro Jahr bekommen. Aber mal abwarten. Der Tag kommt schon noch.« Simon tippte sich mit einem Finger auf die Lippen. »Apropos eine Million Dollar, genauso glänzend siehst du heute aus.«

Wie schön! Jules hatte gehofft, dass irgendjemandem ihr RIXO-Kleid mit dem Blumenmuster auffallen würde. Sie musste einfach die Hüften kreisen lassen, damit der Seidenkrepp ihre Waden umspielte. »Fünfzig Prozent Rabatt.«

»Das hättest du jetzt nicht erwähnen müssen. RIXO gefällt mir wirklich gut.«

Jules ging es genauso. Die Herbstkollektion von RIXO traf genau ihren Geschmack: weich fließende, üppige Stoffe. Ihre Arbeitstage mochten streng durchgeplant sein, aber ihre Kleidung musste diese Strenge nicht auch noch widerspiegeln.

»Hat unsere holde Kaiserin noch eine Botschaft für mich?«, fragte Simon.

Mist. Jules hatte gehofft, diese Nachricht unter den Tisch fallen zu lassen. »Sie meinte, wir müssen es diesmal hinbekommen. Richtig hinbekommen.«

»Und mit ›wir‹ meinte sie vermutlich moi. Meine Schuld – ich hab ihr Mallorys Idee zu nachdrücklich unterbreitet. Das wird ein Spaß, meinen Ruf wiederherzustellen. Hat sie sonst noch einen Marschbefehl für mich?«

»Natürlich.« Sie reichte ihm ihr Tablet mit den Notizen.

Er überflog sie. »So viel zum Thema Budget. War ja klar, dass sie alles von Grund auf neu aufziehen will.«

»Und zwar schnell.«

»Selbstverständlich.« Er las die Notizen noch einmal aufmerksam durch. »Aber –«

»Aber es gefällt dir besser als Mallorys Plan, oder?«, fragte Jules.

»Ach, sei doch still.« Er reichte ihr das Tablet. »Schick mir die Notizen so bald wie möglich. Ich setze das dann in die Tat um.«

»Machst du doch immer.« Jules lächelte und wandte sich zum Gehen.

Simon räusperte sich. »Bevor du dich vom Acker machst: Hat Vivian noch was gesagt – gibt es Neuigkeiten wegen …«

Sie wartete.

Er schnaubte ungeduldig. »Du weißt schon, ihre Scheidung.«

»Darüber weiß ich wahrscheinlich genauso viel wie du.« Simon war Vivians Stellvertreter. Wenn sie jemandem bedingungslos vertraute, dann ihm. Er musste doch sicher mehr wissen als Jules. »Er hat sie verlassen, ist ausgezogen, und ich habe schon einen Termin mit ihrem Anwalt vereinbart.«

»Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde: Vivians Strategie, drei Ehemänner nacheinander zu haben, oder meine, überhaupt keinen zu haben.« Er schaute mürrisch drein. »Diese Branche ist ein echter Beziehungskiller.«

»Oh, toll.« Jules rollte mit den Augen und öffnete die Tür. »Und das sagst du mir jetzt.«

Hinter ihr kicherte Simon sarkastisch.

* * *

Als sich Jules an diesem Abend mit dem Handy am Ohr aufs Sofa fallen ließ, stellte sie fest, dass ihre Mutter weit mehr über Vivians Scheidung zu sagen hatte als Simon. Um genau zu sein, betonte sie immer wieder, dass es Jules eine Lehre sein sollte. »Du weißt doch, wie das mit Aaron gelaufen ist. Du solltest nicht so enden wie deine Chefin.«

Das war nicht fair. Aaron hatte Jules letztes Jahr verlassen, weil er so unvernünftige Forderungen gestellt hatte, wie die, dass sie nur acht Stunden am Tag arbeiten und am Wochenende freihaben sollte, und das war ja nun wirklich realitätsfern!

Sie versuchte, die Kälte in ihren Eingeweiden wegzulächeln. »Mom! Ich bin überhaupt nicht wie Vivian. Ich habe ein Leben außerhalb der Arbeit.«

»Ach ja?«, erwiderte ihre Mutter spitz. »Dann könntest du mit uns ja zur Abwechslung mal über was anderes reden als über deinen Job.«

Autsch. Das hatte gesessen.

Nachdem sie aufgelegt hatte, schaute Jules auf das Display ihres Handys, bis es schwarz wurde. Dann seufzte sie, stand vom Sofa auf und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Sie liebte ihr Apartment in der Lower East Side. Jules hatte unfassbares Glück – ihre Großeltern mütterlicherseits hatten die Zweizimmerwohnung nach ihrer Hochzeit gekauft, als das Viertel noch alles andere als begehrt gewesen war. Über die ganzen Jahre war die Wohnung immer im Besitz der Familie geblieben, und so hatte Jules jetzt fünfundfünfzig Quadratmeter ganz für sich allein und musste ihren Eltern nur die Nebenkosten und die Hälfte der Grundsteuer bezahlen.

Vor ungefähr zehn Jahren hatten ihre Eltern die Wohnung renoviert und dabei den ausgetretenen Teppichboden entfernt und das ursprüngliche Parkett neu lackiert. Die Wohnung war nicht besonders edel, aber perfekt für die Leute gewesen, die vor Jules hier gewohnt hatten. Nachdem Aaron ausgezogen war und seine schmutzige Wäsche und die Poster seiner Lieblingsband mitgenommen hatte, konnte Jules endlich alles nach ihrem Geschmack einrichten. Sie hatte sich YouTube-Tutorials angeschaut und dann stundenlang abgeklebt, grundiert und geflucht. Aber jetzt hatte sie eine Akzentwand mit lauter eisblauen, lachsfarbenen und gelben Quadraten und Dreiecken. Die sah ziemlich cool aus. Und von der gelben Farbe brauchte Vivian ja nichts zu wissen.

Als Assistentin verdiente Jules nicht gerade viel, und da das meiste Geld für ihre Kleidung draufging, bestand ihre Einrichtung hauptsächlich aus Second-Hand-Möbeln, die Menschen aus ihrem Familienkreis ihr geschenkt hatten. Trotzdem hatte sie nicht widerstehen können und sich einen modernen Couchtisch und einen kleinen Teppich im marokkanischen Stil gegönnt. Passend dazu hatte sie ihre eigenen Vorhänge genäht. Für den Moment war sie mit der Wohnung zufrieden und fühlte sich wohl.

Jetzt saß sie am Küchentisch und blickte missmutig in ihr Wasserglas. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken immer wieder zu dem Gespräch mit ihrer Mutter. Okay, vielleicht war Jules nicht gerade eine Beziehungsexpertin. Aber ganz sicher war sie immer noch fähiger als Vivian, die sich ihre Situation ja selbst zuzuschreiben hatte.

Offensichtlich hatte Vivian gewusst, dass in ihrer Ehe schon länger nicht mehr alles so toll lief. Jules hatte sich immer kompliziertere Ausreden einfallen lassen müssen, wenn sie Vivians baldigen Ex-Mann, den Banker Robert Kirk, anrufen musste, um in Vivians Namen ein Abendessen oder ein Date abzusagen. Mit zunehmend gerunzelter Stirn hatte Vivian ihm Nachrichten geschrieben.

Warum hatte Vivian keinen Kompromiss mit Robert gefunden und einfach versucht, mehr Zeit mit ihm zu verbringen? Denn in all den Monaten, in denen Jules schon für Vivian arbeitete, war deutlich geworden, dass Robert ganz bestimmte Vorstellungen hatte: Er wollte, dass seine Frau Zeit mit ihm verbrachte. Und das war nun wirklich keine übertriebene Forderung. Nein, diese Scheidung konnte für Vivian nicht plötzlich gekommen sein. Warum aber hatte sie dann nicht rechtzeitig etwas dagegen unternommen?

Natürlich war das alles nicht Jules’ Problem, außer, wenn sie Verabredungen absagen und Termine mit dem Anwalt vereinbaren musste. Sie musste das alles endlich aus ihrem Kopf bekommen. Seufzend zog sie ihren Laptop zu sich heran. Zeit für ihren Zweitjob. Sie klappte den Laptop auf und schaute finster auf das Google-Doc, das geduldig auf sie gewartet hatte. Wieder ein Artikel, mit dem sie sich abmühte, in der Hoffnung, dass es diesmal klappen würde. Beim letzten Mal hatte The Cut ihr immerhin eine persönliche Absage geschickt, und das war mehr, als sie bisher bekommen hatte. Jetzt, da das Magazin sie auf dem Schirm hatte, würden sich ihre Bemühungen sicher endlich lohnen.

Und das sollten sie möglichst schnell, denn diesmal schrieb sie einen Artikel über die Zusammenarbeit von Jimmy Choo und Timberland, aus der ein Haute-Couture-Wanderschuh hervorgehen sollte. Am Ende der Woche würde das Thema schon wieder Schnee von gestern sein, auch wenn der Stiefel im Luxuskaufhaus Bergdorf heiß begehrt war. Aber warum war das so? Diese Frage stellte sich Jules in ihrem Artikel. Es war ein handelsüblicher Timberland-Stiefel, abgesehen von der Diamant-Verzierung und dem Preis von tausenddreihundert Dollar. Warum ging so ein unnötiges, extravagantes Ding weg wie warme Semmeln? Sie kannte die Antwort: Der Stiefel war ein Statussymbol. Und sie war sich sicher, dass die Leserinnen und Leser ihren Artikel anklicken würden, weil sie unbedingt von den Exzessen der Reichen lesen wollten.

Was sie gerade schrieb, war zwar kein Artikel über den Klimawandel in The Atlantic, aber er konnte ein Schritt auf dem Weg zu einer echten Karriere sein. Wenn Jules es schaffte, das Thema von seinem Ruf als Clickbait zu befreien und zu zeigen, dass es relevant war, und wenn ihr Name in einer überregionalen Publikation auftauchte …

Sie seufzte. Ein kleiner Schritt nach dem anderen. Irgendwo musste Jules ja ansetzen, und erfolgreiche Journalisten ergriffen jede Gelegenheit, die sich ihnen bot. So hieß es jedenfalls immer. Diese Gelegenheit musste sie allerdings sofort beim Schopf packen. Und das bedeutete eine weitere schlaflose Nacht.

Vielleicht hatte Aaron doch recht. Und vielleicht hatte auch Robert recht.

Nein, verdammt. Das war überhaupt nicht dasselbe, und Vivians verkorkste Prioritäten hatten nichts mit Jules zu tun. Klar, Jules hatte Ambitionen, aber es mangelte ihr nicht an Menschlichkeit. Diese beiden Dinge schlossen sich nicht gegenseitig aus.

Und das würde sie Vivian Carlisle beweisen. Und wenn es das Letzte war, was sie tat.

Also – nicht, dass sie das Schicksal herausfordern wollte oder so.

Kapitel 3

Vivian Carlisle etwas beweisen zu wollen, kam Jules im Lauf der nächsten Arbeitswoche immer lächerlicher vor. Ihre Chefin verhielt sich ganz anders als sonst und sah überhaupt nicht gut aus. Normalerweise saß ihre Pixie-Frisur immer tadellos und auch ihre Lippen waren perfekt geschminkt, aber jetzt wirkte sie müde. Etwas, das Jules noch nie an ihr gesehen hatte. Außenstehenden wäre es vielleicht nicht aufgefallen, aber für Jules, die den ganzen Tag nach Vivians Pfeife tanzte, war diese Veränderung offensichtlich.

Aber auch Jules war diese Woche nicht das blühende Leben. The Cut hatte ihren Artikel über Jimmy Choo abgelehnt, und sie war so mit den Aufträgen beschäftigt, die Vivian ihr gab, dass sie nicht einmal über ihren nächsten Artikel nachdenken konnte. Damals auf dem College hatte sie geglaubt, dass ihr der Durchbruch leichter fallen würde. Sie hatte kleinere Artikel für Lokalzeitungen geschrieben und einmal sogar eine Gastkolumne über die hohen Mietpreise für Studierende im Philadelphia Inquirer veröffentlicht. Wie sich herausgestellt hatte, war der investigative Journalismus nicht ihre Stärke, aber sie hatte aus dieser Zeit einen unstillbaren Drang zum Schreiben von Sachartikeln mitgenommen und wollte nun Texte über Mode und ihre kulturelle Bedeutung verfassen.

Nur schade, dass niemand ihre Artikel lesen wollte. Nächstes Mal, sagte sie sich. Und so mies sie sich auch fühlte: Auf keinen Fall hätte sie mit Vivian die Plätze tauschen wollen.

Als sie am Donnerstag Vivians Büro betrat, sah Jules gerade noch, wie diese sich die Augen rieb. Außerdem hingen ihre Schultern schlaff herab. Sie sah auf eine sehr Vivian-hafte Art und Weise unglücklich aus.

Jules räusperte sich.

Vivian zuckte zusammen.

»Ähm«, sagte Jules und fragte sich schon, wieso sie eigentlich den Mund aufgemacht hatte. »Mr. Tavio hat für morgen ein Meeting vereinbart.«

Ein Anflug von Missmut umspielte Vivians Lippen. Was kein Wunder war. Offensichtlich wollte Mr. Tavio wieder mal eine halbe Stunde lang große Töne spucken, sich beschweren und Vivians Zeit mit Machtspielen verschwenden.

»Sehr schön«, sagte sie trocken.

»Hm, ja. Soll ich … Ihnen eine Tasse Kaffee bringen?« Großartig. Nein, dämlich. Wenn Vivian etwas wollte, forderte sie es ein. Man hatte ihr niemals etwas anzubieten. Sie wollte keine anderen Stimmen hören, wenn sie versuchte –

»Wasser«, sagte Vivian und schaute wieder auf die Fotos auf ihrem Schreibtisch, als wäre Jules gar nicht da.

Perplex legte Jules den Weg zum Mini-Kühlschrank in Rekordzeit zurück. Als sie mit einer Flasche Perrier zurückkam, sah Vivian sie nicht an, sondern griff direkt nach dem Getränk. Dabei streifte sie mit den Fingern Jules’ Hand.

Die Zeit schien für einen Moment stillzustehen.

Jules musste den Drang unterdrücken, ihre Hand hastig zurückzuziehen. Sie hatten sich in all den Monaten noch nie berührt. Ein Kribbeln ging durch ihren ganzen Körper – und das bedeutete, dass es ihr nicht gefallen hatte. Oder doch? Nein, wenn man jemanden berührte und es von Kopf bis Fuß nachhallte, hieß das nicht, dass es einem gefallen hatte.

Das wäre doch Unsinn.

Statt einen Schritt zurückzuweichen, ließ sie die Hand bemüht lässig sinken. »Sonst noch etwas?«

Vivian blickte auf und setzte die Flasche an die Lippen. Nachdenklich runzelte sie die Stirn, als sie Jules ansah. Sie trank einen Schluck und fragte: »Lassen Sie sich gerade die Haare wachsen?«

Jules fasste sich an ihr dunkles, wallendes Haar. Es reichte ihr inzwischen schon fast bis über die Schultern. »Mehr oder weniger. Ich war schon länger nicht beim Friseur.«

»Sie sollten sich die Spitzen schneiden lassen«, sagte Vivian gebieterisch, »aber die Länge steht Ihnen gut. Anscheinend pflegen Sie sie auch richtig.«

Nach einem Moment der Sprachlosigkeit entgegnete Jules: »Danke.«

Aber Vivian war noch nicht fertig. »Sie sollten jeden Trumpf ausspielen, den Sie haben, Julia. Und zwar gnadenlos. Bisher haben Sie gute Arbeit geleistet«, ihr Blick war distanziert, fühlte sich aber trotzdem an wie ein Blitz, »aber Sie sollten ab und zu ein Risiko eingehen. Zum Beispiel mit einer hochtaillierten Hose.«

Jules sah an sich herunter. Für so ein Kleidungsstück hatte sie nie genug Vertrauen in ihre Hüften gehabt. Vor allem, weil sie überhaupt Hüften hatte. Damit konnte man bei Du Jour nicht gerade punkten. »Wirklich?«

»Mm. Momentan finden die Dreharbeiten für eine Filmbiografie über Katharine Hepburn statt. Der Film wird nächstes Jahr einen Preis nach dem anderen gewinnen. Kommen Sie dem Trend zuvor und stehlen Sie den Look. Ihnen würde er sicher stehen.«

Jules war gut eins siebzig, kurvig, hatte eine schmale Taille und trug am liebsten fließende Stoffe. Als Hepburn-Typ würde sie sich nicht bezeichnen. »Also, ich –«

»Lässt Christian Siriano eigentlich noch vor meinem Tod von sich hören?« Vivian funkelte sie an. »So langsam kommen mir da Zweifel.«

Jules öffnete den Mund und wollte gerade sagen Ich kümmere mich sofort darum, als sie merkte, dass Vivian sich schon wieder ihrer Arbeit zugewandt hatte und sie ignorierte.

Jepp. Irgendwas war hier definitiv im Busch.

* * *

Die nächsten fünf Tage bei Du Jour waren mehr als turbulent, weil das Shooting in der Mojave-Wüste sofort stattfinden sollte. In der Zwischenzeit hatten zwei Models ihre Teilnahme am Shooting in LA abgesagt, ein weiteres Model war gefeuert worden. Über Agenturen kamen Dutzende von Angeboten mit potenziellem Ersatz, die erst geprüft werden mussten, bevor die Hochglanzfotos schließlich auf Vivians Schreibtisch landeten. Ob die Versicherung das alles abdeckte, war noch nicht ganz klar. Mark Tavio grummelte lauter als sonst über die Kosten. Vielleicht sollte Vivian zur Abwechslung doch mal auf ihn hören.

Sie hatte ohnehin viel zu tun, vor allem immer in Bewegung zu bleiben. Zwischen Meetings, Mittagessen, Anwaltsterminen und Spätschichten blieb Vivian kein einziger ruhiger Moment, und deshalb konnte auch Jules sich nicht entspannen. Sie hatte Vivian konstant zur Verfügung zu stehen. Oft verließen sie das Koening-Gebäude erst gegen ein Uhr morgens, nur um schon um acht Uhr wieder hereinzustolpern. Und Vivian, die normalerweise nach zwei Stunden Schlaf genauso gut funktionierte wie nach zehn, schien kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen.

Alle machten sich Sorgen.

Auch Jules.

Sie ertappte sich dabei, wie sie ein paar nervöse Blicke mit Simon austauschte, während Vivian versuchte, sich an einen Namen oder einen Termin zu erinnern. Jules war wachsamer als sonst und bemühte sich, Vivians Bedürfnisse zu erahnen. Aber das war gar nicht so einfach, und sie hatte Angst, vor lauter Stress ein Magengeschwür zu entwickeln.

Am Ende der Woche war es – zumindest in Jules’ Augen – offensichtlich, dass Vivian nicht nur überanstrengt oder unglücklich war. Irgendetwas war wirklich, wirklich faul.

Sonntagnacht, halb ein Uhr morgens, war sie immer noch im Büro. Vivian hatte ihren obligatorischen Besuch auf Marc Jacobs’ Party abgesagt, um arbeiten zu können. Das bedeutete natürlich, dass auch Jules mitten in der Nacht an ihrem Schreibtisch saß, um bei Bedarf in Sekundenschnelle aktiv werden zu können.

Vivian wirkte sogar noch unglücklicher als Jules. Immer wieder schien sie ins Leere zu starren und alles um sie herum zu vergessen. Verlor sie etwa den Verstand? Das wäre kein Wunder, denn ihr Privatleben brach zusammen und sie gönnte sich keinen Moment der Ruhe.

Ich bin nicht so wie sie, dachte Jules, während Vivian zum gefühlt tausendsten Mal aus dem Fenster schaute. Ganz bestimmt nicht.

Nicht einmal Simon war um diese Uhrzeit noch hier. Jules und Vivian waren die Einzigen im Büro und Jules hatte nichts mehr zu tun, weil sie bereits alle Aufgaben erledigt hatte. Vivian arbeitete immer noch konzentriert, las eine Flut von E-Mails, sah sich Kopien von tausend verschiedenen Dingen an und traf die notwendigen Entscheidungen. Das Shooting in L.A. sollte in einer Woche stattfinden und allen stand die Panik bis zum Hals. Aber heute Nacht benötigte Vivian Jules’ Hilfe eigentlich nicht mehr. Außer, wie es schien, als stille Gesellschaft.

Aber gut, Jules hatte eine Ausgabe von This is Not Fashion in ihrer Schreibtischschublade versteckt, und mit ein bisschen Glück konnte sie das Buch so auf ihren Schoß legen, dass Vivian es nicht sehen konnte. King Adz’ Geschichte der Streetwear wollte sie schon lange lesen. Die Fotos der Stadtlandschaften, vor allem der europäischen und asiatischen, regten ihre Fantasie an. Es war schon spannend, dass Hochhäuser und Wolkenkratzer so gut mit alten, sogar antiken Gebäuden harmonierten. Ob sich das auch auf die Mode übertragen ließ? Kleidungsstücke und Accessoires, die auf den ersten Blick unvereinbar schienen, aber in Kombination eine einzigartige Geschichte über ihre Trägerin erzählten?

Dieser Gedanke ging in die gleiche Richtung wie Vivians Meinung, dass es in der Mode nicht um Kompromisse, sondern um Perfektion gehen sollte. Vielleicht gab es sogar einen Artikel darüber im Buch.

Jules wollte sich gerade ein paar Notizen machen, als Vivian mit rauer Stimme rief: »Wasser!«

Jules seufzte leise, verstaute das Buch wieder in der Schublade und holte eilig eine Flasche Perrier aus dem Mini-Kühlschrank. Sie wollte Vivians Büro betreten, blieb aber wie angewurzelt im Türrahmen stehen.

Vivian starrte mit kreidebleichem Gesicht ins Leere. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, und biss sich in den rechten Zeigefinger. Sie sah fast aus wie versteinert.

Jules erzitterte innerlich, riss sich aber zusammen und räusperte sich.

Vivian zuckte zusammen und starrte sie an, als hätte sie vergessen, dass Jules noch da war.

Jules stellte ein Glas Wasser auf Vivians Schreibtisch und versuchte, das Zittern ihrer Hand zu unterdrücken.

Vivian starrte das Glas an, als hätte sie so etwas noch nie gesehen.

»Bitte sehr«, sagte Jules strahlend.

Vivian warf ihr den gleichen Blick zu, den sie gerade dem Glas geschenkt hatte.

Jules biss sich auf die Lippen, um nicht so etwas Dummes zu fragen wie Ist alles okay? Vivian Carlisle stellte man keine Fragen, deren Antwort auf der Hand lag. Offensichtlich war gar nichts in Ordnung.

»Ich …«, sagte Vivian und legte eine Hand an die Stirn. »Danke.«

Danke? Normalerweise bedankte sie sich nie dafür, dass ihre Angestellten ihre Arbeit taten. Jules’ Hände wurden vor Nervosität ganz kalt. Was zum Teufel war hier los?

Vorsichtig nippte Vivian an ihrem Glas. Dann stellte sie es wieder hin, schluckte schwer und vergrub keuchend das Gesicht in den Händen.

»Vivian!«, rief Jules.

Vivian gebot ihr mit erhobener Hand zu schweigen. Sie sah so aus, als würde sie sich gleich übergeben.

Wie lang fühlte Vivian sich schon so? Hatte sie überhaupt zu Abend gegessen? Nein, dachte Jules, denn sie hatte sie nicht losgeschickt, um etwas zu besorgen, und vorher hatte sie auch schon das Mittagessen ausfallen lassen. Also hatte sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Falls sie überhaupt gefrühstückt hatte.

Vivian ließ die Hand sinken und atmete tief durch. »Also«, sagte sie.

»Soll ich einen Arzt rufen?«

»Nein, noch nicht.«

Bei den Worten »noch nicht« durchfuhr Jules Panik.

Vivian rieb sich das Gesicht. »Mein Gott. Ich hatte keine ruhige Minute mehr, seit … Ich konnte nicht mal …«

Jules wartete. Aber Vivian sagte nichts mehr. »Kann ich irgendwas für Sie tun?«

Vivian schaute sie an.

»Ich meine, Ihnen was zu essen holen, oder …?«

Vivian trommelte mit den Fingern auf den Tisch und starrte ins Leere. In ihren Augen lag etwas Ruheloses.

Jules’ Eingeweide zogen sich zusammen.

»Sie müssen für mich etwas einkaufen«, sagte Vivian einen Augenblick später leise.

Jules überlegte, ob sie Hermès, Blahnik oder Tiffany meinte – und wie sie Vivian erklären sollte, dass alle drei um diese Uhrzeit geschlossen hatten.

»Okay«, sagte Jules, nachdem Vivian nicht weitersprach.

Wieder trommelte Vivian mit den Fingern auf die Tischplatte, dann sagte sie: »Besorgen Sie mir einen Schwangerschaftstest.«

Das Büro schien sich zur Seite zu neigen.

Vivian warf ihr einen flüchtigen, scharfen Blick zu.

Rein instinktiv nickte Jules. »Alles klar. Bin sofort wieder da.« Dann lief sie zu ihrem Schreibtisch, griff nach ihrer Geldbörse, und als wäre das alles nur ein Traum, nahm sie einen der blank polierten Aufzüge hinunter in die Lobby, trat auf die Straße, die wie immer aussah …

Heilige. Scheiße.

Sie keuchte. Okay, vielleicht war was alles nicht wirklich überraschend, obwohl Vivian mit ihren zweiundvierzig Jahren schon ein wenig … alt für so etwas war. Die Erschöpfung, die Übelkeit, das – alles. Eigentlich wusste Jules nicht viel über Schwangerschaften.

Aber in ihrem letzten Jahr an der Highschool hatte Jules selbst schon einmal befürchtet, schwanger zu sein. Sie hatte die schlimmsten zwei Tage ihres Lebens durchgemacht, bis sie endlich ihre Periode bekam. Fühlte Vivian sich gerade so ähnlich? Sicher nicht. Sie war eine erwachsene Millionärin, kein ängstliches Mädchen, das erst noch studieren wollte.

Wer wohl der Vater war? Robert? Er musste es sein. Jules wäre es doch bestimmt aufgefallen, wenn Vivian fremdgegangen wäre. Sie war vermutlich noch nicht so lang schwanger, und Robert hatte sich ja auch erst vor Kurzem von ihr getrennt. Anscheinend hatte er mit ihr geschlafen und sie dann fallen gelassen wie einen nassen Sack.

Arschloch.

Die nächstgelegene Drogerie lag einen halben Block entfernt. Hektisch durchsuchte Jules das Regal mit der Aufschrift »Familienplanung«. Dort lagen verschiedene Tests, von denen jeder angeblich der beste auf dem Markt war. Wahrscheinlich war Vivian gerade noch ungeduldiger als sonst, deshalb musste Jules sich schnell entscheiden. Also nahm sie zwei Schachteln mit: eine, die 99,9 % Zuverlässigkeit! garantierte, und eine mit der Aufschrift Von Ärzten empfohlen!

Um Himmels willen. Wenn Vivian wirklich schwanger und das Kind von Robert war, wie würde sich das auf die Scheidung auswirken? Dann würden sie doch sicher zurückrudern oder sie zumindest verschieben oder …

Das geht mich nichts an, sagte Jules sich immer wieder, zeigte dem Nachtwächter vor dem Koening-Gebäude ihren Zugangsausweis und ging durch die Drehtür. Vivians Privatleben ging sie nichts an, und deshalb würde sie sich auch nicht weiter damit beschäftigen. Zumindest sagte sie sich das immer wieder, so lange, bis sie oben bei Du Jour angekommen war.

Vivian stand am Fenster und wirbelte herum, als Jules den Raum betrat.

Zitternd legte Jules die Plastiktüte auf den Schreibtisch.

Vivian warf einen kurzen Blick darauf, setzte sich und tippte ohne ein weiteres Wort etwas in ihren Laptop.

Jules schluckte schwer und ging an ihren Schreibtisch zurück. Jetzt würde sie sich bestimmt nicht mehr auf ihr Buch konzentrieren können. Hoffentlich würde Vivian sie bald nach Hause schicken. Ganz sicher würde sie das, schließlich wollte sie doch auch gehen, um …

Sprachlos und entsetzt beobachtete Jules, wie Vivian fieberhaft die Plastiktüte an sich riss und an ihrem Schreibtisch vorbei in Richtung Toilette stürmte.

Hier? Sie wollte es hier tun? Jetzt? Während Jules noch da war? Fuck. Oh, fuck. Jules wollte lieber nicht dabei sein, wenn Vivian von der Toilette zurückkam. Vivian wollte das wahrscheinlich auch nicht. Sollte Jules gehen? Wäre das die beste Entscheidung? Dann könnten sie morgen vielleicht so tun, als wäre gar nichts passiert.

Noch während sie darüber nachdachte, wurde Jules klar, dass sie nirgendwo hingehen würde. Und so kroch die Zeit langsam vor sich hin. Schließlich schaute sie auf ihre Armbanduhr – Vivian war schon seit zwanzig Minuten auf der Toilette.

Was zum Teufel war da drin passiert? War sie gestürzt und hatte sich den Kopf gestoßen? Wollte sie sich im Waschbecken ertränken? Sollte Jules nach ihr sehen?

In diesem Moment öffnete sich die Tür und Vivian kam heraus. Ihr Gesichtsausdruck verriet Jules alles, aber noch bevor Vivian den Blick erwidern konnte, senkte Jules den Kopf und interessierte sich plötzlich brennend für ihre Schreibtischplatte.

Vivian setzte sich wieder an ihren Schreibtisch.

Jules sah nicht auf.

»Julia.« Vivians Stimme war nicht sehr laut.

Unsicher ging Jules zur Bürotür. »Ja?«, flüsterte sie.

»Für morgen«, sagte Vivian und starrte wieder ins Leere, »müssen Sie so früh wie möglich einen Arzttermin für mich vereinbaren. Und rufen Sie meinen Anwalt an, sobald er erreichbar ist. Um acht Uhr. Punkt acht.«

»N… natürlich.«

»Rufen Sie meinen Chauffeur.« Wieder rieb sich Vivian die Stirn. »Machen wir Feierabend.«

Genau. Der Arbeitstag war lang genug gewesen. Jules half Vivian in ihren Mantel und begleitete sie zum Aufzug, wo sie stocksteif und sprachlos stehen blieb. Was sagte man in so einer Situation denn bloß zu jemandem? Herzlichen Glückwunsch? Herzliches Beileid? Sie wagte es nicht einmal, Vivian anzusehen.

»Ich kann es nicht fassen«, sagte Vivian.

Jules erstarrte.

»Einfach nicht fassen«, wiederholte sie.

Schließlich drehte sich Jules zu ihr um. »Tut mir leid«, flüsterte sie. »Also, wenn ich irgendetwas tun kann – dann können Sie –«

Vivian ignorierte sie völlig. »Wenn Mark Tavio das herausfindet«, murmelte sie und lachte bitter auf. »Tja. Wenn unser Vorsitzender glaubt, mich unter diesem Vorwand loswerden zu können, dann lernt er meine Anwälte mal so richtig kennen.«

Jules biss sich auf die Unterlippe.

»Was?«, fragte Vivian.

»Nichts«, erwiderte Jules kopfschüttelnd.

»Sagen Sie schon.«

Na gut. Okay. »Also … Wollen Sie es behalten?«

Vivian schwieg so lang, dass Jules dachte, sie hätte die Frage nicht gehört. Erst kurz bevor sich die Aufzugtüren im Erdgeschoss öffneten, antwortete sie: »Ich weiß es nicht.«

Gemeinsam betraten sie die Lobby. Vivian ging in Richtung Ausgang und schien nicht zu merken, dass Jules sie von nun an mit ganz anderen Augen sehen würde.

Als sie beim Auto ankamen, hielt Jules ihr die Tür auf. »Sobald ich morgen früh hier bin, kümmere ich mich um alle Termine.«

»Einsteigen«, sagte Vivian, ohne sie anzusehen.

Einen Moment lang hatte Jules den Impuls, einfach wegzulaufen. Ganz sicher hatte Vivian beschlossen, sie zum Schweigen zu bringen, und ihr Chauffeur würde sie zu den Docks fahren, wo Vivian Jules ermorden und ihre Leiche im Fluss versenken würde. Oder noch schlimmer: Bevor sie ins Bett gehen und den Tag verarbeiten konnte, hatte Vivian noch eine letzte Aufgabe für sie. Mit rasendem Herzen ging Jules schließlich um das Auto herum, stieg ein und schnallte sich an.

Vivian lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und schloss die Augen, »Bringen Sie mich nach Hause, und danach setzen Sie Julia an ihrem Apartment ab.«

»Ja, Ma’am«, sagte Ben und fuhr los.

Jules wurde nach der Arbeit von einem privaten Chauffeur herumkutschiert? Das hatte sie in all der Zeit, die sie für Vivian arbeitete, noch nie erlebt. Aber sie würde den Teufel tun und das hinterfragen. Am besten war es, einfach schweigend zu sitzen und Vivian sich entspannen zu lassen. Sie brauchte eine Pause. Sie brauchte so vieles, das Jules ihr nicht geben konnte, aber zumindest konnte sie sie auf der Fahrt in Ruhe lassen.

Nach vier Blocks warf Jules aus dem Augenwinkel einen Blick auf Vivian. Sie blinzelte erstaunt.

Vivian war am Fenster in sich zusammengesunken. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete tief. Offensichtlich war sie eingeschlafen.

Im Rückspiegel trafen sich die Blicke von Ben und Jules. Sie errötete, wusste aber nicht, wieso. Ben hatte die Augen aufgerissen und war offensichtlich genauso erstaunt wie sie. In fast fünf Jahren Chauffeurdienst war Vivian wahrscheinlich noch nie eingeschlafen.

Als sie vor Vivians Haus in der Upper West Side ankamen, schlief sie immer noch tief und fest, und Jules wurde klar, dass sie sie aufwecken musste. Aber ihr fehlte der Mut, sie zu berühren. Man berührte Vivian nicht einfach so.

Also räusperte sie sich laut, bis Vivian zuckte und durch die Nase einatmete. Dann schaute Jules aus dem Fenster, damit Vivian so tun konnte, als hätte niemand gemerkt, dass sie geschlafen hatte.

Als Vivian sich gerade abschnallen wollte, drehte sich Jules zu ihr um und lächelte sie an. »Danke fürs Mitnehmen.«

Vivian runzelte die Stirn. Mit einer Hand tastete sie nach dem Gurt, und nachdem sie sich abgeschnallt hatte, blinzelte sie verwirrt. Das hätte niedlich gewirkt, wenn sie jemand anders gewesen wäre – so jedoch war es fast unheimlich. Ohne ein weiteres Wort stieg Jules aus, ging eilig um das Auto herum und öffnete Vivian die Tür.

Als Vivian auf dem Bürgersteig stand, wirkte sie etwas wacher, vielleicht wegen der kühlen Luft. Sie schaute Jules kurz an, als würde sie auf etwas warten.

Jules runzelte die Stirn und sagte: »Solche Tests zeigen manchmal falsche Ergebnisse an.«

Vivian kniff die Augen zusammen.

Jules zog die Schultern hoch. Okay. Halt die Klappe.

Wortlos wandte Vivian sich ab und stieg die Stufen zu ihrem Haus hinauf.

Immer noch unangenehm berührt stieg Jules wieder ein.

Ben machte keine Anstalten loszufahren. »Was ist los?«, fragte er.

»Sie hatte einen langen Tag.«

»Einen? In letzter Zeit ständig«, meinte Ben und startete das Auto. »Ich schlafe inzwischen quasi in meiner Uniform, damit ich sofort losfahren kann, wenn du mich anrufst.«

»Wenigstens kannst du schlafen«, erwiderte Jules spöttisch.

Ben lachte. »Stimmt. Schlaf morgen mal aus, ja? Du siehst in letzter Zeit auch aus wie eine wandelnde Tote.«

»Ist doch nichts Neues.«

Wieder lachte er.

Als Julia in ihrem Apartment ankam, hätte sie eigentlich erschöpft sein müssen, stattdessen zitterte sie und war aufgekratzt. Sie ging auf und ab, schaute ruhelos aus dem Fenster und klappte schließlich ihren Laptop auf. Die Seite von The Cut war immer noch offen.

Vielleicht würde es ja beim dritten Versuch klappen. Auf der Webseite gab es eine Kolumne namens »Worüber ich mir den Kopf zerbreche«. Dort wurden keine Nachrichten oder Meinungsartikel veröffentlicht, sondern Beiträge von Leserinnen und Lesern. Thematisch gab es keine Grenzen: berührende Filmszenen wurden genauso besprochen wie Eingeständnisse über die eigene Ehe.

»Ich zerbreche mir den Kopf über das desaströse Leben meiner schwangeren Chefin«, sagte Jules zu sich selbst. War das ein guter Titel? Dann lachte sie. Klang doch ganz griffig. Das würde sicher zu einer Veröffentlichung führen. Und dann zu einem Mord. Vivian Carlisle würde sie unter die Erde bringen.

Dieser Gedanke wiegte sie auch nicht gerade sanft in den Schlaf, aber sie musste wieder lachen. Mal sehen, ob es klappte.

Kapitel 4

Am nächsten Morgen taumelte Jules um Viertel vor acht ins Büro. Hoffentlich würde Vivian heute nicht auftauchen. Eine passendere Gelegenheit, eine Pause einzulegen und sich zu sammeln, gab es doch eigentlich nicht …

Doch um halb neun rief sie Jules an. »Ich bin in einer Stunde da. Haben Sie die Termine vereinbart?«

»Ihre Ärztin hat heute Nachmittag um vier für Sie Zeit, der Termin mit Ihrem Anwalt ist morgen um zehn.«

»Gut.« Vivian legte auf.

Jules atmete tief durch. Das würde heute ein weiterer langer Tag werden.

Um neun Uhr eilte sie in die Kantine des Koening-Gebäudes, um Vivian Frühstück zu holen. Normalerweise bekam sie das von einem noblen kleinen Café, das überteuertes Rührei und Putenspeck anbot, aber in letzter Zeit hatte sie immer seltener Lust darauf. Jules hätte darauf gewettet, dass es an ihrer morgendlichen Übelkeit lag. Andere Gründe fielen ihr nicht ein.

In der Kantine betrachtete sie die Auslagen. Vivian war eine erklärte Gegnerin leerer Kalorien, Toast kam also nicht infrage. Obst würde ihr wahrscheinlich gut tun, also kaufte Jules eine Banane, ein paar hübsche Pflaumen und eine Birne. Was würde ihre Chefin sonst noch vertragen? Eine kurze Google-Suche ergab, dass Schwangere nicht mehr als zwei Tassen Kaffee am Tag trinken sollten. Das würde sie Vivian auf gar keinen Fall so direkt mitteilen. Seufzend füllte sie einen Pappbecher.

Dann lief sie zurück ins Büro und stellte alles auf Vivians Schreibtisch – und wenn man vom Teufel sprach, war er auch schon da.

Vivian hatte ihr Handy in der Hand und sprach pfeilschnell hinein. »Nein, ich habe ihm schon gesagt, dass ich mich darauf nicht einlasse. Tja, dann müssen Sie das eben einrichten. Es ist Ihr Job, das …« Beim Anblick des Obsttellers unterbrach sie sich.

Jules hielt den Atem an.

Vivian fuhr fort, fast als wäre nichts gewesen. »Rufen Sie mich an, wenn Sie eine Lösung gefunden haben. Und zwar hoffentlich vor morgen früh um zehn.«

Ah, der Anwalt. Jules beneidete ihn nicht darum, dass Vivian seine Mandantin war.

»Auf Wiederhören.« Sie legte auf und sagte im selben Atemzug: »Julia.«

Jules stellte sich aufrecht hin. O Gott, was jetzt?

Vivian griff nach dem Kaffeebecher. »Ist das normaler Kaffee?«, fragte sie.

Jules blinzelte. »Ja«, sagte sie. »Ich meine, so wie immer –«

»Entkoffeiniert«, fauchte Vivian und warf Jules ihren fiesesten Wie-können-Sie-nur-so-blöd-sein-Blick zu.

Jules klappte der Mund auf. Also hatte Vivian sich auch ein bisschen eingelesen. Das ging ja schnell. Jules schaute sich um, ob jemand zuhörte, und sagte leise: »Ich habe es nachgeschlagen, Sie können jeden Tag zwei Tassen normalen Kaffee trinken, wenn Sie wollen.«

Vivian sah sie an.

Jules schluckte. »Ist das Obst okay oder möchten Sie etwas anderes?«

Vivian sah wieder auf den Teller. »Das sollte reichen.« Genau in diesem Moment knurrte ihr Magen. Ihre Wangen liefen rot an.

Jules drehte sich schnell um, bevor Vivian ihr Lächeln sehen konnte, und eilte zurück in die Kantine. Als sie mit einem koffeinfreien Kaffee zurückkehrte, waren die Banane, eine der Pflaumen und die halbe Birne verschwunden.

Um drei Uhr rief Vivian der nächstbesten Mitarbeiterin zu: »Für den restlichen Nachmittag bin ich abwesend. Julia, kommen Sie mit.«

Unwillkürlich schaute Jules ihre Kollegin, die in der Redaktion arbeitete, an. Dann schüttelte sie den Kopf, rief Ben an und packte ihre Sachen.

Im Auto erwartete Jules, dass Vivian ihr irgendeinen Auftrag geben würde – zum Beispiel, zu Alaïa zu gehen, nachdem Ben Vivian abgesetzt hatte. Aber sie sagte nur: »Zu Dr. Latchleys Praxis. Julia, ich hoffe, Sie haben etwas zum Schreiben dabei, um sich Notizen zu machen.«

Jules starrte sie kurz an, brachte ein »Ja, sicher« hervor und kramte in ihrer Tasche nach ihrem Tablet.

»Bis wir dort ankommen, brauchen Sie das nicht«, sagte Vivian gereizt und sah wieder aus dem Fenster.

»Stimmt.« Jules ließ ihre Tasche zufallen. Hitze stieg ihr in die Wangen. Vivian wollte, dass sie bei ihrem Arzttermin dabei war und sich Notizen machte. Das war vielleicht kein Problem, aber wirklich sehr, sehr seltsam.

»Also«, sagte Vivian, ohne sich zu ihr umzudrehen, »Sie haben es ›nachgeschlagen‹.«

»Ähm. Ja. Ein paar Sachen über, äh, Ernährung. Vielleicht sollte ich mir ein Buch besorgen?«

»Das sollten Sie.«

Jules schluckte schwer.

* * *

Dr. Sandra Latchley war eine Hausärztin mit einer sehr schönen Praxis – wie gemacht für reiche Patientinnen. Wie Jules schon vermutet hatte, nutzte Vivian diesen Termin vor allem, um ihre Schwangerschaft bestätigt zu bekommen.

Vivian erwartete glücklicherweise nicht, dass Jules ihr in das Sprechzimmer folgte, also blieb sie im Wartezimmer sitzen. Die Vorstellung, Vivian Carlisle in einem dieser OP-Hemden mit offenem Rücken zu sehen, hatte bei Jules schon leichte Panik verursacht.

Etwa eine halbe Stunde später rief eine Mitarbeiterin: »Julia? Hier entlang, bitte.«

Seufzend folgte Jules ihr ins Sprechzimmer, in dem eine vollständig bekleidete Vivian vor dem Schreibtisch der Ärztin saß.

Dr. Latchley hatte verschiedene Dokumente und Diagramme ausgebreitet. Sie lächelte Jules herzlich an. Ihre braunen Augen waren warm und freundlich, und Jules hoffte inständig, dass die Ausstrahlung der Ärztin Vivian beruhigt hatte.

»Setzen Sie sich doch«, sagte Dr. Latchley.

Jules brachte ein Lächeln zustande und setzte sich auf einen harten Ledersessel. Schon beim Betreten der Praxis hatte sie ihr Tablet gezückt, um sofort loslegen zu können.

»Also«, sagte Dr. Latchley. »Vivian hat mir gesagt, dass sie nichts dagegen hat, wenn Sie hören, was ich zu sagen habe. Sollen wir dann also beginnen?«

»Bitte«, sagte Vivian. »Ich habe einen sehr vollen Terminkalender.«

»Genau wie ich«, sagte Dr. Latchley ruhig. »Kommen wir also zur Sache. Vivian, Sie sind in der Tat schwanger. Der Test hat ein Hormon nachgewiesen, das man nur findet, wenn –«

»Ja, ja.« Vivian verzog keine Miene.

Dr. Latchley wollte sich anscheinend nicht hetzen lassen und fuhr weiter mit ruhiger Stimme fort: »Sie sind erst seit Kurzem schwanger. Wann hatten Sie Ihre letzte Regelblutung?«

»Die sollte eigentlich vor einer Woche eintreten.«

»Und da haben Sie schon einen Schwangerschaftstest gemacht? So eine Verzögerung ist normalerweise kein Grund zur Beunruhigung.«

»Für mich schon«, sagte Vivian direkt.

Jules unterdrückte ein Lächeln. Natürlich lief bei Vivian alles so präzise wie ein Uhrwerk. Wahrscheinlich hatten ihre Hormone genauso viel Angst vor ihr wie die Angestellten von Du Jour.

»Außerdem«, sagte Vivian, »hatten Robert und ich erst zwei Wochen vorher … Nun.«

In Jules’ Kopf drehte sich alles. Vivian und Robert hatten während ihres Scheidungsverfahrens miteinander geschlafen. War das etwa ein letzter Versuch gewesen, ihre Ehe zu retten, ein letztes gemeinsames Vergnügen oder so etwas? Auf jeden Fall hatte dieses was auch immer Folgen gehabt.

»Haben Sie eine Fruchtbarkeitsbehandlung in Anspruch genommen?«, fragte Dr. Latchley.

»Nein!«, fauchte Vivian. »Es war ein Unf… unbeabsichtigt.«

»Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau in Ihrem Alter ohne Unterstützung schwanger wird, ist äußerst gering.«

»Dachte ich auch«, murmelte Vivian. »Ich hatte jedenfalls keine ›Unterstützung‹. Wie geht es jetzt weiter?«

»Ich überweise Sie an eine Gynäkologin. Ich empfehle Dr. Viswanathan. Sie hat einen sehr guten Ruf. Ich helfe Ihnen, den Fuß in die Tür zu bekommen, aber die Termine müssen Sie selbst vereinbaren und vor allem«, sie warf Vivian einen vielsagenden Blick zu, »auch einhalten.«

Vivian funkelte sie an.

»Wie heißt sie mit Vornamen?«, fragte Jules, um es notieren zu können.

Wieder lächelte Dr. Latchley und reichte ihr eine Visitenkarte.

Jules verstaute sie sorgfältig in ihrer Tasche. »Und wie genau läuft das ab, rufen Sie zuerst dort an, oder –«

»Ich sage ihr Bescheid, dass sie Ihren Anruf erwarten soll. Sie kennt mich ja. Rufen Sie morgen früh an, dann sollten Sie einen Termin vereinbaren können.«

»Danke.« Jules machte sich Notizen in ihrem Tablet. »Soll ich nach einer bestimmten Rezeptionistin fragen?«

»Die sind alle sehr nett, aber wenn Sie Mary erreichen, sagen Sie ihr bitte, dass ich wissen möchte, wie es ihren Hunden geht.«

»Hunden … geht … Mary. Okay.« Sie sah auf.

Dr. Latchley grinste. Vivian hingegen schaute sie an, als käme sie von einem anderen Stern.

Jules bemühte sich, das zu ignorieren.

»Nun gut«, sagte Dr. Latchley an Vivian gewandt, »da Sie das Kind behalten wollen, gebe ich Ihnen jetzt schon einmal das nötige Infomaterial.« Sie zog ein blassrosa Blatt Papier aus einer Mappe. »Hier finden Sie Empfehlungen zur Ernährung, Anleitungen für Gymnastik-Übungen und typische Symptome, mit denen Sie rechnen müssen. Haben Sie noch Fragen oder Bedenken?«

Vivian schaute zu Jules.

Reflexartig wäre Jules fast aufgestanden. Wahrscheinlich wollte Vivian in ihrer Anwesenheit lieber nicht über ihre Ängste sprechen, wenn sie überhaupt darüber sprechen wollte. Vor allem, weil Vivian das Kind vielleicht gar nicht behalten würde.

»Julia, welche Fragen oder Bedenken habe ich noch?«, fragte Vivian.

Oder vielleicht hatte Vivian sich schon anders entschieden. »Ähm, die Ernährung?«, sagte Jules. Sie schaute auf den Zettel, den Dr. Latchley ihr gegeben hatte. Darauf stand dasselbe wie im Internet.

»Ja«, sagte Vivian. »Ernährung.«

»Okay.« Dr. Latchley zog das Wort skeptisch in die Länge. Kein Wunder, schließlich luden die meisten Schwangeren ihre Sorgen nicht bei ihrer persönlichen Assistentin ab. »In dieser Hinsicht müssen Sie besonders vorsichtig sein. Bei geriatrischen Schwangerschaften kommt es viel häufiger zu Schwangerschaftsdiabetes und auch zu anderen Komplikationen.«

Geriatrische Schwangerschaften? Jules biss sich auf die Unterlippe und bemühte sich, Vivian aus den Augenwinkeln anzusehen, ohne sich zu ihr zu drehen.

Ihr Gesichtsausdruck blieb stoisch, aber sie umklammerte mit bleichen Fingern ihre Handtasche.

»Was haben Sie in letzter Zeit gegessen?«, fragte Dr. Latchley.

»Das Übliche«, sagte Vivian, die große Schwindlerin.

Jules warf Vivian einen empörten Blick zu, der Dr. Latchley leider nicht entging.

Doch Vivian schien es nicht bemerkt zu haben.

»Und was heißt ›das Übliche‹? Was haben Sie zum Beispiel heute zu Mittag gegessen?«, fragte Dr. Latchley.

»Beefsteak-Tatar«, antwortete Vivian. »Von BABS.«

Dr. Latchley schien es egal zu sein, woher das Steak kam. »Nein. Eiweiß ist gut, aber rotes Fleisch sollten Sie besser meiden und vor allem nichts essen, was nicht vollständig durchgegart ist. Was haben Sie gefrühstückt?

Vivian schielte kurz zu Jules hinüber. »Obst.«

»Bananen und Birnen und so«, fügte Jules hinzu. »Und Pflaumen.«

»Okay«, sagte Dr. Latchley. »Aber Sie sollten Ihre Ernährung abwechslungsreicher gestalten. Zum Beispiel mit Melonen, und Eier sind auch empfehlenswert –«

»Keine Eier.« Vivian wurde ein wenig grün im Gesicht.

»– und Milchprodukte«, schloss Dr. Latchley. »Viel Kalzium. Der Kalorienbedarf steht auf dem Informationsblatt, aber Dr. Viswanathan wird das noch genauer mit Ihnen besprechen. Außerdem können Sie sich an eine Ernährungsberaterin oder einen Personal Trainer wenden, wenn Sie Fragen zur Gymnastik haben.«

Vivian hatte bereits eine Ernährungsberaterin und auch eine Personal Trainerin. Jules notierte, dass sie beide so bald wie möglich anrufen und Termine vereinbaren sollte.

»Und das Allerwichtigste ist«, sagte Dr. Latchley und klang zum ersten Mal wirklich streng, »dass Sie sich genug ausruhen. Ich weiß, dass Sie eine viel beschäftigte Frau sind, aber Sie sollten sich darauf einstellen, es etwas langsamer angehen zu lassen.« Sie nickte Jules zu. »Sie ist jung und voller Energie. Vielleicht können Sie sie einspannen und ein paar Dinge für sich erledigen lassen.«

Jules’ Augen weiteten sich.

Vivian sagte nur: »Ich werde darüber nachdenken.«

»Haben Sie noch weitere Fragen?«, wollte Dr. Latchley wissen.

»Kann sie normalen Kaffee trinken?«, rutschte es Jules heraus. »Ich habe gelesen, dass bis zu zwei Tassen am Tag in Ordnung sind.« Wahrscheinlich sollte sie nicht versuchen, Vivian zu zeigen, dass sie falschlag – und das auch noch vor ihrer Ärztin –, aber Ich denke mal darüber nach? Ernsthaft? Und das, nachdem Jules das letzte Jahr für sie auf dem Zahnfleisch gegangen war?

Vivian warf ihr einen finsteren Blick zu, den Jules nur erwiderte.

»Zwei Tassen sind in Ordnung«, sagte Dr. Latchley geistesabwesend und blickte auf ihre Unterlagen.