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Eine ehrgeizige Anwältin. Ihre naive neue Assistentin. Was als gefährliche Büroaffäre beginnt, könnte der einzige Fall sein, den sie nicht gewinnen – oder dem sie nicht widerstehen – kann. Diana Parker ist die erfolgreichste Anwältin Atlantas und lässt ihre Umgebung das auch gerne wissen. Sie ist ambitioniert, skrupellos, anspruchsvoll – wenn sie nur ihr Privatleben und ihre gescheiterte Ehe so sicher im Griff hätte wie ihre Kanzlei. Als ihr eine neue Assistentin mit hellblauen Augen, niedlichem Südstaatenakzent und einer pink gefärbten Haarsträhne zugeteilt wird, ist Diana überzeugt, dass die Kleine es nicht lange machen wird. Allerdings steckt in Laurie Holcombe sehr viel mehr, als man auf den ersten Blick erwartet, und Diana ertappt sich bald dabei, dass sie sich zu der jungen Frau hingezogen fühlt. Wird sie widerstehen können, sich auf eine prickelnde Affäre einzulassen, oder wird aus der gefährlichen Büroromanze mehr, als die beiden Frauen sich je erträumt hätten?
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Seitenzahl: 536
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Inhaltsverzeichnis
Von Roslyn Sinclair außerdem lieferbar
Danksagung
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Epilog
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Über Roslyn Sinclair
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Von Roslyn Sinclair außerdem lieferbar
The Lily and the Crown
Danksagung
Danke an die unvergleichliche Lee Winter, die meine Worte wie immer in Form gebracht hat. Ohne dich würde ich es nie schaffen, meine Freundin.
Widmung
Für Kate, die mir die Geheimnisse von House Hunters eröffnet hat und noch so vieles mehr.
Kapitel 1
Laurie
An manchen Tagen steht zu viel auf dem Spiel. Kennt ihr das auch? Ihr wacht auf und denkt: Jetzt ist es so weit. Ich werde es schaffen. Bloß kein Druck.
Möglicherweise ist das heute so ein Tag für mich.
Schließlich ergattere ich nicht gerade oft Vorstellungsgespräche als persönliche Assistentin bei der besten Anwältin der Stadt. Vor allem jetzt, da ich so verzweifelt eine Vollzeitstelle brauche, dass ich es fast greifen kann, eine Stelle, für die das Lernen an der Uni (ganz zu schweigen von den Ausbildungskrediten) sich endlich gelohnt hat und die die Miete bezahlt. Wenn ich dieses Vorstellungsgespräch überstehe, werde ich zwar immer noch nicht in Geld schwimmen, aber ich wäre besser dran als mit der miesen Teilzeitstelle ohne Sozialleistungen, in der ich im Moment feststecke.
Wie gesagt – nichts leichter als das.
Die extreme Hitzewelle ist nicht gerade hilfreich. Warum tut mir Atlanta, Georgia, nicht den Gefallen, vor dem Labor Day abzukühlen? Während ich mich meinem Schicksal – ich meine meinem Zielort – entgegenschleppe, klebt mir allmählich die Bluse am Rücken.
Ich atme tief durch, als ich das eindrucksvolle Southstar Building erreiche, das in den klaren blauen Himmel aufragt. Ich gehe an den riesigen Skulpturen zweier nackter, muskulöser Frauen vorbei, die in freizügigen Posen auf den Sockeln stehen, auf eines der prestigeträchtigsten Businesszentren in Atlanta zu.
Southstar ist der passende Rahmen für Parker, Lee & Rusch, eine der aufstrebenden Anwaltskanzleien im Südosten der USA. Obwohl sie erst seit fünf Jahren im Geschäft sind, haben PL&R bereits eine Zweigstelle in Charlotte. Ich habe Gerüchte gehört, dass irgendwo in Florida noch eine dritte eröffnet wird. Es ist ein Arbeitsplatz für Leute mit Ambitionen.
Ich packe meine Tasche fester. Danach muss ich fragen. Es ist eine der Fragen, die ich für den letzten Teil des Vorstellungsgesprächs vorbereitet habe, wenn der potenzielle Arbeitgeber sagt: »Also, gibt es irgendetwas, das Sie uns noch fragen möchten?« Es ist die Chance zu beweisen, dass ich meine Hausaufgaben gemacht habe und zu einem Teil des Teams werden will.
In Gedanken übe ich: Ich habe tatsächlich einige Fragen! Diese Kanzlei wächst so schnell, stimmt es, dass Sie eine neue –
Dann gehe ich durch die Drehtüren und vergesse alles.
Die Fotos haben mich nicht auf diesen Anblick vorbereitet. Die Lobby ist einer der nobelsten Orte, die ich jemals gesehen habe – nicht, dass es da viel Konkurrenz gäbe. Mein zukünftiger ehemaliger Arbeitgeber hat Räume in einem flachen, unscheinbaren Gebäude in Edgewood angemietet. Alles sehr zweckmäßig, aber völlig unspektakulär, ohne jeglichen ästhetischen Anspruch. Hier dagegen herrscht der pure Luxus. Breite weiße Treppen winden sich zu den Kronleuchtern hinauf, die so hoch über allem zu schweben scheinen wie die Sonne selbst. Abstrakte Skulpturen zieren die Lobby. Die Sofas und Sessel sehen aus, als wären sie mit echtem Leder bezogen.
Ich habe keine Zeit, um es nachzuprüfen. Ich bin zwar noch nicht zu spät, aber der Bus war nicht ganz pünktlich. Ich habe gar nicht erst versucht, einen Parkplatz in der Innenstadt zu finden, und bin daher nicht so früh hier wie geplant. Ich fröstle. Die Klimaanlage läuft auf vollen Touren und kühlt den Schweiß unter meinen Achseln und an meinem Rücken. Anfang September ist es in Atlanta immer noch heißer als in der Hölle und die Sonne, die vom Asphalt der Straßen reflektiert wird, röstet uns alle bei lebendigem Leib. Mein Kostüm aus Polyestermix macht es nicht gerade besser, aber es ist das einzige, das ich habe.
Auf dem Weg zum Empfangstresen versuche ich, das Kinn hoch erhoben zu halten, und ignoriere die kleine Stimme in meinem Kopf, die flüstert: Du passt hier nicht hin. Du gehörst nicht dazu.
Ich muss gar nicht dazugehören. Dieser Job ist nur vorübergehend, eine Absicherung, bis ich wieder auf die Beine gekommen bin. Bis dahin muss ich einfach nur … genug hierher passen.
Wenn ich den Blick so recht bedenke, den der Kerl hinter dem Empfangstresen mir zuwirft, bin ich darin nicht so gut, wie ich gehofft hatte.
Trotzdem fragt er höflich: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Klar. Ich meine, ja.« Ich schiebe den Riemen meiner Tasche höher über die Schulter und bin mir nur allzu bewusst, dass die Ränder ausgefranst sind. »Mein Name ist Laurie Holcombe. Ich habe um 14 Uhr einen Termin bei Parker, Lee & Rusch?« Warum habe ich das wie eine Frage ausgesprochen, als wäre ich mir selbst nicht sicher? Ich räuspere mich. »Äh, mit Diana Parker.«
Ich habe gehofft, der Name Diana Parker würde magisch wirken, werde aber sofort enttäuscht. Vielleicht liegt es an meinem deutlichen Südstaatenakzent, dass der Wachmann ungläubig die Brauen hochzieht. Aber warum sollte ihn der so überraschen? Meine Güte, schließlich sind wir in Atlanta.
Doch genau das ist das Problem. Wir sind in Atlanta, nicht in Zebulon. In Atlanta sollten die Leute weltgewandter sein. Ich bin das nicht. Bei mir ist der Südstaatenakzent nicht von der eleganten Sorte und klingt überhaupt nicht nach altem Geld, sondern nur nach irgendeinem Nest im südlichen Georgia.
Ich will sagen, dass ich wahrscheinlich keinen tollen Start hingelegt habe. Und meine einzelne pinke Haarsträhne ist wahrscheinlich auch keine große Hilfe.
»Können Sie sich ausweisen?«, fragt der Mann und seine Stimme klingt neutral, ganz im Gegensatz zu seinen angehobenen Augenbrauen.
Ich hole meinen Führerschein heraus und setze ein künstliches Lächeln auf, während er das Dokument demonstrativ überprüft. Schließlich nimmt er das Telefon, drückt ein paar Knöpfe und sagt der Person am anderen Ende der Leitung, dass »eine gewisse Laurie Holcombe« – als wäre er immer noch nicht sicher, ob ich es wirklich bin – hier sei, um Diana Parker zu treffen.
Eine leise Stimme antwortet.
Der Wachmann bedankt sich, legt auf und schenkt mir ein gütiges Lächeln. »Zweiundfünfzigstes Stockwerk.«
Ich zwinge mich zurückzulächeln. »Vielen Dank.«
Er erwidert meinen Blick nicht gerade freundlich, aber wenigstens habe ich es versucht.
Außer mir warten noch vier Leute auf den nächsten Aufzug, schick gekleidete Männer und Frauen, die gerade von einem Lunchtermin zurück sind und Schachteln mit Essen in Händen halten. Ich schlüpfe hinter ihnen in die Kabine und drücke auf den Knopf für den zweiundfünfzigsten Stock.
Im vierzehnten Stock wirft mir einer der beiden Männer einen Blick zu. »Zweiundfünfzigster, hm? PL&R?«
»Ähm. Ja.« Die anderen fahren in das vierunddreißigste Stockwerk. Was dort wohl ist? »Und was ist …«
»Wollen Sie jemanden verklagen?« Der Rest der Gruppe fällt in sein freundliches Lachen mit ein.
»Ich bin für ein Vorstellungsgespräch hier«, sage ich. Kopf hoch. Bleib professionell. »Als Diana Parkers persönliche Assistentin. Es ist bereits die zweite Runde«, füge ich hinzu. Vielleicht glauben sie mir dann eher.
Sie müssen ja nicht wissen, dass die erste Runde ein Telefonat war. Das kann mein kleines Geheimnis bleiben.
Ihre Überraschung ist unverkennbar, aber wenigstens nicht verächtlich. Ich hätte auch dem Sicherheitsmann sagen sollen, dass es bereits mein zweites Gespräch ist.
»Na, dann viel Glück!«, sagt der Mann. »Besser Sie als ich.«
Er rückt seine Krawatte zurecht und mustert mich kurz von Kopf bis Fuß, als wolle er mein Kostüm begutachten.
Ich weiß es besser. Schließlich ist es der ewige Fluch aller Frauen mit großer Oberweite, nie eine richtig gut sitzende Bluse zu finden. Ich bin da keine Ausnahme, also wird der Kerl nicht von meinem Outfit beeindruckt sein.
Ich starre ihn an.
Er scheint den Wink zu verstehen, schiebt das Kinn vor und wendet sich ab.
Großer Gott, ich habe Männer so satt. Wie ich höre, soll Diana Parker eine Spaßbremse sein. Im Moment hätte ich da überhaupt nichts dagegen. Alles ist besser als ein Chef, der mich wie eine dumme Blondine behandelt, obwohl ich dafür sorge, dass das Büro läuft wie eine gut geölte Maschine. Ms Parker würde mich sicherlich nicht »Süße« nennen.
Vermutlich.
Als die anderen Leute den Aufzug verlassen, bin ich erleichtert, aber die restliche Fahrt lässt mir genug Zeit, um wieder nervös zu werden. Als ich endlich im zweiundfünfzigsten Stock ankomme, fühlt sich mein Bauch an, als würden sich Schlangen darin winden. Aber es sieht aus, als hätte ich mit einer Vermutung recht gehabt: Das ist kein Ort, an dem Frauen mit »Süße« angesprochen werden. Dieser Ort, wie meine Mitbewohnerin Kayla sagen würde, ist so ernst wie der Tod.
Ich versuche, das Zittern in meinen Knien zu unterdrücken, als ich die Glastüren mit dem Logo von Parker, Lee & Rusch aufdrücke. Ein dunkler Parkettboden liegt vor mir und führt in ein Foyer mit noch mehr Ledermobiliar, dicken Teppichen und Couchtischen mit Glasplatten. Gemälde zieren die Wände, noch mehr abstrakte Kunst, für deren Wertschätzung ich mich völlig unterqualifiziert fühle.
Ich bin nicht allein im Foyer und bekomme einige neugierige Blicke von anderen Leuten zugeworfen. Klienten, Anwälte, Mitarbeiter und so weiter, nehme ich an. Es ist ein geschäftiger Ort.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt eine Frau.
Ich umklammere den Riemen meiner Tasche. Die Rezeptionistin, eine schlanke Afroamerikanerin in meinem Alter, starrt mich über ihren minimalistisch eingerichteten Schreibtisch hinweg an. Wie alle anderen scheint sie sich zu fragen, was ich hier verloren habe.
Ich gehe zu ihr. Lächle, sage ich mir, sieh nicht verängstigt aus, nicht so verzweifelt. Es ist nur ein Job.
Natürlich ist es das nicht.
»Hi!«, sage ich. »Laurie Holcombe. Ich bin hier, um mich bei Ms Parker für die Stelle als ihre persönliche Assistentin vorzustellen.«
»Oh!« Die Rezeptionistin reagiert anders als der Sicherheitsmann oder die Leute im Aufzug. Sie wirkt erleichtert. »Gott sei Dank. Kommen Sie mit. Sie haben genau das richtige Zeitfenster getroffen.«
Genau so fühlt es sich auch an, als wäre ich ein Spatz, der gerade gegen eine Fensterscheibe geknallt ist. Panisch sehe ich auf die Uhr hinter ihrem Tisch. Es ist 13 Uhr 38. Habe ich mir die vereinbarte Zeit falsch gemerkt?
»I-ich dachte«, stammle ich, »wir hätten 14 Uhr …«
Die Rezeptionistin steht auf. Ihre traumhafte Bluse und der Bleistiftrock sehen aus, als würde sie mehr verdienen als eine persönliche Assistentin.
»Wenn Sie diese Stelle bekommen«, sagt sie leise, »werden Sie schnell feststellen, dass Diana immer zu früh ist. Und Sie werden das ebenfalls sein. Ich sollte Sie zu ihr bringen, sobald Sie hier sind. Bitte folgen Sie mir.«
Diana. Es sollte locker klingen, aber die Rezeptionistin hat es irgendwie geschafft, es wie eine königliche Anrede klingen zu lassen.
»Wie heißen Sie?«, frage ich, während ich ihr den Gang entlang folge.
»Monica.« Keine weiteren Höflichkeiten.
Ich versuche es trotzdem. »Nett, Sie kennenzulernen, Monica.«
»Gleichfalls.«
Sie klingt wie eine Frau, die sich noch nicht an mich gewöhnen will. Ich schlucke.
Sie führt mich an Büros mit Glaswänden vorbei, in denen Anwältinnen und Anwälte in Etuikleidern oder maßgeschneiderten Anzügen sitzen. Alle blättern entweder durch Stapel von Papier oder starren auf Computerbildschirme. Überall klingeln Telefone. In einem anderen Gang dröhnt ein Kopierer. Gedämpfte Stimmen dringen durch die Glaswände, resolut und geschäftsmäßig. Die Atmosphäre ist aufs Höchste angespannt. Niemand wirkt panisch oder schreit, aber keiner sieht locker aus.
Das hektische Tempo ist so anders als in meiner verschlafenen kleinen Klinik. Hier hat niemand Zeit, sich beim Wasserspender herumzudrücken. Ich kann nicht mal einen Wasserspender entdecken.
Das ist in Ordnung. Ich bin gern beschäftigt.
Monica biegt links ab und führt mich einen weiteren Gang entlang. Dieser hat nur drei Türen, eine auf jeder Seite und eine am Ende. Hier gibt es keine Glaswände. Die Bürotüren sind riesig und daneben hängen Namensschilder an den Wänden.
Ich lese sie im Vorbeigehen. Auf dem neben der linken Tür steht »Kasim Lee, J.D.« Auf dem gegenüber steht »Nathan Rusch, J.D.« Ich bin in der Ruhmeshalle der Seniorpartner.
Und das bedeutet, dass die Tür am Ende des Ganges nur zu einer Person führen kann. Kann diese Anordnung noch einschüchternder sein? Fühlen sich Häftlinge etwa so, wenn sie zu ihrer Hinrichtung geführt werden?
Als wir vor der Tür stehen, die zu Diana B. Parker, S.J.D., führt, kommt der Schweiß zurück. Ich weiß, was die Buchstaben bedeuten: Doctor of Juridical Science, ein Titel, der für intensive Forschung über das Ausmaß des üblichen J.D.-Titels hinaus verliehen wird. Für die Besten der Besten.
Monica klopft nicht an, bevor sie die Tür öffnet. Ich bin überrascht, bis ich sehe, dass dahinter ein weiterer kleinerer Wartebereich liegt mit zwei Sesseln und einem Landschaftsgemälde an der rechten Wand. Neben der Tür steht ein leerer Schreibtisch, offensichtlich das Territorium der zukünftigen Assistenzkraft.
Monica klopft an die hintere Tür.
Einen Moment später ruft eine Stimme gerade laut genug durch das Holz: »Es ist offen.«
Monica atmet tief durch, wie um mir damit zu helfen. Das ist nett von ihr, denn ich atme zu flach. Mit den Lippen formt sie die Worte viel Glück.
Die Sympathie in ihren Augen ist unverkennbar. Ich klammere mich daran wie an ein Rettungsboot und antworte stumm: Danke.
Monica öffnet die Tür und macht einen Schritt in den Raum. »Diana? Sie haben mich gebeten, die nächste Bewerberin zu Ihnen zu bringen. Hier ist sie.«
»Schick sie rein«, murmelt eine kalte Stimme.
Bei dem Klang läuft mir ein Schauer über den Rücken.
Monica nickt, kommt zurück und bedeutet mir einzutreten.
Meine Beine fühlen sich nicht gerade sicher an, aber ich schaffe es durch die Tür. Sobald ich im Raum bin, schließt Monica sie hinter mir.
Verglichen mit den anderen Büros sieht dieses riesig aus. Es hat eine waldgrüne Tapete, weinrote Vorhänge, die die großen Fenster halb verdecken, und dicke Orientteppiche liegen auf dem Parkettboden.
Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf den Grund für meine Anwesenheit: die Frau hinter dem imposanten Mahagonischreibtisch. Die Einbauregale hinter ihr sind voller Bücher und in Leder gebundener Ordner. Vor dem Tisch stehen zwei Lehnstühle. Sie sehen nicht bequem aus.
Die Frau sieht nicht einmal von ihrer Lektüre auf. »Kommen Sie rein. Setzen Sie sich.«
Ich durchquere das Büro. Die Dielen unter meinen Füßen geben kein Geräusch von sich, als wären auch sie zu verängstigt. Hier scheint sich nichts zu regen oder auch nur zu atmen. Endlich verstehe ich, was Paul Simon mit »Sound of Silence« meint.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreiche ich die zwei Stühle. Ich warte eine Sekunde auf einen Hinweis, auf welchen ich mich setzen soll, bevor ich mich zusammenreiße und den rechten wähle. Ich schaffe es, mich gesittet niederzulassen und nicht darauf zusammenzubrechen, was sich in diesem Moment wie ein Sieg anfühlt.
Diana Parker sieht mich immer noch nicht an, aber ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Ich habe Fotos von ihr im Internet gefunden und weiß, dass sie ihre schwarzen Haare normalerweise zu einem Dutt zurückgebunden hat. Sie ist schlank und lächelt fast nie auf den Fotos. Und sie sieht jünger aus als sechsundvierzig. Ich frage mich, ob sie auch Schwierigkeiten hat, ernst genommen zu werden. Ob dieses beängstigende Büro sie dafür entschädigen soll.
Sie sieht zu mir auf.
Ich schnappe nach Luft. Leise, aber sie hat es bestimmt gehört. Und meine Güte, das muss das lesbischste Luftholen sein, das ich je von mir gegeben habe.
Darauf haben die Fotos mich nicht vorbereitet. Ich sehe sofort, dass Diana Parker kein großes Büro braucht, um ernst genommen zu werden. Ihre Augen sind dunkel, kühl und durchdringend, und sie sieht mich an, als würde sie mich bereits kennen und wäre nicht allzu beeindruckt. Ihre Wangenknochen sind ein Kunstwerk, obwohl ihre Nase etwas lang ist und ihr Mund etwas schmal. Vielleicht liegt das auch nur daran, dass sie die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst hat.
Großer Gott, sie ist hinreißend. Das hat mir niemand gesagt. Ich habe nicht damit gerechnet.
Während ich versuche, sie nicht mit offenem Mund anzustarren, landet ihr Blick auf meinen Haaren.
»Das ist nur vorübergehend!«, platze ich heraus.
Sie hebt die dunklen, perfekt geformten Augenbrauen. Sie muss sie sich alle drei Wochen machen lassen, pünktlich wie ein Uhrwerk. Wahrscheinlich lässt sie sich nie auch nur einen Deut gehen.
»Die Farbe«, füge ich schwach hinzu und berühre die pastellrosa Strähne – »Roségold« stand auf der Schachtel –, die mir zusammen mit den anderen Haaren bis auf die Schultern hinabfällt. »Ich lasse sie rauswachsen. Sie ist schon fast weg.«
»Das freut mich zu hören.«
Was für eine Stimme. Sie ist überraschend tief für ihre zierliche Gestalt, die von dem marineblauen Blazer noch betont wird. Geschmackvolle Diamantohrstecker ziehen meine Aufmerksamkeit zu ihren kleinen Ohren und dem schlanken Hals.
»Ich habe einen Blick auf Ihre Qualifikationen geworfen«, sagt sie und ich setze auch »gebieterisch« gedanklich auf meine Liste an Adjektiven, die ihre Stimme beschreiben. »Sie haben noch nie als persönliche Assistentin gearbeitet.«
»Nein, Ma’am.« Ich halte meine Tasche auf meinem Schoß. Ist das in Ordnung? Sieht es komisch aus? Wäre es komischer, sie jetzt abzustellen? »Aber ich weiß nicht, ob Sie mein Bewerbungsschreiben gelesen haben –«
»Natürlich habe ich es gelesen. Und meine letzte Assistentin meinte, Sie seien am Telefon ganz passabel gewesen. Momentan arbeiten Sie als Associate Office Managerin in einer Klinik in Edgewood. Warum wollen Sie eine Degradierung?«
Weil ich kurz davor bin, meinen Job zu verlieren, und die Miete sich nicht von selbst bezahlt. Laut sage ich: »Weil ich ins Rechtswesen einsteigen will.« Was ebenfalls die Wahrheit ist.
»Das wollen viele andere Leute auch. Sie sammeln Erfahrung als Praktikanten und Fachkräfte. Sie haben nur selten Ihren beruflichen Hintergrund, wollen nur selten persönliche Assistentinnen werden und haben nur selten rosa Haare.«
Ich versuche, nicht abwehrend zu klingen. »Die meisten Fachkräfte haben Studienabschlüsse. Ich studiere noch. Äh, nebenher.« Sie darf nicht denken, dass ich die Arbeit vernachlässigen würde. »Zwei Kurse pro Semester. Ich bin fast fertig.«
»Welche Uni und welches Studienfach?« Ihre edle Miene verrät nichts. Sie hätten eine Statue von ihr ins Foyer stellen sollen.
»Soziologie. Online an der West Georgia. Ich bin durchgehend hier in der Stadt und hoffe, meinen Abschluss diesen Sommer zu machen, sofern es keine Überraschungen gibt.« Wie viele Überraschungen sind an diesem Punkt überhaupt noch möglich?
»Und dann ein Jurastudium? Sie wären nicht einmal ein Jahr lang meine Assistentin.«
»Nicht unbedingt!«, sage ich schnell. »Tatsächlich kann ich mir vorstellen, nicht sofort mit dem Jurastudium zu beginnen. Es muss ein Programm sein, das auch berufstätige Studierende annimmt.«
Eine dünne Falte der Unzufriedenheit erscheint zwischen ihren Brauen. »Sie erfüllen Ihre Ambitionen nicht, indem Sie sie aufschieben. Wenn Sie bereits wissen, was Sie wollen, sollten Sie alles daransetzen, es zu erreichen.«
»Deshalb bin ich ja hier.«
Sie hebt die Brauen und das Kinn gleichzeitig.
»Ich habe Ambitionen. Und ich bin organisiert und effizient. Ich kann diesen Job übernehmen und Ihnen das Leben sehr viel leichter machen.« Sie wirkt wie eine Frau, die Direktheit schätzt, obwohl abgesehen davon nichts an mir darauf hindeutet, wer ich wirklich bin.
Nicht, dass das relevant wäre.
»Bei diesem Job geht es darum, dass Sie Erledigungen machen, Anrufe tätigen, bis spät in die Nacht und an vielen Feiertagen arbeiten und Ihr Ego tief in sich begraben«, sagt sie. »Ich halte meinen Leuten nicht die Hand. Ich muss sicher sein, dass Sie dem geforderten Arbeitspensum gewachsen sind.«
»Das kann ich alles. Sogar mehr als das.« Ich habe bereits mehr als das getan. »Und ich komme mit fast allen Leuten gut aus.« Das stimmt, obwohl ich bisher nicht viel mit solchen Menschen zu tun hatte, wie sie in diesem Büro arbeiten. »Ich habe kein Problem, mit anderen zusammenzuarbeiten und zu erledigen, was nötig ist.«
»Da bin ich nicht so sicher.« Sie mustert mich von Kopf bis Fuß und ich kenne diesen Blick: nicht anzüglich, aber abfällig. Sie sieht meine blonden Haare und die Stupsnase, hört meinen Akzent und hat mich bereits als Dummerchen abgeschrieben.
Ich muss beherrscht bleiben. »Andere mögen meine Arbeitsmoral«, sage ich so ruhig ich kann. »Sie mögen, dass ich effizient und organisiert bin und –«
»Warum geben Sie Ihre momentane Stelle auf?«
Ist es legal, das zu fragen? Ich kann mich nicht erinnern. »Die Klinik musste einige Kürzungen im Personalbereich vornehmen. Ich bin noch nicht lange genug dabei. Sie würden mich vorerst auf Teilzeitbasis behalten, aber …« Das ist nicht genug.
»Sie haben Ihnen ein gutes Zeugnis ausgestellt. Nicht, dass das ungewöhnlich wäre. Ihr Vorgesetzter hat Sie dafür gelobt, dass Sie einige …«, Geringschätzung flackert in ihren Augen auf, »angenehme Betriebszusammenkünfte organisiert haben, wie ich mich erinnere.«
»Ja.« Sollte das nicht ein Pluspunkt sein? Warum spricht sie so herablassend darüber? »Ich war für Firmenfeiern zuständig – eine Grillparty zum vierten Juli, Weihnachtsfeiern und so weiter. Tatsächlich war es meine Idee, dass wir überhaupt solche Feiern veranstalten sollten. Sie wissen schon … um den Zusammenhalt zu stärken. Ich habe meine Verwaltungsarbeit erledigt und daneben das Catering gebucht und –« Bin zwischen dem Büro und dem Krankenbett meines Vaters hin- und hergelaufen –
»Und jetzt haben Sie finanzielle Probleme«, unterbricht Diana mich. »Nicht gerade das beste Management, das ich je gesehen habe.«
Ich werde ganz steif und richte mich so gerade auf, dass es schmerzt. »Davon wussten wir einfache Angestellte nichts. Ich habe auch kein Geld verschwendet. Ich habe das Budget, das ich bekommen habe, immer eingehalten.«
»Ich habe Ihnen keine Vorwürfe gemacht.«
Der weiche Unterton in Dianas Stimme überrascht mich. Vielleicht auch sie selbst.
Wir sehen uns in die Augen. Ihre Miene ist so verschlossen wie vorher, aber etwas an diesen dunklen Augen raubt mir den Atem. Das ist mir seit meiner letzten Ex Stacey nicht passiert.
Und es ist … nicht gut. Es ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann. Meine Güte, ich will Diana Parker als meine Chefin. Je länger dieser Moment andauert, desto stärker scheint die Luft sich zwischen uns elektrisch aufzuladen, bis mir die Haare zu Berge stehen werden. Schlägt hier gleich der Blitz ein?
Irgendjemand muss etwas sagen.
Sag was.
Sie hat wohl denselben Gedanken gehabt. Ihr Gehirn ist offensichtlich besser darin, Signale zu ihrem Mund zu schicken, denn sie sagt heiser: »Danke, dass Sie gekommen sind.«
Mein Blut gefriert. Der Moment ist vorbei. Das ist alles? Sie schickt mich weg? »Ja«, sage ich. »Danke für … Ich, ich hatte eigentlich noch ein paar Fragen –«
»Ich habe in dreißig Minuten einen Termin mit einer weiteren Bewerberin.« Sie sieht nicht einmal auf die elegante Uhr, die ihr Handgelenk ziert. »Wir melden uns bei Ihnen.«
Und damit wäre das erledigt. Sie spricht es nicht aus, aber das muss sie gar nicht.
Ich bekomme die Stelle nicht.
Bis zu diesem Moment war mir nicht klar gewesen, wie sehr ich darauf gehofft hatte. Meine Brust fühlt sich an, als hätte jemand seinen Stiefel darauf platziert. Ich stehe auf und kämpfe gegen den Drang an, zu fragen, was ich falsch gemacht habe. Hätte ich das Studium nicht erwähnen sollen? War es die Haarfarbe? Sieht mein Kostüm wirklich so schlecht aus?
Sie hat bereits den Blick abgewandt und den anmutigen Hals zur Seite geneigt, greift nach ihrem zugeklappten Laptop. Sie hat mich entlassen, einfach so. Ich bin keine weitere Sekunde ihrer Zeit wert, die sie mit bezahlter Arbeit verbringen könnte.
»Ich habe meinen sehr guten Notenschnitt gehalten, während mein Daddy im Krankenhaus war«, höre ich mich sagen. »Und während ich im Büro gearbeitet und nebenbei Veranstaltungen organisiert habe. Ich hatte vielleicht nie viel Geld, aber ich habe gelernt zu tun, was getan werden muss, und das ist mehr wert als eine Versace-Bluse.«
Sie sieht mich wieder an, die Augen erstaunt aufgerissen. Sie bewegt die Lippen, aber es kommen keine Worte heraus.
»Sie werden glücklich sein, mich hier zu haben, Ms Parker«, sage ich. »Vielen Dank für Ihre Zeit.« Ohne ein weiteres Wort drehe ich mich auf dem Absatz um und marschiere mit hoch erhobenem Kopf in Richtung der riesigen Tür. Ich hätte das nicht sagen sollen, aber es hat sich gut angefühlt und es ist ja nicht so, als hätte ich etwas zu verlieren. Trotzdem hofft ein Teil von mir, dass Diana Parker mir nachruft, dass sie sagt, ich soll warten, sie hätte ihre Meinung geändert.
Sie tut es nicht.
Kurz darauf bin ich wieder zurück auf der Peachtree Street, schleppe mich zur Bushaltestelle und frage mich, was auf Gottes grüner Erde ich jetzt nur machen soll.
Kapitel 2
Diana
Na, das war ja ein hübsches kleines Desaster.
Laurie Holcombe war das zweite Vorstellungsgespräch von dreien. Meine scheidende Assistentin Stephanie hat bisher wenig Sinn dafür bewiesen, was einen geeigneten Ersatz angeht. Ja, sie ist bereits ins Büro in Charlotte gewechselt und kann die Bewerberinnen nicht persönlich sichten, aber das ist keine Entschuldigung. Nicht, wenn ich mich so fühle, wie ich mich jetzt fühle – so erschüttert wie schon lange nicht mehr.
Und das alles wegen einer sogenannten Südstaatenschönheit mit rosa Haaren.
Ich muss müde sein, deshalb ist sie mir unter die Haut gegangen. Gott weiß, ich habe Grund zur Erschöpfung, jetzt, da Kasim die Grippe hat, Nate in Tallahassee ist und Eileen kurz davor zu sein scheint, eine unserer größten Mandantinnen zu verlieren. Es wird meine ganze persönliche Aufmerksamkeit brauchen, um sie zu besänftigen und ihr zu zeigen, dass die Kanzlei ihr Geschäft schätzt.
Ich sehe auf meine Uhr. 14 Uhr 05. Ich bin bereits seit 6 Uhr 30 hier und es sieht nicht so aus, als würde mein Tag bald ruhiger werden. Wahrscheinlich muss ich das Abendessen mit John absagen … schon wieder. Er wird fuchsteufelswild sein und den Abend vermutlich in einer Bar verbringen. Ich frage mich immer öfter, ob ich der Typ fürs Heiraten bin. Meine zweite Ehe verläuft nicht gerade besser als die erste. Vielleicht sollte ich einfach zugeben, dass ich mit meiner Arbeit verheiratet bin, und es dabei beruhen lassen.
Nein. Ich richte mich auf. Ich werde nicht aufgeben. Diana Parker hat noch nie aufgegeben. Außerdem sollte eine Frau in meinem Alter einen Mann haben. Wenn nicht, fangen die Leute an zu tuscheln. Stimmt etwas nicht mit ihr? Wie gut kann sie schon sein, wenn sie neben dem Beruf kein Privatleben hat? Was bei einem Mann nach »Hingabe an die Karriere« aussieht, ist bei einer Frau bloß Unfähigkeit. Es ist schon schlimm genug, dass ich keine Kinder habe, um sie auf dem Präsentierteller zu zeigen. Sie kann doch gar nicht richtig erfüllt sein, wird es heißen.
Aber sie irren sich. Ich bin erfüllt. Ich habe einen Job, den ich liebe, und einen Mann, der seine Rolle spielt. Es ist alles in Ordnung.
Ich reibe mir die Schläfen, um die aufkommenden Kopfschmerzen zurückzudrängen. Es wird Zeit, diese Gedanken abzuschütteln. Wenigstens habe ich die Wahl, diese Frau zu sein, das Image nach außen zu tragen, das ich brauche, um meine Ziele zu erreichen.
Und dieses Image ist nicht das einer niedlichen Schönheit aus Georgia. Vor dreißig Jahren hätte ich sie um ihre Kurven beneidet, obwohl sie fast ihre Bluse gesprengt hat. Aber jetzt …
Bei dem Gedanken läuft ein kleiner Schauer über meinen Körper. Mein Nacken kribbelt, meine Fingerspitzen ebenso.
Lächerlich.
Aber unter dieser melodischen Stimme mit dem absurden Akzent … da ist etwas gewesen. Eine Spur Stahl. Diese Ambitionen habe ich wiedererkannt. Sie hat gesagt, sie hätte welche. Sie hat nicht gelogen, jedenfalls nicht in diesem Punkt.
Sie hätte mir in anderen Bereichen Mist erzählen können. Beispielsweise die rührselige Geschichte über ihren Vater. Wer erwähnt das bei einem Vorstellungsgespräch, vor allem wenn man so verzweifelt versucht, kompetent zu wirken, wie sie es ganz offensichtlich getan hat? Ich konnte ihren Hunger fast schmecken.
Gott. Wo bin ich nur mit den Gedanken? Das Mädchen ist ungeeignet. Sie passt überhaupt nicht zum Image der Kanzlei; sie gehört nicht hierher. Bestimmt nicht rund um die Uhr an meine Seite.
Ich rutsche kurz auf meinem Stuhl hin und her – das lange Sitzen hat mich ganz unruhig gemacht – und klappe meinen Laptop auf. In den letzten zwanzig Minuten haben sich zweiunddreißig neue E-Mails angesammelt. Da ich nicht zu Mittag gegessen habe, ist Kaffee mein einziger Antrieb.
Ich brauche wirklich eine Assistentin. Glücklicherweise kommt die nächste Bewerberin in fünfzehn Minuten. Hoffentlich hat Stephanie mir diesmal einen Treffer geschickt.
Denn Laurie Holcombe ist mit Sicherheit keiner.
* * *
»Süße«, sagt John mit unheilvollem Unterton in der Stimme, »meinst du das ernst?«
Ich beiße die Zähne zusammen und sehe auf meine Uhr. Es ist 17 Uhr 45 und ich bin nicht mal ansatzweise fertig für den Tag. Gute fünfundvierzig Minuten habe ich mit Eileens Kundin telefoniert. Ich weiß, dass ich sie zur Kanzlei zurückholen kann, aber ich sollte nicht Eileens Job machen müssen. »Es tut mir leid. Ich weiß, es ist kurzfristig, aber –«
»Verdammt, Diana, das ist das zweite Mal in zwei Wochen! Ich habe dich seit Tagen kaum gesehen!«
Stört dich das wirklich?, verbeiße ich mir mühsam zu fragen. Ich war es nicht, die unsere Flitterwochen am Blackjack-Tisch verbracht hat. »Können wir es nicht wie jedes normale Paar auf Samstagabend verlegen? Du weißt doch, dass Montage immer hektisch bei mir sind.«
»Auch nach einem Feiertagswochenende? Komm schon. Und seit wann müssen ›normale Paare‹ Zeit einplanen, um sich zu sehen? Außerdem muss ich am Freitag nach New York.«
Früher hat er meinen »Drive« bewundert. Wenn ich nur gewusst hätte, dass uns das einmal in den Wahnsinn treiben würde. Aber in einem Punkt hat er recht: Ich habe seine Geschäftsreise vergessen. »Oh, stimmt. Entschuldige, Darling. Gut … morgen? Oder am Donnerstag«, korrigiere ich mich. »Ich bin sicher, dass ich mir Zeit nehmen –«
»Wie großzügig von dir. Hör mal, ich kann das jetzt nicht besprechen. Wann kommst du nach Hause?«
Ich sehe nach oben zur weißen Decke. Ist das ein Fleck? Ein Wasserschaden? Ich muss das Wartungspersonal hier reinrufen, wenn ich heute gehe. »Ich weiß nicht. Nach neun. Nein, eher halb zehn.«
»Wir werden es ja sehen.« Er legt auf, ohne sich zu verabschieden.
Ich starre mit gefletschten Zähnen auf mein Telefon. Früher war er nie so kindisch. Hat meine Mutter recht? Erwarten wirklich alle Männer, von ihrer Frau umsorgt und verhätschelt zu werden? Meine Güte, wir sind erst seit drei Jahren verheiratet. Sollten wir nicht noch auf Wolke Sieben schweben? Mit Henry war es so, obwohl später alles den Bach runtergegangen ist.
Ich schreibe John eine Nachricht.
Das war unreif und respektlos.
Schließlich hat die Eheberaterin uns gesagt, wir sollten offen miteinander umgehen – als wir uns noch Mühe miteinander gegeben haben. Beziehungsweise als ich mir Mühe gegeben habe.
Keine Antwort.
Aus irgendeinem Grund steht mir Laurie Holcombes Gesicht wieder vor Augen. Die entschlossene Miene passt gar nicht zu ihren weichen Linien. Sie hat mich ängstlich, aber auch mutig angesehen … und wie eine Ebenbürtige. Überhaupt nicht unreif oder respektlos, obwohl sie über zwanzig Jahre jünger sein muss als John.
Ich schüttle den Kopf. Warum vergleiche ich Laur… sie mit meinem Mann, obwohl ich sie eigentlich nur mit der dritten Bewerberin des Tages vergleichen sollte? Mit der bestens geeigneten Clarissa. Die hat Stil, die Art Anmut, von der die meisten Frauen in ihrem Alter nur träumen können. Und war nicht so verzweifelt. Sie war professionell und souverän, hat nichts von der Schule oder sterbenden Vätern gesagt. Ihr Lebenslauf ist perfekt, ihre Referenzen sind tadellos. Sie wäre eine gute Wahl, auch wenn ich nicht sofort eine Assistentin bräuchte.
Damit wäre das erledigt. Ich sage Monica, sie soll sie anrufen. Ich strecke die Hand nach dem Knopf an der Gegensprechanlage aus.
In diesem Moment kommt mit einem Ping eine weitere E-Mail an. Ich sehe auf den Bildschirm und finde eine neue Nachricht von »[email protected]«. Das muss Laurie Holcombe sein.
Wenigstens ist es eine halbwegs professionelle Adresse. Ich hätte eher southernbelle_69 oder so erwartet …
Oder so. Meine Wangen werden ganz heiß, als ich ihre E-Mail öffne, obwohl ich hundert andere Dinge zu tun habe.
Sehr geehrte Ms Parker,
vielen Dank, dass Sie sich heute Zeit genommen haben, um mich wegen der Stelle als Ihre persönliche Assistentin bei Parker, Lee & Rusch zu empfangen. Unser Gespräch hat mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass meine Fähigkeiten und Erfahrung Ihnen und der Kanzlei zugutekommen können. Bitte kontaktieren Sie mich gern, falls Sie noch weitere Informationen von mir benötigen.
Die üblichen Floskeln. Ich bin fast ein wenig beeindruckt. Das ist grundlegende Geschäftsetikette, aber von ihr hätte ich sie nicht erwartet, vor allem nicht so kurz nach dem Vorstellungsgespräch. Vielleicht ist sie wirklich so effizient, wie sie behauptet. Die Danke-Mail beinhaltet den üblichen Kram, der bedeutungslos ist und zugleich auch wieder nicht, denn es zeigt, dass sie versteht, wie diese Dinge laufen, bis ich zum nächsten Absatz komme:
Außerdem wollte ich mich entschuldigen, falls meine Bemerkung bei unserem Abschied unangebracht war. Nein, das stimmt nicht ganz. Ich weiß, dass sie unangebracht war, und ich möchte mich entschuldigen. Ich hoffe, Sie ziehen mich trotzdem für die Stelle in Betracht. Ich wäre wirklich eine gute Assistentin. Noch einmal vielen Dank für Ihre Zeit.
Mit freundlichen Grüßen
Laurie Holcombe
Der erste Absatz ist vielleicht Standard, aber beim zweiten höre ich praktisch ihren Südstaatenakzent durch. Fast bleibt mir die Luft weg. Wie um alles in der Welt schafft sie es, gleichzeitig aufrichtig und unaufrichtig zu sein? Sie hat fest daran geglaubt, was sie über Versace-Blusen, Arbeitsmoral und so weiter gesagt hat. Ich konnte es in ihren Augen sehen. Sie entschuldigt sich nicht dafür, was sie gesagt hat, sondern nur dafür, was das vielleicht für ihre Chancen bedeutet.
In welches Rechtsgebiet will sie überhaupt einsteigen? Ich habe es versäumt zu fragen. Aber warum hätte ich das tun sollen? Sie bekommt den Job nicht. Miss Hübsch und Blauäugig muss es einfach weiter versuchen, bis sie ihre Lebensgeschichte jemandem verkaufen kann, der sie auch haben will.
Ich sollte definitiv Clarissa einstellen. Ich sehe wieder zur Gegensprechanlage.
Aber ich drücke den Knopf nicht.
* * *
Johns Auto steht nicht in der Garage, als ich heimkomme. Wenn ich nur überrascht sein könnte.
Ich parke meinen Lexus auf einem der drei leeren Plätze. Irgendwann werde ich einen Chauffeur anstellen. Mein Arbeitsweg ist nicht sehr lang, aber es sind trotzdem einige kostbare Minuten, die ich besser nutzen könnte. Wenn ich während der Fahrt ohnehin wie besessen über die Arbeit des Tages nachdenke, kann ich ebenso gut etwas davon erledigen.
Mach mal langsam, sage ich mir, als ich seufzend die Garage durchquere und ins Haus gehe. Du bist zu Hause.
Aber so fühlt es sich nicht an. Ich hasse mein Haus. Na ja, eigentlich ist es Johns Haus. Er hat beteuert, es wäre perfekt für uns. Paces ist das prestigeträchtigste Viertel in Atlanta. Autofahrer bremsen auf Schritttempo ab, wenn sie vorbeifahren, um die prachtvollen Häuser zu betrachten. Paces strotzt vor Reichtum, aber nicht vor Dekadenz: im Gegenteil, es schreit geradezu Zurückhaltung. Es ist ein Ort, den ich eigentlich lieben sollte. Und ich habe tatsächlich ein echtes Triumphgefühl verspürt, als John und ich an unserem ersten Abend hier eine Flasche teuersten Champagner geköpft haben.
Aber Triumph ist nicht dasselbe wie Zuneigung. Während ich durch die Küche mit den Marmorarbeitsflächen und Geräten mit Edelstahlfronten gehe, denke ich unwillkürlich an das Zuhause meiner Kindheit in Miami zurück. Die enge Küche dort war erfüllt vom Duft der Pho Bo meiner Mutter und dem Geplapper meiner drei Geschwister. Als Kind habe ich das geliebt, bevor ich begonnen habe, von Größerem zu träumen. Ich habe die Nähe und die Wärme geliebt. Wie konnte ich all das aufgeben?
Im Eingangsbereich halte ich inne, um die High Heels von den schmerzenden Füßen zu kicken. Wenn Laurie Holcombe schon die Nase über Versace-Blusen rümpft, kann ich mir gut vorstellen, was sie zu meinen Manolos sagen würde.
Ich brauche einen Drink.
In meinem Arbeitszimmer mache ich mir einen trockenen Martini, lasse mich in meinen liebsten Lehnsessel fallen und lege meine Füße auf den Hocker. Wenigstens dieses Zimmer fühlt sich wie meines an. Hier stehen eine Reihe von Büchern aus meinem Jurastudium und meine persönlichen Lieblinge im Regal: Jhumpa Lahiri, Thomas Hobbes, Agatha Christie. Keiner kann sagen, dass ich nichts für Vielfalt übrighabe, oder? Ich lasse mich nicht in eine Schublade stecken.
Heute bin ich zu müde, um zu lesen, aber ich kann immer noch meine Tiffanylampe einschalten und ein paar Minuten lang meinen Zufluchtsort genießen.
Aber nur ein paar Minuten. Dann drehen sich meine Gedanken weiter. Nimm dir den restlichen Abend frei, sage ich mir. Es ist ohnehin nicht mehr viel davon übrig.
Es könnte nicht schaden, einen Blick auf mein Handy zu werfen. Lediglich um nachzusehen, ob John geschrieben oder angerufen hat, das ist alles.
Trotz meiner guten Absichten öffne ich meine E-Mails. Laurie Holcombes Nachricht starrt mir wieder entgegen. Warum habe ich sie nicht gelöscht?
Weil sie hungrig ist, flüstert die kleine Stimme mir zu, hungrig wie du.
Besser gesagt, hungrig wie ich es war. Vergangenheit. Was habe ich jetzt noch, nach dem ich hungern kann? Trotzdem durchfährt es mich wie ein Stromstoß und mein nächster Gedanke ist: Wie kann sie es wagen? Wie kann Laurie Holcombe es wagen, meinen Abend und die wenigen ruhigen Augenblicke zu stören?
Mein Martiniglas ist leer. Mein Magen ebenso. Daran muss es liegen, dass ich die Telefonnummer wähle, die unter ihrem Namen angegeben ist.
Beim ersten Klingelton bereue ich es. Beim zweiten befehle ich mir, aufzulegen. Leg einfach auf –
»Hallo?«
Ihre Stimme klingt höflich und neugierig. Fast erkenne ich sie nicht wieder, nicht ohne das Rückgrat aus Stahl, das sie gegen Ende des Vorstellungsgesprächs gezeigt hat. Das ist die Stimme einer Frau, die es gewohnt ist, den ganzen Tag lang Anrufe zu beantworten. Wenn sie für mich arbeitet, würde sie das auch tun.
»Hallo?«, wiederholt sie, jetzt mit einem Anflug der Ungeduld.
Ich muss entweder etwas sagen oder auflegen. »Hier ist Diana Parker«, höre ich mich sagen, und damit ist es zu spät für einen Rückzieher. Da ist das seltsame, aber deutliche Gefühl, etwas in Gang gebracht zu haben. Muss der Wodka sein, der da aus mir spricht.
Nach einer kleinen Pause sagt sie überrascht: »Oh! Guten Abend, Ms Park–«
»Es war unangebracht von Ihnen.«
Schweigen. Ich frage mich, wie ihr Gesicht gerade aussieht. Sind ihre rosigen Wangen noch rosiger? Hat sie ihre himmelblauen Augen erstaunt aufgerissen? Oder ist sie zusammengezuckt, weil ich ihr Verhalten angesprochen habe?
Einen Moment später sagt sie: »Das ist mir bewusst, Ma’am. Deshalb habe ich mich ja entschuldigt. Soll ich es noch einmal tun?«
Aus irgendeinem Grund, den ich nicht benennen kann – vielleicht hat sich mein Nervensystem eine Sekunde lang verabschiedet –, lasse ich mein Martiniglas fallen. Gut, dass es leer ist. Gut, dass es schadlos auf dem Berberteppich landet.
Sie sollen überhaupt nichts tun, bin ich kurz davor zu sagen. Ich brauche Sie nicht, ich brauche nichts und niemanden außer einer guten Mütze Schlaf.
»Das wird nicht nötig sein«, sage ich steif. Ich hätte meinen Blazer ausziehen sollen. Es ist zu warm hier drin. »Das ist nicht der Grund für meinen Anruf.«
O Gott, warum habe ich das gesagt? Was mache ich hier überhaupt? Denn jetzt wird sie fragen – sie muss einfach fragen –
»Weshalb dann?« Es ist die vernünftigste Frage der Welt. »Ich hatte irgendwie den Eindruck, dass ich die Stelle nicht bekomme. Wollten Sie …« Ihre Stimme stockt. »Wollten Sie mir das sagen?«
Hat sie den Verstand verloren? Warum sollte eine Seniorpartnerin sie nach 22 Uhr anrufen, um ihr persönlich eine Absage zu erteilen? Dafür hat Gott ja Personalabteilungen erschaffen. Trotzdem habe ich sie am Telefon. Ich kann ihr genauso gut sagen, dass sie die Anforderungen von Parker, Lee & Rusch im Moment nicht erfüllt.
Dann werde ich innerhalb von vierundzwanzig Stunden die perfekte Clarissa an meiner Seite haben, die tun wird, was sie soll, und mich nie herausfordern wird. Ich werde Laurie Holcombe nie wiedersehen. Ich werde nie wissen, ob sie ihre Versprechen einhalten und das Potenzial entwickeln kann, das ich in ihrer Stimme höre. Ob sie es schafft, diesen Hunger zu stillen.
Ob ich wirklich glücklich sein würde, sie zu haben.
»Erzählen Sie mir von Ihren Zukunftsplänen«, sage ich. »Im Moment wirken sie ziemlich vage.«
»Ähm, na ja, das stimmt. In den letzten Jahren konnte ich nicht viel planen, da mein Dad …«
Ihre Stimme stockt wieder, entweder vor Emotionen oder weil sie weiß, dass sie das nicht wieder ansprechen sollte.
»Ich habe mich über Wasser halten müssen. Ich bin jetzt erst in der Lage, darüber nachzudenken.«
Ich schürze die Lippen. »Dann fangen Sie mal an. Sie brauchen einen Plan. Wenn Sie ohne ein Ziel im Kopf umherwandern, werden Sie nie irgendwo ankommen.«
»Oder ich könnte an einem Ort ankommen, der mir nie eingefallen wäre«, feuert sie zurück. »Das muss nichts Schlechtes sein. Früher hatte ich Pläne, aber das Leben spielt nicht immer mit. Ich habe mich angepasst.«
Das muss sie mir nicht erst sagen. Mein Leben war ein einziger Akt aus Anpassung und Weiterentwicklung und ich bin trotzdem genau da, wo ich immer sein wollte. »Sie studieren Soziologie. Warum?«
»Weil ein Studium wichtig ist.« Eine zurückhaltende Antwort. »Ich habe schon einen Abschluss und –«
»Ich habe Ihren Lebenslauf gelesen. Das war nicht meine Frage. Warum Soziologie?«
»Es ist die Lehre vom menschlichen Verhalten. Warum nicht?« Im Hintergrund ist etwas zu hören und sie gibt ein kurzes zischendes Geräusch von sich. »Ich habe im ersten Studienjahr einen Einführungskurs belegt und der hat mir gefallen. Ich denke, Soziologie passt gut zu Jura.«
»Und welche Art von Recht möchten Sie praktizieren?« Das wird bestimmt interessant. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in einem Konferenzraum um Millionen-Dollar-Deals kämpft, wie ich sie aushandle.
»Umweltschutz.« Sie klingt fast verlegen und das sollte sie auch. Das passt wohl kaum zu den Interessen ihres potenziellen Arbeitgebers.
»Also keine Pläne, viel Geld zu verdienen«, sage ich. »Jedenfalls nicht so viel, wie Sie mit Vertragsrecht verdienen würden.«
»Ich bin es gewohnt, nicht gerade in Geld zu schwimmen«, sagt sie trocken. »Ich wäre zufrieden mit einer Krankenversicherung und dem Gefühl, dass ich etwas bewirke.« Dann klappert etwas im Hintergrund und sie murmelt: »Verd… Entschuldigen Sie.«
Ich blinzle. »Was machen Sie gerade?«
»Kochen. Der Tag ist richtiggehend verflogen. Ihrer sicherlich auch. Genau das würde ich übrigens auch übernehmen«, fügt sie begeistert hinzu. »Als Ihre Assistentin. Ich würde Ihnen ein Mittagessen besorgen und so weiter.«
Wie kann sie wissen, dass ich heute noch nichts gegessen habe? Ich verkneife mir zu fragen, was sie denn kocht. Mit leerem Magen würde alles köstlich klingen. »Das machen Assistentinnen, ja.«
»Und sie holen Kaffee und übernehmen Anrufe. Das kann ich alles machen, das und noch mehr. Ich kann rund um die Uhr in Bereitschaft sein.« Der Unterton in ihrer Stimme klingt fast ängstlich. »Wie Sie ja sehen, Ms Parker, Sie könnten mich jetzt um etwas bitten und ich wäre sofort da.«
»Ich …« Jetzt bleibt mir die Luft weg und weigert sich, sofort zurückzukommen. Laurie Holcombe, die zu meiner Verfügung steht, wann ich will. Das habe ich nicht erwartet. Ich wusste nicht, dass diese warme Welle in meinem ganzen Körper …
Es ist kalt in diesem Haus. Es ist kalt in meinem Büro. Manchmal denke ich, es ist kalt, wohin ich auch gehe. Egal, wo sie ist, ich wette, sie hat eine kleine Küche, in der es vom Ofen her warm ist und nach ihrem Lieblingsessen duftet. Vielleicht nach dem Essen, mit dem sie aufgewachsen ist, das ihre Mutter immer gekocht hat.
»Auf Probe«, flüstere ich und sehe zu meinem Martiniglas auf dem Boden. Es ist ein wenig weggerollt, aber jetzt liegt es still. »Ich stelle Sie auf Probe ein.«
»Sie … autsch! Tut mir leid, ich hab mir gerade den Ellbogen ange… Wirklich?« Sie klingt ebenfalls atemlos.
Das ist ein Fehler. Ich begehe einen Fehler. Aber was ist schon dabei? Es ist nicht so, als würde ich einen Partner für die Kanzlei anheuern. Sie ist eine Assistentin. Wenn es nicht klappt, ist sie in einer Woche wieder weg und ich suche mir eine neue.
»Sie fangen morgen an«, sage ich ihr. »Seien Sie um Punkt halb acht da. Und sehen Sie zu, dass Sie die rosa Haare loswerden.«
»Ich … oh, wow, ja, Ma’am, vielen D–«
Ich lege auf. Mein Herz rast und ich muss einige Male tief durchatmen. Ich muss etwas essen und ins Bett gehen.
Ich betrachte meine nackten Füße auf dem Hocker. Über meinen Zehen sind rote Linien zu sehen, wo meine Schuhe den ganzen Tag lang gedrückt haben. Der Lack auf meinen Zehennägeln ist abgesplittert und meine Fersen werden schon rau. Pediküre buchen: Noch etwas, das eine Assistentin erledigen kann.
Sie werden glücklich sein, mich zu haben.
Die Zeit wird das zeigen. Vielleicht habe ich einen Fehler begangen und vielleicht auch nicht, aber eins steht fest: Mein Leben wird ein wenig interessanter werden.
Wir werden sehen, aus welchem Stoff Laurie Holcombe gemacht ist.
Kapitel 3
Laurie
Ich habe die halbe Nacht lang versucht, mit der »Geheimformel«, auf die Kayla schwört – einer Mischung aus Shampoo, Spülmittel und Vitamin-C-Pulver –, die rosa Farbe aus meinen Haaren zu bekommen. Sie ist nicht ganz verschwunden, aber für den Moment habe ich getan, was ich konnte. Wenn Ms Parker mir einen bösen Blick zuwirft, versuche ich es am Abend noch einmal.
Ich würde lieber gut ausgeruht zu meinem ersten Arbeitstag erscheinen, aber wir können nicht immer alles haben, was wir wollen.
Wenigstens kann ich heute mit dem Auto fahren. Es ist 6 Uhr 30 und zu dieser Stunde ist der Verkehr nicht schlimm. Ich kann auf die übernächste Spur wechseln, ohne angehupt zu werden, und werde keine Probleme haben, einen Platz in der Tiefgarage zu finden. Für Atlanta ist das der reinste Autofahrerhimmel.
Irgendwie. Im echten Himmel hätte ich ein besseres Auto als meinen 1992er Honda Civic. Ms Parker hatte recht: Umweltrecht wird mich diesem Traum nicht näherbringen. Aber das ist in Ordnung. Ich habe eine Vollzeitstelle ergattert und das ist der erste Schritt zu dem Leben, das ich will.
Sie brauchen einen Plan.
Das hat Diana Parker gestern Abend zu mir gesagt. Die Frau, die mich angesehen hat, als wäre ich ein Kratzer auf ihrem Schuh, hat mit mir über Zukunftspläne gesprochen, als wären sie ihr wichtig, als wäre ich wichtig.
»Schön ruhig, Mädchen«, murmle ich vor mich hin, als ich die Tiefgarage vom Southstar entdecke. »Sie ist deine Chefin. Und verheiratet«, füge ich hinzu, als es mir wieder einfällt. Das habe ich bei meinen Recherchen über sie im Internet gelesen. Warum habe ich mich nicht gestern daran erinnert, als ich Mühe hatte, nicht auf ihren Tisch zu sabbern? Hat sie einen Ehering getragen?
Ich blinzle und versuche, mir sie mit einem Mann vorzustellen. Es klappt nicht. Andererseits lag mein Gaydar schon früher komplett daneben, wie die zwei Ex-Freundinnen beweisen, die mich für Männer verlassen haben. Vielleicht liegt es daran, dass ich sie mir überhaupt nicht in einer Beziehung vorstellen kann. Sie wirkt so unabhängig, von der Welt abgeschottet. Obwohl sie mich nach 22 Uhr für ein seltsames kurzes Gespräch angerufen hat, bevor sie mir den Job angeboten hat.
Na ja, es spielt ohnehin keine Rolle, ob Diana Parker nun meine Chefin ist oder nicht, ob sie verheiratet ist oder nicht. Wenn ich an Stacey denke, habe ich immer noch ein Gefühl, als würde es mich innerlich zerreißen. Wenn ich in den letzten Jahren eins gelernt habe, dann dass ich mich nicht darauf verlassen sollte, dass andere für mich da sind – ganz zu schweigen davon, mein Herz zu öffnen und mich zu verlieben oder ähnlichen Unsinn.
Zeit, zur Arbeit zu gehen.
Der schläfrig dreinblickende Kerl im Kassenhäuschen winkt mich durch, als ich sage, dass ich seit heute hier arbeite und noch keinen Mitarbeiterausweis habe. Ich beschließe, das als ein gutes Zeichen zu sehen. Heute werde ich wahrscheinlich eine Menge Papierkram erledigen und Formulare ausfüllen müssen, Dinge, die andere Leute, die nicht begeistert von ihrem neuen Job sind, mühsam finden.
Begeistert, rufe ich mir ins Gedächtnis, während ich parke. Vergiss nicht, du bist begeistert. Es fühlt sich nur wie Erschöpfung an. Außerdem bin ich bereit. Ich habe mich für den ersten Tag mit Twinset und Bleistiftrock und praktischen schwarzen Schuhen gewappnet. Das ist etwas gediegener als sonst, selbst für das Büro, aber nicht so sehr, dass ich mich verkleidet fühle.
Darunter bin ich immer noch ich. Die Frau, die etwas bewirken will, sobald sie besser in Form dafür ist.
Mein Handy meldet piepend eine Nachricht. Das Display zeigt Ms Parkers Name. Ich habe ihre Nummer eingespeichert, sobald sie gestern aufgelegt hatte. Hier ist sie: die erste Nachricht von meiner neuen Chefin. Was wird sie um diese Zeit von mir wollen, um in den Tag zu starten?
Bin unterwegs. Frühstück um 7 auf meinem Schreibtisch. Ein Dynamite Veggie White Omelet vom Egg Harbor Café.
Ich sehe auf Google Maps nach. Das Café ist dreieinhalb Meilen entfernt, bei dem Verkehr momentan sind das zehn Minuten für eine Strecke. Wie lange braucht Ms Parker noch bis zum Büro? Ich brauche mindestens dreißig Minuten, um zum Café zu fahren, auf die Bestellung zu warten und wieder hierherzukommen.
»Nicht mit dieser Einstellung«, murmle ich und drehe den Schlüssel im Zündschloss.
Es ist erstaunlich, was Entschlossenheit und die innere Einstellung, dass Ampelfarben eher Vorschläge sind, bewirken können. Ich habe Diana Parker gesagt, dass ich alles tun kann, und das umfasst verdammt noch mal auch, ihr ein Omelett zu holen, das sie auch von einem nähergelegenen Lokal bekommen könnte.
Glücklicherweise gibt es in Atlanta um 6 Uhr 46 nicht viele hungrige Menschen und die Schlange ist kurz. Die Mitarbeiter wirken etwas erstaunt, als ich Ms Parkers Frühstücksbestellung herunterrattere, als wäre es eine streng geheime, auf einer gefährlichen Mission erlangte Information für die CIA.
Sie sind ziemlich schnell, aber es ist trotzdem zu spät, als ich das Café wieder verlasse. Meine Wohnung ist näher beim Büro als dieses Lokal. Ich hätte Zeit gespart, wenn ich Ms Parkers Frühstück selbst gemacht hätte.
Das sollte ich ihr wahrscheinlich besser nicht vorschlagen.
Ich komme um 7 Uhr 10 zum Southstar zurück und fühle mich, als wäre ich bereits gescheitert. Ich fluche leise vor mich hin, als ich den Aufzug betrete und sehe, dass er mich ohne Schlüsselkarte nur bis in die Lobby bringt. Es ist ja nicht so, dass ich die Sicherheitsvorkehrungen nicht schätze, aber ich würde es noch mehr schätzen, gleich zu meiner Chefin zu gelangen.
Tief durchatmen. Gut möglich, dass ich überreagiere.
Ich erreiche die Lobby. Wenn der Sicherheitsmann überrascht ist, mich wiederzusehen, begrenzt er diese Überraschung auf verräterisch hochgezogene Augenbrauen.
»Morgen«, keuche ich, als ich mit der Plastiktüte in einer Hand und der anderen am Riemen meiner Handtasche zu ihm eile. »Ich hab die Stelle bekommen! Bei PL&R«, füge ich hinzu, nur um zu betonen, dass das Unmögliche manchmal doch möglich ist. »Aber ich habe noch keine Schlüsselkarte, keinen Firmenausweis und so weiter.«
»Das Büro öffnet erst um acht.«
»Ja, ich weiß, aber …« Ich stelle die Plastiktüte auf den Tisch. Wir beide betrachten sie, während ein köstlicher Omelettduft aus der Verpackung aufsteigt. Ich versuche, die letzten Krümel des Muffins wegzuwischen, den ich im Auto hinuntergeschlungen habe. »Ms Parker sagte, ich solle um sieben mit ihrem Frühstück hier sein. Ich bin etwas spät dran. Könnten Sie –«
Bei dem Wort »spät« seufzt er, als wolle er sich genau wie Monica noch nicht an mich gewöhnen. »Ich rufe an und sehe, ob jemand abhebt.«
Anrufen! Ich bin eine Idiotin. Ich war so konzentriert darauf, hierherzukommen, dass ich gar nicht an mein Handy gedacht habe. Hastig hole ich es heraus und schreibe Ms Parker eine Nachricht.
Bin mit Frühstück in der Lobby und warte, dass Security mich hochlässt.
Ich überlege kurz und beschließe, kein lächelndes Emoji für meine positive Einstellung hinzuzufügen. Ich glaube nicht, dass ihr das gefallen würde.
»Sind Sie die rosa Farbe losgeworden?«, fragt der Wachmann, während er den Hörer ans Ohr hält.
Na ja, ich habe es jedenfalls versucht. »Äh –«
Das Telefon klingelt und der Mann sieht stirnrunzelnd auf den Apparat. Dann hebt er die Augenbrauen, drückt auf einen Knopf und sagt: »Guten Morgen, Ms Parker. Wie können wir –« Eine Stimme am anderen Ende der Leitung unterbricht ihn, leise, aber kühl. Der Wachmann schluckt. »Oh. Ja, sie ist … Ja, Ma’am. Sehr gern …« Er schürzt die Lippen. Scheinbar hat sie abrupt aufgelegt, genau wie gestern Abend. Ist wohl ihr Stil.
»Sie sagt, die Bürotür oben wird für Sie offen sein. Ab morgen brauchen Sie eine Schlüsselkarte von der Personal–«
»Alles klar. Danke!« Mich überkommt der Drang, ihn um eine Ermutigung zu bitten. »Haben Sie, äh, irgendwelche Tipps für meinen ersten Tag hier?«
Der Blick, den er mir zuwirft, ist fast mitfühlend. »Leben Sie ihn, als wäre es Ihr letzter. Viel Glück.«
Im Aufzug murmle ich: »Was soll’s.«
Wie Diana gesagt hat, ist die Bürotür von PL&R nicht verschlossen. Monicas Platz ist leer, aber ich höre Menschen. Fast niemand hebt den Blick, als ich an den Büros vorbeigehe.
Heute steht Ms Parkers Tür einen Spalt offen. Ich atme tief durch und bremse auf normales Schritttempo ab. Ich will nicht keuchend und mit rotem Gesicht in ihr Büro stürzen.
Sie steht mit dem Rücken zu mir und mustert ihre Bücherregale. Ich sehe, dass sie ungefähr so groß ist wie ich, ein Meter siebzig. Ihre beigefarbenen hohen Schuhe sehen weniger praktisch aus als meine. Sie blitzen unter dem Saum einer dunkelgrauen Stoffhose hervor, die zu ihrem Blazer passt. Gott, ist sie zierlich. Ihre Kleidung ist nicht zu eng geschnitten oder so; niemand würde sie als unangemessen bezeichnen. Aber sie scheut sich nicht zu zeigen, dass sie gut in Form ist.
Als sie mich kommen hört, dreht sie sich um. Ihre Haare sind wieder zu einem Dutt hochgesteckt und ich sehe dieselben Diamantstecker an ihren Ohren wie gestern.
»Ich bringe Ihr Omelett.« Ich wollte Guten Morgen sagen. Aber dieser Moment hat irgendetwas an sich, das Small Talk verbietet.
»Sie sind spät.«
Werden meine Beine sich immer wie Pudding anfühlen, sobald ich diesen Raum betrete? Ich erinnere mich, dass ich ihr gestern die Stirn geboten habe, als es nötig war. Das hat Ms Parker offensichtlich respektiert, bis ich »unangebracht« geworden bin.
Ich ziehe die Schultern hoch, wie in Erwartung eines Tadels. Dann straffe ich sie und gehe auf meine Chefin zu. »Eigentlich war ich früh dran. Ich habe gerade geparkt, als Sie mir geschrieben haben.« Ich versuche ein Lächeln. »Sie, äh, hätten sehen sollen, wie viele rote Ampeln ich überfahren habe, um jetzt hierherzukommen. Soll ich das für Sie aufw–«
»Ein Vorfall mit der Polizei und Sie sind gefeuert. Und ja, tun Sie das. Der Aufenthaltsraum ist den Gang entlang rechts.« Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich zu ihren Bücherregalen zurück.
Okay, denke ich, während die Mikrowelle summt und ich mir eine Tasse anständigen, kostenlosen Kaffee einschenke, das hätte schlimmer laufen können.
Als ich das Omelett wieder in ihr Büro bringe, hat sie ihr Buch gefunden, blättert es durch und macht sich auf einem Block Notizen. Ich habe auch einen in meiner Tasche, zusammen mit vier Stiften, drei Markern, einem Stapel Klebezettel und einem Anti-Stress-Ball zum Zusammendrücken. Möglicherweise werde ich das alles brauchen.
Ms Parker hat eine Kaffeetasse aus feinem Porzellan mit Goldrand neben sich stehen. Zum ersten Mal sehe ich die Keurig-Kaffeemaschine in der Ecke und die Schale mit Pads daneben.
»Sie haben fast keine Kaffee-Pads mehr.« Ich stelle das Omelett vor sie, hübsch auf einem Teller angerichtet und mit Besteck, das ich im Pausenraum in einer Schublade gefunden habe. In meiner Klinik waren wir froh, wenn es Plastikgabeln gab.
Apropos Klinik: Es war eins der besten Gefühle überhaupt, meinem alten Vorgesetzten um 23 Uhr eine Kündigungsmail zu schreiben. Früher hätte ich Schuldgefühle gehabt. Inzwischen weiß ich, dass ich jemandem, der sagt: Ab morgen arbeiten Sie Teilzeit, das mit den Sozialleistungen tut mir leid, einen Dreck schuldig bin.
Ms Parker sieht zu ihrer Kaffeemaschine. »Sieht ganz so aus. Sie müssen heute neue besorgen. Ich schätze, dass sie bis …«, sie schürzt die beerenrot geschminkten Lippen, »14 Uhr 30 aus sein werden.«
Ich kichere.
Sie sieht mich stirnrunzelnd an.
Oh.
»Entschuldigen Sie«, murmle ich. »Ich dachte, das wäre ein … Kann ich jetzt noch etwas für Sie tun, Ms Parker? Ich weiß, ich muss zur Personalabteilung wegen –«
»Diana«, sagt sie knapp. »So halten wir das hier. Aber denken Sie nicht, dass ich die Südstaaten-Höflichkeit nicht zu schätzen weiß.«
Meine Wangen werden heiß. Mir ist nicht entgangen, wie sie manche Worte betont. Nach dem, was ich gelesen habe, stammt sie aus Florida, was will sie mir damit also sagen? Andererseits war Florida schon immer etwas anders.
Höfliche Leute gibt es bestimmt überall, obwohl ich noch nicht viel herumgekommen bin.
»Ja, Ma’am«, sage ich und bereue es sofort. Ich habe sie nicht provozieren wollen. »Ich meine, ja, Diana.«
Ich wollte noch etwas sagen. Noch einmal fragen, was ich für sie tun kann. Aber aus irgendeinem Grund bin ich sprachlos, sobald ihr Name meine Lippen verlassen hat. Alles, was ich denken kann, ist: Das hat sich gut angefühlt im Mund und wunderschön aussprechen lassen.
Sie sieht blinzelnd zu mir auf.
Erbarmen, habe ich mich etwa verraten? Ist das der Grund, weshalb ihre Wangen etwas rosiger wirken?
»Von was kommt Laurie?«
Bilde ich mir das Stocken in ihrer Stimme nur ein?
»Laura, nehme ich an.«
»Laurel.« Meine Antwort kommt als peinliches Krächzen heraus.
Sie zieht die Augenbrauen hoch und sagt völlig selbstsicher: »Laurel wie der Lorbeerkranz? Für den Sieg?«
Das wäre schön. »Nach meiner Großmutter.«
»Ich hoffe, sie war eine Siegerin.« Ms … Diana … greift zum Besteck.
»Für mich schon.« Sie war für mich da, als Mom es nicht war.
»Setzen Sie sich mit der Personalabteilung zusammen und erledigen Sie den nötigen Papierkram, damit Sie alles bekommen, was Sie brauchen. Monica kann helfen. Und e-mailen Sie unbedingt Stephanie, dass Sie die Stelle bekommen haben, und fragen Sie nach den kleinen, nützlichen Listen, die sie im Lauf der Jahre in diesem Job zusammengestellt hat.« Der Blick, den sie mir jetzt zuwirft, ist fast unheilvoll. »Sie treten in ziemlich große Stiletto-Stapfen.«
Ich suche nach einer angemessenen Antwort und platze heraus: »Frühstücken Sie jeden Tag zur selben Zeit?« Als sie mich anstarrt, füge ich hinzu: »Nur damit ich mich angemessen vorbereiten kann. Ich kann es schon besorgt haben, wenn Sie hier eintreffen.«
»Laurie«, murmelt Diana Parker, »wenn ich etwas will, dann sage ich es Ihnen. Bis dahin sollten Sie bereit sein, schnell zu denken. Jetzt lassen Sie mich frühstücken und zu meiner Arbeit zurückkehren. Wenn Monica noch nicht hier ist, kommt sie bald.«
Ich frage mich, ob sie einen Schauer gespürt hat, als sie meinen Namen gesagt hat. Ich bezweifle es. Ich bezweifle, dass irgendetwas diese Frau zum Schaudern bringen kann. Schließlich scheint sie ohnehin schon aus Eis und Schnee zu bestehen.
Eis und Schnee schmelzen, erinnert mich die böse kleine Stimme, als ich gehe. Ich werde sie zum Verstummen bringen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
* * *
Ich bin es nicht gewohnt, dass eine Personalabteilung alles in Lichtgeschwindigkeit erledigt, aber bei PL&R hat niemand Zeit zu verschwenden. Ich verbringe den Vormittag damit, Formulare auszufüllen, Vertraulichkeitsvereinbarungen zu unterzeichnen und mich fotografieren zu lassen.
»Das Rosa ist nur vorübergehend«, sage ich dem Fotografen.
Bis Mittag bin ich im System und habe eine ID-Karte und einen Parkausweis. Seltsamerweise verspüre ich bei letzterem Anblick einen Stich im Herzen. Mein Dad hat immer gesagt, dass es so etwas wie Parkausweise in Atlanta nicht gibt, nur Jagdlizenzen.
Ich wünschte, ich könnte ihm von meinem neuen Job erzählen. Er hatte nie viel für Anwälte übrig und hat gesagt, dass Umweltrecht »viel zu liberal« klinge, aber er war froh, dass ich etwas aus mir machen wollte. Später war er niedergeschlagen, dass er mich zu seinem Kindermädchen gemacht hat, obwohl ich ihm nicht eine Sekunde meiner Zeit verübelt habe.
Ich habe mich nie vor ihm geoutet. Er hätte es nicht akzeptiert, als ich jung war, und als er krank war, habe ich mir gesagt, ich könne ihn nicht damit belasten. Nur eine Ausrede, schätze ich, und jetzt werde ich nie mehr die Chance dazu haben.
Nein. Das ist nicht die Zeit für Trauer. Ich bin über ein Jahr lang oft genug in Tränen ausgebrochen, obwohl ich mich bei der Arbeit bisher immer beherrschen konnte. Die Reue kann warten.
