Liebe im Spiel - Diana Stainforth - E-Book

Liebe im Spiel E-Book

Diana Stainforth

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Beschreibung

In den Augen ihrer Freunde ist Francesca Eastgate eine Frau, die alles hat: eine glänzende Karriere als Anwältin in einer angesehenen Londoner Kanzlei, eine harmonische Ehe und ein gepflegtes Haus. Die Illusion vom vollkommenen Glück ist so perfekt, daß sogar Francesca selbst die Wahrheit verdrängt. Eines Tages begegnet sie dem Mann, der ihr Leben verändern wird: Jack Broderick spricht nicht gern über seine Vergangenheit. Andere tun es um so mehr, und Francesca ist gewarnt: Sie weiß, daß sie mit dem Feuer spielt ... Von den ehrwürdigen Londoner Gerichtsgebäuden über die Greyhound-Rennbahn bis zu den Spielhöllen von Las Vegas führt die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau, die gegen das Schicksal kämpft und dabei alles auf eine Karte setzt.

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Seitenzahl: 803

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Diana Stainforth

Liebe im Spiel

Aus dem Englischen von Gloria Ernst

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

In den Augen ihrer Freunde ist Francesca Eastgate eine Frau, die alles hat: eine glänzende Karriere als Anwältin in einer angesehenen Londoner Kanzlei, eine harmonische Ehe und ein gepflegtes Haus. Die Illusion vom vollkommenen Glück ist so perfekt, daß sogar Francesca selbst die Wahrheit verdrängt. Eines Tages begegnet sie dem Mann, der ihr Leben verändern wird: Jack Broderick spricht nicht gern über seine Vergangenheit. Andere tun es um so mehr, und Francesca ist gewarnt: Sie weiß, daß sie mit dem Feuer spielt ...

Von den ehrwürdigen Londoner Gerichtsgebäuden über die Greyhound-Rennbahn bis zu den Spielhöllen von Las Vegas führt die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau, die gegen das Schicksal kämpft und dabei alles auf eine Karte setzt.

Über Diana Stainforth

Diana Stainforth, geboren in Oundle, Northamptonshire, verbrachte nach dem Schulabschluß mehrere Jahre in Italien, Spanien und Südafrika. Sie kehrte nach England zurück, arbeitete zunächst als Innenarchitektin und später als Assistentin der Schriftstellerin Rebecca West, bevor sie selbst zu schreiben begann.

Inhaltsübersicht

DanksagungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41

Danksagung

Als ich mit den Recherchen für dieses Buch begann, hatte ich noch nie in meinem Leben Poker gespielt. Als ich damit fertig war, spielte ich in Las Vegas!

Poker stellt jedoch nicht den alleinigen Hintergrund für die Handlung dieses Buches dar. Liebe im Spiel ist ebenso im Trubel der Juristenwelt und der besonderen Atmosphäre einer Greyhoundrennbahn angesiedelt. In jedem dieser drei Bereiche haben mir Menschen ihre Zeit geopfert, um mir zu helfen. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle danken. Einige haben mich gebeten, namentlich nicht genannt zu werden, und ich respektiere diesen Wunsch.

Folgenden Juristen bin ich zu Dank verpflichtet: Michael Stimpson, der mir zwei Jahre lang geduldig alle Fragen beantwortete; Seiner Gnaden Richter Ryland; all jenen im Inner Temple, dem Lincoln’s Inn, der Anwaltskammer und dem Ministerium des Lordkanzlers, die mir die Details lieferten, die ich brauchte, um der Handlung Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Für meine Exkurse in den Windhundrennsport danke ich Sue Bunn und ihren Hunden; Tony James, ehemals General Manager des Wimbledon Stadium der Greyhound Racing Association; Norah McEllistrim, Trainerin des National Greyhound Racing Club, und ihren Hunden, vor allem aber Fred, der in diesem Buch als Blue erscheint.

Ray und Carolyn Giles möchte ich für ihre Gastfreundschaft und ihre Informationen über Dallas danken.

Für das medizinische Fachwissen bin ich Joan Mahon zu Dank verpflichtet.

Was das Pokern und Las Vegas angeht, danke ich Jim Albrecht, dem Manager des Pokerzimmers im Binion’s Horseshoe Casino, für seine Informationen über die World Poker Series und Jeff und Cora Fadigan sowie Jeff Vanderlip vom Pokerzimmer des Binion’s. In London unterstützten mich Bill Slate, Manager des Pokerzimmers im Victoria Casino; Group Captain Richard Stephens, ehemals bei der British Casino Association, und Freddy Moyle.

Meine Anerkennung gebührt weiter Anthony Holdens phantastischem Buch Big Deal. Es war mein Reiseführer durch Las Vegas.

Schließlich möchte ich noch Edward Twinberrow für die erste Pokerstunde danken und all jenen Freunden, mit denen ich gespielt habe, bevor ich nach Las Vegas gereist bin. Sie waren überzeugt, daß ich verlieren würde. Hätten sie sich getäuscht, wäre ich vielleicht nie wieder nach Hause geflogen, um dieses Buch zu beenden!

Diana Stainforth

30. Dezember 1991

Kapitel 1

London, 1985

BIS ZU JENEM FRÜHLING HATTE SICH FRANCESCA ERFOLGREICH eingeredet, sie sei nicht unglücklicher als alle anderen auch. Dann aber kam es zur Krise. Es begann an jenem Nachmittag im März.

In den Inner Temple Gardens hatten gerade die Magnolien zu blühen begonnen. Sie eilte über das unebene Pflaster auf die Makepeace Buildings zu. Sie versuchte noch schneller zu gehen und fluchte, als sie mit ihren hohen Absätzen in den Ritzen zwischen den Steinplatten steckenblieb. Immer war sie spät dran. Wenn sie nur mehr Zeit hätte, um sich auf ihre Fälle zu konzentrieren, würde sie vielleicht eine bessere Anwältin werden. Wenn sie sich mehr auf William konzentrieren könnte, wäre sie auch eine bessere Ehefrau. Zumindest war das seine Meinung.

Oben am King’s Bench Walk kreuzten zwei andere Anwälte ihren Weg und steuerten auf die Bibliothek zu. Der eine war Rupert Barbour, der bestaussehende ihrer männlichen Kollegen in der Kanzlei. Er nickte. Sie lächelte. Nicht, daß er ihr besonders sympathisch gewesen wäre. Er war ein aufgeblasener Snob, aber man mußte sich schließlich professionell verhalten. Sein Begleiter grinste sie breit an und murmelte Rupert dann etwas zu, woraufhin dieser zischte: «Du spinnst wohl. Das ist Eastgates Frau.» Francesca lächelte ein zweites Mal. Diesmal galt ihr Lächeln Ruperts Begleiter. Was kostete schon ein Lächeln? Man konnte nie wissen, wann einem jemand von Nutzen sein würde. Das jedenfalls war Williams Philosophie.

Francesca wirkte wie eine seltsame Mischung aus Rebellin und Madonna. Ihr glänzendes, mahagonifarbenes Haar, das eine wogende Mähne verführerischer Locken hätte sein können, hatte sie zu einem braven Schulmädchenzopf geflochten. Ihre Teddybäraugen, die so sanft, warm und braun waren, blickten streng unter geraden Augenbrauen hervor. Ihre Haut war sehr blaß, beinahe schon zu blaß. Wenn sie nervös war, färbte sich die Partie um ihre Augen herum purpurrot. Francesca war, was Make-up anging, sehr zurückhaltend. Sie verwendete lediglich etwas Mascara und einen Hauch rosa Lip gloss. Der Duft, den sie trug, war zitronig, leicht und neutral. Ihr schwarzes Kostüm jedoch, die Uniform aller Anwältinnen, verriet eine unterschwellige Sinnlichkeit. Sie mochte figurbetonte Jacketts und enge Röcke. Ihr Gang hatte eine ungezwungene Grazie, doch trat jemand auf sie zu, besonders wenn es sich dabei um einen Fremden handelte, dann hielt sie sich sehr gerade und wirkte dadurch ein wenig steif. Allgemein galt sie als arrogant. Nur wenn sie sich über etwas amüsierte, offenbarte sie ihre andere Seite. Dann nämlich warf sie den Kopf zurück und gab ein tiefes, kehliges, laszives Lachen von sich.

Sie teilte sich mit zehn anderen Anwälten eine Reihe von Büros in den Makepeace Buildings, die man nach dem Schriftsteller William Makepeace Thackeray benannt hatte, der in der Nähe des Inns gewohnt hatte. Die Gebäude bestanden aus dunkelrotem Backstein, der an diesem Nachmittag langsam einen ockerfarbenen Goldton annahm, während die Glasscheiben der weißgestrichenen Schiebefenster im Schein der untergehenden Sonne wie flüssiges Feuer glühten. Das Licht umspielte die zartrosa Blütenkelche der Magnolien, die ihre Kandelaber durch die Eisengitter reckten. Es warf kühle Schatten auf den Bürgersteig, wo Blütenblätter zertreten auf den Steinplatten lagen. Francesca liebte diese Tageszeit. Das Inn und die dahinterliegenden Gärten strahlten die heitere Ruhe eines Gemäldes aus, die nicht einmal der Verkehrslärm vom Embankment stören konnte.

Sie rannte die Steinstufen hinauf und eilte durch die glänzende schwarze Tür. Alle Eingangstüren der Makepeace Buildings waren schwarz gestrichen. An der Mauer daneben war jeweils eine weiße Tafel angebracht, auf der in eleganter, schwarzer Schreibschrift der Name eines jeden Anwalts aufgeführt war. Es erfüllte sie immer wieder mit Stolz, wenn sie ihren Namen dort las.

Die Kanzlei lag im dritten Stock des Gebäudes und nahm die Zimmer zu beiden Seiten der Treppe ein. Francesca war nach ihrem Referendariat dort übernommen worden. Besser gesagt, nach ihrer Hochzeit. Der Seniorpartner der Kanzlei, dessen Name ganz oben auf der Anwaltsliste stand, war der Kronanwalt Geoffrey Culmstock, ein großer, charismatischer Mann, der aus Yorkshire stammte und ein Gesicht wie ein Rottweiler hatte. Wenn er einen ansah, bekam man das Gefühl, er breche gleich in Tränen aus, was auch den verstocktesten Zeugen dazu veranlaßte, die Wahrheit zu sagen. Sein Büro war das größte. Desmond, der kleine, elegante und charmante stellvertretende Seniorpartner der Kanzlei, verfügte über das zweitgrößte Büro. Die meisten anderen Anwälte teilten sich aus Kostengründen jeweils ein Büro. Der lässig-elegante Rupert saß zusammen mit dem aufgeblasenen, übergewichtigen Hugo in einem Raum, Melanie Llanellen, Francescas beste Freundin, mit James, einem freundlichen und ruhigen Zeitgenossen, der ein Landhaus in Suffolk besaß und daher meist außerhalb von London arbeitete. Der aggressive Thomas teilte sich mit der pferdenärrischen Charlotte Regan-Walker, die über sehr gute Beziehungen verfügte, ein düsteres Hinterzimmer. Sanjiv, der Inder, der niemals auch nur ein einziges schlechtes Wort über irgend jemanden sagte, hatte ein Zimmer für sich allein. Francesca hatte ebenfalls ein eigenes Büro. Ihres war eins der hübschesten. Es war zwar klein, ging aber nach vorne hinaus und bot einen Blick auf den Garten. Aber schließlich wurde Francesca ja auch bevorzugt behandelt. Zumindest behaupteten das Charlotte und Thomas, die sich hinter ihrem Rücken darüber beklagten.

Mr. Nailsworth, der Bürovorsteher der Kanzlei, sah von seinem Schreibtisch auf, als sie den Empfangsbereich betrat. «Old Nailbag», wie er insgeheim genannt wurde, war früher Hauptfeldwebel gewesen. Schon sein Vater und sein Großvater hatten als Bürovorsteher gearbeitet. Seine Position beruhte auf stillschweigender Vetternwirtschaft. Seine Aufgabe bestand darin, die Mandanten der Solicitors, also der Anwälte, die vor einem höheren Gericht nicht zugelassen waren, den Partnern der Kanzlei zuzuweisen und nach Beendigung des jeweiligen Verfahrens die Honorare einzufordern. Einen gewissen Prozentsatz des Verdienstes eines jeden Anwalts durfte er für sich einbehalten. «Ihr Mandant wartet», informierte er Francesca, während er einen vielsagenden Blick auf seine Uhr warf.

«Danke, Mr. Nailsworth. Ich rufe durch, wenn Sie ihn zu mir hereinschicken können.» Entschlossen, sich von Mr. Nailsworth nicht schikanieren zu lassen, holte Francesca die Post aus ihrem Fach. Das Problem war, daß der gute Nailsworth nichts von Anwältinnen hielt. William behauptete zwar, sie bilde sich das nur ein, aber sie wußte, daß sie in diesem Punkt recht hatte.

In ihrem Büro angekommen, überflog sie ihre Post, griff dann zum Telefon und tippte rasch eine Nummer ein. «Dining & Wining? Hier spricht Mrs. Eastgate. Ich brauche für heute abend eine Vorspeise. Für zehn Personen. Ja, ich weiß, daß das sehr kurzfristig ist. Es tut mir leid, ich hatte ursprünglich geplant, selbst etwas vorzubereiten. Makrelenpastete? Gut, wenn Sie nichts anderes haben, wird das eben genügen müssen. Ich komme die Pastete abholen und zahle bar. Schicken Sie mir also keine Rechnung!»

Sie hatte vor Hunger ganz weiche Knie. Seit sechs Uhr früh, als sie den Tisch für das Dinner am Abend gedeckt hatte, hatte sie nichts mehr gegessen. Jetzt holte sie einen angebissenen Mars-Riegel aus ihrer Aktentasche. Die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, starrte sie durch das Fenster in die Dämmerung hinaus, während sie langsam die fad schmeckende Schokolade kaute. Was hatte William ihr untersagt, beim Dinner zu erwähnen? Sie versuchte sich daran zu erinnern, aber in ihrem Kopf herrschte gähnende Leere. Sie wußte nicht einmal mehr, wen sie überhaupt eingeladen hatten. Alles, was sie sich wünschte, war, daß sie ausnahmsweise einmal einen Abend zu zweit verbringen und sich unterhalten könnten.

Ihre Gegensprechanlage summte. «Ihr Mandant wird langsam ungeduldig», bellte Nailsworth.

Francesca würgte den Rest des Mars-Riegels hinunter. Ihren Mandanten hatte sie ganz vergessen. Sie hatte alles vergessen, alles außer dem schwindenden Tageslicht und der Tatsache, daß sie fürchterlich müde und hungrig war. Kein Wunder, daß William sich ständig beklagte.

Sie war überrascht, als sie sah, daß Mr. Atterbury von Allport & Atterbury und nicht einer seiner Juniorpartner sie mit einem Besuch beehrte. In seiner Begleitung befand sich Lex Gunter, sein Mandant, ein Schläger mit einem Mopsgesicht, der wegen eines tätlichen Angriffs angeklagt war. Francesca war auch früher schon von der Kanzlei beauftragt worden, aber niemals von Atterbury selbst.

Gunter war klein und stämmig. Auf seiner Oberlippe befand sich ein heller Flaum, den er vergeblich zu einem Schnurrbart wachsen zu lassen versuchte. Er starrte Francesca verdrossen an. «Ich wußte nicht, daß ich ’ne Frau kriege.»

«Ich bin Ihre Anwältin, Mr. Gunter», antwortete sie knapp. «Wenn Sie aber wünschen, vor Gericht von jemand anderem vertreten zu werden, habe ich nichts dagegen einzuwenden.»

Atterbury war puterrot geworden. «Ich bitte um Verzeihung, Mrs. Eastgate. Mein Mandant ebenfalls.»

«Ach, das geht schon in Ordnung.» Gunter setzte sich schwerfällig hin und legte seine dicken Unterarme auf den Schreibtisch. Er hatte sehr haarige Handgelenke, bei deren Anblick Francesca sehnsüchtig an Williams glatte Arme dachte.

Sie überflog Atterburys Schriftsatz. Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, hätte sie ihn vor der Besprechung gelesen, aber Atterbury hatte, wie viele Solicitors, die Unterlagen erst in letzter Minute geschickt. Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, hätte sie auch zu Mittag gegessen und müßte jetzt nicht verstohlen versuchen, die Schokolade zu entfernen, die hartnäckig an ihren Backenzähnen klebte. «Richmond Greyhound Racing Stadium!» las sie laut und war überrascht. «Ich wußte gar nicht, daß es immer noch in Betrieb ist.»

«Ist es auch nicht. Der Alte, dem es gehört, kann sich den Unterhalt nicht mehr leisten.»

«Sie sprechen von … Marius Charlwood, dem Mann, den Sie tätlich angegriffen haben sollen?»

«Ich werd auf nicht schuldig machen. Er ist nämlich der einzige Zeuge.»

Francesca schloß erleichtert die Akte. «Ich kann keinen Mandanten vertreten, der ein schuldhaftes Verhalten eingesteht, gleichzeitig aber darauf besteht, sich nicht schuldig zu bekennen. Das verstößt gegen alle Regeln.»

«Ich hab ihn nicht verprügelt. Ich hab ihm nur ’n bißchen gedroht, das ist alles. Er muß später hingefallen sein. Ich hab nicht mal den Zaun eintreten müssen, um reinzukommen. Das Ganze fällt doch von allein auseinander.» Ein verschlagener Ausdruck erschien in Gunters Augen. «Es ist ’ne Schande, daß all das gute Bauland verkommt, bei der ganzen Wohnungsnot und den vielen jungen Leuten, die dringend eine Wohnung brauchen. Reiche junge Leute!» Er lachte, zündete sich, ohne um Erlaubnis zu bitten, eine Zigarette an und musterte Francesca dann unverschämt durch den Rauch hindurch. «Mr. Marmintoll bezahlt für meine Verteidigung. Er hat gesagt, er würde schon dafür sorgen, daß mir nichts passiert.»

«Mr. Marmintoll von der Baufirma Marmintoll Construction?»

Der Schläger lachte. «Jetzt sind Sie wohl schockiert. Aber wenn’s um Geld geht, Schätzchen, werden wir alle zu Gaunern. Und ihr Anwälte seid dabei die schlimmsten.»

 

Es war schon dunkel, als Francesca die Kanzlei verließ. Die schmiedeeisernen Gaslaternen draußen vor jedem Hauseingang erhellten die graue Nacht mit ihrem weißen Licht. Williams Kanzlei – wo er als Kronanwalt und stellvertretender Seniorpartner arbeitete – war drei Eingänge von der ihren entfernt. Francesca sah, daß in seinem Zimmer Licht brannte, also saß er noch immer in einer Besprechung. Sie hoffte, er würde nicht vor ihr zu Hause eintreffen. Angesichts der Berge von ungeschältem Gemüse und der aufgeschlagenen Kochbücher in der Küche würde er sicher in Panik geraten.

Sie ging durch die schmale Gasse neben der Bibliothek und überquerte den Hof zwischen der Hall und der Temple Church. Das Inn hatte etwas Gelehrtes und Abgeklärtes an sich, das sie an die Universität von Oxford erinnerte. Nicht, daß sie dort studiert hätte, aber William war in Oxford gewesen. Francesca hatte direkt nach der Schule mit ihrer juristischen Ausbildung begonnen. Sie war eine der letzten gewesen, die man ohne Hochschulabschluß aufgenommen hatte: Im Jahr darauf waren die Zulassungsbedingungen geändert worden.

Immer wenn Francesca an der Temple Church vorbeikam, mußte sie an ihren Hochzeitstag denken, vor allem spätabends, wenn niemand mehr da war und sie den Hof für sich hatte. Dann fühlte sie sich wieder an jenen Samstagnachmittag im Winter zurückversetzt, an dem ihr Stiefvater sie zum Altar geführt hatte, damit sie Mrs. William Eastgate wurde. Die Orgel hatte etwas von Bach gespielt, und das Sonnenlicht, das durch die bunten Glasfenster strömte, hatte ein Kaleidoskop von Farben über den weißen Brokat ihres Hochzeitskleides gegossen. Sie war sehr nervös, aber auch sehr stolz gewesen.

Eine Stunde nachdem Francesca die Kanzlei verlassen hatte, stand sie in der hellen, weißen Küche ihres eleganten Hauses in Islington, holte die Makrelenpastete von Dining & Wining aus der Aluschüssel und richtete sie auf einer ihrer schweren Silberplatten an. Jaws, ihr Goldfisch, schwamm wie wild in seinem Aquarium auf der Fensterbank hin und her. Sie hatte ihn letzten Sommer aus einer spontanen Anwandlung heraus gekauft. Damals war er kaum drei Zentimeter lang gewesen und hatte in einem kleinen Goldfischglas gelebt, seit er aber das große Aquarium hatte, tat er nichts anderes, als zu fressen und zu wachsen. Sie hoffte, daß er die Makrelenpastete nicht pietätlos fand.

Die Haustür öffnete sich, und William betrat den Flur. Sie rief lächelnd: «Ich bin in der Küche» und fragte sich dabei, wie er es nur schaffte, am Ende eines Arbeitstages immer noch wie aus dem Ei gepellt auszusehen, während sie verschwitzt, müde und mit zerknitterter Kleidung heimkam.

Als Francesca William zum erstenmal gesehen hatte, fand sie, daß er wie ein Dichter aussehe oder zumindest so, wie sie sich einen Dichter vorstellte: hochgewachsen, blond, gutaussehend und ästhetisch, ein Mann, der Schönheitssinn besaß. Sie hatte in der Hall gespeist. Alle Jurastudenten mußten während der zweijährigen Ausbildung dreimal pro Quartal in ihrem Inn of Court am Abendessen teilnehmen, bevor sie als Anwalt zugelassen wurden. Diese Einführung in das Leben des Inns gehörte zur Tradition. Frankie hatte in ihrer schwarzen Robe nervös und aufgeregt an einem der unteren Tische gesessen. An einem der oberen Tische hatte William Eastgate Platz genommen. Ihre Nachbarin hatte sie auf ihn aufmerksam gemacht und erklärt, er sei einer der brillantesten Anwälte seines Jahrgangs. Francesca hatte beobachtet, wie er redete, während alle um ihn herum zuhörten. Er hingegen hatte sie überhaupt nicht beachtet.

Aber Williams Äußeres täuschte, wie sie später entdeckte. Er war kein Träumer. Sein feingeschnittenes Gesicht zeichnete sich durch ein energisches Kinn aus. Seine grauen Augen blickten durchdringend und entschlossen. Seine Stimme war wohlklingend. Er hob sie selten, denn das war nicht notwendig.

«Alles unter Kontrolle?» Er warf einen Blick auf das Chaos.

«Einigermaßen.» Sie schob die Tüte von Dining & Wining mit dem Fuß unter die Küchenanrichte. «Ich bin erst spät nach Hause gekommen. Ich hatte eine Besprechung.» Sie schnitt eine Limone in Scheiben und dekorierte die Makrelenpastete abwechselnd mit halben Limonenspiralen, Zitronenspalten und Minzblättchen. «Ich werde den Fall abgeben. Mein Mandant wird beschuldigt, den alten Marius Charlwood, den Eigentümer des Richmond Greyhound Racing, angegriffen zu haben. Was für ein Zufall!»

«Aber du bist nicht mehr in der Nähe des Stadions gewesen, seit du klein warst.»

«Mein Vater lebt dort. Wenigstens nehme ich das an. Marius war damals sein bester Freund. Ich werde nicht vor Gericht auftreten, wenn mir die gegnerische Partei persönlich bekannt ist.»

«Francesca, wenn du den Fall nicht hättest übernehmen wollen, hättest du den Schriftsatz zurückgeben müssen, gleich nachdem du ihn gelesen hast, noch vor der Besprechung.»

Sie seufzte. «Ich habe ihn nicht gelesen. Dazu hatte ich keine Zeit.»

«Wie konntest du nur so unprofessionell handeln?»

«Atterbury hat ihn mir zu spät geschickt. So etwas passiert doch jedem von uns einmal.»

«Mir nicht.» Er sah ihr schweigend dabei zu, wie sie rasch die Fleißigen Lieschen goß, die neben Jaws’ Aquarium aufgereiht standen. Sie hätte vor Müdigkeit, Zorn und schlechtem Gewissen weinen mögen. Natürlich war das, was sie getan hatte, falsch gewesen. «Wenn du jetzt den Fall abgibst», fuhr er sanfter fort, «wirst du erklären müssen, daß das mit deinem Vater zu tun hat. Und das wiederum würde weder deiner noch meiner Karriere guttun.»

Sie sah ihn zweifelnd an. «Da könntest du recht haben.»

«Das habe ich, Liebling. Glaub mir.»

Sie kramte im Gemüsefach des Kühlschranks nach einer weiteren Limone. «Ich möchte keine Strafrechtsfälle mehr übernehmen. Es nervt mich, daß ich meinen Verstand anstrengen muß, um einen Schläger zu verteidigen, der ganz eindeutig schuldig ist.»

«Jeder hat ein Recht auf den Beistand eines Anwalts.»

«Als wir uns kennengelernt haben, hast du oft gesagt, wie unmoralisch es wäre, daß sich reiche Gauner die besten Anwälte leisten könnten.»

«Habe ich das?»

Sie lächelte. «Das war einer der Gründe, aus denen ich dich bewundert habe.»

«Aber ich übernehme keine Strafsachen, es sei denn, um einem meiner Mandanten, die ich in handelsrechtlichen Fällen vertrete, einen Gefallen zu tun. Wenn ich Strafverteidiger wäre, würde man mich nicht als Richter für den High Court in Erwägung ziehen.» Er beobachtete sie stirnrunzelnd. «Wir haben heute abend zwei Richter und unsere beiden Seniorpartner zu Gast. Also behalte deine Skrupel um Himmels willen für dich und verplappere dich nicht vor ihnen.»

Sie war verletzt. «William! Bitte! Das war doch nicht als Kritik gemeint.»

«Gut. Mir ist nämlich nicht aufgefallen, daß du etwas gegen unseren Lebensstil einzuwenden hättest. Du sagst weder nein zu St. Moritz und Barbados, noch kannst du an einem Geschäft vorbeigehen, ohne etwas zu kaufen.»

«Vielleicht kompensiere ich damit nur etwas.»

«Was soll das heißen?»

«Nichts.» Sie wollte jetzt nicht mehr sagen, denn sie hatte Angst, daß sie an einen Punkt gelangen könnte, von dem es für sie kein Zurück mehr gab. Also nahm sie eine Handvoll Karotten und ging in den Garten hinaus. Es war frostig draußen. Big Ears, ihr großes, schwarzweißes Kaninchen, saß an seiner Käfigtür und wartete schon auf sie. Sein Fell war ganz aufgeplustert. Als sie näher kam, bebte seine Nase erwartungsvoll. Sie hatte ihn vorletzte Weihnachten im Garten von Williams Eltern gefunden, wo er sich nach seiner Flucht aus der nahe gelegenen Kaninchenfarm versteckt hatte. Sie schob die Karotten nacheinander durch das Gitter in den Stall und kraulte Big Ears zwischen den Ohren, bevor sie wieder ins Haus zurückkehrte.

In der Küche wusch sie sich die Hände und sah nach dem bœuf en croûte. Sie nahm eine Gabel und stach an einer Ecke, die nicht von Teig bedeckt war, hinein. Blut sickerte aus dem immer noch rohen Fleisch. «Sieh zu, daß es unsere Gäste mit dem Essen nicht zu eilig haben», sagte sie. «Der Braten ist nicht vor zehn fertig.»

Er schnalzte ärgerlich mit der Zunge.

«Ich kann es nicht ändern. Nicht, wenn ich am Abend noch Gäste bewirten soll, nachdem ich den ganzen Tag gearbeitet habe, und du dich weigerst, eine Köchin einzustellen.»

«Ohne den dämlichen Goldfisch, deine Zimmerpflanzen und dieses verfressene Kaninchen hättest du mehr als genug Zeit. Ein erwachsener Mensch hält sich in London kein Kaninchen im Garten.»

«Ich gebe Big Ears nicht weg.» Es war ein alter Streit.

«Was du brauchst, ist ein Baby. Du hast dir doch früher immer Kinder gewünscht. Ich war es, der gesagt hat, du wärst noch zu jung dafür. Aber ich möchte einen Erben, Francesca, einen Eastgate.»

«Ach, dafür haben wir noch reichlich Zeit.» Sie bereitete weiter das Abendessen vor. William hatte recht. Sie hatte Kinder gewollt, viele Kinder. Damals.

Er betrachtete sie zornig. Alles, was er sagte, zog sie in Zweifel. Das hatte sie früher nie getan.

Schließlich meinte Francesca in normalem, freundlichem Ton: «Weißt du, was mich wirklich anwidert? Rate mal, wer Gunters Anwaltsgebühren bezahlt.»

«Ich denke nicht, daß wir darüber sprechen sollten.»

«Marmintoll! Dein wichtigster Mandant!»

Er war schockiert, und das freute sie. «Warum sollte er eine andere Kanzlei beauftragen?» wollte er wissen. Er schien ihr nicht so recht glauben zu wollen.

«Weil es sich hier um einen schmutzigen kleinen Fall handelt.»

«Aber er weiß doch, daß du meine Frau bist.»

«Vielleicht will er, daß du mit dem Fall zu tun hast, aber nur indirekt.»

«Möglicherweise.» Er ging zwischen der Küche und dem Frühstückszimmer auf und ab, dann drehte er sich um. «Trotzdem entspricht es nicht unserem Berufsethos, daß du diese Information preisgibst. Auch nicht mir gegenüber!»

Sie sah ihn an. «Wenn ich mich nicht dir anvertrauen kann, wem dann? Ich möchte mich dir anvertrauen, William, und ich möchte, daß du dich mir anvertraust. Immerhin sind wir miteinander verheiratet.»

Er nahm die silberne Servierplatte vom Tisch und roch an der Vorspeise. «Makrelenpastete! Ich wollte doch Lachs haben. Dieses Abendessen ist wichtig, Francesca, es ist keine Studentenfete. Kannst du denn nicht einmal etwas richtig machen?»

Francesca warf die restliche Minze auf den Tisch, rannte aus der Küche und die Treppe hinauf. Sie hatte den Kopf gesenkt, damit er nicht sah, daß sie weinte.

Zwanzig Minuten später kam sie wieder herunter. Sie hatte gebadet, sich parfümiert, ein kornblumenblaues Seidenkleid angezogen und das Haar zu einem glatten Zopf geflochten. William befand sich im Wohnzimmer und schenkte Geoffrey Culmstock gerade einen Gin Tonic ein. Sie konnte hören, wie er sagte: «Ich muß Ihnen den neuen Alexander Pope zeigen, den ich heute gekauft habe, eine Erstausgabe. Ich bin ganz verliebt in meine Neuerwerbung. Mein Antiquar weiß von einem weiteren Band, aber ich muß es mir noch überlegen. Natürlich lese ich die Bücher nicht, dazu habe ich keine Zeit. Ich liebe es einfach, schöne Dinge zu besitzen.»

Als Francesca am Fuß der Treppe angekommen war, ballte sie die Fäuste und betete, daß William sie vor Geoffrey nicht abkanzeln würde.

Er drehte sich um, als er sie bemerkte, und ging eilig durch das Zimmer auf sie zu. Sie versuchte, nicht zurückzuzucken, als er den Arm hob.

«Frankie, Liebling, du siehst bezaubernd aus», sagte er und legte ihr den Arm um die Schultern. «Ich habe wirklich Glück gehabt, stimmt’s, Geoffrey?»

«Das kann man wohl sagen.» Geoffrey hob sein Glas. «Auf das Traumpaar der gesamten Anwaltschaft.»

Francesca zwang sich zu einem Lächeln, innerlich aber fühlte sie sich angewidert. Am liebsten hätte sie laut geschrien: «War das jetzt ernst gemeint oder das, was du vorhin in der Küche gesagt hast? Bin ich für dich nutzlos, oder liebst du mich?»

Kapitel 2

DA FRANCESCA WEGEN EINES ANDEREN FALLES VERHINDERT war, erschien sie nicht vor Gericht, als Gunters Antrag, seinen Fall dem Crown Court zu übergeben, verhandelt wurde. Melanie vertrat sie.

Unmittelbar nach der Verhandlung stürmte Gunter in die Kanzlei. Er drängte sich in Francescas Büro, noch bevor Old Nailbag ihn aufhalten konnte, und schlug mit der Faust auf ihren Schreibtisch. «Sie halten mich wohl für ein Stück Dreck?» schrie er sie an. «Deshalb sind Sie nicht in der Verhandlung gewesen.»

«Ich habe Ihrem Solicitor dargelegt, warum ich nicht kommen konnte. Ihn hat meine Erklärung zufriedengestellt. Miss Llanellen ist außerdem überaus kompetent.» Francesca hob ihre Stimme. «Vielen Dank, Mr. Nailsworth, Sie können Mr. Gunter jetzt hinausgeleiten.»

«Sie frigides Miststück!» Gunter fegte die Unterlagen, die auf ihrem Schreibtisch lagen, zu Boden.

Auf Francescas Wangen erschien jeweils ein hellroter Fleck. Nailsworth und ein Anwaltsgehilfe eilten herbei. Sie packten Gunter an den Armen, aber er schüttelte sie so mühelos ab, als wären sie Fliegen. «Schon gut», höhnte er. «Ich gehe. Aber merken Sie sich eins, Schätzchen.» Er zeigte mit seinem Wurstfinger auf Francesca. «Bei meinem Prozeß werden Sie sich nicht wieder drücken. Mr. Marmintoll würde das nämlich ganz und gar nicht gefallen.»

Sie stand auf. «Ich werde bei der Verhandlung anwesend sein, Mr. Gunter, weil dies meine Pflicht ist, und nicht, weil Sie mir drohen. Und jetzt verschwinden Sie endlich!»

Er ging. Francesca, Nailbag und der Anwaltsgehilfe lauschten, während sich seine Schritte auf der Treppe entfernten. Dann wandte sich Nailbag, dunkelrot vor Verlegenheit, an Francesca. «Es tut mir leid, Mrs. Eastgate. Ich weiß gar nicht, wie er an mir vorbeigekommen ist.»

«Ich erwarte, daß so etwas nicht noch einmal passiert, Mr. Nailsworth.» Dies war dafür, daß sie zehn Jahre lang seine schlechte Laune hatte ertragen müssen.

«Das wird es auch nicht, das versichere ich Ihnen.» Nailsworth salutierte fast. «Mr. Eastgate wäre stolz auf Sie.»

Sie wartete volle zehn Minuten, um sicherzugehen, daß Gunter das Gebäude verlassen hatte, bevor sie die Straße hinauf zu Williams Kanzlei rannte.

Er saß an seinem wuchtigen Schreibtisch, umgeben von ordentlichen Stapeln juristischer Werke. Als Francesca unangekündigt hereinstürmte, sah er erstaunt auf. «Was ist los?»

Sie ließ sich auf den Sessel vor seinem Schreibtisch sinken, rückte, damit sie sich mit den Ellbogen aufstützen konnte, seine Unterlagen beiseite, allerdings nur ein ganz kleines Stück, um ihn nicht aufzubringen. «Gunter hat mich bedroht. Nailbag mußte ihn rauswerfen.»

«Du darfst so etwas nicht persönlich nehmen, sondern mußt dem Ganzen distanzierter gegenüberstehen. Hast du denn inzwischen alles vergessen, was ich dir während deiner Referendarzeit beigebracht habe?»

«William, er hat mich als frigides Miststück beschimpft.»

«Willst du einem primitiven Schläger wirklich die Genugtuung verschaffen, dich ärgern zu können?»

Sie sehnte sich danach, daß er sie in die Arme nahm. «Ich bin deine Frau. Macht es dich nicht wütend, wenn man mich beschimpft?»

«Also gut! Beruhige dich! Wenn wir das nächste Mal mit Marmintoll beim Essen sind, werden wir diskret andeuten, daß du nicht willens bist, Leute wie diesen Gunter zu vertreten. Aber ich kann nicht deine beruflichen Schlachten schlagen, Francesca.»

Sie fühlte sich plötzlich matt und sehr müde. «Das habe ich ja auch gar nicht von dir verlangt. Ich möchte einfach nur … nun, du sollst mir zeigen, daß dir so etwas nicht egal ist.»

«Sei nicht kindisch, Francesca. Natürlich ist mir das nicht egal. Aber die Kanzlei ist nicht der richtige Ort, um dir das zu zeigen.» Er öffnete eins der juristischen Bücher. «Natürlich wird Gunter jetzt annehmen, daß du seinen Prozeß absichtlich verlierst.»

«Ich sollte das Mandat auf der Stelle niederlegen. Noch habe ich die Möglichkeit dazu.»

«Damit er denkt, er hätte dich kleingekriegt?»

«William, es ist möglich, daß mein Vater Marius Charlwood zu der Verhandlung begleitet.»

«Das wird er nicht. Er wird wie immer betrunken sein – oder im Gefängnis sitzen.»

Sie wurde rot. Plötzlich stiegen die Erinnerungen an ihren Vater in ihr auf. Sie dachte an seine lächelnden blauen Augen, seine Stimme, sanft wie der Nebel in Kerry, den Geruch von Whisky, der an seiner alten Tweedjacke haftete, seine nikotingelben Finger, die ihre kleinen Kinderhände hielten, als er ihr beibrachte, wie man die Spielkarten ausgab und wie man dabei mogelte. «Bitte sprich nicht so von ihm», sagte sie. «Er ist immer noch mein Vater.»

«Liebling, du hast ihn seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Du selbst hast es doch so gewollt. Er ist eine einzige Peinlichkeit, das waren deine Worte. Wenn du vor der Besprechung den Schriftsatz gelesen hättest, wie es deine Pflicht gewesen wäre, hättest du das Mandat ohne weiteres niederlegen können. Jetzt aber würde Marmintoll auf einer Erklärung bestehen. Du würdest wie eine Idiotin dastehen, und das wollen wir doch beide nicht. Also gewinn einfach den Prozeß und vergiß dann das Ganze.» Er lächelte. «Ich möchte auf dich stolz sein können, Francesca. Du bist eine sehr gute Anwältin.»

«Bin ich das wirklich?» fragte sie, erfreut über das unerwartete Kompliment.

«Aber nur, wenn es dir gelingt, deine Gefühle unter Kontrolle zu halten.» Er streckte den Arm über den Schreibtisch und tätschelte ihr die Hand, was im Grunde nicht besser, sondern schlechter als gar nichts war. Es weckte einen Hunger in ihr. Sie wünschte sich so viel mehr von ihm.

 

William und Francesca verbrachten den Samstag abend bei Williams Eltern, Mortimer und Audrey Eastgate, in Kingly Grange, einem höhlenartigen Herrenhaus aus frühviktorianischer Zeit, das die kleine Stadt Kingly in Kent beherrschte. Das Haus, ein graues, verwinkeltes Gebäude, ragte finster und mißbilligend über der sanften, welligen Landschaft auf. Williams Eltern hatten das Haus von einem Onkel geerbt. Sie konnten es sich nicht leisten, dort standesgemäß zu leben, aber sie weigerten sich beharrlich, das Haus zu verkaufen. Das riesige Wohnzimmer und das große Speisezimmer waren mit goldgerahmten Porträts verstorbener Eastgates geschmückt, die alle Richter, Pfarrer oder Offiziere gewesen waren. Sie hatten das starre Aussehen von Menschen, die ihr Leben damit zugebracht hatten, auf unbequemen Stühlen in kalten Räumen zu sitzen.

Das Haus verfügte über zwölf Schlafzimmer, alle kalt und wenig einladend. Die Betten waren hart, die Teppiche schäbig. Die Schubladen in den Kommoden klemmten, weil das Holz sich vor Feuchtigkeit verzogen hatte. Nachts gurgelte Wasser durch uralte Leitungen. Am Morgen, wenn sich Francesca Badewasser einließ, kam es rostig und nur mäßig warm aus dem Hahn. Als William sie zum erstenmal nach Hause mitgenommen hatte, damit sie seine Eltern kennenlernte, war sie noch von der Großartigkeit des Herrenhauses beeindruckt gewesen. Jetzt aber ertrug sie die Unbequemlichkeiten nur noch seinetwillen.

Als sie am Morgen eintrafen, übte Francescas Schwiegervater auf dem Tennisplatz gerade seinen Aufschlag. Seine langen, dünnen Beine, die aus seinen bauschigen Shorts herausragten, waren vor Kälte ganz rot. Ihre Schwiegermutter beschnitt die Rosen. Sie trug ein Kleid aus Wolljersey, das sie hochgezogen hatte, so daß der schmutzige Saum auf dem Rand ihrer noch schmutzigeren grünen Gummistiefel aufstieß. Sie besaß noch ein weiteres Kleid von dieser Sorte, denn sie bestellte ihre Kleider immer gleich zweimal bei Army & Navy. Sie war ein Schlachtschiff von einer Frau, hatte drahtiges, graues Haar und eine Stimme wie ein Nebelhorn. An sie adressierte Briefe las sie nie, sondern beantwortete sie einfach, wie sie es für angemessen hielt. Die Argumente anderer Menschen vermochten ihre Ansichten nicht zu ändern. Als sie gebeten wurde, dem Komitee des Kirchenbasars beizutreten, hatte sie ausschließlich den Posten der Vorsitzenden akzeptiert.

«William», dröhnte sie, «dein Vater möchte mit dir Tennis spielen. Und du, Francesca, bring mir doch den Weidenkorb für die Narzissen. Ich habe mit dir zu reden.» Sie wartete, bis William außer Hörweite war, bevor sie hinzufügte: «William hat mir erzählt, daß du keine Kinder mehr haben willst.»

Francesca wurde rot. «Das habe ich nie gesagt.»

«Gut. Es ist nämlich an der Zeit, daß ihr endlich eine Familie gründet. Ihr braucht einen Erben für Kingly. Schließlich seid ihr jetzt schon seit fast zehn Jahren miteinander verheiratet.»

«Wir haben noch viel Zeit.»

«Du vielleicht, aber William ist beinahe zwanzig Jahre älter als du. Er möchte noch Freude an seinem Nachwuchs haben.» Audrey machte eine Pause und seufzte tief. «Ach du liebe Güte! Jetzt habe ich anscheinend schon wieder etwas Falsches gesagt. Du bist aber auch überempfindlich, Francesca.» Sie bückte sich, um ihre Rosen weiter zu beschneiden, und die helle Morgensonne glänzte auf den grauen Stoppeln ihres Schnurrbarts.

Francesca stellte den Korb ab und ging mit steifen Schritten über den Rasen zum Haus zurück. Ihre Stiefel hinterließen silbrige Abdrücke im taufeuchten Gras. Wenn sie in Kingly Grange war, mußte sie sich ständig beherrschen, um nicht mit ihrer Schwiegermutter zu streiten. Manchmal fragte sie sich, warum sie sich überhaupt Mühe gab.

Im Haus war es eiskalt. Im Gegensatz zu ihrer eigenen Mutter trödelten die Eastgates tagsüber nie herum. Sie wurden von einem puritanischen Schuldbewußtsein angetrieben. Das einzige warme Zimmer war der Wintergarten, wo die schwache Vorfrühlingssonne das Glasdach aufheizte und ein uralter Heizkessel die Eiszapfen schmelzen ließ. Francesca wickelte sich in eine Decke ein und streckte sich, eine Zeitung in der Hand und eine Tasse Kaffee neben sich, auf der Chaiselongue aus. Aber Audreys Worte wollten ihr nicht aus dem Kopf gehen.

Als William vom Tennisplatz zurückkam, sagte sie: «Deine Mutter hat mir wieder in den Ohren gelegen. Sie scheint zu glauben, daß ich keine Kinder will.»

Er blickte betreten drein. «Das habe ich ihr so niemals gesagt. Aber du weißt ja, wie sie ist.»

Francesca lächelte ihn mitfühlend an. «Sie ist eine Tyrannin.»

Er berührte ganz kurz ihre Schulter. «Deshalb habe ich auch eine Frau geheiratet, die das genaue Gegenteil von ihr ist.»

Sie wollte seine Hand nehmen, aber inzwischen hatte er sie schon wieder zurückgezogen.

In jener Nacht drehte sich Francesca in dem knarrenden Bett im Gästezimmer zu William, legte ihm die Arme um den Hals und kuschelte sich an seinen warmen Körper, der sich durch seinen Seidenpyjama schlank und hart anfühlte. «Bin ich frigide?» fragte sie.

«Natürlich nicht.»

«Bist du dir sicher?»

«Was ist das denn für eine komische Frage, Liebling?»

«Du bist mein erster und einziger Mann, wen könnte ich sonst fragen?»

Er zog sie näher an sich. «Schlaf mit mir.»

Sie legte sich auf ihn und bewegte sich rhythmisch vor und zurück, wobei sie ihr Gewicht nicht auf ihm ruhen ließ, sondern mit den Armen abfing, wie er es ihr beigebracht hatte. Ihre Brüste streichelten ihn. Der Crêpe de Chine ihres Nachthemds flüsterte wie eine Liebkosung über seinen Körper. Er streifte einen seidenen Träger von ihrer Schulter und küßte ihre nackte Haut. Dann rollte er ihr Nachthemd langsam nach unten, so daß sie nun von der Taille aufwärts nackt war. Rittlings auf ihm sitzend, bewegte sie sich immer im gleichen Rhythmus, bis er ihre Pobacken mit den Händen packte und seine Finger hineingrub. Als er seinen Höhepunkt erreichte, ritt sie ihn fester, schneller und versuchte dabei verzweifelt, ihre eigene Lust in jenem kurzen Augenblick, bevor er sie aufhalten würde, noch zu befriedigen. Doch er packte sie schon an den Hüften und stöhnte: «Beweg dich nicht!»

Sie verharrte, obwohl jede Faser ihres Körpers danach schrie weiterzumachen.

Ein paar Augenblicke später schob er sie von sich herunter. «Du bist perfekt. Wir sind perfekt.»

Er schlief wie immer rasch ein. Sie hingegen lag wach und starrte die Decke an. Der Schläger hatte doch recht. Sie war frigide. William war nur zu freundlich, um ihr das zu sagen. Sie dachte an Männer, die sich für sie zu interessieren schienen, dann schreckte sie vor diesem Gedanken zurück. Und dies nicht nur, weil sie eine verheiratete Frau war. Während sie lauschte, wie in der Ferne ein Zug durch die schlafende Landschaft ratterte, fragte sie sich, wer sie noch haben wollen würde, falls William sie verließ. Das Zimmer schrie: «Niemand!»

Sie wachte im Morgengrauen auf und konnte nicht mehr einschlafen. Sie dachte an ihre erste Verabredung mit William. Die Referendarstelle in seiner Kanzlei war in den Bar News, der Juristenzeitung, ausgeschrieben worden. Francesca hatte sich wie viele andere ihres Jahrgangs um die Stelle beworben, weil William Eastgate den Ruf eines brillanten Anwalts hatte. Er hatte gemeinsam mit vier seiner Kollegen das Vorstellungsgespräch geführt. Die Sonne, die durch die Fenster schien, hatte auf seinem hellblonden Haar geglänzt. Sie erinnerte sich daran, daß sie damals gedacht hatte, wie gut er mit seinem schmalen Gesicht, seinen grauen Augen und seinen langen, schlanken Fingern doch aussah.

«Referendare sind eine Plage», hatte er hochmütig erklärt. «Aber ich fühle mich dem Inn gegenüber verpflichtet. Von allen Bewerbern scheinen Sie mir am zugänglichsten zu sein. Ich kann mit schwierigen Menschen nicht arbeiten. Versuchen Sie also, mir nicht in die Quere zu kommen.»

Einen Monat lang hatte er kaum ein Wort mit ihr gesprochen. Sie war hinter ihm hergerannt und hatte seine Bücher getragen. Sie hatte für ihn Fundstellen in den Kommentaren nachgeschlagen, die er dann nur selten nutzte, oder Schriftstücke angefertigt, die er kaum zur Kenntnis nahm. Allmählich wünschte sie, daß sie sich einen weniger brillanten Lehrmeister ausgesucht hätte, jemanden, der sich mehr Zeit für sie nahm.

Eines Nachmittags hörte sie, wie William am Telefon sagte: «Ich habe die Karten nur gekauft, weil du hingehen wolltest, Rebecca.» Einen Augenblick später rief er Francesca in sein Büro. «Haben Sie heute abend etwas vor? Nein? Gut. Sie gehen in die Oper. Fahren Sie nach Hause und ziehen Sie sich etwas Passendes an. Wir treffen uns dann im Foyer. Lassen Sie mich nicht warten.»

Während ihrer zweijährigen juristischen Ausbildung hatte Francesca zwar mehrere Freunde gehabt, aber es war nichts Ernstes gewesen. Es hatte sich dabei stets um Mitstudenten gehandelt, die wenig Geld hatten und sie in Pubs oder in billige indische Restaurants ausführten. Sie konnte sie gut leiden, brachte für sie aber nicht die Leidenschaft auf, die sie für ihren ersten Liebhaber empfinden wollte. Als sie nicht mit ihnen schlafen wollte, hatten sie sich Partnerinnen gesucht, die williger waren als sie. Die Oper mit William war ihre erste wirkliche Verabredung, seit sie volljährig geworden war. Als er sie in der Pause fragte, was sie trinken wolle, war sie so nervös, daß sie ihm nicht antworten konnte. Beim Abendessen bestellte er für sie. Er redete. Sie hörte zu und fragte sich dabei die ganze Zeit, wer Rebecca sei.

Am nächsten Morgen bedankte sich Francesca stotternd für den reizenden Abend und hoffte dabei inständig, daß er sie wieder ausführen würde. Mehrere Wochen lang jedoch hielt es William nicht einmal für nötig, ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Dann lud er sie ins Theater ein, wieder in letzter Minute, was in ihr den Verdacht weckte, daß Rebecca ihn wieder einmal versetzt hatte.

Beim Abendessen begann er plötzlich über Rebecca zu sprechen. «Ich habe sie in Ascot kennengelernt», sagte er. «Ihr Exmann besaß ein Rennpferd. Sie trug damals einen Hut mit Schleier. Frauen mit Schleier haben mir schon immer gefallen.»

«Werden Sie sie heiraten?» fragte Francesca unglücklich, während sie sich Rebecca als einen raffinierten Vamp vorstellte.

Er lachte. «Gütiger Himmel, nein! Ich würde einer Frau mit ihrer Vergangenheit niemals trauen. Außerdem würde meine Mutter eine geschiedene Frau nicht akzeptieren. Bei den Eastgates hat es noch nie eine Scheidung gegeben.»

«Meine Eltern haben sich scheiden lassen», erzählte Frankie ihm. «Ich bin fest entschlossen, daß mir das nie passieren wird.»

Er nickte. «Dem stimme ich zu. Die Ehe gilt ein Leben lang.»

Als er das nächstemal mit Francesca essen ging, sagte er: «Ich treffe mich nicht mehr mit Rebecca.»

Francesca hatte vor Hoffnung und Glückseligkeit geglüht.

All das schien so lange her zu sein. Sie warf einen Blick auf William, der neben ihr schlief, und rief sich die Nacht in Erinnerung, in der sie ein Paar geworden waren. Sie war nervös und er geduldig gewesen. Er hatte ihr weh getan, und sie hatte geweint, aber nicht vor Schmerz, sondern weil sie so aufgewühlt gewesen war. Sie erinnerte sich, wie sie am nächsten Morgen aufgewacht war und nicht mehr gewußt hatte, wo sie sich befand. Er hatte ihr eine Tasse Tee ans Bett gebracht. Sie hatte, rot vor Verlegenheit, in seinem Bett gesessen, die Bettdecke bis unters Kinn hochgezogen, während er ruhig neben ihr gelegen und die Financial Times gelesen hatte. Schon am folgenden Wochenende hatte er sie nach Kingly mitgenommen, damit seine Eltern sie kennenlernten. Neun Monate später hatten sie geheiratet. Sie war so verliebt in ihn gewesen – wenigstens hatte sie das geglaubt. Daß jemand wie William Eastgate sie wollte, hatte sie außerordentlich glücklich gemacht.

Plötzlich wurde sie von einer quälenden Woge der Einsamkeit überrollt, die ihr Tränen in die Augen steigen ließ. Sie wischte sie weg, stand rasch auf und eilte durch das kalte Haus ins Badezimmer.

Beim Frühstück wirkte sie deprimiert. William äußerte sich nicht dazu. Aber als sie die Teller abräumte, nahm er sie in die Arme und drückte sie an sich. «Die Leute beneiden uns doch nur, weil es uns so gutgeht», sagte er. «Sie suchen nach Unstimmigkeiten. Hör einfach nicht auf sie.»

Sie lehnte sich an ihn, genoß die Wärme seines Körpers, die sie durch seinen dicken Pullover spürte, und war dabei glücklicher, als sie es seit Monaten gewesen war.

«Du darfst nicht immer alles so schwer nehmen.» Er strich ihr übers Haar. «Neulich beim Abendessen hast du kaum ein Wort gesagt.»

Sie versteifte sich angesichts seiner Kritik. «Tut mir leid, daß es so auffällig war.»

«Mach einfach mehr Small talk. Das wirst du dir ohnehin angewöhnen müssen, wenn ich erst einmal Richter bin. Wir werden dann ständig Gäste haben.» Er küßte sie auf die Stirn, als wäre sie ein Kind.

Sie wollte sagen: «Wenn du mich in der Küche nicht so abgekanzelt hättest, wäre ich vielleicht gesprächiger gewesen.» Aber sie wollte sich nicht schon wieder mit ihm streiten.

Zum Mittagessen am Sonntag fuhren sie zu ihrer Mutter und ihrem Stiefvater. Francesca saß am Steuer. Das tat sie fast immer, damit William hinten sitzen und arbeiten konnte. Zumindest behaupteten sie das beide. In Wirklichkeit war sie die bessere Autofahrerin, obwohl das niemals ausgesprochen wurde. Sie liebte die Kraft des großen BMW. Um möglichst schnell vom Haus der Eastgates wegzukommen, beschleunigte sie so stark, daß ihrer Schwiegermutter feuchter Kies entgegenspritzte.

White Oast war ein reizendes ehemaliges Trockenhaus, das aus dem warmen, abgerundeten Flint aus Sussex erbaut worden war. Es stand am Rande des Dorfes Rockhurst, das in den grünen, hügeligen Feldern und sanften Wäldern im Süden von Tunbridge Wells lag. Bis zur Jahrhundertwende war in dem Trockenhaus Hopfen gedarrt worden. Mittlerweile hatte man die Hopfenfelder in einen Golfplatz verwandelt, und der runde Darreraum diente Steven als Arbeitszimmer.

Francesca war zehn Jahre alt gewesen, als sie zum erstenmal dort gewesen war. Sie hatte ihr einziges feines Kleid aus rotem Samt mit einem steifen Spitzenkragen und ihr einziges Paar guter Schuhe getragen. Es waren Schnallenschuhe von Clarks in der Kensington High Street gewesen. Das Haus hatte damals einen recht förmlichen Eindruck auf sie gemacht – das Heim eines sorgsamen Witwers. Der Garten war konventionell angelegt gewesen. Damals hatten ihn noch nicht die wunderschönen Arrangements von blauem Rittersporn und hellrosa Lupinen geziert, die erst ihre Mutter gepflanzt hatte.

Aber am deutlichsten erinnerte sich Francesca an den Abend vor jenem ersten Besuch. Ihre Mutter hatte ihr gesagt: «Wir fahren morgen aufs Land, um bei Mr. Hartington zu wohnen, dem Anwalt, der mir bei meiner Scheidung geholfen hat. Er hat einen Sohn, der Robert heißt und ungefähr zehn Jahre älter ist als du. Roberts Mami ist bei einem Autounfall umgekommen. Ich möchte, daß du besonders brav bist, weil Steven … weil Mr. Hartington dein neuer Daddy werden wird.»

«Aber ich habe einen Dad.»

Ihre Mutter nahm sie fest in die Arme. «Frankie, uns beiden zuliebe darfst du nicht mehr über ihn sprechen. Und du darfst in unserem neuen Leben auch nicht über Greyhounds, Glücksspiele oder Karten sprechen. Die Leute werden uns nicht mögen, wenn du das tust.»

Zu dieser Zeit wohnten sie in einer kleinen, trübseligen Wohnung in der Nähe von Shepherd’s Bush. Ihre Mutter arbeitete in einem Bekleidungsgeschäft. Francesca ging in die Schule am Ort. Außer Madame Natascha, einer älteren russischen Emigrantin, die in verfallender Vornehmheit über ihnen wohnte, kannte Frankie niemanden. Jeden Tag nach der Schule, wenn ihre Mutter noch zur Arbeit war, stieg Francesca die kahle Treppe zu Madame Nataschas Wohnung hinauf, um dort ihre Hausaufgaben zu machen. Verglichen mit dem aufregenden Leben, das sie bei ihrem Vater gehabt hatte, und dem geschäftigen Treiben auf der Hunderennbahn war dies ein einsames Leben für sie gewesen.

In jener Nacht vor ihrem Besuch in White Oast hatte Francesca wach gelegen und gelauscht, wie ihre Mutter im anderen Zimmer leise umherging. Schließlich war sie, angelockt durch das Licht, das immer noch unter der Tür hindurchschien, aufgestanden. Sie hatte die Klinke heruntergedrückt und die Tür geöffnet, da sie mehr über diesen Fremden erfahren wollte, der ihr Vater werden sollte. Ihre Mutter hatte nicht gehört, daß sie die Tür geöffnet hatte. Sie lag auf dem Sofa und weinte leise in ein Kissen.

Als Francesca und William die Auffahrt von White Oast hinauffuhren, trat ihre Mutter aus der Terrassentür. Dominique Hartington, eine elegante Frau mit blonden Strähnen im ergrauenden Haar, hatte einen gewissen Schick, der sie irgendwie unenglisch aussehen ließ. Francescas Großmutter war Französin gewesen, und obwohl Dominique fast ihr ganzes Leben in England zugebracht hatte und die Sprache dieses Landes völlig akzentfrei sprach, fiel jedem sofort auf, daß sie keine Einheimische war. Es lag an ihrem Gang, an ihren Gesten und an der Art und Weise, wie sie mit Männern umging.

«Ich bin so froh, daß du gekommen bist, William.» Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. «Du weißt immer das Richtige zu sagen. Der arme Steven braucht dringend Unterstützung. Der Pfarrer langweilt ihn wegen des Kirchturms, deshalb möchte ich ihn nicht auch noch zum Mittagessen einladen müssen.» Sie entließ William mit einer Handbewegung in Richtung Haus und wandte sich Francesca zu, um sie auf die Wange zu küssen. «Gehen wir ein bißchen im Garten spazieren. Wir können uns doch so selten ungestört miteinander unterhalten.»

«Worüber möchtest du mit mir sprechen?» Francesca versuchte, nicht gezwungen zu klingen.

«Ach, über alles und nichts.»

Sie folgten dem Kiesweg zwischen den Rosenbeeten und den Beeten mit den Küchenkräutern. Aus der sauber beschnittenen Buchsbaumhecke strömte ein pfeffriger Geruch. Jeder Baum, jede Pflanze, jeder Strauch stand kurz vor dem Austreiben. In den geschlossenen Knospen schimmerte bereits ein blasses Grün. Das Leben wartete darauf hervorzubrechen. Ebendiesen Weg war Francesca bei ihrem ersten Besuch in White Oast entlanggegangen, ein einsames kleines Mädchen, das über den knirschenden, feuchten Kies schlenderte, während sich ihre Mutter drinnen im Haus mit einem komischen, kleinen Mann mit Backenbart unterhielt, der wie ein ältlicher Hamster aussah.

«Du siehst erschöpft aus», sagte ihre Mutter. «Ich wünschte, du würdest einmal ein ganzes Wochenende bei uns verbringen und nicht nur zum Mittagessen bleiben. Und ich wünschte, du würdest einmal allein kommen und dich von mir verwöhnen lassen. Wir waren uns so nah, als du noch klein warst. Jetzt kommt es mir manchmal so vor, als spräche ich mit einer Fremden, nicht mit meiner Tochter.»

Francesca wollte nicht über die Vergangenheit reden. Sie befürchtete, daß dann auch andere Dinge zur Sprache kämen, Dinge, denen sie sich noch nicht stellen wollte.

Ihre Mutter fuhr fort: «Ich habe erst heute morgen mit Pater John gesprochen. Er sagt, daß es eine Sünde ist, wenn man nach der Scheidung wieder heiratet, und daß du mir das niemals vergeben hättest. Stimmt das? Aber wir waren doch völlig mittellos. Steven hat mir Liebe und Sicherheit geboten.»

Francesca verdrehte die Augen. «Mutter, an Sonntagen kriegst du immer den Moralischen.»

«Ich weiß. Aber ich kann einfach nichts dagegen machen.»

«Dann gib nicht mir die Schuld daran. Und auch nicht Steven. Er war immer gut zu mir. Er hat mich auf eine teure Privatschule geschickt, hat mich ermutigt, Juristin zu werden. Er hat sogar meinen Sprechunterricht bezahlt, damit ich meinen, wie er es nannte, groben Akzent loswerde.» Sie zögerte. «Warum fängst du jetzt davon an? Du mußt doch einen Grund dafür haben.»

«Weil du unglücklich bist und ich mir dafür die Schuld gebe», sagte ihre Mutter traurig. «Liegt es an William? Ich war immer der Meinung, daß er zu alt für dich ist. Du hast ihn nur geheiratet, weil du eine Vaterfigur gesucht hast.»

«Mutter! Bitte! Ich bin müde, ich arbeite hart. William ebenfalls. Wir haben einfach nicht so viel Zeit füreinander, wie wir gerne hätten. Das ist alles.»

«Bei meiner Frankie kann man sich immer darauf verlassen, daß sie vor ihren Problemen die Augen verschließt. Aber du mußt praktisch denken, Liebling. Ist das Haus auf deinen Namen eingetragen?»

«Wovon redest du überhaupt?»

«Von dir und William natürlich.»

«Ach, um Himmels willen! In der einen Minute hast du Angst vor dem Höllenfeuer, und in der nächsten berechnest du Unterhaltszahlungen. Mit meiner Ehe ist alles in Ordnung!»

«Und selbst wenn es nicht so wäre, wärst du viel zu halsstarrig, um es zuzugeben. Genau wie dein Vater!»

Francesca zog sich zurück. «Ich bin nicht wie mein Vater! Er ist ein Trinker und Spieler.»

Kapitel 3

FRANCESCA SASS VORN IM GERICHTSSAAL UND HÖRTE zu, wie die Anklage ihre Beweise im Fall Krone gegen Lex Gunter vortrug. Sie saß seitlich vom Richtertisch. Die Falten ihrer schwarzen Robe waren wie Schwingen um ihren Körper drapiert und reichten ihr bis zu den Knien. Stirnrunzelnd machte sie sich eine Notiz, rückte ihre Perücke zurecht und saugte dann an ihrem Stift. Hinter ihr flüsterte Atterbury seinem Anwaltsgehilfen etwas zu. Gunter saß auf der Anklagebank. Er trug, wie sie ihm geraten hatte, einen dunkelgrauen Anzug. Trotzdem sah er immer noch aus wie jemand, der am Sonntagnachmittag alten Damen die Handtasche entreißt.

Sie hatte die Geschworenen sorgfältig überprüft, wobei sie zwei ehemalige Colonels von der harten Sorte und einen aristokratischen Weltverbesserer abgelehnt hatte. Der Rest war harmlos. Zwölf Männer und Frauen, redlich und treu, die so aufrecht auf der Geschworenenbank saßen, als befänden sie sich in der Kirche. Von Zeit zu Zeit warfen sie Gunter einen Blick zu und verzogen mißbilligend den Mund.

Sie fragte sich, wie Marius Charlwood jetzt wohl aussehen mochte. Es waren so viele Jahre vergangen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Würde er sie erkennen? Wußte er überhaupt, daß sie Anwältin geworden war? Sie wünschte sich sehnlich, daß der Fall schon entschieden wäre. Sie wünschte sich, daß sie nicht gleich ihrer Kindheit von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten müßte.

Der Vertreter der Anklage war in voller Fahrt. Seine Stimme dröhnte durch den Gerichtssaal. «Es handelt sich hier um die verwerfliche Tat eines mißratenen jungen Mannes, der sich widerrechtlich Zugang zum Grundstück eines alten Mannes verschafft hat, ihn bedroht und dann auch noch tätlich angegriffen hat», erklärte er den Geschworenen. «Ich werde Fotografien von den Verletzungen des Opfers vorlegen, ein Attest des Arztes, der es behandelt hat, und eine Erklärung des Polizisten, der an den Tatort gerufen wurde. Zuerst aber werde ich das Opfer dieser grundlosen Gewaltanwendung in den Zeugenstand rufen. Mr. Marius Charlwood.»

Hinten im Gerichtssaal gab es ein Geräusch. Feste Schritte kamen den Mittelgang zwischen den Holzbänken entlang nach vorn. Francesca versuchte zwar, nicht den Kopf zu wenden, aber sie konnte nicht anders: Sie mußte einfach hinsehen. Ein kompakter, agiler Mann kam auf sie zu. Sein weißes Haar war kurz; es sah aus, als ließe er sich gerade einen Bürstenschnitt herauswachsen. Er hatte ein wettergegerbtes Gesicht, strahlendblaue Augen und einen Ziegenbart. Er ging direkt an ihr vorbei und zuckte mit keiner Wimper, als er ihrem Blick begegnete. Aber schließlich trug sie ja auch eine Perücke.

Er nahm die Bibel in die rechte Hand und las mit lauter, aber ein wenig heiserer Stimme: «Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen, daß ich die Wahrheit sagen werde, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.»

Der Vertreter der Anklage sagte überaus freundlich: «Mr. Charlwood, Sie sind der Eigentümer des Richmond Greyhound Racing Stadium?»

«Das ist richtig. Und niemand wird es schaffen, mich so einzuschüchtern, daß ich es verkaufe. Und wenn sie mich umbringen.» Er starrte Gunter durch den Gerichtssaal böse an.

«Schildern Sie uns bitte in Ihren eigenen Worten, was in der fraglichen Nacht geschehen ist.»

«Also, es war so.» Der alte Mann legte seine Hände auf den Rand des Zeugenstandes und spreizte seine knotigen Finger. «Ich war allein im Haus und habe ferngesehen, da hörte ich ein Geräusch. Also ging ich nach draußen und rief: ‹Ist da jemand?› Dann kam dieser Kerl aus dem Schatten. Er hatte eine Holzlatte in der Hand, die er offenbar aus dem Zaun herausgebrochen hatte. Ich ging nicht gleich vom Schlimmsten aus und sagte: ‹Leg das weg, mein Sohn, und wir vergessen die Sache.› Er ist nicht der erste junge Rüpel, den ich im Stadion erwischt habe, aber ich rede immer vernünftig mit ihnen. Ich sage ihnen, daß das hier keine Generalprobe für das Leben ist, sondern das Leben selbst. Sie sollten es nicht im Gefängnis verschwenden. Den Burschen, der mich heute hierhergefahren hat, hab ich vor ein oder zwei Jahren dabei erwischt, wie er Bleirohre stehlen wollte.»

«Sehr lobenswert, Mr. Charlwood», sagte der Richter. «Aber was ist dann geschehen?»

«Er hat mich geschlagen. Immer wieder. Dabei hat er kein einziges Wort gesagt, so als hätte ihn jemand dafür bezahlt, mich zusammenzuschlagen. Da wußte ich, daß dieser Abschaum einer von ihnen sein mußte.»

«Einer von wem?»

«Marmintoll. Sie terrorisieren mich schon die ganze Zeit, damit ich die Rennbahn verkaufe, weil sie dort noch mehr verdammte Häuser hinbauen wollen.»

Er hatte diesen Satz kaum beendet, als Atterbury Francesca schnell eine Notiz in die Hand drückte. «Erheben Sie sofort Einspruch. Marmintoll terrorisiert niemanden.»

Sie stand auf, wobei sie sich insgeheim verfluchte, weil sie den Fall nicht abgegeben hatte. Selbst jetzt hätte sie noch sagen können: «Euer Ehren, ich stelle fest, daß ich befangen bin.» Aber wenn sie das täte, wäre William fuchsteufelswild. «Euer Ehren», begann sie. «Marmintoll ist eine angesehene Londoner Firma. Es gibt keinen Beweis dafür, daß sie versucht hat, den Zeugen einzuschüchtern.»

Noch bevor ihr der Richter antworten konnte, sagte Marius Charlwood: «Sie haben mich aufgefordert zu schwören, daß ich die Wahrheit sage, und genau das tue ich. Marmintoll will mein Land. Zuerst haben sie mir noch Geld geboten. Dann haben sie mir den da geschickt.» Er zeigte auf Gunter. «Ich bin fünfundsiebzig, aber ich kann immer noch das, was mir gehört, verteidigen. Komm du noch einmal in mein Stadion, Bürschchen, dann können sie dein Begräbnis ausrichten. Ich bin jetzt nämlich nicht mehr allein.» Er setzte sich schwerfällig hin. «Ich nehme an, daß ich meine Pfeife hier drin nicht rauchen darf?»

«Nein, das dürfen Sie nicht!» Der Richter verbarg ein Lächeln hinter vorgehaltener Hand.

Francescas Aufgabe würde nicht leicht werden. Die Geschworenen fraßen Marius Charlwood schon jetzt aus der Hand. Er war ein menschliches Wesen, das von einer anonymen Firma tyrannisiert wurde, er symbolisierte das Alter, das von der Jugend mißhandelt wurde. Sie spürte, wie ihr jemand auf die Schulter tippte. Man reichte ihr eine Notiz von Gunter. Sie sind nicht nur ein frigides Miststück, sondern auch ein verdammt nutzloses.

Jetzt war sie an der Reihe, den Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen. Sie trat auf ihn zu. «Mr. Charlwood.» Er blickte auf. Einen Augenblick lang dachte sie, er hätte sie erkannt. «Entspricht es den Tatsachen, daß Sie früher den Namen Mark Wood führten?»

Er starrte sie erstaunt an.

«Und daß Sie unter diesem Namen ohne Konzession einen Spielsalon betrieben haben?»

«Nun … ich … was hat das mit der Sache hier zu tun?»

«Ich wollte lediglich Ihre Referenzen überprüfen.»

Die Vertretung der Anklage erhob heftig Einspruch. Francesca hatte ihr Ziel jedoch erreicht. Die Geschworenen sahen Marius Charlwood jetzt zweifelnd an.

Der alte Mann sprach mit ruhiger Stimme. «Das ist jetzt schon fast dreißig Jahre her. Ich glaube nicht, daß in diesem Raum jemand sitzt, der im Leben nie etwas getan hat, was er lieber vergessen würde. Bei uns allen ist das so. Selbst bei einem Richter. Selbst bei einer Anwältin.» Er verließ den Zeugenstand. «Vergessen Sie den Fall. Ich gehe nach Hause. Das hier hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Ich bin als Zeuge gekommen, aber ich werde von Ihnen wie ein Verbrecher behandelt.»

«Mr. Charlwood, setzen Sie sich!» befahl der Richter.

«Ich bin krank.»

«Dann sollten Sie um eine Vertagung bitten.»

«Ich bitte darum.»

Der Fall wurde um drei Wochen vertagt. Sobald der Richter den Raum verlassen hatte, eilte Marius Charlwood hinaus. Francesca erhob sich, um ihm zu folgen, wurde aber von Atterbury aufgehalten, der sie beglückwünschen wollte. Als sie schließlich den überfüllten Flur erreicht hatte, war der alte Mann längst verschwunden. Sie sank auf eine Bank in einer Fensternische in der Nähe der Treppe, nahm ihre Perücke ab und schüttelte ihr Haar. Sie kam sich schmutzig vor.

«Sie haben Mumm, Lady», sagte Gunter. «Ich schulde Ihnen ’nen Drink.»

Sie sah ihn voller Abscheu an und empfand auch vor sich selbst Abscheu.

Eine Seitentür öffnete sich, und Marius Charlwood kam in den Flur. «Ich weiß nicht, wer Sie sind oder woher Sie Ihre Informationen haben», sagte er zu Francesca, «aber Sie sollten sich schämen, daß Sie einen solchen Abschaum verteidigen.»

Francesca wollte sagen, daß es ihr leid tue. Sie wollte erklären, daß sie der Meinung gewesen sei, ihre Pflicht gegenüber ihrem Mandanten habe die Art und Weise, wie sie ihn als Zeugen in Mißkredit gebracht hatte, gerechtfertigt, und daß sie erst jetzt erkannt habe, wie falsch das gewesen sei. Bevor sie jedoch ihre Worte formulieren konnte, war er schon mit steifem Schritt den Korridor hinuntergegangen und hatte seinen Blick suchend zwischen den Leuten umherschweifen lassen, als erwartete er jemanden. Als er die Treppe zum Ausgang erreichte, kam ihm, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, ein kräftiger, schwarzhaariger Mann entgegen. Er überragte Marius um mehr als einen Kopf.

«Tut mir leid, daß ich so spät dran bin», sagte der Mann mit einer Stimme, die nach langen Nächten und verrauchten Kneipen klang. Sein Akzent verriet, daß er aus dem East End stammte. «Ist es vorbei? Du siehst schlecht aus.»

«Jetzt, wo du hier bist, geht es mir schon besser, Jack.» Marius Charlwood senkte die Stimme, und der Fremde beugte sich zu ihm herunter, um zuzuhören. Dann drehte er sich um und sah Francesca und Gunter an.

Er war nicht wirklich gutaussehend, nicht so wie William. Seine Wangenknochen waren zu ausgeprägt. Sein Kiefer war hart. Seine Augen waren von einem strahlenden Blau, wurden aber von schweren Lidern fast verdeckt. Irgendwie sah er knallhart aus. Und er war wohl auch knallhart. Er strahlte Kraft aus, doch wenn er lächelte, verströmte er einen jungenhaften, unbußfertigen Charme. Sein Haar war so schwarz, daß es fast schon blau erschien. Eine schelmische Locke fiel ihm in die Augen und verfing sich in seinen Wimpern. Er warf sie zurück und beugte sich wieder zu Marius hinunter, während sein Gesicht vor Mitgefühl mit dem alten Mann ganz weich wurde.

Für Francesca und Gunter hatte er jedoch nichts als Abscheu übrig. «Die Feinde meiner Freunde pflege ich nicht zu vergessen», sagte er mit einer Eloquenz, die im Widerspruch zu seinem Akzent stand. Dann nahm er Marius beim Arm und führte ihn behutsam die Treppe hinunter.