Schau niemals zurück - Diana Stainforth - E-Book

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Diana Stainforth

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Beschreibung

Für Anna erfüllt sich ein lang gehegter Traum: Sie und Charly kaufen eine malerische Stadtvilla in London. Doch da bricht die Rezession über die City herein. Beide verlieren ihre hoch dotierten Jobs, und Charly macht sich aus dem Staub. Sie bleibt mit der Verantwortung für das ungeborene Kind allein zurück. Aber Anna ist eine Kämpferin ...

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Diana Stainforth

Schau niemals zurück

Aus dem Englischen von Uta Rupprecht

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Für Anna erfüllt sich ein lang gehegter Traum: Sie und Charly kaufen eine malerische Stadtvilla in London. Doch da bricht die Rezession über die City herein. Beide verlieren ihre hoch dotierten Jobs, und Charly macht sich aus dem Staub. Sie bleibt mit der Verantwortung für das ungeborene Kind allein zurück. Aber Anna ist eine Kämpferin ...

Über Diana Stainforth

Diana Stainforth, geboren in Oundle/Northamptonshire, verbrachte nach dem Schulabschluss mehrere Jahre in Italien, Spanien und Südafrika. Sie kehrte nach England zurück, arbeitete zunächst als Innenarchitektin und später als Assistentin der Schriftstellerin Rebecca West, bevor sie selbst zu schreiben begann.

Inhaltsübersicht

DanksagungenKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42

Danksagungen

Viele Menschen haben ihre Zeit geopfert, um mir bei den Recherchen für dieses Buch behilflich zu sein. Ihr Fachwissen und ihre Erfahrungen machen meine Geschichte glaubwürdig, und ich bin ihnen sehr dankbar.

Besonderen Dank schulde ich John Page und Julia Schulze bei Lloyd’s und Peter Clark von C. Claims, die mir Einblick in das Schiffsversicherungswesen gaben.

Ich danke John Pennefather, David Stancomb, Bill Dineen von Southern Motorboats und Peter Raymond, die mich von ihrem Wissen und ihrer Liebe zu Booten und zum Segeln profitieren ließen.

Dankbar bin ich auch Constable Ian Hill, Nachrichtenoffizier der Marine, für Informationen über Kriminalität im Bereich der Seefahrt.

Mein Dank gilt zudem Hilary Peake, die mich durch Melbourne geführt hat, Mark Schubin und Karen McLaughlin, meinen Fremdenführern auf Rhode Island, Sue Brown für ihre Führung über die Isle of Wight, Moyra McGhie für ihre Einblicke in das Immobiliengeschäft, Tanja Klijn, der Pressereferentin des Rotterdam Hilton, und Raymond Levine für seine Gastfreundschaft in «Belworth».

Außerdem danke ich Judith Baldwin für ihr gutgelauntes Tippen.

Schließlich möchte ich mich noch bei meiner Agentin Gill Coleridge bedanken, für ihre ausdauernde Unterstützung und Ermutigung – und für ihr Segel-Fachwissen.

Diana Stainforth

London

4. Januar 1994

Kapitel 1

London – Juni 1988

BIS ZU DEM TAG, AN DEM SIE DAS HAUS AM LADBROKE HILL kauften, befürchtete Anna, Charlie könne einen Rückzieher machen. Noch heute morgen, im Taxi auf dem Weg zum Notar, hatte er plötzlich von Melbourne zu reden begonnen. Dabei schwang jener heimwehkranke Tonfall mit, den sie insgeheim immer als Warnung verstand: Wenn er wolle, könne er jederzeit und ohne weiteres nach Australien zurückgehen.

Anna stand auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes und sah hinüber auf ihr neues Haus: ihr erstes gemeinsames Zuhause. Sie wünschte sich, Charlie wäre mitgekommen, aber er hatte es eilig gehabt, ins Büro zu fahren. Jetzt dürften sie keine Zeit mehr verschwenden, hatte er gesagt, vor allem, nachdem sie nun einen so hohen Hypothekenkredit abzahlen mußten. Er fand sie sentimental; erst gestern hätten sie das Haus zuletzt gesehen, heute abend würden sie es noch einmal besichtigen und am Wochenende auch. Aber Anna hatte den Wunsch verspürt, es heute vormittag zu besuchen, denn jetzt gehörte es ihnen.

Ladbroke Hill war eine Oase der Ruhe, die einige Minuten zu Fuß von dem breiten, geschäftigen Strom der Ladbroke Grove entfernt lag. In der Mitte des fast dreieckigen Platzes, der von fünfzehn Häusern umrahmt wurde, befand sich ein kleiner Park mit zwei cremefarben blühenden Kastanienbäumen und einer hölzernen Bank. Sämtliche umstehenden Häuser waren paarweise aneinandergebaut, nur ihres ragte allein über den bunt gestrichenen Hausreihen auf, die sich in Richtung Portobello mit seinem lebhaften Straßenmarkt den Hügel hinunterzogen. Anna hatte sich auf den ersten Blick in das Haus verliebt. Es erinnerte sie an Cliff Cottage, und das auf und ab brandende Treiben der Leute auf dem Markt glich in gewisser Weise Ebbe und Flut am Strand der Belworth Cove. Aber nicht nur die nostalgische Sehnsucht nach dem einst geliebten Haus hatte sie magisch angezogen. Ladbroke Hill weckte Erinnerungen an eine Zeit, als sie sich glücklich und sicher fühlte – ehe alles aus der Bahn geraten war.

Die Sonne war bereits ziemlich heiß und brannte Anna auf die Kopfhaut an ihrem Scheitel. Dick, weich und glatt wie ein Vorhang hing ihr das Haar auf die Schultern, von den Locken, die sie heute morgen eingedreht hatte, war keine Spur mehr zu sehen. Anna schob sich die Haare hinter die Ohren und überquerte die Straße.

Selbst an diesem strahlenden Junimorgen hatte das Haus etwas bezaubernd Geheimnisvolles. Im vorigen Jahrhundert war es neben der Pferderennbahn am Rand von Notting Barn und Portobello Farms erbaut worden. Vor den Blicken der Vorübergehenden schützte es eine hohe, mit Efeu überwachsene Mauer, und diese wurde von einer alten Eibe beschattet, deren oberster Ast letzten Herbst dem Sturm zum Opfer gefallen war. Das Haus war zwar dringend renovierungsbedürftig, dennoch strahlte es mit seiner geschwungenen Treppe, die zu dem großen, mit Bögen und Säulen versehenen Vorbau hinaufführte, und den trotz der gesprungenen Scheiben elegant wirkenden hohen Fenstern mit fächerförmigen Oberlichten eine klassische Schönheit aus.

Anna stöckelte die halbmondförmige Auffahrt hinauf und stolperte dabei über die Efeuranken, die den Kiesweg überwucherten. An der Treppe blieb sie stehen, um sich die Erde von den hohen Schuhen zu wischen. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und streifte mit dem Ärmel ihres teuren weißen Leinenkostüms die schmutzige Mauer. Charlie hatte recht gehabt. Es war albern von ihr gewesen herzukommen.

Aber nachdem sie nun schon einmal da war, konnte sie nicht gehen, ohne das Haus wenigstens betreten zu haben. Ihr Schlüssel knirschte im Schloß, und sie mußte die Tür mit der Schulter aufstemmen. In den Räumen befanden sich weder Teppiche noch Möbel. Nur ein Haufen Reklamesendungen lag auf den rohen Holzbrettern des Dielenfußbodens, und in der warmen, abgestandenen Luft tanzten Staubkörnchen. Doch selbst in diesem heruntergekommenen Zustand fand Anna das Haus schön.

Die Räume auf beiden Seiten des Hauses waren identisch. In der Mitte schwang sich eine freitragende Wendeltreppe hinauf bis ins Speichergeschoß, und jede Tür, jeder Fensterstock war von feinen Stukkaturen umgeben. In ihrer Vorstellung sah sie das Haus frischgestrichen und vollständig eingerichtet vor sich und sich selbst, wie sie in einem tief dekolletierten Abendkleid die Treppe herunterschwebte, während Charlie, im Abendanzug, in der Diele auf und ab marschierte und auf seine Armbanduhr klopfte, weil sie ihn hatte warten lassen.

Anna machte die Tür zu ihrer Rechten auf, die in das ehemalige Arbeitszimmer führte, durch dessen holzgetäfelte Doppeltür man ins Eßzimmer gelangte. Von dort aus öffneten sich Terrassentüren auf einen schmiedeeisernen Balkon über dem dschungelartig zugewachsenen Garten, in dem Geißblatt und Efeu um Sonnenlicht kämpften. Hinter dem Eßzimmer, über den Stufen zum Garten, befand sich ein hübsches Morgenzimmer mit rundem Grundriß – oder, genauer gesagt, hatte sich befunden, bis Miss Elismore, die von Arthritis geplagte alte Dame, der das Haus während der letzten dreißig Jahre gehört hatte, es in ein Badezimmer und eine Küche aufteilen ließ, weil sie gezwungen war, die beiden oberen Stockwerke zu vermieten.

Anna konnte es kaum erwarten, bis das Haus wieder im alten Glanz erstrahlte. Xavier Benites-Macdonald, ihr Architekt, hatte ihnen gesagt, hunderttausend Pfund müßten sie schon hineinstecken, aber dann hätten sie ein Haus, auf das sie stolz sein könnten. Anna war bereits jetzt stolz darauf.

Als sie die Balkontüren aufmachte, hörte sie aus dem Kellergeschoß Glenn Millers Chattanooga Choo-Choo. Sie kannte die Melodie gut, es war eines der Lieblingsstücke ihrer Großmutter. Anna trat an die Brüstung und spähte nach unten, direkt in die kleinen, feindseligen Augen von Mr. Shufflebuck, ihrem Mieter. Ausgestreckt lag er auf einem grün-weiß gestreiften Liegestuhl und sah mit seinem schmalen, in weißen Flanell gehüllten Körper ganz so aus, als posiere er für das Reklamefoto einer Kreuzfahrt. Auf einem Stuhl neben ihm befand sich eine große orangerote Katze.

«Vermutlich werden Sie mir nicht mehr erlauben, im Garten zu sitzen, wie das Miss Elismore getan hat», sagte er und schürzte die Lippen wie ein zorniger, alter Kobold.

Trotz seiner Unfreundlichkeit empfand Anna Mitleid mit ihm. «Wir müssen an dem Haus einiges reparieren lassen und werden erst in einigen Monaten einziehen, daher können Sie den Garten vorläufig gern weiter benutzen», antwortete sie höflich.

«Es ist einfach ungerecht.» Er setzte sich auf. «Miss Elismore hat ihrem Neffen gesagt, ich könne für den Rest meines Lebens ungestört hier wohnen. Das hat sie nicht in ihr Testament geschrieben, weil sie ihm vertraut hat.» Er stand auf und verschwand im Keller.

Anna seufzte. Charlie hatte recht; je eher sie Mr. Shufflebuck mit einer Abfindung kündigten, desto besser, selbst wenn es bedeutete, daß sie ihren Kredit erhöhen mußten.

Sie holte den Kompaktpuder aus der Handtasche und überprüfte ihr Make-up. Ihr Gesicht wurde von manchen Leuten herzförmig und von anderen kantig genannt. Heute wirkte es herzförmig, weil sie glücklich war. Sie hielt den Spiegel näher, um ein Staubkörnchen von einer ihrer langen Wimpern zu pflücken. Dann erneuerte sie ihre Wimperntusche, die eine Spur Türkis enthielt, um die Farbe ihrer Augen zu betonen. Ihre Augen waren das Schönste an ihr – zumindest behauptete das Charlie. Es war das erste Kompliment gewesen, das er ihr gemacht hatte. An seinem ersten Tag bei Marinecover war er in ihr Büro gekommen und hatte in seinem gedehnten australischen Akzent gesagt, ihre Augen weckten in ihm das Heimweh nach dem Meer vor Wilson’s Promontory.

Plötzlich merkte Anna, wie spät es war. Statt der geplanten fünf Minuten hatte sie eine volle Stunde im Haus verbracht. Eilig ging sie hinaus, schloß ab und lief die Treppe zur Auffahrt hinunter. Dabei spürte sie, daß Mr. Shufflebuck sie durch seine Stores beobachtete.

«Sie können mich nicht zwingen auszuziehen!» schrie er durch seine offenstehende Wohnungstür. «Ich kenne meine Rechte.»

Sie blieb stehen und trat auf ihn zu. «Es tut mir leid, daß Sie Unannehmlichkeiten haben, aber wenn wir das Haus nicht gekauft hätten, hätte es jemand anders getan.»

«Das ist nicht bloß ein Haus, es ist mein Zuhause.» Er hielt sich die Hände vors Gesicht, damit sie seine Tränen nicht sah.

Seine Verzweiflung erinnerte Anna wieder an Cliff Cottage, an den Tag, als die neuen Besitzer einzogen. Sie hätte ihm gern erklärt, wie gut sie ihn verstehen konnte. Auch sie hatte einmal weinend dagestanden und gesagt: «Das ist mein Zuhause.» Doch ehe ihr etwas Passendes einfiel, verschwand er in seiner Wohnung und zog die Tür hinter sich zu.

Seufzend drehte sie sich um und ging über den Kiesweg davon.

Kapitel 2

ALS ANNA AUS DEM TAXI STIEG UND DAS MARINECOVER-GEBÄUDE mit seiner glänzenden Fassade aus Glas und Chrom betrat, hatte sie Mr. Shufflebuck längst in eine der hintersten Ecken ihres Gehirns geschoben. Statt dessen dachte sie an die Arbeit, die sich in ihrem Eingangskorb häufte.

«Ihren Ausweis muß ich ja nicht überprüfen, Miss Tobias», sagte Mr. Hawthorn, der uniformierte Pförtner.

«Das glaube ich auch nicht, schließlich werden es nächste Woche sieben Jahre, die ich hier arbeite.» Sie lächelte ihm zu, während sie zum Lift ging.

Der Aufzug brachte sie in den zehnten Stock. Dort trat sie hinaus in den Empfangsbereich, der in gedecktem Marineblau gehalten war. Gordon Routlish, der geschäftsführende Direktor der gesamten Marinecover-Versicherungsgruppe und Annas direkter Vorgesetzter, war der Meinung, für das Büro einer Schiffsversicherung komme nichts anderes als Blau in Frage, damit die Angestellten immer daran erinnert wurden, daß sie es mit dem Meer, dem unkontrollierbarsten aller Risiken, zu tun hatten.

Judy, die zierliche Empfangsdame mit den kastanienbraunen Haaren, saß an ihrem ovalen Schreibtisch und war gleichzeitig damit beschäftigt, den Lieferschein für ein Paket zu unterschreiben, Informationen an ihrem Computer aufzurufen und eine telefonische Anfrage zu beantworten.

«Anrufe für Sie!» rief sie Anna zu, als sie das Telefongespräch beendet hatte, und deutete auf eine der Klemmtafeln, die auf der Vorderseite des Schreibtischs lagen.

«Hat denn Elaine meine Gespräche nicht angenommen?»

Judy verdrehte die großen braunen Augen.

«Sie wollen doch nicht sagen, daß sie wieder zu spät gekommen ist?»

«Um elf.»

Das Telefon klingelte. Judy antwortete mit: «Marinecover, guten Morgen. Könnten Sie bitte einen Augenblick warten?» Dann hielt sie die Sprechmuschel zu und sagte zu Anna: «Sie nimmt sich ganz schön was heraus. Sie wußte, daß Sie später kommen, weil Sie mit Ihrem neuen Haus beschäftigt sind.»

Anna seufzte. «Danke für die Vorwarnung. Ich bringe nicht gerne jemanden um seinen Job, aber wenn Delia aus dem Urlaub zurück ist, muß ich mit ihr darüber reden.»

Anna überflog die Zettel mit ihren Anrufen, während sie durch das zentrale Großraumbüro ging, wo die Sekretärinnen, Schreibkräfte und Sachbearbeiter unter dem kalten Schein von Neonröhren vor ihren Computern saßen. Der Raum hallte wider von menschlichen Bewegungen, Stimmen, klingelnden Telefonen und Quoten. Anna liebte diesen Lärm.

Marinecover war eine mittelgroße Maklerfirma, die aus vier Abteilungen bestand: Kasko, Güterversicherung, Haftpflicht und Jachten. Die Aufgabe eines Maklers war es, die Bitte eines Klienten um ein Versicherungsangebot anzunehmen und einen Underwriter – oder mehrere – zu finden, der bereit war, das Risiko zu tragen. Der Makler bildete dabei das Bindeglied zwischen dem Klienten und dem Underwriter. Er oder sie vertrat den Klienten als Agent und zog von dessen Prämie eine Provision ab, ehe er das Geld an den Underwriter, der das Risiko übernommen hatte, weiterreichte. Je höher die Prämie war, desto mehr verdiente der Makler. Gleichzeitig mußte der Makler aber versuchen, die besten Bedingungen herauszuholen – sonst wechselte der Kunde zu einem anderen Makler.

Die größte Abteilung bei Marinecover war die Kaskoversicherung. Der zuständige Abteilungsleiter Harold, ein begeisterter Bergsteiger, hatte ein Team aus zehn Maklern unter sich, die jeweils von einem Assistenten und einer Sekretärin unterstützt wurden. Dazu gab es noch mehrere Sachbearbeiter. Hier herrschten harte Bedingungen. Klienten waren die großen Schiffahrtsgesellschaften, und man mußte sich gegen so große Maklerfirmen wie Merchant & Leisure durchsetzen.

Als Assistentin hatte Anna in jeder der Abteilungen gearbeitet. Am langweiligsten fand sie die Güterversicherung. An einer fehlenden Ladung Kaffeebohnen war nichts Aufregendes, aber eine Jacht, selbst wenn sie nur klein war, strahlte doch eine gewisse Romantik aus. Jachten sprachen die Seglerin in ihr an, und sie war begeistert gewesen, als Gordon sie zur Leiterin dieser Abteilung machte. Sie führte sie mit Hilfe eines Assistenten, einer Sekretärin, zwei Sachbearbeitern und sechzehn Versicherungsagenten, die an verschiedenen Orten Großbritanniens und am Mittelmeer saßen. Es störte sie weder, daß es die kleinste Abteilung war, noch, daß man in vielen Maklerfirmen Jachtversicherungen für einen unwesentlichen Bereich hielt, ein Abstellgleis für altgediente Angestellte, die es nie ganz bis nach oben geschafft hatten. Die Abteilung war Annas Kind, und seit sie die Leitung innehatte und ihr Komplettangebot für Jachten, das sie Jachtcover genannt hatte, vertrieb, hatte sich der Umsatz verdoppelt.

In einer abgelegenen Ecke des Großraumbüros saß ihr Assistent Chris an seinem Schreibtisch und sprach rasend schnell in den Telefonhörer. Er war ein blonder pausbäckiger Junge aus dem Londoner East End mit Chorknabenlöckchen, einem Engelslächeln und einer unersättlichen Gier nach Geld. «Neuer Kunde», bedeutete er Anna durch Mundbewegungen. «Jachtflotte auf einer griechischen Insel.»

Anna gab ihm mit erhobenen Daumen ein aufmunterndes Zeichen.

Hinter Chris saß Elaine, ihre Sekretärin, über ihre Tastatur gebeugt und starrte auf den flackernden Bildschirm, während sie in den Telefonhörer flüsterte. Sie war eine großgewachsene anmutige junge Frau mit dunkler, mahagonifarbener Haut. Ihre wirre schwarze Lockenpracht fiel ihr ins Gesicht, das eigentlich sehr hübsch war, jetzt aber müde und gereizt wirkte. Sie arbeitete noch nicht einmal einen Monat für Anna. Beim Bewerbungsgespräch hatte sie in einem hübschen roten Kostüm und mit geflochtenen und hochgesteckten Haaren lebhaft und ordentlich gewirkt. Heute trug sie ein hellblaues Baumwollkleid, das so zerknittert aussah, als habe sie darin geschlafen.

Als Elaine Anna kommen sah, sagte sie allzu deutlich in den Hörer hinein: «Ich muß jetzt weiterarbeiten. Danke, daß du angerufen hast.» Dann lächelte sie Anna schuldbewußt an. «Haben Sie das Haus bekommen?»

«Ja, danke.» Anna warf ihr einen wissenden Blick zu. Sie ging in ihr Büro, stellte ihre Tasche und die Aktenmappe auf den Schreibtisch und beschloß, sich später mit Elaine zu befassen.

Ihr Zimmer war klein – das waren sie alle –, aber es bot einen großartigen Ausblick über die Dächer auf das silbergraue, röhrenförmige neue Lloyd’s-Gebäude. Allerdings fand Anna selten Zeit, aus dem Fenster zu sehen. Sie ordnete die Telefonzettel in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit auf dem Schreibtisch an und legte Vincent Ellerby-Creswell an die erste Stelle. Er war ein erfolgreicher Gebrauchtwagenhändler und einer ihrer besten Kunden. Ehe er ein Vermögen gemacht hatte, nach Ascot zog und seine dritte Frau Monique heiratete, war er einfach Vince Creswell aus Brixton gewesen. Ganz unten an den Stapel legte sie ihre ältere Schwester Rosamund. Es hatte keinen Sinn, jetzt bei Roz anzurufen, denn am Mittwoch spielte sie immer Tennis.

Doch ehe sie Vince anrief, ging Anna den Korridor entlang und durch die erste der vielen Türen, auf denen «Kaskoversicherung» stand.

Charlie lehnte in seinem Stuhl, hatte den Telefonhörer unter dem Kinn eingeklemmt und die langen Beine vor sich ausgestreckt. Eine Locke seiner goldblonden Haare fiel ihm in die sehr blauen Augen. Er lächelte sein gelassenes hübsches Lächeln und deckte die Sprechmuschel ab. «Steht das Haus noch?»

«Natürlich.» Sie lächelte zurück.

«Habe ich nicht gesagt, daß es Zeitverschwendung ist, heute morgen hinzugehen?»

«Ich wollte es sehen.» Anna setzte sich vor ihm auf die Tischkante und baumelte mit den Beinen, wobei sie ihren gerade geschnittenen weißen Rock über die Oberschenkel nach oben rutschen ließ. Sie sah Charlie gern zu, wenn er einen Abschluß aushandelte, weil sie es genoß, wie seine Augen blitzten, wenn er Konkurrenten aus dem Rennen schlug. Bei solchen Gelegenheiten gefiel ihr sogar seine Redeweise. Früher hatte sie den australischen Akzent gräßlich gefunden, aber wenn sie jetzt im Vorübergehen eine Stimme so sprechen hörte, dann drehte sie sich um und lauschte, wie jemand, der an einem offenen Fenster vorbeikommt und eine Melodie vernimmt, die Erinnerungen weckt, ob nun glückliche oder weniger glückliche.

Zum erstenmal seit Monaten hatte Anna keine Angst mehr, Charlie zu verlieren. Durch den gemeinsamen Hauskauf hatte er sich an sie gebunden, auch wenn er das selbst nicht so sehen wollte. Sie nahm eine Büroklammer, bog sie um ihren Ringfinger und schwenkte diesen «Verlobungsring» vor seinen Augen. Vor einigen Monaten hätte sie das noch nicht gewagt, aus Angst, ihn zu vertreiben. Er sah verblüfft aus und brach mitten im Satz ab. Sie hörte, wie der Mann am anderen Ende der Leitung schrie: «Charlie? Verdammt, wir sind unterbrochen worden.»

«Nein, sind wir nicht.» Charlie sprach weiter. «Was ich sagen will, Bill, die Prämien sind gestiegen. Da kann man nichts machen.»

Anna zog die Büroklammer ab und warf sie in den Papierkorb. Als sie die Beine von Charlies Schreibtisch schwang, packte er sie am Knöchel. Sie trat spielerisch nach ihm, aber er hielt sie fest, bis er das Telefongespräch beendet hatte. Dann küßte er sie sanft auf die Innenseite ihres Knies und ließ sie grinsend los. «Hast du den alten Knacker gesehen?»

«Ja. Er ist sehr verärgert, darum habe ich ihm gesagt, er könne den Garten benutzen, solange wir nicht dort wohnen.» Sie stand auf und öffnete die Tür. «Jetzt muß ich aber wieder an die Arbeit. Ich hab für heute abend einen Tisch im L’Artiste Assoiffé reserviert, zur Feier des Tages. Ich lade dich ein.»

Er strahlte. «Das ist toll.»

Anna wurde rot vor Freude. «Und wir haben deinen Lieblingstisch.»

«Noch besser.» Er bedeutete ihr, die Tür zu schließen und senkte die Stimme. «Aber ich kann erst um neun, weil ich mich nach der Arbeit mit einigen Typen von Merchant & Leisure treffe. Einer ihrer Spitzenmakler hatte einen Nervenzusammenbruch, und das könnte ein ausgezeichneter Einstieg für mich sein.»

Anna starrte ihn ungläubig an. «Aber … Charlie … wir haben gerade ein unwahrscheinlich teures Haus auf den günstigen Angestelltenkredit von Marinecover gekauft.»

«Merchant & Leisure bietet mir dasselbe.»

«Warum willst du dann wechseln?»

«Weil ich hier keine Aufstiegschancen mehr habe. Wenn Harold in den Ruhestand geht, dann wird Stuart Porterill, die gefürchtete, glubschäugige Kobra, Abteilungsleiter.»

«Was ist mit der Frachtabteilung?»

«Sei doch nicht so dämlich! Da sitzt schon Jeremy, und der ist erst knapp vierzig. Haftpflicht ist nicht meine Stärke, und Jachten hast du schon reserviert. Jeder weiß, daß du Gordons Liebling bist.» Er hob die Hände, um ihren Protest zu unterbinden. «Es stört mich ja nicht, Kleines, das weißt du doch, aber wenn ich weiterkommen will, muß ich wechseln. Du warst vor mir da.»

«Und bin ich nicht auch drei Jahre älter als du?»

«Komm her, meine ältere Geliebte.» Er lachte so unbeschwert wie immer und fuhr ihr mit den Händen durch das seidenweiche helle Haar, ohne zu merken, wie sehr er sie verletzt hatte, als er sie dämlich nannte. «Makler haben Mitte Dreißig ihre beste Zeit, das wissen wir alle, und mit fünfundvierzig sind sie ausgebrannt, müde, erschöpft – wenn sie nicht wirklich erstklassig sind. Ich will Abteilungsleiter werden, deshalb muß ich mich jetzt umsehen. Wenn mir Marinecover keine entsprechende Stelle bieten kann, gehe ich eben woanders hin.»

Sie widersprach ihm nicht, weil sie wußte, daß er recht hatte. «Marinecover war tagsüber unser Zuhause», sagte sie traurig. «Hier haben wir uns kennengelernt. Es wird anders werden, wenn wir nicht mehr zusammenarbeiten.»

Charlie kicherte. «Anna, du bist so sentimental. Wir wohnen doch zusammen und sehen uns jeden Abend.»

«Wahrscheinlich hast du recht.» Sie zwang sich zu einem Lächeln und gab ihm einen schnellen Kuß auf die Wange. Dann trat sie zurück, hob den Kopf und straffte die Schultern. «Wir sehen uns um neun. Laß mich nicht warten!»

Er warf ihr eine Kußhand zu. «Diesmal nicht, das verspreche ich!»

Nachdem Anna wieder in ihrem Büro war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb sie mitten im Zimmer stehen und atmete langsam und tief durch. Sie sagte sich, daß Charlie recht hatte, was seine Aufstiegschancen anging, aber sie konnte nicht verhindern, daß alte Kindheitsängste in ihr aufstiegen. Wie oft hatte ihre Mutter gesagt: «Ich weiß, daß du nicht gerne umziehst, Anna, aber wir müssen mitkommen. So ist die Arbeit deines Vaters eben, bei der Armee bleibt man nur zwei Jahre lang auf einem Posten.» Und so zogen sie immer wieder um, bis zu dem Tag, an dem er sie verließ, so gewaltsam, so plötzlich und ohne Vorwarnung.

Anna holte einen Spiegel aus ihrem Schreibtisch und kämmte sich das Haar aus dem Gesicht. Diese Frisur nannte Charlie «die Eiskönigin». Er hatte es lieber, wenn sie es, wie am Wochenende, offen ums Gesicht hängen ließ. Sie fragte sich, was er wohl sagen würde, wenn er wüßte, daß die hellsten Strähnen eingefärbt waren. Dann strich sie ihre Augenbrauen glatt und runzelte die Stirn angesichts der winzigen Sorgenfältchen zwischen den Augen, was diese nur noch deutlicher hervortreten ließ. Ihr kam es vor, als hätte sie diese Fältchen schon ihr Leben lang.

Wie gerne wäre sie so gewesen wie Charlie, der nur im Heute und Morgen lebte, sich nicht über jede Kleinigkeit aufregte und nicht ständig von seiner Vergangenheit in schon überwunden geglaubte Ängste zurückgetrieben wurde.

Erinnerungen an die unglaubliche Schönheit der Sommerabende in Belworth stiegen in ihr auf: Damals hatte sie immer eilig ihre Hausaufgaben hinter sich gebracht und war dann vom Cottage aus zum Tor am Ende der Straße gelaufen. Dort schwang sie sich auf dem obersten Balken hin und her, wartete und hoffte, daß ihr Vater früh genug heimkam, um mit der Little Auk auf das vom Sonnenuntergang gerötete Meer hinauszufahren in der Stille des goldenen Abends. Sie konnte noch heute das Plätschern der Wellen hören und seine Stimme, die ungewöhnlich hell war für so einen großen Mann.

«Annie, ich habe eine neue Idee, mit der wir ein Vermögen machen werden. Dann kündige ich bei der Armee, und wir kaufen das ganze Land rund um Cliff Cottage. Es ist zwar ein Geheimnis, aber dir erzähle ich es: Ich habe eine Eieruhr aus Plastik erfunden.»

«Aber Daddy, das gibt es doch schon. Die Schwester vom alten Mr. Holdsworthy hat eine aus Amerika mitgebracht.»

«Nicht so gut wie meine. Du wirst sehen, Annie, bald bist du die Tochter von Jeffrey Tobias, dem berühmten Erfinder.»

So segelten sie lachend und schwatzend dahin und waren fest davon überzeugt, daß seine Erfindung, anders als die anderen, sie diesmal endlich reich machen würde. An Land war Jeffrey Tobias stets ein freundlicher, höflicher Träumer gewesen, ein nie beförderter Major, der nur seinem Vater zuliebe in die Armee eingetreten war. Aber auf dem Meer war er der Kapitän der Little Auk, ein Erfinder und Entdecker, Christoph Kolumbus und Galilei in einer Person.

Die Sprechanlage rief Anna wieder zurück in die Gegenwart. Es war Gordon, ihr Chef. «Kommen Sie doch auf ein paar Sandwiches und einen Kaffee in den Sitzungssaal», sagte er.

«Bin schon unterwegs.»

Der Sitzungssaal bei Marinecover galt als einer der eindrucksvollsten von allen Maklerfirmen. Außer zwei herrlichen Kristallkronleuchtern beherbergte er eine wertvolle Sammlung von maritimen Ölgemälden. Umgeben von seinen üblichen Papierbergen saß Gordon am hinteren Ende des ovalen Mahagoni-Tisches. Er war ein verbindlicher silberhaariger Mann, dessen Augenbrauen und Wimpern bei einem Schuljungenstreich im Chemielabor dauerhaft weggebrannt worden waren. Das ließ sein Gesicht seltsam leer wirken.

«Ich habe wieder ein Bild gekauft.» Er deutete auf ein Gemälde von zwei Teeklippern, die über die Atlantikwellen ritten.

Sie betrachtete es eine Weile. «Es gefällt mir.»

«Dachte ich mir. Haben Sie das Haus gekauft?» Gordon verschwendete ungern Worte, wenn er über etwas anderes als Marinecover sprach.

«Heute morgen.»

«Um es zu bezahlen, müssen Sie hart arbeiten.»

«Das tue ich immer.»

«Hoffentlich, bei dem enormen Gehalt, das wir Ihnen zahlen.»

Anna lächelte. «Gordon, ich verdiene es.»

Er grinste. «Sie waren in der Jachtabteilung sehr erfolgreich; die einzige Person außer mir selbst, der das je gelungen ist. Die Klienten mögen Sie, Anna. Sie verstehen etwas vom Segeln, und Sie sprechen ihre Sprache.» Er deutete auf ein Tablett mit Sandwiches und Kaffee. «Bedienen Sie sich. Und dann erzählen Sie mir doch einmal, wie Sie verhindern möchten, daß Barry Limehouse Ihnen die Klienten wegnimmt?» Barry Limehouse war der neue Jachtmakler bei Merchant & Leisure.

Es war typisch für Gordon, daß er ihr keine Zeit zum Nachdenken ließ. Einmal hatte er Charlie im Ausverkauf bei Harrods getroffen und ihn vor den heruntergesetzten Kaschmirpullovern über Kaskoprämien ausgefragt. «Ich sorge dafür, daß meine Klienten die besten Quoten bekommen, und außerdem werde ich die privaten Kontakte noch verbessern», antwortete sie in dem unbeschwerten und zuversichtlichen Tonfall, den Gordon von seinen Angestellten hören wollte. «Da kann Barry nicht mithalten. Er ist ein Gangster, und die meisten meiner Kunden würden ihn nicht einmal ins Haus lassen. ‹Der Gangster› ist sogar sein Spitzname.»

«Er wird versuchen, den alten Isaac Finestein zu überreden, ihm bindende Kraft zu geben. Die sollten eigentlich Sie haben.»

Anna legte ihr Sandwich beiseite. «Was das Geld seines Syndikats angeht, vertraut Isaac keinem Makler. Ich habe ihn gebeten, ob ich für kleine Beträge bis zu fünfzigtausend ohne Rücksprache mit ihm vorläufige Deckungszusagen unterschreiben darf, aber er hat es glatt abgelehnt.»

«Ich dachte, er mag Sie.»

«Das stimmt auch, und ich mag ihn ebenso. Ich kenne seine Familie, ich war schon bei ihm zum Abendessen eingeladen und auch zur Feier des einundzwanzigsten Geburtstags seiner Tochter. Aber das eine ist privat, Gordon, und das andere ist geschäftlich. Isaac ist der beste Jacht-Underwriter. Er hat es nicht nötig, Maklern bindende Kraft einzuräumen, und er will es auch nicht.»

«Wenn er Ihnen schon keine vorläufigen Deckungszusagen erlaubt, wird er sie auch Merchant & Leisure nicht geben.»

«Das würde ich ihm auch nicht raten.»

Gordon lächelte. «Ihnen ist doch klar, daß Barry Limehouse versuchen wird, Ihnen den Markt an der Costa del Sol streitig zu machen?»

«Diese Gauner kann er gerne haben.»

«Da haben Sie recht. Unehrliche Geschäfte sind nur Zeitverschwendung. Paul Sheldon hat gerade erst wieder eine Forderung zurückgewiesen. Der dämliche Klient hat sein Boot selbst versenkt, indem er von innen Löcher in den Schiffsrumpf gebohrt hat. Diesen Trick durchschaut selbst der dümmste Regulierungsbeauftragte – und Sheldon ist der beste.»

Anna spürte, wie sie rot wurde, und beugte sich vor, um in ihrem Kaffee zu rühren. «Ich persönlich finde Giles Humphreys besser.»

«Ich dachte, Sie wären mit Sheldon befreundet.»

«Ach … ich kenne ihn kaum.»

«Er ist sehr unterhaltsam und ein hervorragender Segler. Außerdem ist er bei Frauen beliebt, wie ich höre.»

«Er ist ein Prämienjäger. Das sind alle Regulierungsbeauftragten.»

«Aber Sheldon ist ein Prämienjäger mit Gewissen, das unterscheidet ihn von anderen.»

«Ach, hören Sie auf, Gordon. Diese Leute leben doch alle von Verbrechen und Katastrophen.»

«Er würde behaupten, daß wir Makler von der Angst der Leute vor Verbrechen und Katastrophen leben.»

Lachend stand sie auf. «Dann sollte ich besser zu meinen verängstigten Klienten zurückkehren, ehe der Gangster sie mir wegschnappt.»

Ein Gespräch mit Gordon gab Anna immer neuen Schwung und das Gefühl, ihr Handwerk zu beherrschen. Zu Marinecover war sie ursprünglich als Aushilfssekretärin für einen Monat gekommen, weil sich Miss Thin, Gordons ergebene Assistentin, den Arm gebrochen hatte. Einen Tag, bevor ihr Vertrag endete, rief Gordon sie in den Sitzungssaal und sagte: «Sie sind zwar nur eine mittelmäßige Schreibkraft, aber wir könnten eine gute Maklerin aus Ihnen machen. Bleiben Sie bei uns, dann bilden wir Sie aus.» Das war die Herausforderung, auf die Anna gewartet hatte.

Sie ging zurück in ihr Büro. Im Haus war es relativ ruhig, weil die meisten Angestellten beim Mittagessen waren. Nur Elaine tippte wie wild, mit gesenktem Kopf und vorgeschobenen Schultern. Sie blickte nicht auf, als Anna an ihr vorbei ins Büro ging. Anna machte die Tür hinter sich zu und begann, ihre Telefonzettel abzuarbeiten. Viele der Leute, die sie anrief, darunter auch Vince Ellerby-Creswell, waren beim Mittagessen. Sie erreichte nicht einmal Roz, die vermutlich gerade ihre beiden Jüngsten, Oliver und Phoebe, von der Schule abholte. Es war frustrierend. Anna erledigte alles gern schnell, damit die Dinge abgehakt waren und nicht auf dem Schreibtisch unter dem Briefbeschwerer warteten.

Sie ging die Briefe durch, die sich in den letzten Tagen, in denen sie innerlich mit Ladbroke Hill beschäftigt gewesen war, angesammelt hatten. Darunter fanden sich ein optimistischer Bericht von ihrer Versicherungsagentin in Lymington, eine Anzahl von Anträgen auf Neuversicherung von alten Kunden, mehrere Bitten um weltweite Deckung anstatt der normalen, die nur für Großbritannien, Europa und das Mittelmeer galt, und eine Anfrage wegen einer transatlantischen Versicherung von einem wohlhabenden Ehepaar, das mit seiner sehr kostspieligen Jacht in die Karibik segeln wollte. Anna rief die jeweiligen Dateien auf, schaltete ihr Diktiergerät ein und diktierte die Antworten. Oft war nur die Bestätigung für eine kleine Änderung im Versicherungvertrag notwendig, aber Anna fügte stets noch eine persönliche Mitteilung an. Ihre Klienten schätzten das.

Ihr Telefon klingelte. Es war Vince. «Haben Sie mit Ihrem Geliebten aus dem Land der Antipoden das Haus gekauft?» tönte er lautstark.

«Heute morgen, danke der Nachfrage. Wie geht die Arbeit an der Le Nouveau Monde voran? Sie muß doch jetzt bald fertig zur Übernahme sein.»

«O ja, das ist sie auch, und sie ist die schönste Hochseejacht, die Sie je gesehen haben, Annie, das beste Boot, das ich bisher hatte. Und Sie sollen sie für mich versichern, weil Sie meine liebste Maklerin sind und außerdem die hübscheste.»

«Und Sie sind mein liebster Kunde, Vince.»

«Aber keineswegs der hübscheste!»

Sie lachten beide. Er war eineinhalb Meter groß, eineinhalb Meter breit und hatte ein Gesicht wie ein verschlagener Affe – von jener frechen Sorte, die sich vor den Augen von Nonnen und kleinen Mädchen immer mit ihren Genitalien beschäftigen.

«Ich erwarte einen guten Preis», sagte er.

«Habe ich Ihnen je etwas anderes geboten?» Anna griff nach ihrem Notizblock. «Wieviel ist sie denn wert?»

«Eineinhalb Millionen, mit der gesamten Ausrüstung.»

«Dann muß sie ja sagenhaft sein. Das ist doppelt soviel, wie Sie für Ihre letzte Jacht bezahlt haben. Haben Sie die Rechnungen?»

«Ich habe eine ganze Schublade voll, die meisten von der Firma Ribble in Hamble. Mein alter Freund Fred Ribble hat die Jacht aus den Vereinigten Staaten herübertransportiert, und die meisten Arbeiten wurden auf seiner Werft ausgeführt. Warten Sie, bis Sie den großen Salon sehen. Er ist in einem farblosen Seidenstoff ausgeschlagen, den meine Frau und dieser tuntige Pariser Innenarchitekt ‹peau-de-pêche› nennen.» Vince’ Parodie eines lispelnden Innenarchitekten brachte Anna zum Lachen.

«Da es ein neues Schiff ist und Ribble es sicherlich entsprechend der Klassifikation ausgestattet hat, braucht der Underwriter kein Gutachten», sagte Anna. «Wollen Sie eine Deckung für Großbritannien, Europa und den Mittelmeerraum oder auch für Transatlantikfahrten?»

«Transatlantik mache ich später. Damit sie genug Treibstoff für eine Ozeanüberquerung transportieren kann, müßte sie umgebaut werden. Jetzt möchte ich mit meinem neuen Spielzeug erst ein bißchen spielen.»

Anna befragte ihn über die Besatzung, den Liegeplatz, die Sicherheitsvorkehrungen und den Feuerschutz. Als sie fertig war, sagte Vince: «Wir machen am Sonntag vor dem Bank Holiday eine Stapellauf-Party. Sie können Ihren Antipoden mitbringen, wenn Sie einem älteren Mann unbedingt das Herz brechen wollen.»

Anna hätte ihre Freizeit lieber in Ladbroke Hill verbracht, aber Vince war ihr bester Kunde. «Wir kommen sehr gern», antwortete sie. «Aber das Herz breche ich Ihnen bestimmt nicht, Vince. Sie sind doch Monique treu ergeben.»

Er lachte. «Dann bis zur Party. In der Zwischenzeit können Sie mir ein paar Zahlen faxen. Fred Ribble hat mir erzählt, daß auf den Flüssen viel gestohlen wird, sogar aus den Marinas, und ich will mit meinem Schiff kein Risiko eingehen.»

«Ich kümmere mich sofort darum.» Anna schrieb eine Liste mit den Angaben über das Schiff und brachte die Akte zu Elaine, damit diese das Formular tippen konnte.

Um die Wartezeit totzuschlagen, wählte Anna Roz’ Telefonnummer. Wenn sie Glück hatte, erwischte sie Roz zwischen dem Abholen von Phoebe und Oliver und der Fahrt zu Lukes Geigenstunde. Oder hatte er heute Klavierstunde? In Roz’ Familie schien sich alles um Lukes musikalisches Talent zu drehen, und Anna bedauerte die anderen Kinder ein bißchen, sogar Melissa, die wenig liebenswerte Älteste.

Roz’ Telefon klingelte und klingelte. Anna stellte sich vor, wie das Klingeln in dem weitläufigen, mit Steinboden ausgelegten Marschland-Bauernhaus widerhallte. Sie sah Roz vor sich, wie sie in der Küche mit den dicken Deckenbalken ärgerlich die Lippen schürzte, sich dann eilig die Hände abtrocknete und ans Telefon rannte. Während das Telefon immer noch klingelte, stellte sie sich vor, wie das Geräusch durch die offenen Fenster tönte, hinaus in den Rosengarten und über die Gemüsebeete bis zu den Feldern mit den Reihen von Kohl und roten Rüben, die das Land ihres Schwagers überzogen. Sie sah Roz, wie sie sich vom Unkrautjäten aufrichtete, einen tiefen Seufzer ausstieß und eilig über die Wiese lief, wobei sie sich die Erde von den Händen rieb. Selbst im Garten konnte Roz das Telefon jederzeit hören, weil keines der Fenster von Lower Gossip Fen anständig schloß. Aus diesem Grund weigerte sich Charlie, zu einer anderen Jahreszeit als im Sommer dort länger zu Besuch zu bleiben. Als sie zum erstenmal gemeinsam bei Roz waren, hatten sie beim Aufwachen Eisblumen an den Fenstern ihres Schlafzimmers gefunden.

Roz ging nicht ans Telefon, und Anna gab auf. Sie beschloß, Roz zu Weihnachten einen Anrufbeantworter zu kaufen.

Anna griff nach ihrer Aktentasche und verließ ihr Büro. «Ist das Formular fertig?» fragte sie Elaine.

Elaine nickte und reichte ihr die Mappe.

Anna las die Angaben durch. Wie immer hatte Elaine alles fehlerfrei getippt. «Das ist ausgezeichnet», sagte sie. «Auf dem Stuhl in meinem Büro liegen ein Band und ein paar Briefe. Bitte erledigen Sie das bis heute abend. Wenn jemand anruft, ich bin bei Lloyd’s.»

«Es … es tut mir leid, daß ich heute morgen zu spät gekommen bin.» Elaine schob nervös ihre Hände ineinander.

Anna sah sie an. «Das war das drittemal in dieser Woche.»

«Ich weiß, aber … mein kleiner Sohn ist krank, daher kann ich ihn nicht zur Kinderfrau bringen, und ich mußte auf meine Mutter warten, damit sie auf ihn aufpaßt.»

«Ich wußte gar nicht, daß Sie ein Kind haben», sagte Anna überrascht.

Elaine sah verlegen aus. «Beim Bewerbungsgespräch hat Delia nur gefragt, ob ich verheiratet sei oder vorhabe zu heiraten. Sie hat nicht gefragt, ob ich bereits Kinder hätte.»

«Und Sie haben es ihr nicht gesagt?»

«Ich habe dringend eine Stelle gebraucht.» Elaine hob das Kinn und sah Anna offen ins Gesicht. «Daniels Vater zahlt mir nichts. Als ich mit der Arbeitssuche anfing, habe ich immer ehrlich von Danny erzählt, aber sobald die Arbeitgeber merkten, daß ich eine alleinstehende Mutter bin, lehnten sie mich ab. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Sohn zu verschweigen.» Sie senkte den Blick und fügte leise hinzu: «Ich komme nicht noch einmal zu spät, das verspreche ich.»

«Das haben Sie gestern und letzten Freitag auch schon gesagt. Und auch wenn Sie hier sind, hängen Sie den ganzen Tag am Telefon.»

«Er ist mein Kind. Er ist krank. Ich mache mir Sorgen.»

Anna atmete tief durch. «Es tut mir leid, aber ich kann die Abteilung nur führen, wenn jeder hier absolut zuverlässig ist. Am Montag kommt Delia zurück, und dann werde ich mit ihr sprechen.» Weil sie die Verzweiflung in Elaines Gesicht nicht ertragen konnte, sagte Anna rasch «Auf Wiedersehen» und ging mit eiligen Schritten durch das Gebäude zum Lift. Elaine war nicht ihr Problem. Elaines Kind ging sie nichts an. Sie drückte den Aufzugknopf und wartete. Über ihr leuchteten die Stockwerksnummern auf. Ein «Ping!» ertönte, und die Türen öffneten sich. Anna machte einen Schritt vorwärts, zögerte dann und ging zu Judys Tresen. Dort griff sie nach dem internen Telefon und tippte Elaines Nummer ein.

Elaine war am Apparat. «Büro von Miss Tobias.»

«Elaine, hier ist Anna. Sie haben noch eine Chance. Lassen Sie mich aber nicht im Stich.»

«Bestimmt nicht, das verspreche ich Ihnen.» Elaines Stimme stockte. «Oh, und vielen Dank.»

Als Anna den Hörer auflegte, schüttelte Judy den Kopf und sagte leise: «Mehr Herz als Verstand!»

Kapitel 3

DAS MARINECOVER-GEBÄUDE BEFAND SICH IN EINER SCHMALEN Straße, nur wenige Minuten zu Fuß von Lloyd’s entfernt. Kein Makler hatte sein Büro im Lloyd’s-Gebäude, was Charlie ärgerlich fand, weil er sich gern im Zentrum des Geschehens aufhielt. Anna hingegen gefiel die Entfernung. Während sie durch den alten Leadenhall-Markt ging, wo unter verzierten viktorianischen Bögen die Verkäufer an den offenen Ständen ihre Waren ausriefen, fand sie oft die Lösung für ein Problem, über das sie schon länger nachgedacht hatte.

Außerdem mochte sie das neue Lloyd’s-Gebäude nicht. Es war ihr zu grau, zu röhrenförmig und sah mit seinen Rohren, Leitungen und Aufzügen, die außen sichtbar verliefen, anstatt im Inneren versteckt zu sein, so aus, als habe man die Innenseite nach außen gekehrt. Charlie behauptete, sie möge es nur deshalb nicht, weil sie wie alle Briten noch im letzten Jahrhundert stecke und ein Gebäude erst dann schön finde, wenn es bereits auseinanderfällt.

Anna war unangenehm heiß, während sie eilig die Lime Street entlangging. Das Sonnenlicht wurde von den Glasfronten der modernen Gebäude reflektiert und warf dunkle, scharfumrissene Schatten über die schmale, kurvige Straße. In der Sommerluft hing schwer der Geruch nach Autoabgasen. Sehnsüchtig dachte Anna an den Garten von Ladbroke Hill, wo sie und Charlie inmitten von Jasmin und Geißblatt im Freien zu Abend essen und romantische Abende verbringen würden.

Sie war in Gedanken noch so mit Elaine beschäftigt, daß sie vor sich hinmurmelte. Vielleicht hätte sie dem Mädchen doch keine zweite Chance mehr geben sollen, vielleicht hatte sie wirklich mehr Herz als Verstand. Als ihr klar wurde, daß sie laut geredet hatte, wurde sie rot und überlegte, ob sie wohl allmählich durchdrehte. Es wäre nicht überraschend, wenn sie eines Tages zusammenbräche – sie kannte viele, denen das passiert war –, bei dem starken Arbeitsdruck, den Aufregungen um das Haus und ihrer Angst, Charlie könne sie verlassen und nach Melbourne zurückgehen. Manchmal fragte sie sich, ob sie sich wohl am meisten davor fürchtete, mit einem neuen Mann noch einmal von vorne anfangen zu müssen. Oder davor, daß sie keinen mehr fand und so wurde wie Sandra aus der Güterversicherungs-Abteilung, die so oft sitzengelassen worden war, daß sie die Hoffnung aufgegeben hatte und jetzt mit zwei Katzen in Ealing lebte.

Aber es war nicht nur Unsicherheit, was Anna an Charlie band. Sie liebte ihn, weil er Eigenschaften hatte, die ihr fehlten und die auch ihren Eltern gefehlt hatten. Er war auf offene Weise herzlich, selbstbewußt und stets gut gelaunt. Über Geld machte er sich keine Gedanken. Er analysierte weder die Vergangenheit noch die Zukunft und schlich nie zögernd um eine Gruppe von Leuten herum in der Angst, man könne ihn nicht mögen. Als er sie im letzten Winter mit seinem «Ich will frei sein»-Gerede so verletzt hatte, hoffte Anna heimlich, er würde krank werden. Dann hätte sie ihm zeigen können, wie sehr er sie brauchte. Sie hatte sogar ein Kochbuch mit speziellen Rezepten für Kranke gekauft, von dem sie allerdings vorgab, es sei ein Geschenk ihrer Großmutter.

Sie betrat Lloyd’s durch den Eingang im Untergeschoß, zeigte dem Portier ihren Ausweis und ging zum Aufzug. Der Saal der Underwriter, der einfach als «The Room» bekannt war, lag im Erdgeschoß. Auf dem freien, mit Marmor ausgelegten Platz in der Mitte hing in einem großen Schiffsrumpf aus Holz die Lutine Bell. In alten Zeiten war die Glocke jedesmal geläutet worden, wenn ein Schiff überfällig war. Gelegentlich erklang sie auch jetzt noch: zweimal für gute Nachrichten und einmal für schlechte.

In der Oase relativer Ruhe vor dem Schiffsrumpf trafen sich Underwriter und Makler, um zu plaudern oder Lloyd’s Verzeichnis der Schiffsfahrten und die Nachrichten auf den Mitteilungsbrettern zu studieren. Annas Absätze klackten, als sie über den Marmorfußboden ging und dabei mehreren Gruppen von Leuten auswich. Es war die einzige Stelle im «Room», wo ihre hohen Schuhe zu hören waren, denn der restliche Saal war mit dämpfendem Teppichboden ausgelegt.

Edward Lloyds Kaffeehaus in der Tower Street war vor dreihundert Jahren ein Treffpunkt gewesen, wo die Besitzer von Handelsschiffen sich einen – oder mehrere – wohlhabende Kaufleute suchen konnten, die bereit waren, mit ihnen das Risiko der geplanten Reise zu tragen. Im zwanzigsten Jahrhundert gab der Besitzer eines Schiffes einem Makler den Auftrag, die beste Quote herauszufinden, und der reiche Kaufmann bildete mit anderen reichen – und in jüngster Zeit oft nicht so reichen – Leuten ein Syndikat. Gemeinsam ernannten sie einen Agenten, der wiederum Underwriter bestimmte, die sich auf verschiedene Versicherungsgebiete spezialisiert hatten.

Auf jeder Seite des Raumes saßen in Reihen, wie Kinder an altmodischen hölzernen Schulbänken, die Underwriter jeweils zu zweit an einem Tisch, der «Box» genannt wurde. Der «Room» erinnerte Anna stets an eine Bibliothek, in der lautstark geredet wurde. Isaac Finestein hatte sich auf Jachten spezialisiert, und Anna ging auf seine Box zu. Er war gerade mit einem anderen Makler ins Gespräch vertieft, und außerdem wartete bereits Barry Limehouse, der Gangster, um mit ihm zu sprechen. Limehouse war ein stämmiger, untersetzter Karatefanatiker mit flachem Gesicht, Schweinsäuglein und einem Bürstenschnitt. Er sah genauso aus, wie sich Anna das prügelnde Rauhbein auf einem Kinderspielplatz vorstellte.

Spitznamen waren bei Lloyd’s sehr gebräuchlich, und Isaac nannte man den «Zwerg». Er war sehr klein, hatte riesengroße schwarze Augen, eine Hakennase und tiefe Falten auf der Stirn. Anfang der dreißiger Jahre in Leipzig geboren, war er schon als kleines Kind nach England gekommen, als sein vorausblickender Vater mit der Familie Deutschland verlassen hatte. Von den zurückgebliebenen Onkeln und Vettern, die sich weigerten, ihr gemütliches Zuhause aufzugeben, hatte keiner die Judenvernichtung überlebt, und Isaac fuhr jedes Jahr nach Israel, um für sie an der Klagemauer den Kaddisch zu sagen.

Von seiner Vergangenheit hatte Anna durch Isaacs Frau Sybil erfahren, auf dem Fest zum einundzwanzigsten Geburtstag seiner Tochter Rebecca. Während sie sich beide auf der Damentoilette die Haare kämmten, vertraute sich Sybil, eine mütterliche Frau mit silberblonden Haaren, Anna an. «Ich wünsche mir nur, daß Rebecca einen netten Mann findet, einen guten Mann, so wie meinen Isaac. Wir haben sie nach seiner Lieblingscousine genannt, einer von denen, die … dort geblieben sind. Mein Isaac vergißt nie, was für ein Glück er hat, am Leben zu sein.» Sybil tätschelte Annas Arm. «Sie sollten bald heiraten. Es ist so schade, daß Sie keine Jüdin sind, Sie hätten so gut zu einem meiner Söhne gepaßt.»

Ein Rippenstoß von Barry Limehouse riß Anna aus ihren Gedanken. «Wie geht’s denn Ihren Klienten aus dem Jet-Set, Anne?» fragte er.

«Danke, gut, Larry.»

«Ich heiße Barry!»

Sie lächelte zuckersüß. «Und ich Anna.»

Er beugte sich vor und schob sein unschönes Gesicht nahe an das ihre. «Die Namen von Mädchen kann ich mir nie merken, darum nenne ich sie alle ‹Schätzchen›.» Dann sah er sie von oben bis unten an. «Frauen mögen es, wenn man ein bißchen grob ist, besonders die arroganten, so wie Sie.»

Annas Lächeln wurde noch liebenswürdiger. «Ich bin kein Snob, Larry. Ich kann Sie nur nicht leiden.»

In der Nähe lachte jemand laut, und ehe Barry sich eine Retourkutsche ausdenken konnte, sagte Isaac: «Der Nächste!», und Barry mußte seine Aufmerksamkeit dem Underwriter zuwenden.

Eine Hand drückte Annas Ellbogen, und als sie sich umdrehte, sah sie Charlie hinter sich stehen. «Gut gemacht.» Er lächelte stolz.

«Ich weiß gar nicht, warum er mich so gemein angreift.»

«Er war am Sonntag in Hamble und hat versucht, dir Ellerby-Cresswell wegzuschnappen. Die Kobra hat gehört, wie er darüber geredet hat.»

«Aber Charlie, warum hast du mich denn nicht vorgewarnt? Vince ist mein bester Klient.»

«Weil ich weiß, daß Vince dir treu ergeben ist.» Charlie drückte nochmals ihren Arm. «Bis später.» Schon war er verschwunden.

Anna war aufgewühlt, aber sie beschloß lieber zu schweigen. Sie konnte nicht vergessen, daß es die hartnäckige, immer wieder sanft vorgebrachte Unzufriedenheit ihrer Mutter war, die ihren Vater dazu getrieben hatte, sich ständig zu überfordern – bis er es nicht mehr aushalten konnte.

Der Gangster beendete seine Verhandlungen mit Isaac und ging davon, ohne Anna noch eines Blickes zu würdigen. «Wie geht’s Sybil?» fragte sie, als sie zu Isaac an die Box trat.

«Sie ist verärgert über Sie. Sie sagt, Sie sollten mehr Verstand haben, als mit einem Mann zusammenzuleben, ehe er Sie heiratet.»

Anna lachte. «Charlie und ich sind glücklich miteinander, Isaac. Was für einen Unterschied würde da schon ein Stück Papier machen?»

«In den Augen meiner Frau einen ungeheuer großen.» Er tätschelte ihre Hand. «Es freut mich, daß Sie glücklich sind.»

«Danke.» Anna schlug die Mappe Ellerby-Creswell auf, legte den ausführlichen Antrag vor Isaac hin und sagte: «Das ist mein allerbester Klient. Er hat noch nie einen Schaden gehabt, und Le Nouveau Monde ist sein fünftes Schiff, eine Fünfundzwanzig-Meter-Jacht im Wert von eineinhalb Millionen Pfund.»

«Nicht schlecht!» Isaac las die Einzelheiten durch. «Goldene Wasserhähne in Form von Engelsfiguren im Badezimmer! Was denn noch alles?»

Anna kicherte. «Venus auf der Holzverkleidung im Schlafzimmer. Na, wie ist die Quote? Ich muß sie meinem Klienten heute abend rüberfaxen.»

«Wieviel Prozent nehmen Sie?»

«Zwanzig.»

«Das ist übertriebene Gier, Anna.»

«Er ist mein bester Klient. Ich arbeite hart, um ihn bei Laune zu halten, ich opfere den Sonntag, um auf seine Party zu gehen. Ich verdiene meinen Anteil.»

Isaac seufzte und schrieb mit seiner dünnen, gekritzelten Handschrift einige Berechnungen nieder. «Grob gerechnet – und ich meine wirklich grobe Schätzungen – würde die Prämie etwa fünfzehntausend Pfund betragen.»

«Ein Prozent!»

«Wenn der Versicherungsnehmer bei jedem Schaden die ersten sechstausend selbst übernimmt.»

«Isaac, meinen Klienten wird der Schlag treffen.»

«Die Prämien sind gestiegen, Annie. Schauen Sie sich an, was wir in letzter Zeit an Katastrophen hatten: Wirbelstürme, Dürre, Ölverschmutzung, die Autofähre von Zeebrugge, die bombardierten Tanker im Golf, gar nicht zu reden von den immer häufigeren Bootsdiebstählen. Ein so teures Schiff ist ein Risiko. Wenn es sinkt, verlieren wir sehr viel. Wenn es gestohlen wird …»

«Le Nouveau Monde ist fünfundzwanzig Meter lang und bestimmt nicht leicht zu verstecken.»

«Es ist ein Fabrikmodell und keine Einzelanfertigung, daher ist es nicht unmöglich, es zu stehlen. Unter den südamerikanischen Drogenhändlern gibt es einen großen Markt für solche Schiffe. Wenn man einen zusätzlichen Tank einbaut, kommt es bis in die Karibik, und dort wird es dann verkauft.»

«Mein Klient wird wütend sein, und ich will ihn nicht verlieren. Der Gangster ist mir schon auf den Fersen.» Sie wartete, ob Isaac die Prämie niedriger ansetzen würde, aber er sagte nichts. Dann atmete sie tief durch. «Ich reduziere unsere Provision auf siebzehn Prozent.»

Isaac rechnete erneut. «Vierzehntausend, und Ihr Klient bezahlt die ersten fünftausend von jedem Schaden.»

«Das ist noch immer eine ganze Menge.»

«Darunter geht es nicht. Außerdem übernimmt mein Syndikat nur fünfzig Prozent des Risikos. Den Rest müssen Sie über den Markt verteilen.»

«Isaac, wenn Sie bereit sind, machen auch die anderen mit.»

«Schmeichlerin.»

«Nach dieser Quote haben Sie das eigentlich nicht verdient.» Sie griff nach der Ellerby-Creswell-Mappe. «Ich komme später wieder zu Ihnen.»

Ohne zu zögern, ging sie auf Kevin Kittericks Box zu. In jeder anderen Abteilung für Schiffsversicherungen hätte sie zum Vergleich eine Anzahl anderer Quoten einholen können, aber bei den Jachtversicherungen gab es wenig Auswahl. Sie verschwendete wertvolle Minuten damit, Kevin über seinen Golf-Urlaub zu befragen, ehe sie ihm Vince’ Antrag reichte, aber Plaudern gehörte zu ihrem Geschäft. «Isaac übernimmt fünfzig Prozent», sagte sie.

Kevin warf kaum einen Blick auf die einzelnen Angaben. «Na, wenn der Zwerg für fünfzig einsteht, übernehme ich dreißig.»

Sie ging noch zu zwei anderen Underwritern. Da der Zwerg und Kevin bereits achtzig Prozent abdeckten, waren sie gern bereit, das Restrisiko zu tragen.

Anna verbrachte den restlichen Nachmittag bei Lloyd’s. Sie unterhielt sich mit verschiedenen Leuten, traf sich mit einigen zum Tee im Captain’s Room und tauschte in erster Linie Klatschgeschichten aus. Kontakte waren ein wesentlicher Teil des Maklergeschäfts.

Als sie das Lloyd’s-Gebäude verließ, waren die Stände des Leadenhall-Marktes bereits geschlossen. Auf einer Seite des Marktes sammelte ein Müllauto den Abfall des Tages ein, auf der anderen spritzte jemand das Kopfsteinpflaster ab.

«Immer lächeln!» rief ihr einer der Müllmänner zu. «Das Leben ist doch gar nicht so schlimm.»

Anna lachte. «Es ist überhaupt nicht schlimm», antwortete sie und dachte an das Haus am Ladbroke Hill.

Bei ihrer Rückkehr zu Marinecover waren die meisten Angestellten bereits nach Hause gegangen. Der Nachtportier hatte den alten Hawthorn abgelöst, und die Empfangsdame der Abendschicht saß an Judys Tresen. Die Büros waren leer, nur Chris telefonierte noch. Elaines Stuhl war nicht mehr besetzt, aber auf Annas Schreibtisch lag ein Stapel sauber getippter Briefe und ein Zettel, auf dem stand: Ich werde Sie nicht enttäuschen.

Die nächsten Stunden verbrachte Anna damit, Vince die Quote zu faxen, weitere Briefe zu beantworten und zu telefonieren. Zwischen geschäftlichen Telefonaten versuchte sie Roz zu erreichen, aber der Anschluß im Farmhaus war besetzt.

Schließlich beendete sie ihre Arbeit, nahm einen Spiegel und frischte ihr Make-up auf. Sie wäre gern noch nach Hause gefahren, um zu duschen, ein feminines Sommerkleid aus fließendem Stoff anzuziehen und sich für Charlie schön zu machen, aber dazu war keine Zeit mehr.

 

Die beiden bunten Papageien in ihren Käfigen plapperten, als Anna das Restaurant betrat. Zu ihrer Überraschung saß Charlie bereits an ihrem Tisch auf der Plattform neben dem Karussell, von wo aus man die anderen Tische überblicken konnte. Er lächelte, als er sie sah, und sein Gesicht strahlte aufgeregt.

Sie gab ihm einen Kuß auf die Wange, während der Kellner ihr den Stuhl zurechtrückte. «Also hast du die Stelle bekommen», stellte sie fest und sagte sich, daß es nicht das Ende der Welt sei, wenn er Marinecover verließ.

«O ja, das steht so gut wie fest, aber ich muß erst im Herbst anfangen, und natürlich wollen sie noch einmal über die Bedingungen nachdenken.» Er langte über den Tisch und drückte ihre Hand. «Du bist doch nicht mehr wütend auf mich?»

«Natürlich nicht.» Sie setzte ein tapferes Gesicht auf. «Was bieten sie dir?»

«Sie haben mir gar kein Angebot gemacht, also habe ich ein Grundgehalt von achtzigtausend verlangt, plus Provisionen, und alle zwei Jahre ein neues Auto.»

«Achtzigtausend! Charlie, das ist doppelt soviel, wie du jetzt bekommst!»

«Das bin ich auch wert. Ich verdiene ein Vermögen an Provisionen, und mit Klienten kann ich genausogut umgehen wie du.»

Das stimmte nicht immer; manchmal war er einfach zu ungeduldig, aber sie sagte: «Ich habe nicht behauptet, daß du es nicht kannst, aber ich verdiene keine achtzigtausend. Mein Geld mache ich mit den Provisionen.»

Er lächelte wieder strahlend. «Du solltest wirklich mehr bekommen, genau wie ich. Dein Auto ist schon vier Jahre alt. Und das ist keine Überheblichkeit. Ich will nur das Beste für uns beide, meine Süße.» Charlie bestellte eine Flasche Dom Perignon und bat den Kellner, sie getrennt zu berechnen. Als ihre Gläser gefüllt waren, hob er sein Glas und prostete Anna zu: «Auf unseren Erfolg! Auf unser neues Haus! Auf uns!»

Sie lächelte. «Auf unser Haus! Auf uns!»

«Du solltest auch von Marinecover weggehen», fuhr er fort und lächelte ihr zu. «Die Firma ist nicht groß genug für Leute wie uns.» Sie wollte protestieren, aber er hob die Hand. «Nein, Anna, bitte hör mir zu. Wenn ich erst einmal bei Merchant & Leisure bin, werde ich darauf bestehen, daß sie dir eine Stelle anbieten. Dann arbeiten wir wieder zusammen.»

Er war so voller Begeisterung, daß Anna sich anstecken ließ. Sein Optimismus legte sich wie eine Rettungsweste um sie, auch wenn der Gedanke, Marinecover zu verlassen, für sie mindestens so beängstigend war wie der Umzug in ein neues Haus.

Erst weit nach Mitternacht verließen sie das Restaurant. Anna hätte Ladbroke Hill gerne noch einen Besuch abgestattet, aber es war zu spät. Mit dem Taxi fuhren sie Richtung Victoria, zu dem modernen Wohnblock, wo Charlie eine Wohnung mit Service gemietet hatte. In den achtzehn Monaten, die er und Anna zusammen waren, hatte er die auf deprimierende Weise charakterlose Wohnung kaum genutzt, weil sie die meiste Zeit in Annas kleinem, gemütlichen Häuschen in Fulham verbrachten. Jetzt war sie vollgestopft mit Annas Kleidung. Ihre Möbel hatte sie eingelagert.

«Tut mir leid, daß ich so ein Durcheinander verursache», sagte sie, während sie einen großen Koffer öffnete und Stapel von Unterwäsche durchwühlte.

«Mir macht das nichts aus.» Charlie warf sein Jackett aufs Sofa, schlüpfte aus den Schuhen und verschwand in der Dusche.

Das war eine weitere Eigenschaft, die Anna an Charlie liebte. Er war so lässig. Sie dachte an ihre Mutter, bei der man kaum auf dem Sofa sitzen konnte, weil sie ständig Angst hatte, die Sofakissen könnten Falten bekommen.

Als Anna mit der Auswahl ihrer Kleidung für den morgigen Tag fertig war und geduscht hatte, schlief Charlie schon fast. Rasch schlüpfte sie neben ihm unter das herrlich kühle Laken.

«Du brauchst immer so ewig, bis du ins Bett kommst», murmelte er und schmiegte sich an sie.

«Ich lege mir gern alles zurecht.»

Er schob seinen Arm um ihre nackte Taille. «Das hättest du auch morgen früh machen können.»

Sie streichelte seine Finger. «Du weißt doch, wie ungern ich früh aufstehe.»

Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. «Du riechst gut, sehr gut. Bist du jetzt zufrieden, nachdem wir Ladbroke Hill gekauft haben?»

Zärtlich küßte sie ihn auf einen Mundwinkel. «Das weißt du doch.»

«So ein Theater bloß wegen einem Haus», seufzte er.

«Das ist nicht irgendein Haus, Charlie, sondern ein ganz besonderes Haus.»

«Für eine ganz besondere Frau.» Noch fast im Halbschlaf rollte er sich auf sie und umfaßte ihr Gesicht mit den Händen. «Eine sehr besondere Frau.» Er küßte ihre Nasenspitze, dann die Augen und schließlich den Mund, während er ihr mit den Fingern erst durchs Haar und dann über den Nacken fuhr und sich an sie schmiegte.

Sie schlang die Arme um ihn und hielt ihn fest, zog ihn an sich, so daß er ihr nicht entkommen konnte. Langsam und zärtlich liebten sie sich. In all den Monaten, die sie sich jetzt kannten, war Anna sich Charlies immer nur dann völlig sicher gewesen, wenn sie sich liebten, bis heute, bis sie das Haus am Ladbroke Hill gekauft hatten. Jetzt fühlte sie sich sicher. Dort würden sie sich ein Zuhause schaffen, eine Zuflucht vor der Außenwelt, und dort würden sie Wurzeln schlagen, so tief, daß nichts sie wieder lösen konnte.

Kapitel 4

VINCE ELLERBY-CRESWELL WAR BEREITS AM TELEFON, ALS Anna ins Büro kam. «Vierzehntausend Pfund!» kreischte er durch die Leitung. «Du liebe Güte, Annie, das ist fast ein Prozent!»

«Es tut mir leid, Vince, aber das ist die beste Quote am Markt. Die Prämien sind gestiegen. Nach den Stürmen in Großbritannien im letzten Winter gab es zahlreiche Jachtschäden, und die Bombardierung der Öltanker im Golf letzte Woche war auch nicht gerade förderlich.»

«Was zum Teufel hat ein Tanker im Golf mit meiner Jacht am Hamble zu tun? Nichts. Das Problem ist einfach, daß Leute wie Sie viel zu gierig sind. Wir haben den Boom des Jahrhunderts, aber das genügt euch offenbar nicht. Ihr Blutsauger!» Er knallte den Hörer auf.

Anna lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und atmete tief durch. Dann stand sie auf und ging nach nebenan zu Charlie. «Wir werden nicht auf Vince’ Party gehen», sagte sie bedrückt. «Er hat mir gerade wegen der Quote eine Szene gemacht.»

«Ach, Süßes, das hast du nicht verdient.» Er lächelte mitleidig. «Der Kerl ist ein Multimillionär. Ich hätte nie gedacht, daß er so sehr die Hand auf dem Geld hat.»

«Er ist vorsichtig, darum ist er ja auch Millionär geworden.»

Die Tür ging auf, und Gordon erschien, mit einem finsteren Gesichtsausdruck. «Judy hat mir berichtet, Ellerby-Creswell habe Sie angebrüllt. Sie haben ihn doch nicht etwa verloren, oder?»

Anna nickte unglücklich. «Ich fürchte schon. Er hat wegen der Prämie getobt. Vince ist mein Klient, aber auch ein Freund. Es ist schwer, es nicht persönlich zu nehmen, wenn er mich einen Blutsauger nennt, selbst wenn es ums Geschäft geht.»

Sie erwartete, daß Gordon explodierte, aber er zuckte lediglich mit den Achseln. «Sie machen das schon richtig. Bleiben Sie dran.»

Nachdem Gordon gegangen war, schüttelte Charlie ungläubig den Kopf. «Du bist der einzige Mensch bei Marinecover, der es sich leisten kann, einen wichtigen Klienten zu verlieren, ohne gefeuert zu werden. Vermutlich ist Gordon in dich verliebt.»

Sie lachte das scheinbar gelassene Lachen, das ihr stets als Barrikade diente, wenn sie ihre Gefühle nicht zeigen oder vielleicht gar nicht erst spüren wollte, und ging zurück in ihr Büro. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, sank sie in ihrem Stuhl zusammen.

Es klopfte, und Elaine trat ein, eine Tasse Kaffee in der Hand. «Mit Milch, ohne Zucker. Das stimmt doch, oder?»

«Ja, danke.» Anna machte eine Pause und fragte dann: «Wie geht es Ihrem kleinen Jungen?»

Elaines Gesicht strahlte. «Oh, sehr viel besser, vielen Dank. Er wird heute von meiner Mutter betreut. Sie wohnt bei mir, bis ich wieder allein zurechtkomme.» Sie zögerte, weil sie Anna gegenüber offenbar immer noch nervös war, und fügte dann vorsichtig hinzu: «Es tut mir leid, daß Sie den Klienten verloren haben, aber ich bin sicher, er wird wieder zurückkommen. Alle hier sagen, Sie sind die beste Jachtmaklerin.»

«Wirklich?»

Elaine nickte.

«Danke, daß Sie mir das sagen. Damit fühle ich mich weniger … wie eine Versagerin.»

«Sie! Eine Versagerin!» Elaine machte ein Gesicht, als sei Anna verrückt geworden, und trat den Rückzug aus dem Raum an.

Anna versuchte den Gedanken an Vince zu verdrängen und sich auf ihre übrige Arbeit zu konzentrieren, aber das gelang ihr nicht ganz. Sie rief Chris zu sich ins Büro und übergab ihm die kleineren Anfragen für die Versicherung einzelner Jachten. Um die Mehrfachversicherungen kümmerte sie sich selbst: eine Flotte von Ferienbooten in einem Hafen auf Kreta und eine neue Segelschule an der jugoslawischen Küste. Aber diese Aufträge waren kleine Fische im Vergleich mit Vince’ Le Nouveau Monde.

In der Mittagspause telefonierte sie mit Roz. «Tut mir leid, daß ich dich nicht früher erwischt habe», sagte sie.

«Das tust du nie», beschwerte sich Roz. «Ich bin immer diejenige, die anrufen muß. Tom wird wütend, weil unsere Telefonrechnung so sagenhaft hoch ist.»

«Ich habe es mehrmals versucht, aber du warst nicht da. Ich hätte ja eine Nachricht hinterlassen, doch du hast keinen Anrufbeantworter.» Anna versuchte ihre Wut im Zaum zu halten, um nicht in den Stil der Auseinandersetzungen ihrer Kindheit zurückzufallen. Ihr gemeinsames Zimmer hatten sie mit einer strikten Demarkationslinie in der Mitte geteilt. Roz’ Hälfte war stets ordentlich und aufgeräumt gewesen, während die von Anna mit getrockneten Blumen und am Strand gesammelten Steinen übersät war.

«Wir können uns keinen leisten.»

«Dann laß dir von mir einen zum Geburtstag schenken.»