Liebe - Lone Frank - E-Book

Liebe E-Book

Lone Frank

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Beschreibung

Die Wissenschaftsjournalistin und Neurobiologin Lone Frank hat die Kräfte der Liebe und die Erschütterung der Trauer erlebt. In ihrem Buch forscht die Autorin nach dem unerwarteten Tod ihres Lebensgefährten, warum sie das Wesen der Liebe nie ganz verstanden hat. Plötzlich auf sich allein gestellt, ohne enge Bindungen, weil sie ihr Leben zuvor hauptsächlich einer symbiotischen Partnerschaft gewidmet hatte, fragt sie nach den Ursachen und Bedingungen, warum einige Menschen liebevolle Verbindungen eingehen und andere daran scheitern. Warum es manchen gelingt, zu lieben und geliebt zu werden, und anderen nicht. Sie verknüpft ihre eigene Familiengeschichte mit Erkenntnissen der Neurobiologie, Psychologie und Soziologie und zeichnet so ein mehrdimensionales Bild des am meisten trivialisierten und mystifizierten Gefühls – der Liebe.

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Seitenzahl: 333

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Lone Frank, geboren 1966, ist Neurobiologin und Dänemarks führende Wissenschaftsjournalistin. Sie schreibt für Science und Nature und ist Autorin von fünf Büchern. Mindfield. How Brain Science is changing our world wurde in fünf Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien Mein wundervolles Genom: Ein Selbstversuch im Zeitalter der persönlichen Genforschung. Lone Frank lebt in Kopenhagen.

ÜBER DAS BUCH

Wer wir sind und wer wir werden, hängt zu einem großen Teil davon ab, wie wir lieben. Das Universum der Liebe wandelt sich. Es ist nicht mehr das klassische Sonnensystem mit dem romantischen Partner als hellem Zentrum, sondern ähnelt eher einem Sternennebel. Wahre Liebe besteht heute nicht mehr unbedingt nur zwischen zwei Liebenden, sondern kann das sein, was einen mit Freunden und Familie verbindet.

 

Für Morten

     

Für Peter

 

Man kann nie wissen, was man wollen soll, weil mannur ein Leben hat, das man weder mit früherenLeben vergleichen noch in späteren korrigieren kann.

MILAN KUNDERA

PROLOG

Das Klingeln des Telefons ist leise und zart, aber es trifft mich in der Dunkelheit des Morgens mit der Wucht einer Explosion. Es ist sieben Uhr. Niemand ruft morgens um sieben an. Nur die, von denen man nichts hören will. Ich weiß, wer es ist, bevor ich das Display berühre. Die Krankenschwester von der Palliativstation redet nicht lange um den heißen Brei herum.

»Ihrem Mann geht es sehr schlecht. Es ist möglich, dass er im Sterben liegt.«

Was meint sie? Das kann nicht wahr sein. Hier muss eine Verwechslung vorliegen.

»Aber gestern Abend, als ich nach Hause gegangen bin, war sein Zustand nicht kritisch. Ich habe die Nachtwache gefragt, und sie hat gesagt ›Immer mit der Ruhe‹ und ›Bis morgen!‹.«

»Sein Zustand hat sich im Laufe der Nacht verschlechtert. Er zeigt keine Reaktionen.«

Ich lege auf. Es ist kalt im Schlafzimmer. Plötzlich befinde ich mich in einer verzerrten Wiederholung einer ähnlichen Situation, nur liegt diese Jahre zurück. Damals kam der Anruf von der Onkologischen Station des Krankenhauses in Århus. Sie sagten mir, dass ich augenblicklich kommen solle, weil meine Mutter im Sterben lag. Damals war ich 18, heute bin ich 48. Aber das Gefühl, dass durch meine Adern Quecksilber fließt, ist identisch.

Meine Klamotten, die ich gestern getragen habe, liegen neben dem Bett auf dem Boden. Ich ziehe sie wieder an, schnappe mir den Autoschlüssel und fahre los. Es ist Ende November, es hat gefroren, ich müsste die dünne Eisschicht von der Windschutzscheibe kratzen. Mit dem Ärmel reibe ich ein Loch frei, durch das ich sehen kann. Das muss genügen. Ich fahre rückwärts aus der Einfahrt, treffe dabei möglicherweise ein Fahrrad. Egal, Hauptsache, los.

Wie kann es sein, dass jede Ampel auf der Strecke rot ist? Und warum dauern die Ampelphasen länger als sonst? Da stimmt etwas nicht. Heute kann nicht das Ende sein. Wenn ich mich darauf konzentriere, dann wird er aufwachen, er muss aufwachen. Gestern noch, das ist nicht einmal einen Tag her, saß ich bei einem der Ärzte im Zimmer, und der hat mir gesagt, dass er noch Zeit hat, ein paar Monate.

So früh am Morgen gibt es noch Parkplätze vor dem großen Tor. Ich achte darauf, keinen Bordstein mitzunehmen, schließe den Wagen ab und renne auf den Eingang mit den sehr langsamen, elektrischen Schiebetüren und dem Schild zu, auf dem Palliativstation steht. Niemand im Alter von 56 Jahren sollte hier liegen.

Ich gehe an der Schwester von der Frühschicht in ihrem gläsernen Zimmer vorbei, biege nach links, bis ans Ende des Ganges und dann rechts in sein Zimmer.

Er ist nicht wach. Seine Augenlider sind leicht geöffnet, aber er sieht nichts, atmet nur flach und stoßhaft. Ich kenne dieses Röcheln. So klang es auch, als mein Vater vor einigen Jahren bewusstlos in einem anderen Krankenhaus lag. Sein Herz hat fast einen ganzen Tag gebraucht, um mit dem Schlagen aufzuhören.

Eine blonde Krankenschwester, ich habe sie schon einmal gesehen, kommt ins Zimmer und spricht mit mir. Sie nimmt den Katheterbeutel in die Hand und kontrolliert ihn. Er ist kaum gefüllt, und die Flüssigkeit darin ist dunkel, fast braun. Sie geht wieder. Ich laufe ihr hinterher, hole sie im Gang ein und frage sie, ob er nicht doch wieder aufwachen kann. Sie geht einfach weiter. Ich frage, ob sie ihm nicht irgendetwas geben können? Das glaube sie nicht. Aber was ist denn los, was genau ist passiert, dass er jetzt bewusstlos ist? Wir hätten uns doch gestern Abend noch unterhalten? Das kann sie mir nicht beantworten. Das wüssten sie nicht. Sein Zustand habe sich in der Nacht verschlechtert, sie hätten Schwierigkeiten mit dem Katheter gehabt, den sie wegen der Flüssigkeit im Unterleib nicht richtig einführen konnten. Am Ende habe es doch funktioniert, aber jetzt sehe es so aus, als hätten die Nieren versagt.

Die Nieren haben ihren Dienst aufgegeben. Organversagen. Die Worte stürmen in meinem Kopf voran, ich muss sie aufhalten. Konzentriere mich auf einen dünnen Mann in einem blau gestreiften Bademantel, der sich an der Wand entlang langsam an uns vorbeischleicht. Er schiebt einen Infusionsständer vor sich her. Seine Haut ist ausgetrocknet, und gelb, die falsche Farbe.

Ich gehe zurück in das Zimmer. Es gibt keine Veränderung. Er liegt reglos im Bett. Ich nehme seine Hand in meine. Ein weißes Gipsrelief an der Wand über dem Kopfende erinnert mich an das Thorvaldsens Museum. Genauso wie die senffarbenen Wände. Diese Station ist wie ein Museum eingerichtet.

Plötzlich fängt er an zu keuchen, sein Körper zuckt, als würde er sich aufsetzen wollen. Dann gibt er brummende Laute von sich. Will er mir etwas sagen? Es klingt so eindringlich, er hat die Augen weit aufgerissen, aber sieht weder mich noch etwas im Raum an. Sein Blick ist sonderbar leer. Ich kann nicht erkennen, ob er wach ist. Ich weiß nicht, was ich tun soll, deshalb streichele ich seinen Arm und lehne mich vor. »Nicht sprechen, beruhige dich. Ich bin hier.«

Eine andere Krankenschwester, älter, kommt ins Zimmer und stellt sich wortlos auf die andere Seite des Bettes. In einer einzigen Bewegung holt sie eine Spritze aus ihrer Kitteltasche, sticht damit in das weiche Plastik des Infusionsbeutels, drückt den Inhalt der Spritze hinein und zieht sie wieder heraus. Sie richtet den Schlauch und geht wieder. Das ist Routine, sie macht das mehrmals am Tag. Er wird ruhig, entspannt sich, anders als sonst. Die Zeit verstreicht, vielleicht sind es zwei oder fünf Minuten. Er atmet leise, ein und aus, ein und aus, ein und aus. Am Ende nur noch aus.

Die Liebe kann einen überraschen. Man lebt vor sich hin und denkt, dass man weiß, was Liebe ist, und man seine Gefühle kennt – natürlich tut man das. Aber dann trifft einen das Leben mit voller Wucht, und es fallen einem halbe und ganze Erkenntnisse vor die Füße.

Wir kannten uns seit 13 Jahren, hatten Höhen und Tiefen miteinander erlebt, waren gereist, hatten gestritten und Krisen überwunden, und es sah aus, als hätten wir unseren Kurs gefunden. Wir waren füreinander bestimmt. Nicht, dass das einer von uns so direkt gesagt hätte, wir gehörten nicht zu den Leuten, die von der großen Liebe sprachen oder sich »Ich liebe dich« hinterherriefen. Genau genommen wurde dieser Satz nur wenige Male ausgesprochen und dann meistens etwas unbeholfen und wie im Vorbeigehen. Dafür aber teilten wir den schwarzen Humor, und manchmal kam es vor, dass er mich ansah und rief: »Mann, haben wir es gut zusammen.« Und das hatten wir. Fast jeder Tag begann damit, dass wir über irgendetwas lachten, bevor wir aufstanden. Es schien, dass der Spaß niemals enden würde.

Dann starb er. Er bekam Krebs und zerfiel innerhalb von sechs Monaten Stück für Stück.

Ich dachte, ich würde mich mit Trauer und Verlust auskennen, weil ich meine Mutter am Ende meiner Kindheit und Jahre später meinen Vater verloren hatte, der immer mein Anker gewesen war. Aber dieses Mal verlor ich meinen Geliebten, meinen Mann, und der Verlust meiner Eltern erschien mir im Vergleich wie kleine Wellen an der Oberfläche. Dieser Schmerz war von einer anderen Größenordnung. Die Liebe, die auf einmal heimatlos geworden war, machte erbarmungslos auf sich aufmerksam, indem sie den Sinn des Lebens zerstörte und in mir eine große Leere hinterließ.

Am Boden dieser Leere aber keimte mit der Zeit eine Erkenntnis, die grauenvoll und beängstigend war. Denn ich erkannte, dass meine Liebe für ihn größer gewesen ist, als es mir bewusst war, und größer, als ich mir eingestanden hatte. Nichts davon hast du verstanden, wiederholte die Stimme in meinem Kopf. Du weißt noch nicht einmal, was du gefühlt hast.

Ehrlich gesagt, habe ich mir über die Liebe nie viele Gedanken gemacht. Ich habe sie als etwas Selbstverständliches betrachtet. Es gab sie einfach. Zu keinem Zeitpunkt habe ich daran gezweifelt, dass meine Eltern mich lieben und mich für ein Prachtexemplar von einer Tochter halten. Das macht Elternliebe schließlich aus. Bedingungslos, bewundernd, blind und so weiter. Auch an der Liebe meiner Partner habe ich nie gezweifelt, obwohl jeder von ihnen bei genauerer Betrachtung einiges ertragen musste. Meine Unzufriedenheit mit dem Leben und meine wechselnden Ambitionen und dazugehörigen Enttäuschungen durften sich in einigen Beziehungen sehr raumgreifend verhalten. Nicht selten wurden sie ungefiltert in der ganz selbstverständlichen Erwartung in die Welt gebrüllt, dass mir mit Verständnis, Hilfe und Trost begegnet werden soll. Mein Dreh- und Angelpunkt war meine Arbeit, meine Ziele, alles, was ich erreichen wollte. Darin investierte ich meine ganze Energie.

Jetzt saß ich auf meinem grauen Sofa und starrte auf das Regal, wo die Buchrücken meiner eigenen Werke mich anglotzten, im Original und in Übersetzungen. Aber sie wärmten mich nicht. Sie konnten keine Tränen zum Versiegen bringen. Sie nahmen mich nicht an die Hand und sagten: »Liebling, das wird schon wieder.« Genau genommen war das alles unfassbar bedeutungslos geworden, das galt auch für meinen Job, in den ich so viel Zeit und Energie gesteckt hatte und der meine Identität ausmachte.

Die Liebe gilt als »die größte von allen« – alle kennen das Zitat, auch wenn vielleicht nicht jeder weiß, dass es vom Apostel Paulus stammt. Die Liebe ist die zentrale Säule des menschlichen Lebens. Sie hat Bestand und gibt uns Halt, wenn alles in sich zusammenbricht und sich auflöst – wir alle kennen diese Formulierungen und wiederholen sie ganz automatisch. Aber ich hatte sie bisher noch nie in die Praxis umgesetzt. Ich hatte diese sehr banale Wahrheit verdrängt oder vernachlässigt, dass die Beziehungen zu anderen Menschen das Fundament des Daseins sind. Ohne andere Menschen sind wir formlos und nutzlos. Diese Wahrheit brüllte mir ins Gesicht. Mit seinem Tod war der letzte Mensch verschwunden, von dem ich sagen konnte, dass ich ihn liebte. Und auch mich liebte niemand mehr.

Mein Bruder und ich hatten nur sporadisch Kontakt, wenn ich mich aufraffte und ihn anrief, was vielleicht einmal im Jahr passierte. Zu den Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen, die auf beiden Seiten der Familie noch lebten, hatte ich kaum noch Kontakt. Zwei Kollegen von mir und eine gute Freundin meines Vaters kümmerten sich um mich und lockten mich ein paarmal vor die Tür. Aber das, was wir die selbst gewählte Familie nennen – die engen Freunde – ja, die waren am Ende doch nicht so eng, denn kein Einziger von ihnen hat mich besucht und sich zu mir auf mein Sofa gesetzt, wo ich ein halbes Jahr lang saß und an die Decke starrte.

Das hässliche Wort »Netzwerk« klang jetzt noch hässlicher, weil ich sah, dass es gar nicht existierte. Wer niemanden oder fast niemanden hat – der ist ein Loser, soziale Ausschussware. Es war armselig, mir das eingestehen zu müssen. Die Frage drängte sich auf: Wie ist es dazu gekommen? Wie bin ich zu diesem Menschen geworden, dessen stärkste Verbindung die zu einem Toten war, ohne dass ich die Stärke dieser Verbindung erkannt habe, während er noch am Leben war?

Hatten der Zufall und die Umstände den Weg dazu bereitet, oder hatte es mit mir, mit meinem Inneren zu tun? Und wenn ja, was war es? Ich musste herausfinden, ob und wie man Liebe überhaupt begreifen kann.

 

»DIE LIEBE IST DIE EINFACHSTE UND ZUGLEICH die komplizierteste der menschlichen Verhaltensweisen, die Einfluss auf das gesamte Bewusstsein hat. Liebe ist unbeschreiblich – und doch ist sie das Thema, der sich die Poesie am häufigsten zuwendet. Sogar Philosophen müssen zur Bildsprache greifen, um über die Liebe zu schreiben.«

So äußert sich der Literat und Literaturhistoriker Thomas Bredsdorff in seiner Ausführung über die Liebe in dem Nachschlagewerk Den Store Danske Encyklopædi. Er hat sich diesem großen Thema eher traditionell genähert und erforscht die verschiedenen Winkel der Philosophie, Poesie und Religion. Die altgriechischen Begriffe des Eros und der Agape werden diskutiert, mittelalterliche Gedichte über Ritter und unerreichbare Damen kommen zur Sprache, und wir erfahren etwas über die Sage von Tristan und Isolde, das traurige, romantische Paar. Aus dem Eintrag geht hervor, dass die Philosophen dieser Welt mal das eine, mal das andere über das Wesen der Liebe gesagt haben, und auch dem Christentum und seiner zentralen Botschaft über die Liebe wird ein großzügiger Platz eingeräumt.

Der Text ist schön, formvollendet, aber auch schrecklich unbefriedigend. Kein Wort über die Evolution oder Gehirnfunktionen. Nicht einmal die Andeutung des Gewichts von Hormonen oder Biochemie. Alles, was in unserem Alltag in unseren Köpfen vor sich geht und, ob man das nun will oder nicht, die physische Substanz von Liebe ausmacht, wird geflissentlich ausgelassen. Es fehlt mit anderen Worten das, was wenigstens die mechanischen Vorgänge erklärt und somit verraten könnte, warum sich die Liebe in so vielen verschiedenen Formen und Aufmachungen zeigt.

»Jetzt hör auf. Die Liebe ist keine Wissenschaft, und du wirst ihr Wesen auch in keinem Molekül oder einer anderen Struktur nachweisen können«, sagte mir ein alter Freund beim Kaffeetrinken. Es sei die reinste Zeitverschwendung, darüber ein Buch zu schreiben. Die Menschen beschäftigten sich mit der Liebe, seit die Sprache erfunden wurde. Und mein Beharren darauf, mich in die Biologie zu vertiefen, würde garantiert nichts Interessantes zum Vorschein bringen.

Ich bin davon überzeugt, dass er sich irrt. Ich gebe zwar zu, dass größere Geister als ich dieses Thema unter die Lupe genommen haben, aber ich bin der Ansicht, dass es Zeit und Raum für die Ausweitung der Kampfzone gibt.

Es ist wunderbar, sich mit Poesie zu nähren. Ich mache es selbst immer wieder mal. Denn Poesie kann etwas in einem auslösen, wenn sie sich richtig anfühlt. Aber die lyrischen Ergüsse sind am Ende nichts anderes als die Beschreibung eines persönlichen und durch und durch subjektiven Erlebens. Dasselbe gilt auch für die hauptberuflichen Denker, die Philosophen, die sich auffällig uneinig sind. Man kann für jede Tagesform und Laune eine passende philosophische Analyse der Liebe finden.

Nehmen wir zum Beispiel den deutschen Pessimisten Arthur Schopenhauer. Für ihn ist die Liebe zwischen Mann und Frau (eine andere Sexualität existierte für die angesehenen Philosophen des 19. Jahrhunderts nicht) nichts anderes als ein Täuschungsmanöver der Natur. Unser Trieb steuert die Gefühle, die wir einem Menschen entgegenbringen und die unsere eigenen seelischen Bedürfnisse befriedigen sollen. Eine hungrige Gier, die Nahrung braucht. Aber wenn sie dann gesättigt ist, fallen uns die Schuppen von den Augen, wir drehen uns im Bett den Rücken zu und befinden uns wieder in dem Zustand unerträglicher Einsamkeit. Das einzig nennenswerte Resultat dieser leidenschaftlichen Begegnung sind unsere Nachfahren und damit die Arterhaltung. Und so geht es immer weiter, eine hoffnungslose Generation folgt der nächsten nach.

Später meldeten sich die Existenzialisten zu Wort, allen voran Simone de Beauvoir, die betonte, dass die einzig authentische Liebe nur in der (äußerst seltenen) Beziehung zwischen zwei absolut gleichberechtigten Partnern existieren kann, die jeweils die Freiheit des anderen akzeptieren. So wurden die Gefühle politisch.

Und die queere Philosophin bell hooks (die konsequent auf die Kleinschreibung ihres Namens bestand) vertrat vehement den Standpunkt, dass Liebe nichts mit Gefühlen zu tun habe, sondern ausschließlich mit Handlungen. Für sie war Liebe nicht etwas, das einem geschieht, sondern eine bewusste Entscheidung, die bewusste Handlungen nach sich zieht.

Also, wer von ihnen hat nun recht – wenn überhaupt? Die vielen gegensätzlichen Ansichten und Deutungen sind am Ende nur ein Beleg dafür, dass die Analyse und die Definition von Liebe von der Kultur und Geschichte geprägt werden.

Aber das Phänomen als solches ist im Grunde ein biologisches, chemisches und physisches. Wir können das Wesen der Liebe nicht begreifen, ohne einmal tief in sie einzutauchen und uns ihre Mechanismen anzusehen. Mit anderen Worten, wir dürfen uns nicht damit zufriedengeben, was andere über die Liebe zu sagen haben. Wir müssen in ihre Köpfe klettern, um sehen zu können, was darin geschieht. Gleichzeitig ist es notwendig, wenn wir verstehen wollen, woher die Liebe kommt, die evolutionären Kräfte zu beleuchten, die sie geformt haben.

Mit ihrer beeindruckenden Reichweite ist die Liebe nicht nur eine von vielen interessanten, menschlichen Eigenschaften. Sie sitzt auf dem Thron unseres Daseins. Alles, was wir sind und tun, kreist am Ende immer um dieses Band, das uns mit anderen verknüpft. Wir verwenden die Liebe in den unterschiedlichsten Zusammenhängen, benutzen dasselbe Wort für die verschiedensten emotionalen Zustände. Liebe gibt es nämlich nicht nur zwischen Eltern und ihren Kindern oder als romantische und leidenschaftliche Liebe zwischen Individuen aller Geschlechter. Wir sprechen auch von Liebe in tiefen Freundschaften und bewegen uns sogar an den Rand dieses Spektrums, wenn wir von Liebe zu anderen Wesen sprechen (Haustiere oder sogar wilde Tiere). In seiner ätherischsten Version gibt es die Liebe auch für Ideen und Auffassungen (Götter, politische Ideologien, Sagen).

Man kann sagen, dass die Liebe uns Menschen ausmacht. Wenn es sie nicht gäbe, oder sie sich auf eine vollkommen andere Weise abspielen würde, wären wir eine andere Spezies. Was wir daraus aber auch schließen können, ist, dass die Liebe jeden Einzelnen von uns definiert, und ich habe das Gefühl, dass genau das der Schlüssel des Ganzen sein könnte. Erkenne dich selbst, haben die Griechen in der Antike mit erhobenem Zeigefinger gesagt. Ich glaube, dass der beste Weg zur Selbsterkenntnis der ist, herauszufinden, wie man die Liebe versteht, und dann die Ursachen dafür zu suchen.

Das heißt, die persönliche Suche nach der Erkenntnis und dem Verstehen kann zu etwas Allgemeingültigem führen. Wenn ich also von mir ausgehe und mir sehr persönliche Fragen stelle, kann das neue, universale Perspektiven eröffnen.

Es leuchtet ein, dass es keine hübsch sortierte Wahrheit über die Liebe geben wird oder gar einen Ansatz, der einem alles darüber verrät. Wir müssen uns dem Phänomen von mehreren Seiten nähern.

Ich werde mich in der Welt der Wissenschaften herumtreiben und ihre Teilaspekte zusammentragen, um am Ende aus allen Details ein großes Ganzes zusammenzusetzen.

Die Evolutionspsychologen können mir erklären, aus welchem Grund sich unsere behaarten Vorfahren in der Savanne von den anderen Affen abgespalten und die erste Paarbeziehung eingeführt haben. Die Neurowissenschaftler und Biochemiker können enthüllen, wie unser Gehirn Liebe erlebt. Weil aber das Gehirn niemals isoliert ist oder allein agiert, sondern immer in seinem Umfeld, seiner Zeit und seiner Kultur eingebettet ist, müssen wir ganz nah heran und uns ganz weit entfernen. Auf mikroskopischer Ebene können Genetiker belegen, dass subtile Veränderungen in unserer Erbanlage individuelle Unterschiede in der Wahrnehmung und in unseren Fähigkeiten bewirken können. Aber erst die Psychologen und Anthropologen sind in der Lage zu erklären, wie unsere Lebensweise die Liebe formt, bei jedem Einzelnen und in der Gesellschaft.

Meine Suche, die Liebe zu verstehen, ist eher eine Entdeckungsreise. Mein Weg führt mich durch ziemlich unwegsames Gelände. Es gibt kein klares, lineares Narrativ, auf das ich mich stützen kann. Ich sehe vielmehr drei Pfade vor mir, die sich abwechseln und zum Schluss zusammenführen lassen. Der erste ist der persönliche Pfad, der aus meinen Erinnerungen, Erlebnissen und Gedanken zu meinen Begegnungen mit der Liebe besteht. Jeder weiß, dass man selbst nicht gerade sein bester Analytiker ist. Um blinde Flecken und verborgene Ecken aufzuspüren, werde ich Gespräche mit einem Psychologen führen. Er ist Spezialist auf dem Gebiet des menschlichen Liebeslebens und wird mir helfen, einen zweiten Pfad auf meiner Reise einzuschlagen.

Diese beiden Pfade, mein subjektiver, persönlicher sowie der professionelle Blick auf mein Liebesleben, bereiten den Weg für den dritten Pfad, den wissenschaftlichen. Die vielseitige Forschung wird zu Wort kommen und ihr erhellendes und erklärendes Licht auf das gelebte Leben werfen.

Wie sich diese drei zueinander verhalten, kann ich an der Schwelle, an der ich jetzt stehe, noch nicht vorhersagen. Deshalb werden die Teile wie bei einem Mosaik nacheinander gelegt. Von Nahem kann man die Konturen und Formen jedes einzelnen, noch so kleinen Teils sehen. Und wenn man einen Schritt zurücktritt, entsteht hoffentlich ein ganzes Bild.

So komplex die Methode scheint, so einfach ist mein Antrieb. Mir will ein Satz des norwegischen Autors Stig Sætterbakken nicht aus dem Kopf gehen, der sich nach der Veröffentlichung seines letzten Romans das Leben genommen hat. »Man schreibt, wenn man nicht liebt.« Ich stürze mich ins Schreiben, weil ich lieben lernen will.

»Herzlich willkommen – melden Sie sich bei der Rezeption an, bedienen Sie sich mit einer Tasse Kaffee und nehmen Sie Platz.«

Der Text steht auf der Praxiswand des Psychologen Asger Neumann. Die Buchstaben sind geschwungen, aber modern, und die Message ist freundlich und einladend. Das ist Neumann auch, der aus den hinteren Räumen auf mich zukommt und mir die Hand entgegenstreckt. Er ist nicht größer als ich, von normaler Statur, sein Haar ist grau und etwas zerzaust, er trägt Bart und hat interessierte Augen. Hinter seinem aufmerksamen Zuhören schlummert ein Lächeln, das jeden Augenblick zum Vorschein kommen könnte.

»Wie ist es, wieder hier zu sein?«, fragt er und meint damit, in Aarhus zu sein. Das ist meine Heimatstadt, obwohl ich seit einer halben Ewigkeit nicht mehr hier wohne. Aber irgendwie passt es, dass ich ausgerechnet in Aarhus das Gespräch mit einem Psychologen suche. Neumanns Praxis befindet sich am Bahnhof Nørreport. Von dort teilt sich die Straße in alle Richtungen und führt an Orte, die mir etwas bedeutet haben. Den Hügel hinauf Richtung Randersvej sieht man auf der einen Seite die Universität, in der ich studiert habe, und auf der anderen das Ehemalige Kommunale Krankenhaus, in dem meine Mutter gearbeitet hat. Im rechten Winkel stößt die Nørre Allé dazu, wo eine Abteilung der Dänischen Volkshochschule untergebracht ist, an der mein Vater die meiste Zeit meiner Kindheit unterrichtet hat. Von dort war es damals nur ein kurzer Spaziergang zur Koch-Schule, in die ich neun Jahre lang ging. Diese Orte, die quasi das Dreieck meiner Kindheit verbildlichen, habe ich unzählige Male besucht und immer wieder in meine Erinnerungen eingebaut.

»Lass uns hier reingehen«, sagt Asger und öffnet die Tür zu seinem Büro, das aus einem Wohnmagazin stammen könnte. Auf den breiten Fensterbrettern stehen Bilderrahmen mit kleinen Zeichnungen, antike und ausgefallene Möbel bilden einen hervorragenden Kontrast zu den modernen, glatten Oberflächen. Hinter dem Schreibtisch hängt ein großes Gemälde, auf dem die Beine eines Mannes zu sehen sind. Sie sind sonderbar verdreht. Darunter befindet sich eine Eisfläche, die von Sprüngen durchzogen ist, wie man das von Schlittschuhbahnen kennt. Die Hosen und die braunen Schuhe lassen unmittelbar an einen Geschäftsmann denken, aber die Szene hat etwas Beunruhigendes, Zweideutiges. Ich habe das ungute Gefühl, vor einem sehr raffiniert platzierten Rorschachtest zu sitzen. Man kann nämlich nicht sehen, ob der Mann gemütlich auf dem Eis sitzt oder gestürzt ist. Ist die Eisdecke dick genug und sicher, oder wird er gleich einbrechen?

»Nimm dir gerne ein Croissant, die haben die perfekte Knusprigkeit«, sagt Neumann und zeigt auf einen Brotkorb, der auf dem niedrigen Tisch zwischen uns steht. Die Stühle sind sehr bequem, es gibt Wasser und Kaffee in reichlichen Mengen. Die Schachtel mit den Kleenex-Tüchern für weinende Klienten steht etwas abseits in einem Regal.

Es ist das erste Mal für mich. Nicht etwa, weil meine Psyche keinen Bedarf für Verbesserung und Heilung hätte, sondern weil ich dieser Zunft gegenüber immer ein gewisses Misstrauen hegte. Im Gegensatz zu den Neurowissenschaften, die mich geprägt haben, zeichnen sich weite Teile der Psychologie durch bloße Theoriebildung und Annahmen ohne jede empirische Grundlage aus. Ich habe mich für Asger Neumann entschieden, weil er sich aus beruflichen Gründen für die Liebe interessiert und sie durch eine Linse betrachtet, die sich zwar auf die Erkenntnisse der Wissenschaft beruft, aber gleichzeitig über ein beeindruckendes Weitwinkelobjektiv verfügt.

»Dein Projekt ähnelt in vielerlei Hinsicht meinem eigenen«, sagte er, als ich ihn das erste Mal anrief und ihm mein Interesse für das Wesen der Liebe schilderte.

»Bei mir gibt es, wie bei dir, einen Auslöser für mein Interesse«, erzählt er mir jetzt. In den 80er-Jahren war Neumann als Student Mitglied des Det Neodepressionistiske Danseorkester, einem New-Wave-Orchester aus Aarhus, das 1985 sein erstes Album veröffentlichte. Das Studio gehörte der dänischen Rockband Gnags mit ihrem Frontmann Peter A. G. Nielsen, kurz Peter A. G.

»Ich erinnere mich ganz genau an den Tag, als uns Peter A. G. gerade etwas Technisches erklärte und uns dann plötzlich und aus heiterem Himmel mitteilte, dass er sich scheiden lässt. Er war am Boden zerstört, was mich verwirrte. Ich war fest davon überzeugt, dass dieser Mann, der so viele Texte über die Liebe und Beziehungen geschrieben hat, eine Art Experte ist. Aber das stimmte ganz offensichtlich nicht. Weshalb hatte ich ihm so lange zugehört, als er über die Liebe gesprochen hat?«

Während seines Psychologiestudiums schloss sich Neumann dem Anthropologischen Forum an, einer Plattform für jene, die sich mit den sogenannten anthropologischen Konstanten beschäftigten. Damit sind die universellen Aspekte unserer menschlichen Grundkonstitution gemeint. Wir können es auch die menschliche Natur nennen. Diese Aspekte können zwar eine unterschiedliche, kulturelle Ausprägung und Gestalt haben, je nachdem, wo und wann man mit ihnen in Berührung kommt, aber sie alle haben ein gleichbleibendes und übereinstimmendes Fundament, denselben Ursprung.

»Die Liebe tauchte irgendwann als Thema in mir auf, und ich wusste, dass ich mich damit beschäftigen will. Weil sie als Phänomen so viele Gebiete der Psychologie berührt, die Entwicklungspsychologie, die Psychoanalyse und die Sozialpsychologie. Außerdem streckt die Liebe ihre Fühler weit in die angrenzenden Wissenschaften, die Biologie, die Anthropologie und Soziologie – ja, auch die Theologie, wenn man so weit gehen will?«

Ich erwidere nichts darauf, sondern konzentriere mich darauf, mir Kaffee einzuschenken. Neumann ignoriert mein Schweigen und fährt fort.

»Die Liebe ist ein Phänomen, das eine konstituierende Bedeutung für die menschliche Natur hat. Sie ist die Grundform unseres Daseins, muss aber gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden.«

Das erinnert mich an ein Gespräch, das ich mit dem amerikanischen Neurobiologen Robert Sapolsky geführt habe. Er betonte, dass es unmöglich ist, die menschlichen Handlungen und Gefühle nur anhand eines einzigen Parameters erklären zu können. Ob wir uns einen bestimmten Botenstoff, ein Areal im Gehirn, ein Gen oder die besonderen Umstände unserer Vorfahren in der Savanne genauer ansehen. Alle Parameter müssen gleichzeitig aktiv sein. Um zu einem wahrhaftigen Verständnis für die Gefühle und Handlungen zu gelangen, ist es erforderlich, alle wissenschaftlichen Erkenntnisse zurate zu ziehen und sowohl unser Gehirn, unsere Kultur und unsere Entwicklungsgeschichte zu berücksichtigen.

»Wir können unsere menschliche Natur auch als die Basis bezeichnen, sie bildet die unterste Ebene. Darüber kann uns die Evolutionslogik und evolutionäre Psychologie einiges verraten und uns die mentale Entwicklung unserer Art erklären«, sagt Asger Neumann. »Über dieser Basis gibt es eine Ebene, auf der die individuelle Genetik und die Varianten der menschlichen Biochemie eine Rolle spielen. Details, die dafür sorgen, dass mein Gehirn anders reagiert als deins. Und darüber haben wir die Ebene der Familie und Kultur, in der wir aufgewachsen sind und die einen extrem starken Einfluss darauf hat, wie wir die Liebe sehen. Diese kulturelle Ebene ist verantwortlich für unsere Scham- und Schuldgefühle und prägt unser Verständnis von richtig und falsch, erstrebenswert und so weiter. Und über alldem, über der Natur und der Kultur, schwebt eine Metaebene, in der wir als Individuum die vielen verschiedenen Einflüsse reflektieren und abwägen. Folge ich den Konventionen oder nicht?«

Plötzlich huscht ein Lächeln über sein Gesicht, er legt sein angebissenes Croissant beiseite. Offenbar ist ihm ein Gedanke gekommen.

»Das ist jetzt ein bisschen peinlich, aber um es zu verbildlichen, erzähle ich dir von einem Geburtstagsfest, auf dem ich vor Kurzem war. Ich habe mich mit einer Frau intensiv und interessant über die Betreuungsinstitutionen in der Stadt unterhalten, aber … ihr Dekolleté war wirklich tief ausgeschnitten.«

Trotz bester Intentionen hatte er beträchtliche Schwierigkeiten, sich auf die Partie oberhalb des Ausschnitts zu konzentrieren.

»Am Tag danach sah ich die Parallelen zu einem Spaziergang mit meinem Hund. Wenn er abhaut, um einem anderen hinterherzulaufen. Ich brülle ihm hinterher, und dann bleibt er auch stehen. Aber dann macht er ein paar Schritte vor, dann wieder zurück. Als würden in ihm zwei Kräfte arbeiten, die Natur zieht ihn weiter, und die Erziehung kämpft dagegen an. Bei mir fand etwas Ähnliches statt. Im Unterschied zu meinem Hund aber kam noch etwas Drittes hinzu, die Reflexion. Wir müssen unsere Natur die ganze Zeit beherrschen, weil wir gegenüber der Welt und der Wirklichkeit, in der wir leben, eine Verpflichtung haben.«

Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, als würde er mir jetzt den Ball zuwerfen wollen.

»Auch du hast diese Ebenen in dir, von deiner ursprünglichen Natur bis hin zu den Feinheiten deiner Kultur und Selbstreflexion. Wenn du damit einverstanden bist, werden wir versuchen, sie genauer anzusehen?«

»Ich erinnere genau, als du mich das erste Mal angesehen hast. Als wäre es gestern gewesen.«

So fing die Lieblingsgeschichte meines Vaters an. Sie spielte sich 1966 ab, in einer Zeit, als Väter noch nicht mit in den Kreißsaal geschleppt wurden. Er saß zu Hause mit meiner Großmutter in unserer Wohnung in Trøjborg, rauchte Kette und wartete auf den Anruf vom Geburtshaus. Ich war ein paar Stunden alt, als mein Vater seine Frau und seine kleine Tochter besuchen durfte. Er hob mich aus dem Kasten auf Rädern, in die man früher die Neugeborenen gelegt hat, und wiegte mich in den Armen. Da habe ich plötzlich die Augen aufgeschlagen.

»Woom!«, hat er immer gesagt und beschrieben, dass sich dieser Moment wie eine innere Explosion angefühlt hat. »Du hast mich angesehen, tief in mein Inneres. Du hast durch mich durchgesehen.«

»Jetzt hör auf damit, Papa«, habe ich jedes Mal geantwortet und so getan, als würde mich seine wahnsinnige Übertreibung stören. Ein Neugeborenes kann noch überhaupt nichts mit dem Blick fixieren, habe ich erwidert. Es sieht nur verschwommene Umrisse seiner Umgebung und hat von nichts eine Ahnung. Es ist ein unkoordinierter Haufen von Instinkten und Reflexen, ein übergroßer Fötus, sonst nichts. Aber mein Vater lächelte nur wie jemand, der über privilegiertes Wissen verfügt, und beharrte auf seiner Deutung. Ich hätte ihn nicht nur gesehen, sondern angeschaut und für gut befunden.

Das kann ich auf den Fotos in dem alten Album aus den 60-ern nachprüfen, das in meinem Bücherregal steht. Die Seiten sind beklebt mit Schnappschüssen von der kleinen Lone in den unterschiedlichsten Posen und Situationen oder von Lone und Papa. Es gibt auffällig wenige Fotos von Lone und Mama. Und auf denen, die es gibt, kümmert sich meine Mutter eher um praktische Dinge wie mich zu baden, zu wickeln oder mir unter Protest die Ohren zu säubern. Bei meiner Taufe hält meine Mutter mich in Kleidchen und mit Schleifchen bestückt in den Armen. Sie selbst trägt eine Perlenkette und strahlt in die Kamera, während ich mürrisch den Kopf zur Seite drehe.

Die Fotos mit meinem Vater erzählen etwas anderes, sie zeigen uns immer bei einer gemeinsamen Unternehmung oder in ein Gespräch vertieft.

Auf einem bin ich eine vier Jahre alte Akrobatin in kurzem Kleid und mit Sonnenhut auf dem Kopf. Es ist ein warmer Sommerabend, und ich stehe barfuß auf den Schultern meines Vaters, der breit in die Kamera grinst. Er hält eine meiner Hände, während ich die andere frech in den Himmel strecke. Unser Schatten auf dem Rasen sieht aus wie ein Fabelwesen.

Auf einem anderen bin ich noch etwas jünger. Ich sitze in einem weißen Gitterbettchen, über mir ein Hampelmann, an meiner Seite mein roter Stoffelefant, der mit mir unter der Decke liegt. Mein Vater sitzt auf dem Boden neben dem Bett und hat das Buch Mein Hunde ABC in der Hand. Mein Zeigefinger schwebt über einer der Abbildungen. Man kann deutlich sehen, dass sich unsere Lippen bewegen.

Aber die tiefe Verbindung zu meinem Vater ist schon auf einem der ersten quadratischen Schnappschüsse erkennbar, auf dem ich erst ein paar Wochen alt bin. Meine Mutter hat das Foto gemacht, sie muss dabei auf einem Stuhl gestanden haben, denn man sieht den Raum von schräg oben. Wir sind im Wohnzimmer der ersten Wohnung meiner Eltern, zwei Zimmer unterm Dach in der Tordenskjoldgade. Der grobe graue Teppich mit dem geometrischen Muster hat seit den 50er-Jahren Winterschlaf gehalten. Mein Vater steht in Strümpfen vor einer Kommode aus Mahagoni mit Messingbeschlägen. Er ist nicht älter als 25 Jahre, schlank mit vollem, schwarzem Haar und säuberlich gestutztem Bart. Er hält mich in den Armen. Ich liege auf einem Samtkissen mit Spitzenbesatz wie ein glänzendes Schmuckstück und trage einen weißen Strampler. Aus weit aufgerissenen Augen in einem viel zu großen Kopf starre ich meinen Vater an. Er hat den Kopf gesenkt, sieht mich an, und man hat den Eindruck, dass er mit sanfter Stimme zu mir spricht. »Mein kleiner Schatz, schlaf jetzt ein«, hat meine Mutter in Schönschrift unter das Foto geschrieben.

»Nichts in der Biologie macht Sinn außer im Lichte der Evolution.«

Das schrieb der ukrainisch-amerikanische Genetiker Theodosius Dobzhansky 1973 in einem berühmten Essay. Der Satz taucht wieder auf, als ich an Asger Neumanns Worte über die Basis der Liebe denken muss und die Evolutionslogik, die auf dieser Ebene ihre größte Wirkung entfaltet. Was zwischen Eltern und Kindern passiert, gibt uns nicht nur die Möglichkeit, den Ursprung der Liebe zu entdecken. Es erklärt auch, warum wir Menschen so anders sind.

Wenn wir uns die Säugetiere ansehen, zu deren Klasse wir gehören, zeichnet sie vor allem die besondere Art der Brutpflege aus – was schon das namengebende Merkmal der Klasse andeutet. Aber nur bei etwa drei bis fünf Prozent aller Säugetierarten kommt es zur Paarbildung oder zur Beteiligung der Männchen bei der Aufzucht, so wie wir Menschen das machen. Sogar unter unseren nächsten Verwandten, den Großaffen, sind wir die Einzigen. Also warum ausgerechnet der Mensch?

Da kommt wieder Dobzhanskys Diktum ins Spiel. Es war einer meiner fachlichen Offenbarungen, die ich im Laufe meines fünfjährigen Studiums der Biologie erlebt habe, und mit Abstand die weitreichendste. Ich hatte das Modul Evolutionstheorie belegt, von dem ich mir keine großen Hoffnungen machte. Ich hatte mich für Biologie entschieden, weil ich eine Faszination für das Gehirn mit all seinen Facetten hatte. Evolutionstheorie fand ich dagegen ziemlich verstaubt. Das Fach klang für mich nach Archäologie. Ich wollte hinaus in die Welt und das moderne Gehirn erforschen und neue, unbekannte Territorien bereisen. Was kümmerten mich die primitiven Lebensformen der Vorzeit oder die Fossilien meiner längst verstorbenen Vorfahren mit zu ausgeprägter Stirnwulst?

Während einer der Vorlesungen blätterte ich gelangweilt in meinem Lehrbuch und stieß auf diesen Satz, die Überschrift eines Artikels. Die kursiven Buchstaben und etwas an der Formulierung weckten mein Interesse, und ich las weiter. Dobzhansky beschrieb darin eine neue Logik, einen Deutungsrahmen, der für die gesamte lebende Natur anwendbar ist und jedes Rätsel aufklären kann. Diese Logik ist einfach, schön und einleuchtend, wenn man sie verstanden hat.

Dobzhansky erinnert uns daran, dass die Eigenschaften der Organismen nur existieren, weil sie einen unaufhörlichen, evolutionären Prozess durchlebt haben und man diesen Prozess betrachten muss, um sie zu verstehen. Wir sind vielleicht erst gestern zur Welt gekommen, aber unsere DNA ist Milliarden Jahre alt und hat eine Reise durch eine unüberschaubar lange Anzahl anderer Individuen hinter sich, bis sie unsere wurde. Unsere Vorfahren haben sich gepaart und ihr Erbmaterial kombiniert. Und diese Informationen wurden im Laufe der Zeit mit der akkuraten Schere der Evolution zurechtgeschnitten.

Man muss akzeptieren, dass die Evolution keine Romantikerin ist. Die treibenden Kräfte der Entwicklung besitzen weder Werte noch Moral. Sie haben kein Ziel und keine bestimmte Richtung. Sie streben auch nicht nach etwas Höherem, Besserem. Sie werden nicht durch Sorgen gequält oder müssen jemanden oder etwas versorgen. Es ist eine notwendige, unvermeidliche Anpassung an die Umstände und den Druck, der durch die verschiedensten Faktoren ausgelöst wird. Die Natur verursacht pausenlos Veränderungen, die für die einen von Vorteil, für die anderen von Nachteil sind. Wenn es beispielsweise an einem Ort wärmer und trockener wird, werden es Individuen einer dort ansässigen Art, die Wärme und Trockenheit nicht gut tolerieren, schwerer haben zu überleben. Denjenigen, die damit besser umgehen können, wird das leichter fallen.

Die armen Individuen, die den Kräften der Evolution ausgesetzt sind, wandern in vollkommener Unwissenheit umher und tun, was sie nun einmal tun. Nicht ahnend, dass ihre Entscheidungen und Handlungen ausschließlich daran gemessen werden, wie viele Nachkommen sie in die Welt setzen können. Am Ende zählt nämlich in der großen Bilanz der Natur nur, wem es am effektivsten gelungen ist, seine Gene in den großen Genpool zu werfen und weiterzugeben. Man kann ein hübsches, talentiertes und in jeder Hinsicht bewundernswertes Exemplar sein – in der evolutionären Arena hat das keinerlei Bedeutung, wenn man sich nicht vermehrt und Nachkommen gezeugt hat, die eine Überlebenschance haben.

Der Grundgedanke ist denkbar einfach, aber das bedeutet nicht, dass es einem genauso leichtfällt, die evolutionäre Logik oder den Ursprung des Ganzen zu durchschauen. Stattdessen muss man eine Zeitreise machen, Millionen von Jahren zurückgehen, um sich vorstellen zu können, welche Kräfte dafür verantwortlich waren, dass sich neue Arten gebildet haben und sie mit ihrem Verhalten Spuren in deren Nachfahren hinterlassen haben, die bis heute nachwirken. Dafür kann man sich nicht nur den Einfluss der Umweltfaktoren ansehen, sondern muss auch die Lebensform der Organismen und ihr inneres Milieu berücksichtigen. Sind die Tiere Einzelgänger, oder leben sie in Gruppen, und wenn ja, wie groß sind diese Gruppen? Wie haben sie miteinander kommuniziert?

Der Weg führt von Dobzhansky direkt zur Evolutionspsychologie. Denn auch für den Inhalt des Schädels gilt dasselbe wie für die physischen Eigenschaften – unser aufrechter Gang oder der abgespreizte Daumen, der es uns ermöglicht, Objekte sehr detailgenau zu bewegen – sie sind teilweise durch die Evolution verändert worden. Mentale Eigenschaften, Psyche und Verhalten entspringen dem Gehirn und seiner komplexen und komplizierten Zellbiologie, Biochemie und elektrischen Aktivitäten. Natürlich reagiert das Gehirn auf Einflüsse von außen, aber dessen Reaktionen beruhen nicht allein auf gesammelten Erfahrungen, sondern auch auf den Optionen, die von Anfang an in sein System integriert wurden. So wie der Körper hat sich auch die Psyche an die äußeren Umstände angepasst. Das Leben im afrikanischen Busch, in kleinen Gruppen und das über mehrere Hunderttausend Jahre lang, hat seine Spuren hinterlassen. Sie schlagen immer wieder durch und können auch bei den besonders digitalisierten Vertretern der Spezies und naturentfremdeten Stadtmenschen gefunden werden.

Allerdings gibt es nicht die eine mentale Eigenschaft, die wir Menschen ganz für uns allein haben und die nicht in einer ungeschliffenen und primitiveren Ausgabe bei einer anderen Tierart auf dieser Welt existiert. Die Forscher haben sich immer wieder mit großem Aufwand auf die Suche gemacht, um das eine Einzigartige zu finden, das den Homo sapiens endgültig von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Zuerst führte man den Gebrauch von Werkzeugen an, später die Ausbildung von Sprache, aber keiner der beiden Aspekte hielt bei genauerer Betrachtung stand. Nicht nur unsere nächsten Verwandten, die Großaffen, sondern auch die Krähenvögel sind ziemlich geschickt im Umgang mit Werkzeugen. Und wenn man sich mit der Kommunikation im Tierreich beschäftigt, wird man regelrecht überschwemmt von Beispielen. Tanzende Bienen, das Schwarmverhalten von Singvögeln bis hin zu Walgesängen und der Mimik von Menschenaffen.

Wir müssen wohl akzeptieren, dass es keine geistige Eigenschaft gibt, weder eine kognitive noch eine emotionale, die nur wir besitzen. Man kann aber Unterschiede festmachen, in der Fähigkeit, sich auszudrücken und vor allem in der Komplexität. Hunde und Makaken folgen zum Beispiel einer sehr basalen Moral und entscheiden unmittelbar, ob etwas fair oder unfair ist. Wir hingegen haben raffinierte Moralphilosophien entwickelt, mit den verschiedensten Grundsätzen und Prinzipien über das Gute.