Liebe mit Blick aufs Meer - Marcia Willett - E-Book

Liebe mit Blick aufs Meer E-Book

Marcia Willett

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Beschreibung

Es ist Sommer in Salcombe, und das verträumte Küstenstädtchen mit Blick auf die im türkisblauen Wasser schaukelnden Boote lädt zum Verweilen ein. Cara hat nach einem schmerzvollen Verlust ihre Londoner Wohnung aufgegeben, um hier einen Neuanfang zu wagen. Auch Cosmo findet sich in Salcombe wieder, als er nach einem Zwist mit seiner ehrgeizigen Partnerin Rebecca kurzfristig einen Auftrag dort annimmt. Und Max würde das paradiesische Örtchen niemals freiwillig verlassen. Doch seine Frau Judith will das gemeinsame Haus verkaufen, um nach Oxford zu ihren Enkeln zu ziehen. Sie alle sehen einem Sommer voller Überraschungen entgegen ...

"Eine wunderschön erzählte Geschichte über Familien und ihre Geheimnisse" LIZ FENWICK

"Beste Feelgood-Lektüre - mitreißend und berührend" DAILY MAIL

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Seitenzahl: 386

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Sammlungen



Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Erster Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Zweiter Teil

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Dritter Teil

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Über das Buch

Nach einem schmerzvollen Verlust gibt Cara ihre Londoner Wohnung auf, um im idyllischen Salcombe an der englischen Südküste einen Neuanfang zu wagen. Max liebt sein Leben in dem paradiesischen Örtchen, doch seine Frau Judith will das gemeinsame Haus verkaufen, um nach Oxford zu ihren Enkeln zu ziehen. Cosmo fühlt sich überfordert von der ehrgeizigen Rebecca und nimmt kurzfristig einen ungewöhnlichen Auftrag in Salcombe an. Sie alle blicken einem Sommer voller Überraschungen entgegen …

Über die Autorin

Marcia Willett, in Somerset geboren, studierte und unterrichtete klassischen Tanz, bevor sie ihr Talent für das Schreiben entdeckte. Ihre Bücher erscheinen in 18 Ländern. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Devon, dem Schauplatz vieler ihre Romane.

Besuchen Sie die Website der Autorin: www.marciawillett.co.uk

Marcia Willett

Liebe mit Blick

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe: Copyright © Marcia Willett 2019 Titel der englischen Originalausgabe: »Reflections« Originalverlag: Bantam Press an imprint of Transworld Publishers

Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln Titelillustration: © shutterstock/sumroeng chinnapan; © Konmac; 1000 Words; Olga Emrullah; Myroslava Pavlyk; schankz; Ratthaphong Ekariyasap; naKornCreate; H Athey/Shutterstock; © Michael Roberts/gettyimages Covergestaltung: Kirstin Osenau E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7517-0977-4

luebbe.delesejury.de

Erster Teil

1. Kapitel

Die Stadt erwacht, reckt sich und rüstet sich für den Tag. Noch herrscht kein Verkehr. Keine Touristen sind unterwegs. Es ist ein warmer, goldener Morgen im September. Nebelfetzen liegen über der Flussmündung, weiße Flügel, die tief über das Wasser gleiten. Die Baumkronen wirken durch das frühe Sonnenlicht wie in Feuer getaucht. Vor dem Haus in der Buckley Street schließt Cara leise die Eingangstür hinter sich, überquert die Straße und geht schnell die Steintreppe hinunter, die zum Fortescue Inn führt. Am Kai bleibt sie kurz stehen und sieht über den Hafen hinweg zu den glatten Sandstränden und bewaldeten Buchten hinaus, die weiter weg an der Küste liegen. Dann dreht sie sich spontan um und läuft die Fore Street entlang. Am Fuß der Ferry Steps wartet bereits die kleine Passagierfähre, und Cara geht an Bord, löst einen Fahrschein und setzt sich in den Bug. Mehrere Einheimische, die auf dem Weg zur Arbeit sind, gesellen sich zu ihr, der Motor springt an, und das Boot fährt quer durch den Hafen hinaus, nach East Portlemouth.

Merkwürdig, denkt sie, dass man schon so wenige Meter vom Festland entfernt ein solches Gefühl von Freiheit empfindet, so einen Abstand zur Realität.

Sie wirft einen Blick zur Flussmündung, wo sich die silbrige seidige Haut der See bis zum dunstigen, verschwommenen Horizont erstreckt. Ein kleines Boot fährt in Richtung Hafen und hält sich an das tiefere Fahrwasser, als es an der gefährlichen Sanddüne namens The Bar entlangfährt.

Das Motorengeräusch der Fähre wird zu einem Schnurren, als sie an dem hölzernen Ponton entlanggleitet, und Cara wartet darauf, aussteigen zu können. Kaum ist sie auf den Sand hinuntergetreten, hält sie inne, um zuerst einen und dann den anderen Schuh auszuziehen, sodass sie den weichen Sand zwischen den Zehen spürt. Mit den Schuhen in der Hand geht sie am Strand entlang und setzt sich dann auf einen Felsbrocken.

Cara hat den Eindruck, dass Salcombe sich in den dreißig Jahren, seit ihr Bruder Max das Haus in der Buckley Street gekauft hat, nicht verändert hat. Zeit bedeutet hier nichts. Wenn sie hier sitzt, kann sie sich einbilden, dass sie nicht allein ist, dass Philip gleich den Strand entlanggeschlendert kommt; dass sie ihr gemeinsames Haus in London nicht verkauft hat und immer noch eine feste Adresse besitzt.

Die Wellen rollen über den Sand, und Cara beugt sich vor, krempelt die Jeans hoch und steht auf – ihre zweite spontane Handlung an diesem Morgen. Sie geht den Strand hinunter und tritt vorsichtig ins Wasser. Es ist warm und fühlt sich auf ihrer nackten Haut seidig an, und sie steht da, spürt, wie es ihre Knöchel umspielt, und beobachtet ein Dingi, das jemand zu einer der Jachten hinaufrudert, die weiter oben am Fluss ankern.

Gleich wird sie die Schuhe wieder anziehen und die Fähre zurück nach Salcombe nehmen, zurückkehren in die Buckley Street, zu Max und dem Frühstück. Doch sie gönnt sich noch diesen Moment, in dem sie sich von ihren Erinnerungen davontragen lässt, und lauscht dem Kreischen der Seevögel, dem leisen Rauschen des Meeres und den Geräuschen, mit denen auf der anderen Seite des Flusses Salcombe erwacht.

Langsam fährt Cosmo Trent die steilen, schmalen Straßen entlang, die sich an Salcombe anschließen. Nicht, weil er nervös wäre, sondern weil er festgestellt hat, dass sich hinter fast jeder Einfahrt zu einem Hof oder hinter einer unerwarteten Kurve einer Straße eine Gelegenheit für ein Foto auftun kann. Hier ist eine. Ein wunderbarer Bildaufbau. Cosmo bremst und setzt zurück, um die genaue Perspektive wiederzufinden. Zwischen hohen Böschungen, die mit Erlen und Dorn- und Haselnussbüschen bewachsen sind, fließt ein schmaler, brackiger Bach bis an den Straßenrand. Auf der Böschung über dem Wasserlauf steht ein Haus, das von den Bäumen fast verborgen wird, doch eine Treppe führt zu einer Anlegestelle hinunter. Eine hölzerne Fußgängerbrücke überspannt den Bach, und am anderen Ufer ist ein Schild in den Schlamm zwischen dem Schilf gerammt: Privat. Angeln verboten. Ein kleines Dingi, das von seiner Anlegestelle weggetrieben ist, ist durch die steigende Flut unter der wackligen Fußgängerbrücke eingeklemmt worden. Jenseits dieser Szene gleitet weiter flussabwärts ein Schwan elegant auf den Oberlauf der Flussmündung zu.

Als Cosmo sich auf seinem Platz zur Seite wendet, um durch das Beifahrerfenster zu sehen, nimmt er eine Bewegung im hinteren Teil des Wagens wahr. Er wirft einen Blick zurück und sieht, dass Reggie ihn beobachtet. Mit den lang herabhängenden Ohren und den braunen Spanielaugen bringt er es fertig, sowohl geduldig als auch vorwurfsvoll dreinzublicken.

»Tut mir leid, alter Junge«, murmelt Cosmo und legt die Kamera auf den Sitz zurück. »Du darfst nicht vergessen, dass das alles neu für mich ist. Für dich ist das normal. Du bist daran gewöhnt.«

Wenn Reggie seufzen und die Augen verdrehen könnte, würde er das jetzt tun, und Cosmo lacht.

»Ich kann eine Anspielung verstehen«, meint er fröhlich. »Also nach Hause.«

Nach Hause. Sein Heim für die nächsten paar Monate ist ein modernes Wunderwerk aus Stein, Holz und Glas. Die ausgebaute Scheune liegt fast ganz oben an dem Bachlauf, und Cosmo liebt das helle, geräumige Gebäude, die schweren hölzernen Querbalken hoch unter dem Dach und die Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichen. Er fährt weiter und denkt über die Umstände nach, die ihn hergeführt haben: seine Entscheidung, sich ein paar Monate Auszeit von seinem Job als Analyst für Risikobewertung bei einer Investmentbank in London zu nehmen; und sein Kollege Alistair, der ihm erzählte, seine Eltern suchten jemanden, der Haus und Hund hüten kann.

»Sie hatten jemanden in Aussicht«, erklärte Al, »aber die Frau hat im letzten Moment abgesagt, und die beiden haben die Kreuzfahrt schon gebucht und alles. Du wirst die Gegend lieben.«

Al und er sind befreundet, seit sie beide vor fünf Jahren nach ihrem Studienabschluss in die Bank eingetreten sind. Als Alistairs Eltern Cosmo zu einem Probewochenende nach Salcombe eingeladen hatten, waren sie mit Als Auto aus London hergefahren. Seine Eltern, die sich vor Kurzem in ihrem Traumhaus zur Ruhe gesetzt hatten, waren entzückend. Reggie war gut erzogen und gutmütig; und selbst das Problem, dass Cosmo kein Auto hatte, war rasch gelöst.

»Der Hundesitter ist als Fahrer für Mums alten Suzuki eingetragen«, erklärte Al ihm. »Und Dad hat ein Kundenkonto beim hiesigen Weinhändler.« Er lachte. »Drei Monate bezahlter Urlaub in traumhafter Lage, mein Alter. Perfekt, oder?«

Noch ist Cosmo nichts aufgefallen, was nicht perfekt wäre. Nach zwei Wochen hier kommt ihm London irreal vor. Jeden Morgen, wenn er die Holztreppe hinunterkommt und durch diese riesigen Fenster auf den sich ständig verändernden Wasserlauf hinaussieht, ist es ihm fast unmöglich, sich die Hektik und das Gewimmel der Stadt vorzustellen, den Lärm und das Gedränge in der U-Bahn. Cosmo brüht Kaffee auf und trägt ihn auf das kleine Rasenstück hinaus. Reggie folgt ihm auf dem Fuß. Manchmal ist es so früh, dass die ganze Szene schwarz-weiß wirkt, und dann geht die Sonne langsam aus gewaltigen grauen Wolkenbergen auf, und der Wasserlauf wirkt wie verwandelt.

Jetzt, am Steuer, ist sich Cosmo der letzten Blütenkronen des Geißblatts bewusst, das durch die Hecken rankt, der sich rosig färbenden Beeren des Weißdorns und der reifen Brombeeren. Auf beiden Seiten des Hügels breiten sich vier kleine Felder aus. Sie sind ordentlich durch Hecken getrennt, wie eine Flagge. Jedes weist eine andere Farbe auf: rote fruchtbare Erde, hellgoldene Stoppeln, leuchtend grünes Gras und stumpfbrauner Schlamm. Cosmo bremst und lehnt sich aus dem Fenster, um noch ein Foto zu machen.

»Was in aller Welt treibst du bloß den ganzen Tag?«, fragt Rebecca jedes Mal, wenn sie telefonieren. Ihr Ton ist eine kalkulierte Mischung aus Unglauben und sarkastischer Belustigung. »Welcher Mensch, der seinen Verstand beisammen hat, könnte die Langeweile ertragen?«, lautet der Subtext. Er hat nicht vor, sich von ihren Versuchen, ihn aus der Ferne zu kontrollieren, beeinflussen zu lassen. Wenn er ehrlich ist, verblüfft es ihn ziemlich, wie wenig Rebecca ihm fehlt und wie erleichtert er darüber ist, dass sie nicht den Wunsch hat, ihn hier im Westen zu besuchen.

»Ich habe viel zu viel zu tun«, erklärt sie, wenn er sie übers Wochenende einlädt. »Du weißt doch, wie es im Moment aussieht.«

Ihre leicht ungeduldige Reaktion besagt, ihm müsse doch klar sein, dass sie sich unmöglich freimachen kann. Rebecca ist Anwaltsassessorin und mit einem komplizierten Fall beschäftigt, von dem sie hofft, dass er ihr Beifall einträgt und ihre Karriere voranbringt. Obwohl sie klargemacht hat, dass er auf Dauer zu ihr ziehen könnte, hält Cosmo seine kleine Wohnung in Hackney weiterhin. Sie haben Spaß miteinander, Rebecca ist attraktiv und klug, und doch hält ein Instinkt ihn davon ab, sich endgültig zu verpflichten. Er hofft, dass seine Auszeit ihm helfen wird, Klarheit zu gewinnen.

Cosmo lenkt den Suzuki auf den Pfad, der am Farmhaus vorbei und zur Scheune führt. Ein kleiner Teil der Felder ist zusammen mit der Scheune verkauft worden, und man hat Büsche und Schösslinge gepflanzt, um eine neue Hecke zu bilden. Durch das Tor fährt er in den Anbau, der auch einen großen Stapel Feuerholz beherbergt, und steigt aus. Reggie springt auf und ab und läuft davon, um sein Revier zu überprüfen. Cosmo beobachtet ihn und genießt den Sonnenschein und den Frieden. Hier, am oberen Teil des Wasserlaufs, drängen sich oberhalb des Fahrwegs, der sich um die Landspitze herum und nach Salcombe hinein davonschlängelt, ein paar Häuser zusammen, doch niemand ist unterwegs. Der Morgen ist klar und heiß. Cosmo weiß, dass dieser Spätsommer nicht lange währen wird. Vielleicht wird er es hier einsam und deprimierend finden, wenn es abends früher dunkel wird und die Westwinde Regen herantragen. Aber unterdessen wird er Reggies Leine suchen, und sie werden zu Fuß nach Salcombe hineingehen. Er wird sich mit einem Bier und einem Sandwich vor den Pub setzen und die Boote beobachten. Cosmo denkt an Al und lächelt: perfekt, allerdings.

Reggie und er brechen auf und umrunden die Quelle des Wasserlaufs. Als die Flut einläuft, schaukeln Dingis an ihren Anlegestellen, und ein Schwan fliegt auf und verwirbelt mit seinen mächtigen Schwingen die Wasseroberfläche zu Schaum, sodass die versprühten Tropfen im Sonnenschein blitzen. Reggie läuft voraus, sieht sich von Zeit zu Zeit um, um festzustellen, ob Cosmo mit ihm mithält, und bleibt stehen, um auf ihn zu warten.

»Tut mir leid«, sagt Cosmo und beeilt sich, zu ihm aufzuschließen. Er steckt sein Handy wieder in die Tasche und bereut, die Kamera nicht mitgenommen zu haben.

Als sie die Werft passieren, leint Cosmo Reggie an, und sie gehen zusammen weiter und biegen in die Island Street ein. Die alten Werften und Segelmacherwerkstätten, der Geruch nach Salz, Lack und Teer und die originellen Läden und Cafés faszinieren ihn. Die Sommertouristen sind verschwunden, doch es sind immer noch Menschen unterwegs, die den Sonnenschein genießen, am Wasser Pasteten essen und über die Fore Street bummeln.

Es ist noch zu früh fürs Mittagessen, und Cosmo beschließt, in dem Café in der Fore Street einen doppelten Espresso zu trinken. Die Tische im Freien sind besetzt, doch drinnen ist Platz, daher befiehlt er Reggie, sich neben einem Stuhl hinzulegen, und tritt an die Theke, um sein Getränk zu bestellen. Das Personal ist freundlich, und ein älterer Herr lächelt und bleibt auf dem Weg nach draußen stehen, um Reggie zu streicheln und ihm gut zuzureden, sodass Cosmo sich schon fast wie ein Einheimischer fühlt.

Während Cosmo sich setzt, denkt er über diese freundliche Atmosphäre nach, daran, wie hier Fremde einander einen guten Morgen wünschen oder Bemerkungen über das Wetter machen. Er ist nicht an Augenkontakt und kurze Wortwechsel gewöhnt, und ihm gefallen diese Lockerheit und gute Laune. Auch die Worte »Dolce far niente«, die mit Kreide an eine Tafel über seinem Kopf geschrieben stehen, bringen ihn zum Lächeln. Das »süße Nichtstun« passt perfekt zu seiner Stimmung. Durch die offene Tür sieht er hinaus auf die sonnige Straße und die Menschen, die in sein Blickfeld herein- und wieder hinaustreten, und fragt sich, ob es Rebecca hier gefallen würde. Sie wäre unruhig, bis sie einen Plan hätte. Ihr Smartphone würde ihr Treffpunkte zeigen, Sehenswürdigkeiten, Galerien, die sie besuchen kann. Rebecca kann mit der Süße des Nichtstuns nichts anfangen.

Mit einem Mal wird der Sonnenschein verdeckt, als jemand hereinkommt. Die Gestalt bildet zuerst nur eine Silhouette vor der Helligkeit draußen und wirkt dann klarer umrissen, als das Mädchen in das Café tritt. Sie hat sich die langen dunklen Locken mit mehreren Spangen hochgesteckt und trägt eine weiße, mit Farbe bespritzte Latzhose. Jemand, der hinter der Theke steht, ruft ihr einen Gruß zu, und sie lächelt zurück, sieht sich um und fängt kurz Cosmos Blick auf. Cosmo beugt sich vor, um Reggie zu streicheln, denn er möchte sie nicht anstarren. Sein Espresso wird gebracht, eine kleine Schar Neuankömmlinge schneit herein, und das Mädchen verlässt das Café und nimmt den Coffee-to-go mit. Cosmo fühlt sich auf irrationale Art enttäuscht. Er trinkt von seinem eigenen Kaffee, zaust Reggie die Ohren und lehnt sich zurück, um den Moment zu genießen.

Cara, die am Nebentisch sitzt, beobachtet ihn. Der kleine Schock, der sie getroffen hat, als sie ihn hereinkommen sah, hat ihr Herz schneller schlagen lassen. Wie merkwürdig, dass dieser schmale, elegante junge Unbekannte sie nach fast vierzig Jahren so stark an Giovanni erinnert. Er ist der gleiche dunkle, italienische Typ wie Joe und strahlt diese eigenartig vertraute Energie aus; und er besitzt die gleichen eleganten Bewegungen und den breiten, zum Lächeln aufgelegten Mund.

Cara hebt ihre Tasse, um zu trinken. Sie umfasst sie mit beiden Händen, um sie im Gleichgewicht zu halten, und setzt die Ellbogen auf den Tisch. Trotzdem zittern ihre Hände ein wenig, und sie stellt die Tasse ganz behutsam wieder ab. Sie denkt daran zurück, wie sie in Joes kleinem Fiat durch das Verkehrsgewühl gerast sind, nachdem sie auf dem Flughafen Fiumicino angekommen war, an die Hitze und den Sex in dem Schlafzimmer hoch über der Stadt … Ihre Gedanken verbeißen sich in diese Erinnerungen, und da sieht sie, dass der junge Mann, der nicht Joe ist, ihr einen Blick zugeworfen hat. Ihre jahrelange Disziplin setzt sich durch, und sie entspannt sich, lässt die Schultern sinken, reckt das Kinn und lächelt ihm höflich zu.

Das Lächeln, mit dem er reagiert, ist freundlich und humorvoll, und er zeigt auf die Botschaft, die mit Kreide auf eine Tafel über ihnen geschrieben steht.

»Dolce far niente«, zitiert er. »Gefällt mir außerordentlich gut.«

Dass er seine ersten Worte auf Italienisch spricht, ist ein weiterer Schock für Cara, doch sie wahrt ihre Selbstbeherrschung und nickt. »Es sagt alles«, pflichtet sie ihm bei. »Und lässt mich vermuten, dass Sie hier Urlaub machen.«

»Gewissermaßen«, erklärt er und zeigt auf den Spaniel, der zu seinen Füßen liegt. »Ich hüte ein paar Monate lang Haus und Hund. Und Sie? Machen Sie hier Ferien?«

»Gewissermaßen«, antwortet sie und imitiert ihn in voller Absicht. »Ich suche einen neuen Wohnsitz. Zurzeit wohne ich bei meinem Bruder Max. Er und seine Frau besitzen seit Jahren ein Haus in Salcombe und haben sich jetzt darin zur Ruhe gesetzt.«

»Es ist einfach großartig hier, nicht wahr?«, sagt er beinahe wehmütig. »Ich meine, es ist völlig anders als London.«

»Ja«, stimmt sie ihm amüsiert zu. »Salcombe hat eindeutig nichts mit London zu tun. Das wird Ihnen besonders auffallen, wenn es Winter wird. Aber dann sind Sie wahrscheinlich schon wieder zurück unter den Lichtern der Großstadt.«

Der Hund fühlt sich durch die Unterhaltung ermuntert und versucht aufzustehen, und Cara streckt die Hand aus und krault ihm die braunen seidenweichen Ohren.

»Er heißt Reggie«, erklärt der junge Mann. »Und ich bin Cosmo.«

Cara senkt den Kopf und fährt fort, Reggie zu streicheln. Eigentlich möchte sie ihren Namen nicht nennen, aber sie weiß, dass sie seine freundliche Geste erwidern muss.

»Ich heiße Cara«, sagt sie zu ihm.

»Cara.« Erfreut lacht er auf. »Wir veranstalten hier einen ziemlich italienischen Vormittag, nicht wahr?«, ruft er aus. »Wie merkwürdig, obwohl ich über die Seite meines Vaters eine familiäre Verbindung nach Italien habe.«

Kurz durchfährt sie Panik, doch glücklicherweise erhebt sich jetzt Reggie, wedelt mit dem Schwanz und sorgt für Unruhe zwischen den Tischen. Cosmo steht auf.

»Ich sollte los«, sagt er. »Bestimmt laufen wir uns wieder über den Weg.«

»Wahrscheinlich«, gibt Cara zurück.

Sie sieht ihm nach, als er hinausgeht, und dann greift sie erneut nach ihrer Tasse. Ihr Kaffee ist fast kalt, aber sie trinkt ihn trotzdem und ringt die Symptome einer ausgewachsenen Panikattacke nieder. Während der letzten paar Monate seit Philips Tod erlebt sie immer wieder solche Episoden. Er war ihre Zuflucht, ihr Fels in der Brandung, ihr Mitverschwörer. Vierzig Jahre lang hat er den Spiegel gehalten, der ihr Leben reflektierte. »Wir haben das Bedürfnis, von anderen gesehen zu werden, um uns von unserer eigenen Existenz zu überzeugen.« Sie kann sich nicht daran erinnern, wo sie die Worte gelesen hat, aber sie glaubt an sie. Wer wird ihr jetzt den Spiegel vorhalten?

Cara trinkt den Kaffee aus. Sie denkt zurück an Giovanni und daran, wie er sie »Cara, Cara« gerufen hat – »Liebling, Liebling« –, und sie nannte ihn immer »Joe«. Sie hat ihn auf einer Party bei einer Freundin in Kensington kennengelernt. Da war sie fast zwanzig und er vier oder fünf Jahre älter. Seine Freunde und seine Familie exportierten Wein, sie waren kultiviert und weitgereist, und man amüsierte sich gut mit ihnen. Er sprach fließend Englisch, und als sie ihre italienischen Brocken an ihm ausprobierte, lachte er sie aus und meinte, das Wichtigste sei ihr Name. Wie attraktiv er war, und wie leicht es ihr fiel, sich in ihn zu verlieben!

Cara schiebt die Tasse beiseite. Diese Gedanken, die sie so lange verdrängt hat, verunsichern sie. Sie haben sie in einem unachtsamen Moment erwischt. Sie ist es nicht gewohnt, allein zu sein, niemanden zu haben, mit dem sie sich beraten kann oder auf den sie Rücksicht nehmen muss. Das fühlt sich so eigenartig an, so einsam. Das Café ist jetzt belebt, und Cara greift nach ihrer Tasche und steht auf. Sie wird Brot kaufen und dann nach Hause gehen, zu Max.

Max steht dicht vor der Tür, die von der Küche auf den kleinen Balkon führt, und streitet am Telefon mit seiner Frau.

»Es sind doch nur ein paar Wochen, Judith, bis sie etwas anderes gefunden hat. Du meine Güte, das ist ja wohl das Mindeste, was wir tun können!«

»So etwas von unverantwortlich!«, gibt seine Frau scharf zurück. »Was würde sie anfangen, wenn du nicht da wärst?«

»Aber ich bin da.«

»Trotzdem halte ich nichts von diesen Absprachen mit offenem Ende. Vollkommen typisch für Cara. Und sie wird wahrscheinlich viel länger bleiben als ein paar Wochen. Hör auf meine Worte.«

Ihre Stimme klingt selbstsicher, gereizt, und er seufzt lautlos und sieht zu, wie Cara direkt unter ihm die Treppe neben dem Fortescue Inn heraufsteigt.

»Ich finde ja auch, in einer idealen Welt hätte sie etwas in Aussicht haben sollen«, pflichtet er Judith friedlich bei und zieht sich mit dem Telefon weiter in die Küche zurück, damit Cara ihn nicht hören kann, »aber das Haus hat sich so schnell verkauft. Philip ist noch kein Jahr tot, und sie ist noch nicht wieder ganz die Alte. Sei doch nicht so streng mit ihr, um Himmels willen. Und, wie läuft es bei euch?«

Die Ablenkung funktioniert. Judith plappert weiter und erstattet ihm Bericht über die Lage in Oxford, wo ihre schwangere Schwiegertochter sich den Knöchel gebrochen hat. Ihr Sohn Paul befindet sich auf einer Vortragsreise im Ausland, und Judith ist eilig hingefahren, um sich um Freya und die zweijährige Enkelin zu kümmern. Max’ Vorschlag, Judith zu begleiten, wurde abgeschmettert. Sie muss die gute Fee spielen, sich als praktisch und fähig erweisen. Er ist ein hilfloses männliches Wesen und wird nur im Weg stehen. Und außerdem ist da noch Oscar, der schwarze Labrador, der momentan auf dem Küchenboden ausgestreckt liegt und fest schläft. Oscar wäre in dem kleinen Reihenhaus in Jericho nicht willkommen. Max ist es gewohnt, von Judith ständig daran erinnert zu werden, dass sie jede Lage meistert, nachdem sie all diese Jahre als Marine-Ehefrau ohne ihn zurechtgekommen ist, Umzüge organisiert und Entscheidungen getroffen hat, mit den Jungs fertiggeworden ist. Jetzt, im Ruhestand, nimmt er sich in Acht, das zu respektieren. Obwohl er seine Familie sehr gern sehen würde, besonders die kleine Poppy, begreift er, dass er bei dieser Gelegenheit nur stören würde. Andererseits jedoch hat er ein schlechtes Gewissen, weil er eine flüchtige Erleichterung spürt, dankbar für Oscar ist und sich darauf freut, Zeit mit seiner kleinen Schwester Cara zu verbringen. So alt sie beide auch werden, sie wird immer seine kleine Schwester bleiben, acht Jahre jünger als er; das kleine Mädchen, das da war, um ihn zu begrüßen, wenn er aus dem Internat nach Hause kam, und das er retten musste, wenn sie etwas ausgefressen hatte. Jede Woche hatte ihr Vater es eilig, das große alte Haus in Sussex zu verlassen und zur Arbeit – und zu seiner Geliebten – in die Stadt zurückzukehren, während ihre distanzierte, unberechenbare Mutter ihre Frustration in der Gin-Flasche ertränkte. Wenn er im Internat war, sorgte sich Max um Cara, die vernachlässigt wurde und den Weinkrämpfen und Wutausbrüchen ihrer Mutter ausgesetzt war. Als sie starb, war Cara fast vierzehn und Max einundzwanzig und Fähnrich an der Royal Britannia Marineakademie in Dartmouth. Philip Grey war sein bester Freund, und sogar nachdem Max nach Cambridge gezogen und dann zum Außenministerium gegangen war, hatte Philip immer gern einen Teil seines Urlaubs in Sussex verbracht. Sie hatten beide Spaß daran, Cara in ihrem Internat zu besuchen, sie zum Tee einzuladen und später, als sie älter war, ihre Freunde kritisch unter die Lupe zu nehmen und sie ins Theater auszuführen, wenn sie in London war. Max war gerade zum Korvettenkapitän befördert worden und diente als Technischer Offizier auf einem Atom-U-Boot, und Judith war schwanger mit ihrem zweiten Sohn, als Cara und Philip beschlossen zu heiraten. Philip war damals Erster Sekretär an der Britischen Botschaft in Rom, und Cara war gerade erst einundzwanzig geworden. Max war inzwischen oft auf See und sehr erleichtert darüber, dass sich jemand um Cara kümmern würde und seine enge Freundschaft mit Philip erhalten bliebe. Philip fehlt ihm sehr.

»Tja, dann grüß alle schön von mir«, sagt Max zu Judith, sobald er zu Wort kommt. »Freya ist sicher froh, dich dort zu haben. Ich kann nachkommen, falls ihr mich braucht.«

Er hört, wie unter ihm die Tür geöffnet wird. »Hi, bin wieder da«, ruft Cara, und er beendet das Gespräch und wartet darauf, dass sie heraufkommt. Sie bewohnt eines der Zimmer im Erdgeschoss. Das Haus besitzt drei Ebenen und hat das Wohnzimmer im obersten Stock, um das Beste aus der Aussicht über die Flussmündung zu machen. Die Küche und das Elternschlafzimmer liegen im ersten Stock, und im Erdgeschoss befinden sich zwei Zimmer, ein Bad und ein Hauswirtschaftsraum. Die Treppe führt direkt in die große Küche, und Max wartet darauf, dass Cara auftaucht.

»Hast du Kaffee getrunken?«, fragt er. »Hast du an das Brot gedacht?«

»Ja, auf beide Fragen«, antwortet sie, während sie die Treppe hinaufsteigt. »Es ist gut, wieder in Salcombe zu sein, Max. Danke, dass du mich bleiben lässt.«

Zum ersten Mal seit Philips Tod verbringen sie längere Zeit zusammen, und Max fühlt sich plötzlich leicht unwohl. Ihm war nicht klar gewesen, dass fast jede Bemerkung gefühllos oder sentimental klingen kann.

»Es ist großartig, dich hierzuhaben«, erklärt er ihr. »So hast du Freiraum, um zu entscheiden, wo du leben willst. In London wolltest du offensichtlich nicht bleiben, und das kann ich dir wirklich nicht verübeln.«

Cara stellt die Tasche mit dem Brot auf den Tisch und bückt sich, um Oscar zu streicheln, der kurz den Kopf hebt und mit dem Schwanz zur Begrüßung einen kleinen Trommelwirbel auf dem Boden schlägt. Sie schlendert zur Balkontür und lehnt sich an den Türpfosten. Max fällt auf, dass Cara nie ganz auf den Balkon hinaustritt, und er beobachtet sie neugierig. Sie wirkt besorgt, nervös.

»Nein«, antwortet sie ihm nach kurzem Schweigen. »Das Haus war eine Investition, und es war sehr nützlich, als wir für einige Zeit nach England zurückgekehrt sind. Und als Philip in den Ruhestand ging. Er interessierte sich so leidenschaftlich für das Theater und die Oper, und er liebte London, aber irgendwie habe ich mich dort nie zu Hause gefühlt. Vielleicht bin ich tief im Herzen ja ein Mädchen vom Lande, obwohl ich mir nicht sicher bin, wo ich wirklich leben möchte. Es war verrückt, es so schnell zu verkaufen, doch die Gelegenheit war zu gut, um sie auszuschlagen.«

Sie wirkt immer noch distanziert, wie abgehoben von der Welt um sie herum, und er hat es eilig, sie in die Realität zurückzuholen.

»Du könntest es dir leisten, dich eine Zeit lang irgendwo einzumieten«, schlägt er vor, »während du darüber nachdenkst. Kein Grund, etwas übers Knie zu brechen. Du könntest dir irgendwo hier über den Winter eine Ferienwohnung nehmen.«

Sie dreht sich um und sieht ihn an. Ihre Augen blitzen amüsiert. »Das würde Judith überglücklich machen«, meint sie.

»Hör auf«, gibt er sofort zurück. »Das wäre für sie vollkommen in Ordnung.«

Aber er ist froh, das vertraute boshafte Glitzern in Caras Augen wahrzunehmen und zu sehen, wie ihre Traurigkeit verfliegt. Sie trägt Leggings mit einem langen blauen Jeanshemd darüber und dazu Segelschuhe an den Füßen. Weil sie so klein und schmal ist und ihr kurzes blondes Haar kaum eine Spur von Grau aufweist, wirkt sie unglaublich jung.

»Ja, natürlich tut sie das«, hat Judith gefaucht, als er ihr gegenüber eine Bemerkung darüber machte. »Sie hat ein tolles Leben als Diplomatengattin geführt und in Botschaften auf der ganzen Welt gelebt. Und sie hat keine Kinder, um die sie sich Sorgen zu machen braucht. Kein Wunder, dass sie nicht so alt aussieht, wie sie ist. Sie benimmt sich auch nicht so. Umso schlimmer.«

Was für ein Jammer, dass Judith und Cara sich nie verstanden haben!, denkt Max. Das wird das Leben jetzt sehr schwierig machen.

»Mieten ist aber eine gute Idee«, meint Cara nachdenklich. »Vielleicht finde ich schnell etwas, und dann bist du mich los.«

»Ich wünschte, du würdest nicht so reden«, gibt er gereizt zurück. »Es ist großartig, Zeit mit dir zu verbringen, besonders nachdem Philip …« Er gerät ins Stammeln und weiß nicht recht, worauf er damit hinauswill, und Cara beginnt zu lachen.

»Lieber Max«, sagt sie. »Du bist der beste Bruder der Welt, und ich bin so froh, dass du hier bist. Und ja, ich werde es aussprechen. Ich bin so froh, dass Judith es nicht ist. Drei sind hier ganz entschieden einer zu viel. Jetzt, in diesem Moment, freue ich mich, dass nur du und ich hier sind. Aber ich habe nicht vor, das auszunutzen. Lass uns online gehen und Ausschau nach Mietobjekten halten. Nicht unbedingt in Salcombe. Vielleicht in Dartmouth.«

Ihre Geistesabwesenheit von eben scheint verflogen zu sein. Max stößt einen lautlosen Seufzer der Erleichterung aus und geht seinen Laptop holen.

Cara beobachtet ihn. Während sich Max an den Küchentisch setzt und den Deckel seines Laptops aufklappt, fragt sie sich, wieso dieser junge Mann – Cosmo – es fertiggebracht hat, Erinnerungen ans Licht zu bringen, die sie seit Jahren verdrängt hatte. Lag das nur an der außerordentlichen Ähnlichkeit – an der Art, wie er sich bewegte, seiner Energie, seinem Lächeln? Oder dem italienischen Spruch, den er gebraucht hat? Und ist sie jetzt, nach Philips Tod, besonders verletzlich? Er stand zwischen ihr und der Vergangenheit, hat sie beschützt und ihr Mut gemacht. Sie hatten beide so viele Jahre die Geheimnisse des jeweils anderen bewahrt. Jetzt ist sie allein – obwohl sie Max hat. Sie mustert ihren Bruder, der Immobilienanzeigen googelt und dabei die Lippen zu einem lautlosen Pfeifen spitzt.

»Hier sind ein paar interessante Anzeigen«, sagt er. »Komm und wirf einen Blick darauf.«

Sie tritt neben ihn und überlegt, wie sie reagieren wird, wenn sie Cosmo wiedersieht, was in einer so kleinen Stadt fast unvermeidlich ist. Aber beim nächsten Mal wird sie auf die Begegnung vorbereitet sein. Sie beugt sich vor und versucht, sich auf die Objekte zu konzentrieren, die Max ihr zeigt, doch sie denkt immer noch an Cosmo. Und erinnert sich an Joe: Wie sie in Nachtklubs und auf Partys getanzt haben, wie sie in dem kleinen italienischen Restaurant, wo Joe wie ein Prinz behandelt wurde, vertraut miteinander zu Abend gegessen und sich in der Wohnung seines Freundes aufregend und leidenschaftlich geliebt haben. Wie rasch sie sich verliebt hat – so schnell war sie bereit zu glauben, dass dies das Wichtigste in ihrem Leben sein würde –, und wie niedergeschmettert sie gewesen war, als er nach Italien zurückkehrte!

»Geht’s dir auch gut?« Max sieht zu ihr auf und legt vor Sorge die Stirn in Falten.

»Ja«, antwortet sie und nimmt sich zusammen. »Ja, natürlich.« Sie zeigt auf eine beliebige Stelle auf dem Bildschirm. »Das hier sieht nett aus. Stehen da noch mehr Einzelheiten?«

2. Kapitel

Cosmo sitzt auf einer Bank am Wasser, beobachtet die Boote und isst ein Krabbensandwich, das er sich bei Salcombe Yawl, dem Imbiss, gekauft hat. Reggie liegt gespannt neben ihm und mustert begehrlich das Sandwich, doch Cosmo denkt an die junge Frau, die er in dem Café gesehen hat, an ihre mit Farbe bespritzte Latzhose und die Art, wie sie sich das Haar hochfrisiert hatte. Sie wirkte weiblich, selbstbewusst und glücklich. Er weiß, er sollte sich nicht wünschen, sie wiederzusehen, doch das will er. Wahrscheinlich, weil sie einen so großen Gegensatz zu Rebecca bildet, deren schwarzes Haar stets in gestochen scharfen Linien geschnitten ist. Ihre Hosenanzüge sind chic, ihre hohen Absätze klappern geschäftig, und das Smartphone klebt ständig an ihrer Hand. Sie ist ehrgeizig, engagiert, erfolgreich. Er mag das; er bewundert es und findet es sexy. Gleichzeitig lässt es immer weniger Raum für Spaß, zum Chillen, um sich mit gemeinsamen Freunden zu treffen. Deswegen hat er seine kleine Bude in Hackney behalten, damit er sich ab und zu eine Auszeit von der exklusiven Atmosphäre gönnen kann, die Rebecca umgibt; von den Erwartungen, die sie an ihn stellt. Deswegen gefällt es ihm hier auch so gut: das langsamere Tempo, die Boote, die an ihren Anlegestellen auf dem Wasser wippen, das Auf und Ab von Ebbe und Flut.

Als er sich zur Seite dreht, um das letzte Stück Brotkruste mit Reggie zu teilen, sieht er das Mädchen wieder. Sie schlendert auf ihn zu, und noch während er sie ansieht, verharren seine Finger, die er immer noch nach Reggie ausstreckt. Sie erblickt ihn und beginnt zu lachen.

»Das habe ich gesehen«, sagt sie. »Ganz schlechte Angewohnheit.«

Froh darüber, dass sie so freundlich reagiert, lacht er ebenfalls. Er zieht sein Taschentuch hervor und wischt sich die Finger ab.

»Ich konnte nicht widerstehen, er hat mich so jammervoll angeschaut«, erklärt er ihr. »Erzählen Sie niemandem davon.«

»Das brauche ich gar nicht«, gibt sie zurück. »Von jetzt an wird er bei jeder Gelegenheit betteln. Gehört er Ihnen?«

Cosmo schüttelt den Kopf, verzieht das Gesicht und tut schuldbewusst.

»Dachte mir doch, dass ich ihn schon früher gesehen habe«, sagt sie. »Sie stecken in großen Schwierigkeiten.«

Er steht auf und ergreift die Gelegenheit. »Ich bin sein Hundesitter«, erklärt er. »Seine Besitzer wohnen am oberen Ende des Baches. Ich hüte das Haus und Reggie, während sie ein paar Monate unterwegs sind. Ich heiße Cosmo.«

Er streckt die Hand aus, und sie drückt sie fest und lässt sie wieder los.

»Ich bin Amy«, antwortet sie. »Ich bin von hier. Ich arbeite für meinen Dad als Malerin und Tapeziererin.«

Er ist leicht verdattert, lässt sich aber nichts anmerken. »Ist das so ähnlich wie Innenarchitektur? Muss faszinierend sein.«

Sie lächelt über seinen Versuch, ihre Arbeit aufzuwerten und sie anspruchsvoller klingen zu lassen, schüttelt jedoch den Kopf und weist ihn zurück.

»Nein«, erwidert sie. »Nur anstreichen und renovieren. Ich arbeite gern mit Licht, Raum und Farben. Nichts weiter.«

»Klingt schön«, sagt er und versucht, seinen gut gemeinten Patzer wettzumachen. »Da haben Sie sicher hier wegen der vielen Ferienvermietungen ordentlich zu tun.«

»Allerdings.« Sie bückt sich, um Reggie zu streicheln. »Was sagten Sie noch, wie er heißt?«

»Reggie«, gibt Cosmo zurück. »Er ist so ein guter Hund. So gehorsam und brav.«

»Das werden Sie sicher bald ändern«, erwidert sie und nickt ihm zu. »Man sieht sich.«

»Ja.« Er mag die Sache nicht so locker auf sich beruhen lassen. »Ich habe Sie vorhin im Café gesehen. Vielleicht können wir ja mal einen Kaffee zusammen trinken?«

»Vielleicht.« Sie lächelt und lenkt dann ein wenig ein. »Ich schaue meistens gegen halb elf dort vorbei. Ich werde die Augen nach Ihnen offen halten.«

Sie wendet sich ab und geht mit leichten, eleganten Schritten davon, und er schaut ihr nach, bis sie nicht mehr zu sehen ist, und blickt dann zu Reggie hinunter. Ihm kommt es vor, als stünde ein vorwurfsvoller, ja sogar missbilligender Ausdruck in den braunen Hundeaugen.

»Ach, komm schon!«, sagt Cosmo abwehrend. »Es ist nur Kaffee, okay? Kein richtiges Date oder so.«

Er schnappt sich Reggies Leine, und sie brechen in Richtung Island Street auf und gehen vorbei an den originellen Galerien und Cafés und der Destillerie von Salcombe zurück zum Bach. Cosmo hat sich einen Besuch in der Destillerie- und Gin-Schule von Salcombe vorgenommen. Sie bieten Verkostungen an, aber er wollte eigentlich nicht allein gehen, denn er findet, das könnte ihn ein wenig wie einen Loser aussehen lassen. Kurz fragt er sich, ob Amy Gin mag, und dann zieht er fast reflexartig sein Handy hervor und hält inne, um Rebecca eine Textnachricht zu schicken. Reggie steht geduldig da und sieht ihm zu. Er wedelt leicht und wie beifällig mit dem Schwanz, und Cosmo beginnt zu lachen.

»Was bist du?«, fragt er. »Mein Gewissen oder so? Ich sage dir was: Wie wäre es, wenn wir nach Dartmoor hinauffahren? Uns ein wenig umsehen? Okay. Ich weiß, du kennst das alles schon, aber ich nicht. Ich habe Urlaub.«

Er steckt das Telefon wieder in die Tasche, versetzt Reggie einen Klaps, und sie setzen sich in Bewegung. Cosmo fühlt sich fröhlich, aufgeregt, glücklich. Er kennt den Grund, will ihn aber nicht einmal sich selbst eingestehen. Stattdessen plant er, was er für den Ausflug aufs Moor mitnehmen muss: seine Kamera, die amtliche Landkarte, Wasser für Reggie. Er denkt an die Frau in dem Café zurück, Cara, lacht und spricht sich die Worte noch einmal vor: »Dolce far niente.«

Als Amy vom Parkplatz fährt, sieht sie ihn mit Reggie vorbeilaufen. Sie mag sein Äußeres: das kurze, stachelige schwarze Haar, die braunen Augen und sein bereitwilliges Lächeln. Jetzt wünscht sie, sie hätte ihn gefragt, wo er wohnt, wenn er keinen Hund hütet, womit er sich seinen Lebensunterhalt verdient. Aber das war ihr alles ein wenig zu schnell vorgekommen, zu eifrig. Vielleicht geht sie morgen ins Café, oder sie wartet ein oder zwei Tage ab.

Amy fährt in die entgegengesetzte Richtung davon, die Shadycombe Road hinauf und ins Wohngebiet der Stadt. Sie parkt vor einer viktorianischen Doppelhaushälfte und steigt aus. Nachdem sie ein paar Farbdosen aus dem Laderaum genommen hat, geht sie die Einfahrt hinauf und öffnet die Haustür. »Ich bin’s, Dad«, ruft sie laut.

Er antwortet von irgendwo, und sie trägt die Dosen hinein, stellt sie auf die Fußmatte und schließt die Tür hinter sich.

Ihr Vater taucht aus einer Tür in der Diele auf und nickt ihr zu. »Perfektes Timing. Dachte ich mir, dass sie im Lieferwagen stehen. Danke, Schatz. Hast du sonst noch etwas mitgebracht?«

Sie grinst ihm zu. »Falls du meinst, ob ich etwas zu essen für dich habe, ist die Antwort ja.«

»Komm in die Küche«, sagt er. »Zehn Minuten Pause kann ich schon machen. Wie kommst du in der Courtenay Street voran?«

Sie nickt und folgt ihm in die große Küche. »Bin ganz zufrieden. Es arbeitet sich dort gut, und die Leute sind sehr nett.« Sie blickt sich um. »Gefällt mir besser als hier. Und es ist wirklich cool, dass es nur ein paar Häuser weiter ist.«

»Aber es ist größer«, meint er und zieht eine Thermosflasche aus einer riesigen Leinentasche. »Viel schicker als in unserem kleinen Cottage.«

»Mir gefällt unser Häuschen«, sagt sie. »Und apropos ›schick‹, ich habe gerade einen Typ namens Cosmo kennengelernt.«

Er zieht die Augenbrauen hoch. »Ernsthaft? Cosmo? Sehr nobel. Was macht er, ist er Tourist?«

Sie schüttelt den Kopf und reicht ihm eine Teigtasche. »Nein. Er hütet für irgendwelche Leute hier aus Salcombe ein paar Monate lang Haus und Hund, sagt er. Netter Hund.«

Ihr Vater beißt in seine Pastete. »Wie heißt der Hund?«

»Reggie.« Amy lacht. »Cosmo hat ihn mit einem Stück von seinem Sandwich gefüttert, da habe ich ihn ausgeschimpft.«

Ihr Vater nickt. »Kommt mir bekannt vor. Hast dich eingemischt wie immer.« Aus seiner Thermosflasche gießt er Tee in einen Trinkbecher. »Und, wirst du ihn wiedersehen?«

Sie zuckt mit den Schultern und tut gleichgültig. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich schon. Salcombe ist klein. Tja, ich gehe besser wieder an die Arbeit.«

»Okay. Danke, dass du mir die Farbe und die Teigtasche vorbeigebracht hast. Vergiss nicht, heute Abend ist Quiz-Abend im Pub.«

Sie sammelt Einwickelpapier und Krümel ein und gibt ihm einen schnellen Kuss. »Ich mache mich jetzt auf den Weg nach Kingsbridge. Hatte einen Anruf von einer Frau, die möchte, dass ich ein Kinderzimmer für ihr kleines Baby dekoriere. Ich fahre schnell hin, um mir das anzusehen. Das sollte ein netter kleiner Job werden. Bis später.«

Jack hört, wie die Haustür zufällt, doch er bleibt noch eine Weile, wo er ist, und trinkt seinen Tee aus. Er kann sich glücklich schätzen, eine so gescheite, lebhafte Tochter zu haben, die mit ihm zusammenlebt und für ihn arbeitet. Aber so rosig war es nicht immer. Noch immer kann er kaum glauben, dass es fast zehn Jahre her ist, seit Sally an diesem verdammten, furchtbaren Krebs gestorben ist. Da war Amy dreizehn. Sie war drei gewesen, als Sally und er das kleine Cottage in der Courtenay Street gekauft hatten, wofür sie jeden Penny ihrer Ersparnisse zusammengekratzt und eine Furcht einflößende Hypothek aufgenommen hatten. Aber sie waren entschlossen gewesen, in der Stadt zu bleiben. So, wie die Immobilienpreise inzwischen in den Himmel geschossen sind, wäre das heute unmöglich, doch damals haben sie es geschafft. Sally arbeitete mit ihm zusammen, nahm jeden Job an, den sie bekommen konnte, und half ihm, das Haus zu renovieren, das praktisch eine Ruine war. Wie sie dieses kleine Cottage geliebt hat! Sie haben geschuftet, und sie waren so glücklich …

Mit einem Knall stellt Jack die Tasse ab. Die verdammte Krankheit hatte sie so schnell aufgefressen, und er hatte sich so hilflos gefühlt, so zornig. Nur für Amy hatte er noch weitergemacht. Als sie ihm nach Abschluss ihres Kunststudiums in Falmouth erklärte, sie wolle bei ihm anfangen und für ihn arbeiten, hier in Salcombe bleiben, konnte er sein Glück kaum fassen.

»Ich bin furchtbar gern hier«, erklärte sie ihm. »Und ich liebe diese Arbeit – dafür zu sorgen, dass alles frisch und sauber und hell aussieht. Ich gehe gern segeln, in den Pub oder auf den Klippen spazieren. Wenn dir das recht ist, würde ich das gern tun.«

Er konnte ihr kaum antworten, so gerührt und glücklich war er.

»Das nehme ich mal als ›ja‹«, sagte sie.

Und so leben sie jetzt seit ein paar Jahren. Amy ist wie ihre Mum: Sie arbeitet schwer, sie ist fröhlich und hat gern ein wenig Spaß.

Jack wäscht seine Tasse unter dem Wasserhahn ab, wickelt sie in ein Geschirrhandtuch und steckt sie zurück in seine Arbeitstasche. Er denkt über Cosmo nach. In Amys Stimme hat so ein gewisser Ton gelegen, und ein kleiner Funke hat in ihren Augen geglitzert, aber jetzt ist er froh, dass er sie nicht damit aufgezogen hat. Sie hat schon ein paar junge Burschen mit nach Hause gebracht, und am College hatte sie eine ziemlich feste Beziehung, doch nichts allzu Ernstes. Jack hat gelernt, ihr Freiraum zu lassen und ihre Unabhängigkeit zu achten, und gemeinsam haben sie gelernt, mit dem Schmerz über Sallys Verlust umzugehen. Es wird sehr schwierig werden, wenn Amy beschließt, von zu Hause auszuziehen, doch er weiß, dass es so kommen wird, und hofft, dass er in der Lage sein wird, es ihr leicht zu machen.

Aber nicht mit Cosmo. Mit einem Schwiegersohn namens Cosmo könnte er nicht leben. Jack grinst in sich hinein und schickt sich an weiterzuarbeiten. Er holt die Farbdosen aus der Diele und hebelt die Deckel mit einem Schraubenzieher auf. Mit einem Mal kommt ihm ein Gedanke, und er zieht sein Handy hervor und schreibt eine Textnachricht. Dann greift er nach dem Pinsel, steckt seine Ohrhörer ein und schaltet Musik an. Bill Withers Lovely Day. Genau das Richtige.

Die Nachricht kommt herein, als Cara und Max gerade ihr Mittagessen beenden. Sie sitzen an dem großen Küchentisch, und die Balkontüren stehen offen und lassen den Sonnenschein herein. Max nimmt das Handy aus der Tasche und liest die Nachricht.

»Jack«, erklärt er. »Erinnert mich daran, dass heute Quiz-Abend im Pub ist. Vor ein paar Wochen hatte ich einen senilen Aussetzer und habe den Termin vergessen. Jetzt hackt er ständig darauf herum.«

»Jack?«, erkundigt sie sich.

»Jack Hannaford«, erklärt er und tippt eine Antwort. »Er hat die ganzen Umbauarbeiten hier übernommen, als wir die Küche nach oben verlegt haben. Jack ist ein richtig guter Kerl. Wenn du heute Abend mitkommst, wirst du ihn kennenlernen, aber unterschätz ihn nicht. Er ist ein sehr intelligenter Mann, der eine Karriere als Lehrer aufgegeben hat, um sich selbstständig zu machen. Er ist ein Freigeist.«

»Klingt vergnüglich«, pflichtet sie ihm bei. »Du kannst dich so glücklich schätzen, das alles zu haben, Max. Es war sehr klug von dir, das Haus schon so früh zu kaufen, um dich darin zur Ruhe zu setzen, und dein kleines Boot. Ich beneide dich.«

Max steht auf, räumt die Teller ab und weiß nicht, was er darauf sagen soll. Wenn er an Caras Lage denkt, spürt er, dass er Glück gehabt hat, aber es fällt ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. Während er die Teller in die Spülmaschine stellt, überfällt ihn eine Erinnerung, ein Flashback an seine Kindheit.

Da war er zwölf und gerade für die Frühjahrsferien aus dem Internat nach Hause gekommen. Er suchte nach Cara und rief ihren Namen, doch sie war nirgendwo zu finden. Er stieg die schmale Treppe zum Dachboden hinauf, stieß eine der Türen auf und blieb dann stehen und riss die Augen auf. Am anderen Ende des kleinen Raumes lehnte ein Spiegel mit vergoldetem Rahmen an der Wand, wo er fast den gesamten Platz einnahm. Davor stand die vierjährige Cara. Sie sah in den Spiegel, gestikulierte und unterhielt sich lebhaft mit ihrem Spiegelbild. Sie lachte, drehte sich im Kreis und streckte den großen Zeh aus. Fasziniert sah er zu, doch etwas hinderte ihn daran, zu ihr zu gehen. Er zog sich auf den Treppenabsatz zurück, ging die Treppe rückwärts hinunter und rief erst dann noch einmal ihren Namen. Sie kam herausgerannt und lief ihm über die Treppe eilig entgegen. Wie immer war sie froh, dass er zu Hause war.

»Komm und schau dir das an, Max«, drängte sie, umschlang seine Knie, nahm dann seine Hände und zog ihn die Treppe hinauf. »Ich habe eine Freundin, Max. Komm und sieh dir das an.«

Er folgte ihr und fühlte sich gerührt und beinahe ängstlich angesichts der großen Aufregung, mit der sie auf ihr Spiegelbild wies. Sie lachte, wirbelte herum und beugte sich dann unvermittelt vor, um ihr Spiegelbild zu küssen. Dann hielt sie inne und sah entzückt in den Spiegel.

»Und schau, Max«, sagte sie. »Du hast auch einen Freund.«

Er wusste, dass er sie ernst nehmen, aber auch versuchen musste, ihren Überschwang zu bremsen, daher trat er vor und verneigte sich vor seinem Spiegelbild.

»Guten Tag, Sir«, sagte er feierlich.

Cara klatschte in die Hände. Einen Moment stand sie da, und dann verbeugte sie sich vor ihrem Spiegelbild.

»Schön«, sagte er. »Aber jetzt ist Teezeit, und ich bin schon halb verhungert. Komm schon.«

Sie ließ sich von ihm davonführen, nach unten, doch die heftige Leidenschaft seiner kleinen Schwester verunsicherte ihn immer noch.

In der Erinnerung wird ihm klar, wie einsam sie damals gewesen sein musste. Wie sehr war ihre Fröhlichkeit ein Schutzschild gegenüber dem Schweigen und der Verbitterung zwischen ihren Eltern und dem unvorhersehbaren Verhalten ihrer Mutter! Und jetzt hat sich der Kreis geschlossen, und Cara ist wieder allein.

Sie beobachtet ihn und ist verwirrt angesichts seiner Geistesabwesenheit, und er nimmt sich zusammen.

»Ja, wir haben Glück gehabt«, meint er zustimmend, »aber es gibt keinen Grund, warum du hier nicht auch eine Wohnung finden solltest.«

»Das Problem, wenn man so oft umzieht«, meint sie, »ist, dass man nicht wirklich eine Chance hat, Wurzeln zu schlagen. Das Haus in Fulham kam dem für uns noch am nächsten.«

»Es ist auch noch nicht lange her«, sagt er. »Hör mal, ich muss Oscar Auslauf verschaffen. Hast du Lust auf einen Spaziergang über den Bolberry Down?«

»Sehr gern«, gibt sie prompt zurück.

»Gut«, sagt er. »Dann setzen wir uns in Bewegung.«

Oscar poltert schon die Holztreppe hinunter, und Cara schiebt ihren Stuhl zurück. »Gib mir einen Moment«, sagt sie, »dann bin ich bei dir.«