LIEBE TROTZ PARTNERSCHAFT - Gottfried Kühbauer - E-Book

LIEBE TROTZ PARTNERSCHAFT E-Book

Gottfried Kühbauer

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Beschreibung

Ein Fachbuch für Sehnsüchtige: Geschichten über die Liebe und ihren Wandel, wie das Leben sie schreibt. Anregungen und Inspirationen für ein glücklicheres Beziehungsleben. Der renommierte Paarberater und Mediator Gottfried Kühbauer sieht in der Intimität die vitale Lebensform für Paare. Er beschreibt realistische Wege zu mehr Beständigkeit in der Beziehung und gibt der Sehnsucht Platz zur Erfüllung. Die schwere Entscheidung "Gehen oder Bleiben" transformiert sich bei ihm vom Dilemma zum Tetralemma der zusätzlichen Möglichkeiten. Und er weitet den Sinn des Paarseins auf eine umfassende Schau hin zu Größerem. Ein Buch, unterhaltsam wie ein Roman, für Frauen und Männer in allen Beziehungsphasen, aber auch für Singles in Aufbruchstimmung. "Dieses Buch ist kein Ratgeber, der alles rosarot einfärbt. Es ist ein unorthodoxes Fachbuch für Sehnsüchtige. Viele Inhalte sind gegen den Strich gebürstet." Dieses Buch ist ein Versuch, dem „Normalen“ und „Genügenden“ wieder zum Durchbruch zu verhelfen; bewusstes Sein vom Schein zu unterscheiden, um herauszufinden, was trägt und bleibt. Das was den Partnern gemäß ist, unterliegt jedoch ihrer subjektiven Eigenart. Gottfried Kühbauer leistet sich hier nach 20 Jahren Praxis und Lehrtätigkeit den Luxus der klaren Worte mit seiner ihm eigenen „Brille“. Ein Buch für die leichten wie für die schweren Tage.

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GOTTFRIED KÜHBAUER

LIEBE TROTZ PARTNERSCHAFT

Damit es, egal wie es ausgeht, gut weitergeht!

Für Elisabeth, meine Frau -

aus jedem erdenklichen Grund

Impressum:

1. Auflage, 2017

Copyright © 2017 Edition Summerhill e. U., St. Margarethen an der Raab, Österreich

Umschlaggestaltung: Dodo Kresse, Wien, Österreich

Coverfoto: Unschuldslamm/photocase.de

Mixed Media: Dodo Kresse, Korrektorat: Bianca Braunshofer

eBook-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-9504233-5-8 (Hardcover)

ISBN 978-3-9504233-8-9 (ebook)

www.summerhill.at.

www.liebetrotzpartnerschaft.com

[email protected]

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GELEITWORT

von Ilse Gschwend1

Wer kennt ihn nicht, diesen inneren Chor aus hellen Sopranstimmen: „Ich will Euch von etwas erzählen, das mich begeistert“, den Altstimmen, die fragend singen: „Wer könnte das denn lesen wollen?“, den Tenören, welche diese Stimmen mit einem „Trau Dich einfach!“ unterstützen und den Bässen, die von Zweifel, Wagemut, Risiko und Euphorie singen – diesen inneren Chor, der seinen Auftritt hat, wenn sich die Idee, ein Buch zu schreiben, in uns meldet.

Gottfried Kühbauer, ein liebenswerter und geschätzter Kollege, hat diesem Chor eine Zeitlang zugehört und sich dann ans Schreiben gemacht. Geworden ist es eine Art Oratorium über Liebe, Sehnsüchte, Leiden und hoffnungsvollem Auferstehen nach krisenhaftem Beziehungs-Geschehen. Das Werk ist eine gelungene Kooperation aus Erfahrungs-Musik und Lebenslibretto, aus Geschichten, die Paare erzählen und der begleitenden Melodie eines Paarberaters. Darüber hinaus ist es eine Verneigung vor vielen Lehrern, deren Wissen ihn in seiner langjährigen Tätigkeit genährt hat. Es findet in ihm als Paarberater ein friedliches Miteinander, es gibt keinen „Schulenstreit“, sondern nur die sinnvolle Ausrichtung auf das, was Menschen in Beziehungsnöten durch gute Begleitung erfahren können.

Der fragenden Stimme aus dem eingangs erwähnten Chor: „Wer könnte das denn lesen wollen?“ möchte ich als Leserin antworten: Viele von uns! Das Buch enthält wichtige Beobachtungen für Menschen in „Beziehungsnöten“ und bietet Hinweise für jene, die sich prophylaktisch mit Themen beschäftigen wollen, in deren Dunstkreis sie noch gar nicht sind. Darüber hinaus ist es ein wertvolles Kompendium für uns Kolleginnen und Kollegen, die wir Paare in krisenhaften Übergängen begleiten.

Zu guter Letzt geht es weit über Paarbeziehungen hinaus, weil wir diese gesammelten Beobachtungen auch in andere Lebenskontexte übertragen können. Denn in all unseren Entscheidungen und Konflikten haben wir immer den Wunsch, es möge – egal wie es ausgeht – gut weitergehen.

Lieber Gottfried, danke für dieses Buch!

„(…) das Bewusstsein vorausgesetzt,

dass auch zwischen den nächsten Menschen

unendliche Fernen bestehen bleiben,

kann ihnen ein wundervolles Nebeneinander erwachsen

wenn es ihnen gelingt,

die Weite zwischen sich zu lieben,

die ihnen die Möglichkeit gibt,

einander in ganzer Gestalt

und vor einem großen Himmel zu sehen (…)“

Rainer Maria Rilke2

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Impressum

GELEITWORT

Zitat

1. AUFTAKT

1.1. Es war einmal

1.2. Den Blick weiten

1.3. Was ist wirklich?

1.4. „Meine Nasenspitze ist das Ende der Welt“

2. PAARSEIN ZWISCHEN ABWASCH UND KOSMOS

2.1. Nichts muss sich verändern

2.2. Die gesellschaftliche Hintergrundmusik

2.3. Gerechte oder ungerechte Rollengestaltung bei Paaren?

2.4. Prägeanstalt Herkunftsfamilie

2.5. Kinder, ein Anschlag auf die Paarbeziehung

2.6. Geteiltes Leid

2.7. Kür für ältere Paare

2.8. Lieber Problemheimat als Lösungsfremde

2.9. Ressource Liebesgeschichte

2.10. Am Anfang war das Paar

2.11. Partnerschaft oder Liebesbeziehung – oder beides?

2.12. Tauschmodus versus Geschenkmodus

2.13.  „Offene Rechnungen“

2.14. Rosenkrieg – Versuch des Ausgleichs im Negativen

2.15. Die drei Komponenten der Liebe

2.16. Spielarten der Liebe

2.17. Der Jolly Joker „Intimität“

2.18. Begehren – „Darf‘s ein bisschen mehr sein?“

2.19. Verrat – Affäre & Außenbeziehung

2.20. Immer-alles-wissen-Wollen

2.21. „Drache“ Eifersucht

2.22. Verbindlichkeit – der sichere Hafen

2.23. Andere Anlässe für Paarbeziehungen

2.24. Das Objekt der Begierde

2.25. „Nicht-können“ oder „Nicht-wollen?“

2.26. Entscheidung zwischen mir und mir

2.27. Beziehungsflucht – „Hinter mir die Sintflut“

3. GEHEN ODER BLEIBEN? Vom Dilemma zum Tetralemma der zusätzlichen Möglichkeiten

3.1. Trennung/Scheidung - ein unmöglicher Gedanke

3.2. Tetralemma – Lösungssuche auf mehreren Wegen

3.3. GEHEN – „Ich entscheide mich für die Beendigung der Beziehung!“

3.4. BLEIBEN – „Ich entscheide mich zu bleiben und die positive Weiterentwicklung der Beziehung zu betreiben!“

3.5. BEIDES – „Ich entscheide mich für beides – ich bleibe äußerlich und gehe innerlich!“

3.6. KEINES VON BEIDEN – Hinter der Frage: „Gehen oder bleiben“ verbirgt sich ein noch nicht erkanntes Thema

3.7. Und das Darüber-hinaus

4. APPS FÜR EINE GUTE ENTSCHEIDUNG

4.1. Vorrang des erlebten vor dem erzählten Leben

4.2. Der heimliche Gewinn

4.3. Der Kontext macht den Unterschied

4.4. Verstanden heißt nicht einverstanden

4.5. Trennung auf Zeit?

4.6. Verletzt zusammenbleiben

4.7. Sehnsuchts-Check

4.8. Überpreis bei oft wechselnden Beziehungen

4.9. Die begrenzte Kapazität des seriellen Liebens

4.10.  „Liebe“ und „Bindung“ - die Verwechslung

4.11. Ausgleich, wenn zwei auseinander gehen

4.12.  „Das kann ich meinen Kindern nicht antun“

4.13. Erste-Hilfe-Koffer für Eltern bei Trennung

5. NÄHRBODEN FÜR DIE ZUKUNFT

5.1. Heiraten oder nicht?

5.2. Bei Kinderlosigkeit

5.3. Keine „alten Baustellen im neuen Land“

5.4. Der Ausgleich im Positiven

5.5. Wahrhaftigkeit

5.6. Verzicht – jenseits von Gut und Willig

5.7. Liebe: Aufhebung der existentiellen Einsamkeit?

5.8. Spiritualität in der Paarbeziehung

5.9. Wegmarkierungen

5.10. Wer die Fülle will

6. EPILOG

7. DANK

ANMERKUNGEN

Buchempfehlungen

1. AUFTAKT

1. 1. Es war einmal…

… in einer Zeit vor aller Zeit, da hatten die Menschen kugelförmige Rümpfe sowie vier Hände und Füße und zwei Gesichter mit je zwei Ohren auf einem Kopf, den ein kreisrunder Hals trug. Die Gesichter blickten in entgegengesetzte Richtungen. Mit ihren acht Gliedmaßen konnten sich die Kugelmenschen schnell fortbewegen, nicht nur aufrecht, sondern auch so wie ein Turner, der ein Rad schlägt.

Es gab nicht nur zwei Geschlechter, sondern drei: Manche Kugelmenschen waren rein männlich, andere rein weiblich, wiederum andere androgyn. Die rein männlichen stammten ursprünglich von der Sonne ab, die rein weiblichen von der Erde, die androgynen vom Mond.

Die Kugelmenschen verfügten über gewaltige Kräfte und großen Wagemut. In ihrem Übermut wollten sie sich einen Weg zum Himmel bahnen und die Götter angreifen.

Der Himmelsherrscher Zeus beriet mit den anderen Göttern, wie zu verfahren sei. Die Götter wollten das Menschengeschlecht nicht vernichten, denn sie legten Wert auf die Ehrenbezeugungen und Opfer der Menschen.

Daher entschied Zeus, die Kugelmenschen zu schwächen, indem er jeden von ihnen in zwei Hälften trennte. Diese Hälften sind die heutigen zweibeinigen Menschen, Männer und Frauen.

Gott Apollon erhielt den Auftrag von Zeus, die Gesichter zur Schnittfläche – der heutigen Bauchseite – hin umzudrehen und die Wunden zu schließen, indem er die Haut über die Bäuche zog und am Nabel zusammenband. Am Nabel ließ er Falten zur Erinnerung an die Teilung zurück. Die Geschlechtsteile blieben auf der anderen, früher nach außen gewendeten Seite, der jetzigen Rückenseite.

Die nunmehr zweibeinigen Menschen litten schwer unter der Trennung von ihren anderen Hälften. Sie umschlangen einander in der Hoffnung, zusammenzuwachsen und so ihre Einheit wiedergewinnen zu können.

Da sie sonst nichts mehr unternahmen, begannen sie zu verhungern. Um ihr Aussterben zu verhindern, versetzte Zeus die Geschlechtsorgane nach vorn. Damit ermöglichte er ihnen, durch die sexuelle Begegnung ihr Einheitsbedürfnis vorübergehend zu befriedigen und so die Sehnsucht zeitweilig zu stillen. Zugleich gewannen sie dadurch die Fähigkeit, sich auf die heute praktizierte Weise fortzupflanzen. So wurden sie wieder lebenstauglich. Sie leiden aber weiterhin unter ihrer Unvollständigkeit; jeder sucht nach wie vor seine andere verlorene Hälfte.3

Sehnsucht bis zum letzten Atemzug

Hunger, Begierde oder Mangel gefühlsbetont ausgedrückt, ist Sehnsucht. Weniger romantisch bezeichnet: Sehnsucht ist die Differenz zwischen einem ersehnten Soll-Zustand und einem unbefriedigenden Ist-Zustand. Die Sehnsucht nach Intimität zeigt sich in Gestalt des erotischen Begehrens und der absichtsvollen Liebe, des ungestillten Verlangens zwischen zwei Menschen, beides führt zu Nähe- und Vereinigungswünschen. So sind die Menschen unterwegs, oft ihr ganzes Leben, suchen einander, finden sich, bleiben ein bisschen und ziehen wieder weiter, weil sie glauben, dass sie die zu ihnen perfekt passende Hälfte noch nicht gefunden hätten. Man nennt dies: Serielle Monogamie oder in ihrer parallelen Version, temporäre (meist heimliche) Doppelbeziehung. Andere hingegen bleiben bei ihrer zweiten Hälfte für den Rest ihres Lebens und sind zufrieden, auch wenn nicht jeden Tag eine Symphonie gespielt wird.

Andere wiederum trauern, weil sie ihre zweite Hälfte nicht finden. Wieder andere leiden sehr darunter, dass sie von ihrer anderen Hälfte, mit der sie so offensichtlich zusammengehörten, verlassen wurden. Dabei wird auch viel gestritten und gekämpft; die Enttäuschung und der Schmerz sind groß, weil die Liebe aufgehört hat und es keine Intimität und Nähe mehr gibt. Das Herz ist gebrochen, auch wenn es noch schlägt.

Wenn die Liebe schwindet

werde ich in meiner Praxis Ohrenzeuge von Problembeschreibungen, höre Geschichten der zermürbenden Ambivalenz und Erzählungen über belastende Lebenssituationen. Frauen und Männer, Mütter und Väter quälen sich mit der bedrückenden Frage: „Gehen oder Bleiben?“ – und dies manchmal schon lange Jahre.

Es ist simpel und wird meist doch als emotionaler Kahlschlag erlebt: Um ein Paar zu werden, braucht es immer zwei, um eine Beziehung zu beenden, genügt einer. Dies erzeugt ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht.

Herr A.: „Ich habe überhaupt keine Chance … sieentscheidet über mich mit, … ich kann dagegen nichts tun, ich … ich bin völlig ohnmächtig!“

Ich nehme dann teil an elementaren Grundfragen des Lebens von Klienten, an ihren gewichtigen Ungewissheiten: Welche Entscheidung sie treffen sollen; welches Bedürfnis mehr zählt; an wen sie zuerst denken sollten; welche emotionalen und rationalen Überlegungen sie bewegen; welchen Preis und Nutzen sie von einem „Bleiben“ oder „Gehen“ erwarten.

In dieser Phase befinden sich einzelne Partner oder das Paar in der Polarität von konträren Gefühlen, Gedanken und Bedürfnissen. Sie sind bemüht, alle Eventualitäten und Möglichkeiten im Voraus schon mitzubedenken. Dieses intensive Bemühen hat ernsthafte Hintergründe: Hohe Ambivalenz ist ein Zeichen dafür, dass die Person es sich nicht leicht machen will. Es geht einerseits um existenzielle Ängste und andererseits um die Sehnsucht nach Veränderung. Diesen Prozess begleiten zu dürfen, erlebe ich als höchst intim und immer wieder als sehr berührend.

1.2. Den Blick weiten

Seit Längerem habe ich Freude an dem Gedanken, meine aus diesen Erfahrungen gemachten Erkenntnisse weiterzugeben sowie die vielfältigen kreativen Lösungsstrategien der Klienten anderen Betroffenen (unter Wahrung der Anonymität) zur Unterstützung zur Verfügung zu stellen.

Vielleicht kann der eine oder andere Leser von diesem Wissen profitieren, damit sich der Geist in der entscheidungsschweren Zeit weitet und über die üblichen festgelegten Grenzen hinauswächst. Eventuell umfängt ein neuer Aspekt – inspirierend wie ein freundlicher Windstoß – die geschlossene Gedankenwelt und weist in eine neue Richtung.

Bei der Auseinandersetzung über eine zukünftige Lebensgestaltung nach Trennung oder Scheidung scheint „Gehen oder Bleiben?“ wie ein Dilemma zwischen zwei sich gegenseitig ausschließenden Möglichkeiten, die sich wie auf einer Weggabelung anbieten. Dieses Buch soll helfen, den Blick zu vergrößern, hinaus aus dem vermeintlichen Dilemma – hin zu mehreren Lösungsmöglichkeiten. Damit es, egal wie es ausgeht, gut weitergeht!

Es soll Paaren helfen, bei der Beurteilung ihres Beziehungslebens dem alltäglich gelebten Leben einen höheren Stellenwert einzuräumen. Durch das häufig vergleichende Maßnehmen an der vergangenen Romantik des Beziehungsbeginns und dem seit erst zweihundert Jahren gesellschaftlich etablierten „romantischen Liebesideals“, wird oft genug nur ein unlebendig erzähltes Leben und nicht ein intensiv gelebtes Leben ermöglicht. Die Romantik ist die „Babykost“ der Paarbeziehung, die bewusste Liebe die „Erwachsenenkost“. Wenn ständig, trotz Erwachsenenalters, Babykost zu sich genommen wird, sind nichtverdauliche Enttäuschungen und Unzufriedenheit vorprogrammiert und werden oft zum destruktiven Dauer-Abo. Die nicht geerdete, romantische Liebe lässt sich nicht bewahren, sobald sie dem realen Leben ausgesetzt ist. Wer aber mit vollem Herzen auf die Verliebtheit nicht verzichten will, kann lieben, denn Liebe ist Verliebtheit auf Dauer.

Die Romantik liebt das Extreme, wir brauchen den Mythos und sind bereit, über Kollateralschäden, wie z.B. das versäumte Handeln im richtigen Augenblick bzw. das Hängenbleiben an einer Selbst-Erzählung um den Preis des Versäumten, hinwegzusehen. Der größte Feind der Romantik ist das Normale. „Scheidungen sind oft Scheidungen von Paaren, die durch eine Überdosis Romantik so verdorben sind, dass sie mit der Intimität der Ehe nichts anfangen können.“ 4

Dieses Buch soll helfen, den Weg aus der Erinnerung an das „Nest“ der Verliebtheit, in das „Schloss“ der bewussten Liebesbeziehung zu finden, ob verheiratet oder nicht. Denn dort ist die Chance auf Beziehungsglück entschieden höher.

Die Sicht des Beobachters

Was mir wichtig ist: Als Anhänger der Philosophie des Konstruktivismus, die besagt, dass menschliches Erleben und Lernen ausschließlich sinnesphysiologischen, neuronalen, kognitiven und sozialen Konstruktionsprozessen unterworfen ist, gibt es für mich keine menschlich objektive Wahrheit oder Sichtweise. Auch ich bin nur ein subjektiver Beobachter meiner Klienten auf Grundlage meiner eigenen Gewordenheit und sehe die Phänomene des Lebens ausschließlich durch meine „Brille“. Ich möchte in diesem Buch nicht so tun, als wüsste ich von einer Welt der Menschen, die so und nicht anders ist. Dieses Buch enthält keine objektiven Wahrheiten sondern meine subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen.

Um Inhalte zu verdeutlichen oder zu betonen, habe ich Dialoge aus Praxisgesprächen mit Einzelklienten oder Paaren in den Textverlauf eingefügt. Die Gesprächsinhalte sind wortgetreue Wiedergaben aus Aufzeichnungen und Mitschriften, die stark anonymisiert wurden, um ein eventuelles Wiedererkennen der Protagonisten unmöglich zu machen.

Um der leichteren Lesbarkeit willen wurde von mir, wo nicht ausdrücklich von Frauen und Männern die Rede ist, die männliche Schreibweise gewählt.

Entrèe

Der Inhalt des Buches gliedert sich in mehrere Teile. Im ersten Teil „Paarsein zwischen Abwasch und Kosmos“ werden „typische“ Geburtsgeschichten von Beziehungsproblemen dargestellt und es wird auf die multifaktorielle Lebenssituation von Paaren eingegangen.

Menschen sind systemische Lebewesen, weil ihre Identität, ihr Verhalten und ihr Gefühlsleben unmittelbar von den sozialen Systemen abhängen, denen sie sich zugehörig fühlen. Ihre Identität steht im Spannungsfeld von Natur und Kultur, Individuum und Kollektiv.

Paare kreieren Probleme durch ihre „Beiträge“, die sie in die Beziehung einbringen. Diese Beiträge werden durch die biologischen, psychologischen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen, die Menschen in die Paarbildung mitbringen oder durch sie vorfinden, erst generiert und ermöglicht. Eine Schuldzuweisung dafür ist nicht angebracht. In welcher Familie ein Kind auf die Welt kommt und welche Entwicklungsbedingungen es dort vorfindet, ist Schicksal. Die Geburtsort-Lotterie kann nicht beeinflusst werden.

In diesem Kapitel geht es auch um die grundlegende Veränderungsdynamik, der wir als Einzelperson und in der doppelten Ausführung als Paar ausgeliefert sind. Und es wird im Kontext dieser vielfältigen Aspekte Bezug genommen, wie Paare mit Beziehungsproblemen dabei unterscheiden können zwischen dem, was sie selbst zum Problem beitragen und dem Teil, der von außen kommt und nur schwer oder gar nicht beeinflussbar ist.

Weiters werden in diesem Kapitel verschiedene, vermutlich noch nicht so bekannte Sichtweisen und Theorien über Beziehungsgestaltung vorgestellt. Kollektive Sichtweisen haben in jeder Form, bewusst oder unbewusst, starken Einfluss auf das Denken und Verhalten des Paares. Insbesondere die Unterscheidung in diesem Buch zwischen Liebesbeziehung und Partnerschaft sowie die „3 Komponenten der Paarbeziehung“, ermöglichen vielleicht neue gedankliche Zugänge über den „Charakter“ der eigenen Paarbeziehung.

Das Kapitel „Der Jolly Joker Intimität“ nimmt in diesem Kapitel einen besonders wichtigen Platz ein, da ich die Intimität als die mögliche „Hauptbühne“ für das Gelingen oder Scheitern von Paarbeziehungen sehe.

Im Mittelteil des Buches im Kapitel „Die schwere Entscheidung – Gehen oder Bleiben? Vom Dilemma zum Tetralemma der zusätzlichen Möglichkeiten“ stehen die vier möglichen „Wege“ oder Positionen in der Struktur des (noch) weitgehend unbekannten Tetralemmas5: „Gehen“, „Bleiben“, „Beides“ und „Keines von beiden“ sowie „Und das Darüber-hinaus“ zur Verfügung.

Jede Entscheidungsvariante zeigt einerseits Möglichkeiten auf, welchen Gewinn die Person aus der jeweiligen Variante ziehen kann. Andererseits, welchen Preis die Person bei Festlegung auf diesen bestimmten Weg vielleicht bezahlen muss. Bei Entscheidungen ist es wichtig zu bedenken, dass erst die Zukunft zeigen wird, ob sie den vermuteten Gewinn bringen wird bzw. gebracht hat. Der österreichische Paartherapeut Konrad Peter Grossmann meint dazu: „Die Zukunft beginnt nicht in weiter Ferne, sie beginnt im unmittelbaren Fortfließen der Gegenwart, sie ist immer auch Teil und Endpunkt des Augenblicks.“6 Dabei ist zu bedenken, dass Entscheidungen im Bereich „Bleiben“ oder „Gehen“ irreversibel sind. Danach ist jede Person eine andere, einerlei wie es weitergeht.

Diese so gewichtige Frage mittels einer unromantischen, verökonomisierenden Kosten-Nutzen-Rechnung zu betrachten, mag für manche Leser zunächst irritierend erscheinen. Eine Liebesbeziehung ist jedoch auch ein emotionales Geschäft. Sie wird von Hingabe und Gegenhingabe bestimmt und unterliegt ebenfalls dem Ausgleich von Nehmen und Geben. Trotz dieser, einer Beziehung innewohnenden, Dynamik kann man immer wieder auch das Geschenk absichtsloser Liebe erleben, im Empfangen wie auch im Geben.

Anschließend finden Sie im Kapitel „Und das Darüber-hinaus“ einen weiteren möglichen Weg im Entscheidungsprozess, jedoch lässt sich dieser durch Worte nur schwer beschreiben. Er entzieht sich der sprachlichen Möglichkeiten. Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951), hat diese Sprachlosigkeit in seinem berühmten Werk „Tractatus logico-philosophicus“ so ausgedrückt: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“

Die Problematik dabei ist, dass durch die Versprachlichung Sichtweisen in eine ganz bestimmte Ansichtslogik eingegossen werden. Dadurch kann eine über die Möglichkeiten der Wortsprache hinausreichende Qualität begrenzt werden.7 Dennoch unternehme ich den gewagten Versuch, Beschreibungen zu finden, wie sich dieser der Logik entziehende Weg des „Und das Darüber-hinaus“ im realen Leben vielleicht beobachten lässt. Dieser Weg bezieht seine Kraft aus dem Bereich des Unergründbaren. Er kann von Menschen, die sich im Unergründlichen beheimatet fühlen, auch als Tor zur Spiritualität erlebt werden. Letztlich erfährt der Inhalt der Kapitel, die sich mit Spiritualität beschäftigen oder an diese anrainen, seine Begrenzung durch die Wortsprache.

Im Kapitel „Apps für eine gute Entscheidung“ versuche ich meine Erfahrungen in der Beziehungsberatung (sowohl aus Gesprächen mit Einzelklienten als auch mit Paaren) als Orientierungshilfe weiterzugeben. Dabei wird selbstverständlich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Im Vergleich zu den mannigfaltigen Verhaltensmöglichkeiten von Menschen kann davon in diesem Buch nur ein sehr begrenzter Auszug geboten werden.

In den Kapiteln „Kinder, ein Anschlag auf die Paarbeziehung“ und „Das kann ich meinen Kindern nicht antun“ versuche ich die besonderen Herausforderungen für Eltern-Paare im Alltag aufzuzeigen, insbesondere auch im so belastenden Kontext von Trennung oder Scheidung.

Das Schlusskapitel „Nährboden für die Zukunft“ versucht auf das zu fokussieren, was die Zukunft eines Paares nachhaltig absichern kann. Dabei handelt es sich meist um Möglichkeiten kleiner „nährender Zugaben“, die in die Beziehung eingebracht werden können, aber auch um Ideen zu substantiellen Sanierungs- und Absicherungsmaßnahmen. In diesem Kapitel wird auch versucht, der Paarbeziehung eine Anschlussfähigkeit an größere als die Beziehung betreffende Lebensthemen zu geben, um sie besser im Kontext des Gesamtlebens betrachten zu können.

Dieses Buch möchte kein üblicher Beziehungsratgeber sein, denn Rat-Schläge zum Thema Beziehung gibt es genug. Diese führen selten zum Wandel, wenn sie nicht aus den Betroffenen selbst kommen. Dieses Buch möchte ein Fachbuch für Sehnsüchtige sein. Dabei gehe ich davon aus, dass jeder Mensch am besten weiß, was seine Bedürfnisse sind, was ihm entsprechend ist und was ihm schadet. Manchmal sind wir Menschen wie Goldgräber. Wir graben unter großen Entbehrungen so lange, bis wir glauben Gold gefunden zu haben; und sind dann enttäuscht, wenn das Gefundene nicht so glänzt wie erwartet.

Dieses Buch soll eine Begegnung mit Tiefgang sein, zwischen den Lesern und mir. Vor dem Hintergrund meines humanistischen Menschenbildes glaube ich prinzipiell an die Selbstheilungskräfte von Menschen, sich selbst aus Verstrickungen befreien und ihnen gemäße Lösungswege finden zu können. Dabei ist die Lösung nicht gleich das Endresultat, vielmehr entsteht der Gewinn durch die Dynamik des neuen Weges.

Intention

Was ist meine Intention? Dieses Buch soll als „Aufsperrhaken“ dienen, für den Ausbruch aus dem Labyrinth der selbstauferlegten Denkgrenzen, so wie in der Geschichte „Das Wagnis“ über das Schicksal des Gefangenen am Ende dieses Buches. Es ist nicht notwendig, den goldenen Schlüssel ein Leben lang zu suchen, wenn der alte, rostige Schlüssel auch ins Schloss passt. Der Schlüssel braucht nur das Schloss zu sperren und nichts über das Schloss oder das, was dahinter liegt, aussagen. Es genügt, wenn er mögliche Wege erschließt.

Der Ausbruch aus den selbstauferlegten Denkgrenzen soll an die Außengrenzen führen und darüber hinaus zu Neuem, zu dem, was im gegenseitigen Bezogen-Sein von zwei Menschen möglich sein kann. Zu dem, was manchmal zwar denkbar, aber nicht erreichbar erscheint und durch die Endlichkeit des Lebens eine besondere Bedeutung bekommt.

Der Inhalt des Buches entzieht sich jeglicher moralischen Wertung, sondern schöpft aus der Bejahung alles Menschlichen. Damit wird der Beliebigkeit nicht das Wort geredet, auch nicht der Undifferenziertheit und Unverbindlichkeit, die gegenwärtig um sich greift, das Tor geöffnet. Einer Welt, in der es scheinbar nichts mehr Feststehendes gibt, keine Werte mehr letztverbindlich sind, jede Bindung, jede Beziehung aufgelöst werden kann, alles nur Fake ist. Alternativ dazu, werden Selbstaufmerksamkeit und Selbstverantwortung zum bestimmenden Gegenwert erhoben.

Ambition

Bezüglich meiner eigenen Ansprüche über die inhaltliche Ausbeute des Buches für die Leser, halte ich es mit dem Psychotherapeuten und Supervisor Bernd Schuhmacher, der eine gute Interaktion (in diesem Fall zwischen Autor und Leser) in der „Dreier-Regel“ formuliert hat. In dieser „sollte eine pädagogische Interaktion

zu einem Drittel aus Bekanntem,

zu einem Drittel aus Neuem und

zu einem Drittel aus Unverständlichem bestehen.“

8

1.3. Was ist wirklich?

Wenn das, „was wirklich ist“, ausschließlich von der subjektiven Wahrnehmung, von meiner persönlichen Version, abhängig ist (wie vorher von mir postuliert), woran kann sich eine Person in einer Auseinandersetzung dann noch halten, was ist dann noch richtig und was ist falsch? In welchem Geiste ist es möglich, die Ereignisse des Lebens trotz unterschiedlicher Sichtweisen gewaltfrei zu beurteilen? Ein Modell könnte sein, dass uns für menschliche Erkenntnisse drei Wirklichkeiten zur Verfügung stehen, siehe gegenüberliegende Grafik:

Abb.1: Grafik „Wirklichkeiten-Modell“, G. Kühbauer

Die subjektive Wirklichkeit: Jeder sieht sie mit „seiner Brille“; die Wahrnehmung wird durch die subjektive Brille verzerrt.

Die abgesprochene Wirklichkeit: Diese kann noch exakter, als „konsensuale Wirklichkeitsauffassung“

9

benannt werden. Sie ist alles, was zwischen Menschen für das Abstimmen des Zusammenlebens notwendig ist. Gesellschaftliche Verhaltensnormen drücken sich durch Sprache oder vor allem geschriebene Sprache aus. Das Ergebnis ist die abgesprochene Wirklichkeit. Sie beinhaltet im Idealfall die Grundakzeptanz verschiedener Sichtweisen und Gefühlserleben und erleichtert dadurch Gemeinsamkeiten im Tun, in der Organisation des sozialen Zusammenlebens der Menschen.

Die uns nicht bekannte Wirklichkeit: sie wird auch – je nach spiritueller oder religiöser Beheimatung – als non-duale, transrationale Wirklichkeit oder als eine Gottheit benannt; diese Wirklichkeit, dieses Bewusst-Sein jenseits von Raum, Körper, Personalem und Sprache, ist nicht der Subjektivität unterworfen und kann auch als objektive Wirklichkeit bezeichnet werden. Vielleicht zeigt sie sich auch im Ereignis des Zufalls.

Das theoretische Fundament, auf das ich mich stütze, ist die Sichtweise, dass es keine „wirklich“ objektivierbare Sicht von Wirklichkeit gibt, weil jeder Mensch die Dinge durch seine ihm ganz eigene „Brille“ betrachtet. In der Arbeit mit Paaren ist dies sehr leicht bereits am Anfang der Sitzung bei der Problembeschreibung zu beobachten. Es ist so, als würden zwei verschiedene Filme zur gleichen Zeit ablaufen. Diese Einschätzungen sind keine Wiedergabe von einer neutralen Wirklichkeit, erzeugen aber Gefühle.

Frau K. in einer Paarsitzung zu mir:

„Es ist ein Wahnsinn, manchmal glaube ich, ich bin im

falschen Film, er hat eine Wahrnehmungsstörung!“

Herr K.:

„Das Problem ist, dass du immer alles so emotional siehst.“

Frau und Herr K. haben das Problem unterschiedlich erlebter, wahrgenommener Wirklichkeit. Je nach Wahrnehmung des Erlebten, ergibt sich eine unterschiedliche Interpretation von ihm.

Das dargestellte Wirklichkeitsmodell ist der Versuch, eine Versöhnungsmöglichkeit aufzuzeigen, die in zwischenmenschlichen Beziehungen Potential zum friedlichen Umgang miteinander hat. Im Sinne des Mottos: „Wir sind uns zwar nicht einig, aber wir kennen die Sichtweise des anderen an.“ Dies ist der konstruktive Eingang zur abgesprochenen bzw. konsensualen Wirklichkeit in einer Paarbeziehung.

Grundposition: Jeder hat das gleiche Recht auf seine Wahrnehmung. Über diese braucht nicht gestritten zu werden, da sie immer subjektiv ist. Alles was wir erleben, wird ins Verhältnis zu den eigenen biografischen Erfahrungen gesetzt und bekommt einen festen Platz im persönlichen Bezugssystem.

Im Gegensatz dazu bietet die abgesprochene Wirklichkeit Menschen die Möglichkeit, sich auf eine gemeinsame Interpretation des Wahrgenommenen im Konsens zu einigen. Sie beinhaltet die Grundakzeptanz verschiedener Sichtweisen, Anschauungen, Einstellungen, Empfindungen, Gedanken, Gesinnungen und Überzeugungen. Sie ermöglicht, jegliches Tun und Handeln als gegeben zu betrachten. Es muss nicht immer alles neu definiert werden. Grün ist grün und rot ist rot. Man weiß: bei Grün fährt man los, bei Rot bleibt man stehen. Diese Betrachtungsweise wurde von einer Mehrheit von Individuen (oder durch ihre legislativen Vertreter) abgesprochen und vereinbart, es erleichtert gemeinsames Tun, Denken und Fühlen. Ohne diese Chance auf Abstimmung und Anpassung würde unsere Welt nicht funktionieren, da dies die Ordnungs-Grundlage für jegliches Zusammenleben ist. Die abgesprochene Wirklichkeit ist das Ergebnis aus der Bereitschaft, den anderen in seiner Andersartigkeit grundsätzlich anzuerkennen. Sie achtet vereinbarte Regeln, Sitten und Grundsätze. Das bedeutet nicht, dass subjektive Werte und ethische Überzeugungen damit aufgegeben werden müssen.

Darüber hinaus gibt es, jenseits der subjektiven und abgesprochenen Wirklichkeit – in der neutralen Zone – die uns unbekannte Wirklichkeit, die für alle Menschen ohne Einschränkung zur Verfügung steht. Wenn man sich auf sie einlässt und ihre Existenz nicht gleich im Vorhinein in Abrede stellt, stellt sie sich bisweilen durch unmittelbares, nicht auf reflektierendes Denken gegründetes Erkennen zur Verfügung.

1.4. „Meine Nasenspitze ist das Ende der Welt“

Das menschliche Leben stellt die Möglichkeit kognitiver Selbst-Einschränkung zur Verfügung. Gedankliche Selbst-Einschränkung (in allen Graden) ist ein Schutz vor Eindrücken, welche das Individuum intellektuell oder seelisch nicht verarbeiten kann und auch nicht will, oder die es gedanklich nicht verändern möchte. Sie schützt die seelische Eigenständigkeit, das subjektive Empfinden und Erleben. Gedankliche Selbst-Einschränkung ist Angstabwehr und seelische Selbst-Verteidigung gegen nicht zu bewältigend erscheinende Gefühle. Je mehr ein Mensch seelisch verarbeiten kann und sich berührenden Eindrücken auszusetzen wagt, umso größer ist seine Einsichtsfähigkeit.

Diese Angst veranlasst Menschen, nur die eigene subjektive Sichtweise als einzig wahre und zugleich objektive Wirklichkeit zu denken. Für das, als nicht bewältigbar erscheinende, haben jene Menschen keine andere Lösung und verbergen dies, indem sie ihr eigenes Verständnis zur einzigen Wahrheit erheben. Über den Widerstreit zweier Vertreter dieser Gattung Mensch, die sich beide im Vollbesitz der objektiven Wahrheit wähnen, berichtet folgende Geschichte:

„Ein Philosoph und ein Pfarrer streiten miteinander darüber, welcher der beiden von ihnen vertretenen Disziplinen der höhere Rang zukommt. Spöttisch meint der Pfarrer: ‚Philosophie ist, als ob jemand in einem dunklen Raum mit verbundenen Augen eine schwarze Katze sucht, die es gar nicht gibt.‘ Darauf antwortet der Philosoph: ‚Theologie ist, als ob jemand in einem dunkeln Raum ebenfalls mit verbundenen Augen eine schwarze Katze sucht, die gar nicht da ist und plötzlich ruft: Ich hab sie!‘“ 10

Einen völlig anderen Zugang zur Wahrheit zeigt Henning Mankell in seinem letzten, berührenden Buch „Treibsand“ kurz vor seinem Tod. Er stellt fest: „Alle Wahrheiten bleiben weiter provisorisch. Die Suche nach dem Überblick kann weitergehen. Etwas Wichtigeres gibt es wohl nicht, denke ich.“ 11 Wenn Menschen über den Tellerrand ihrer eigenen Subjektivität hinauszuschauen imstande sind, eröffnen sich für sie, besonders in Krisenzeiten, Möglichkeiten zur Konfliktlösung und Versöhnung.

2. PAARSEIN ZWISCHEN ABWASCH UND KOSMOS

Bevor dieses Buch sich mit den erweiterten Entscheidungsmöglichkeiten bei angedachter Trennung oder Scheidung beschäftigt, soll auf wichtige Problemdynamiken sowie auf generelle Wirkfaktoren in Paarbeziehungen eingegangen werden. Die Einflüsse dieser Faktoren sind sowohl der Problementstehung als auch der Problemlösung immanent. Sie bilden zugleich wichtige Grundbeiträge bei der Verhinderung von Problemen und deren Lösungen, wenn sie Beachtung finden.

Die im Folgenden dargestellten Wirkfaktoren sind, neben vielen anderen, entscheidende Ingredienzien im „Kochtopf der Beziehung“, die zum Gelingen oder Misslingen einer Beziehung beitragen können. Gelingen bedeutet in diesem Sinne, dass die Paarbeziehung über einen längeren Zeitraum, durch verschränkte individuelle Lebensphasen und Paarphasen hindurch, in einer Gesamtschau von der Person als bereichernd empfunden wird.

Ebenso kann Gelingen auch daran gemessen werden, ob es von beiden Partnern, entsprechend ihrer individuellen Wertmaßstäbe und Bedürfnisse, als befriedigend erlebt wird. Das reale Erleben der gemeinsam geschaffenen und akkordierten Werte des Paares können ebenfalls als Maßstab für Erfolg oder Misserfolg in der Paarbeziehung herangezogen werden. Das unerschütterlichste Kriterium bei der Beurteilung von Beziehung lautet jedoch für mich: Beziehungsglück kommt dann auf, wenn das, was man erlebt, genügt.

Wer etwas verändern will, für den sollten die Vorteile der Nicht-Veränderung klar sein, wie auch die Nachteile der Veränderung. Wenn aber die Annahme stimmt, dass die Lösung bereits im Problem enthalten ist, warum sind dann so viele Menschen so lange auf der Suche nach der Lösung ihrer Probleme? Vermutlich „suchen“ deshalb so viele mit Beharrlichkeit weiter, weil meistens der „Preis“ für die Lösung nicht schmeckt und die Person sich diesen, wenn es nur irgendwie geht, ersparen möchte. Umgekehrt gedacht, könnte kühn behauptet werden: „Die Lösung ist: Der Preis muss bezahlt werden!“

2.1. Nichts muss sich verändern

Bei heterosexuellen Paaren kann sich etwas verändern:12

indem der Mann etwas unternimmt oder unterlässt oder

indem die Frau etwas unternimmt oder unterlässt.

Grundsätzlich gilt: Jeder hat das gleiche Recht auf Nichtveränderung, nichts muss sich verändern. Allerdings braucht die Anstrengung, sich nicht zu verändern – sofern das überhaupt möglich ist – mindestens genauso viel, meistens jedoch noch mehr Energie, wie die Veränderung selbst. Veränderung ist möglich. Auch gegen den eigenen Willen. Man braucht sich ja von sich selbst nichts gefallen zu lassen. Dass manche Menschen im Laufe ihres Lebens einsichtsvoller werden, zeigt, dass die Gesamtheit der gemachten Erfahrungen Persönlichkeitsmerkmale verändern kann.

Doch wozu das Ganze? Warum sind manche Menschen so auf bewahren und halten aus und andere im Flow der ständigen Erkenntnislust? Es geht vielleicht um Einfaches, um das wundervolle Gefühl, am Leben zu sein, die Lebenszeit zu nutzen.

Bei Veränderungen im Ernstmodus von Trennung oder Scheidung hat dieser Wandel umfassende Auswirkungen auf die Person selbst, auf den Partner und auf die eventuell vorhandenen Kinder sowie auf noch andere zum System Gehörige wie Verwandte und Freunde. Auch hier ist zu bedenken – wie gerade zum Thema „Wirklichkeiten“ ausgeführt – dass jedes Verhalten, jede „Lösung“, sei sie auch noch so problematisch, aus der Perspektive der Betroffenen gesehen wird. Aus dieser Sicht ergibt jedes Handeln Sinn, auch wenn es sich im Nachhinein als die Wahl des „plausibelsten Irrtums“ (Heinz von Förster) herausgestellt hat.

Oft ist es so, dass Erneuerungen in der Beziehung schon länger anstehen, aber wegen der befürchteten Auswirkungen – weil der „Preis“ zu hoch erscheint – nicht zugelassen werden. Diese unbefriedigende Situation ist schwierig auszuhalten. Einerseits ist die unzufriedene Person in einer Situation, in der sie nicht mehr sein will, und andererseits zeichnet sich die Lebensform, nach der sie sich sehnt, überhaupt noch nicht real ab. In dieser Spannung zwischen dem leidvollen Ist-Zustand und dem sehnsuchtsvollen Soll-Zustand arrangiert sich die unglückliche Person mit sich selbst und dem Partner. Die Exkommunikation der Problemthemen ist dann der Versuch, die spannungsgeladene Situation so konfliktfrei wie möglich durchzustehen.

Die „Hoffnung“ – die Schwester der Nichtveränderung

Die passive Hoffnung auf Veränderung ist tröstlich und weit verbreitet. Die Person hofft, dass sich die Veränderung irgendwie von selbst ergibt. Der Glaube an die Hoffnung birgt den Vorteil in sich, nicht selbst aktiv werden zu müssen. Dieser Glaube lässt in der Phase des „unerlösten“ Zustands den Gedanken zu, dass die Beziehung vielleicht doch noch nicht am Ende ist.

Solch eine Hoffnung ist der an das Schicksal delegierte Versuch, die Veränderung um einen kleineren Preis zu bekommen; häufig delegiert an den Partner (er braucht sich ja nur zu verändern) bzw. an die hoffentlich sich bald verbessernden Rahmenbedingungen des Lebens. So fällt die Veränderung nicht mehr in die Zuständigkeit der leidenden Person. Jedoch: Manchmal wird die Hoffnung zur Schwester der Nichtveränderung. Wenn dies zutrifft, ist es so, als würde man am Bahnsteig stehen und auf einen Zug warten der schon lange abgefahren ist.

„Der Bote der rechten Zeit scheint wie ein Jüngling, der vorne eine Locke und hinten eine Glatze hat. Von vorne kann man ihn bei der Locke fassen, von hinten greift man ins Leere.“ (Bert Hellinger)

Vom Aushalten zum Verändern

Was ist, wie vorher behauptet, mit Exkommunikation der Problemthemen gemeint? Ulrich Clement, Sexualtherapeut aus Heidelberg, verwendet diesen Begriff für die Nicht-Kommunikation über Sexualität in der Paarbeziehung.13 Übertragen auf die allgemeine Kommunikationssituation von Paaren bedeutet dies: Aus der Kommunikation sind die heißen Konfliktthemen ausgeschlossen, denen aus Angst vor weiteren Streitigkeiten und Problemen ausgewichen wird. Sexualität nicht wieder oder nicht mehr anzusprechen, dient in erster Linie dem Selbstschutz und auch dem Schutz des Partners, weil er nicht gekränkt werden soll. Diese bewusste Exkommunikation der anstehenden Probleme ist oft in einer subtilen Form zwischen den Partnern verabredet. Entweder explizit („wir ersparen uns das“) oder implizit (beide wissen es, aber keiner spricht es aus).

Der Weg erschließt sich im Tun. Eine gute Möglichkeit besteht darin, sich zu bemühen, die unbefriedigende Situation in aller Ernsthaftigkeit so anzusprechen, dass der andere Partner das Gesagte „halbwegs nehmen“ kann und der, die Probleme ansprechende, Partner sich selbst dabei, z.B. durch besonders „verpackte“ Formulierungen, nicht „innerlich verbiegen“ muss. „Es sagen“ hat, wenn das Anstehende endlich thematisiert wird, eine befreiende Wirkung. Dabei ist sinnvoll, sich in dieser Anfangsphase der beginnenden Auseinandersetzungen keine zu großen Veränderungen zu erwarten. Es auf den Weg gebracht zu haben, ist schon ein gehöriger Teilsieg.

Der größte Nutzen besteht darin, dass die durch das Schweigen so belastende statische Beziehungssituation beendet wird und es zu einer ersten dynamischen Wirkung kommt. Diese ergibt, nach einer meist kurzen Phase der konfliktbeladenen Überbelastung, das positive Gefühl, „dass die Veränderung sich auf den Weg gemacht hat“, dass endlich etwas passiert. Es entsteht die positive Perspektive, dass das unangenehme Thema einmal (hoffentlich bald) vorbei ist. Welcher Partner diesen Schritt der Kommunikation als Erster setzt, ist nicht entscheidend, wichtig ist, dass er getan wird.

Der initiativere Partner zeigt Entschlossenheit, er ist im Prozessgeschehen der Auseinandersetzung im Vorteil, weil er Mut und den Willen zur Transparenz beweist, obwohl er deswegen mehr riskiert. Die Regel des Mikado-Spiels: „Wer zuerst etwas bewegt, hat verloren!“, ist in einer problemdurchwachsenen Beziehungssituation Garant für das, was nicht funktioniert.

Doppelgleisiger Wandel in der Paarbeziehung

Paare versuchen, mehr oder weniger unablässig, ihre Irritationen, ihre unterschiedlichen Bedürfnisse, sowie die ständig wechselnden Anforderungen im Alltagsleben auszubalancieren. Es ist völlig normal und auch sinnvoll, auf diese Weise mit dem sich ständig vollziehenden Wandel des Lebens umzugehen. Nichts ist so beständig wie der Wandel. Der Paartherapeut Konrad Peter Grossmann meint dazu, dass Individuen und soziale Gemeinschaften in einem Zeitbogen des Werdens und Vergehens sind und dem Anfang immer schon sein Ende innewohnt.

Dieses Ausbalancieren der ständigen Veränderung im alltäglichen Leben steht unter dem Einfluss der jeweiligen individuellen Lebensphase beider Partner und den, mit diesen verknüpften, Paar-Phasen. Grundsätzlich durchläuft die Paarbeziehung genauso Phasen, wie auch Individuen ihre Lebensphasen durchlaufen.

In diesen zwei Strömen der Evolution, die immer wieder zusammen fließen und sich vermischen (sofern sie sich nicht trennen), entwickeln sich die aufeinander bezogenen Partner und die Wesensart ihrer Beziehung. Die Möglichkeit des Ausbalancierens bei Disharmonien, ist über weite Strecken ausreichend bis zu dem Zeitpunkt, wo sich der nächste, größere Entwicklungsschritt für das Paar ankündigt. Es ist wie in der U-Bahn: das Schlingern des Waggons wird durch ein etwas breitbeinigeres Stehen ausbalanciert; deshalb braucht man ja nicht gleich den Zug verlassen.

Ulrich Clement meint, Paarkrisen sind Botschafter der Entwicklung. Phasenübergängen in der Paarbeziehung gehen oft krisenhafte Erscheinungen voraus. Diese Krisen entstehen, weil die Selbstregulationsmöglichkeiten (das vorher beschriebene Ausbalancieren) des Paares erschöpft sind. Anders ausgedrückt, die alte „Ordnung“ des Paares reicht nicht mehr. Eine neue „Ordnung“, die das Überleben der Paarbeziehung sichern könnte, ist aber noch nicht in Sicht. Die Krise ist der Zustand, von „nicht mehr das Alte – noch nicht das Neue“. Und: In jeder ernsten Paarkrise läuft die Möglichkeit der Trennung mit.14

Man kann sich nicht nicht entwickeln

„Entwicklung besteht nicht in der Verbesserung dessen, was war, sondern in der Ausrichtung auf das, was sein wird.“ (Khalil Gibran)

Auf Paare bezogen meint Entwicklung die Fähigkeit, in eine neue Beziehungsphase zu gelangen, in der andere Regeln, andere Haltungen als zuvor gelten. Diese neue Beziehungsphase kann durch äußere Ereignisse (Geburt eines Kindes, beruflicher Wechsel, Hausbau, Arbeitslosigkeit, finanzielle Krisen, Krankheit, Pensionierung usw.) ausgelöst werden. Sie kann sich aber auch „von innen heraus“ ereignen, etwa wenn Auseinandersetzungen über ein emotionales, heikles Thema entstehen und das Paar auf diese Weise Raum für Neues gewinnt. Der andere Pol dieser Achse ist die Selbstauflösung. Bei Paaren ist damit die Trennung gemeint.

Entwicklungen in Paarbeziehungen vollziehen sich in einem irreversiblen Prozess. Die Veränderung des Lebensprozesses ist auf Weiterentwicklung ausgerichtet. Ein Umkehren ist nicht möglich. Dies gilt auch für die Trennung. Selbst wenn sie revidiert wird, geht das Paar nicht geschichtslos in die neue Phase.

Es ist sinnvoll, sich vorwärts zu entwickeln und nicht zurück. Entwicklung geschieht, indem das Neue das Frühere umfasst und gleichzeitig das bis jetzt Bekannte überschreitet und in ein neues Tun übergeht. Alle schönen und schmerzlichen Erfahrungen aus der Vergangenheit des Paares sind dann im Neuen geborgen. Geht ein Paar mit Entwicklung so um, erhöht sich die Chance, dass die Beziehung beständig bleibt. Jedoch braucht Beständigkeit Bewegung, diese zeigt sich auch dadurch, dass sich jeder Partner durch den Wandel des anderen mitverwandeln lässt.

„Entwicklungs-Schleifen“ in Paarbeziehungen

Es geht um die Frage: Wie schafft ein Paar den Übergang vom Leben, wie es ist, zu einem Leben wie es sein sollte. Dazu ein Bild: Die menschliche Entwicklung (einerlei, ob als Individuum oder als Paar) kann man sich als selbsterzeugende, kontinuierlich in Verbindung stehende „Schleife“ vorstellen (siehe nachstehende Abbildungen 2 und 3). Diese transformieren sich in einem unendlichen Evolutions-Prozess. Dieser Prozess, auch Leben genannt, endet erst mit dem Tod. Eine Entwicklungsschleife ist ein sinnvoller Zeit-Raum des Innehaltens und der Besinnung und wird vom Prozess des Werdens und Vergehens angetrieben. Entwicklungsprozesse lösen sich entweder durch selbstbestimmte oder durch fremdbestimmte Einflüsse regelmäßig aus. Selbstbestimmt durch die Partner (zumindest von einem Partner, der dann durch seine Dynamik den anderen fremdbestimmt „mitnimmt“; oder durch Einflüsse, die von außen auf das Paar einwirken (z.B. bei Schicksalsschlägen) und von diesem nicht beeinflussbar werden können.

Eine Entwicklungsschleife durchläuft vier Phasen:

Phase: Zeit des Tuns in der Beziehung; erste Unstimmigkeiten, Probleme, es entsteht Handlungsbedarf

Phase: Reflektieren; wie die Beziehung erlebt wurde/wird; Zufriedenheit/Unzufriedenheit-Check, Austausch darüber

Phase: Generalisierung/Erkenntnisse; hervorbringen, erzeugen, ableiten der Erkenntnisse aus der Reflexion; was wollen wir verändern, was beibehalten?

Phase: experimentelles Ausprobieren neuer Verhaltensweisen, die aus den Erkenntnissen gewonnen wurden

Abb.2: Grafik „Die 4 Phasen der Entwicklungsschleife für Paare“, G. Kühbauer

Bei positiven Erfahrungen aus dem Experimentieren sollte das Paar diese in das weitere Tun integrieren. Der Grundsatz dabei lautet: „Mache mehr von dem, was funktioniert.“ Denn dies ist die Schwungmasse für die nächste Etappe.

Nach dem gemeinsamen Innehalten steht Tun wieder einige Zeit im Mittelpunkt, das Leben fließt weiter, bis die nächste Veränderungsdynamik des Paares sich auslöst. Diese gewährende Art des Umganges mit Entwicklung gibt dem Paar Zuversicht, um zukünftige Veränderungs-Krisen zu bewältigen und nährt Liebe und Bindung.

In folgender Abbildung 3 wird ein idealtypischer Entwicklungsverlauf über einen längeren Zeitraum dargestellt. Regelmäßig kommt es dadurch zur Anpassung an neue innere und äußere Lebensbedingungen des Paares. Bewusstheit und die Handlungsmöglichkeiten nehmen zu. Selbstaufmerksamkeit wird gefördert. Individuelle, gemeinsame Entwicklung findet statt. Die Schnittmenge des Paares wächst quantitativ und qualitativ.

Abb.3: Grafik „Kontinuierlicher/idealtypischer Entwicklungsverlauf für Paare“, G. Kühbauer

Diese Form der kleineren, kontinuierlich wiederkehrenden Entwicklungsschleifen ist für die Beziehung meist verträglicher, da der subjektive Veränderungsaufwand die Partner nicht so tief herausfordert, es steht nicht so viel am Spiel. Dadurch können sie im Zusammenspiel die notwendigen Anpassungen leichter bewältigen.

Versäumt ein Paar diesen kontinuierlichen Veredelungsprozess bekommt der übergroße Reformstau, wenn er unkontrolliert losbricht, oft eine die Beziehung in Frage stellende Dimension. Dies erschüttert dann das Paar bis in ihre Grundfesten hinein. Die notwendige Anpassungsleistung – welche im Modell in mehreren Schritten („Schleifen“) geschieht – soll jetzt in einer einzigen, riesigen Dynamik („Schleife“) vollbracht werden. Die Beschaulichkeit des „Panda-Bären-Daseins“ wird dabei unterbrochen. Diese Dynamik schleudert das Paar aus dem eingespielten Leben hinaus. Die Wucht ist umso größer, wenn die Erneuerung im fortgeschrittenen Lebensalter stattfinden soll, wo die Partner schon glaubten, sich miteinander einträglich arrangiert zu haben.

„Während die Jahre vergehen, bleibt immer weniger Zeit,

die man auf irgendetwas anderes als die Liebe verschwenden

könnte.“ 15 (Leo Bormans)

„Angst“, die Mutter der Vorsicht

Veränderungen in der Beziehung sind mit Angst verbunden. Dies ist der Grund, warum Paare sie oftmals vermeiden und mit hohem Aufwand und Leidenstoleranz versuchen, die bestehende Beziehungssituation nicht zu verändern. Dies ist sehr menschlich, deshalb sollten sich Paare nicht selbst pathologisieren. Jedes Problem kann als Lösungsversuch angesehen werden. Dieser funktioniert zwar nicht, doch hinter ihm steht das Bemühen, mit der schwierigen Situation so gut wie möglich umzugehen. Dies mindert jedoch nicht die Verantwortung für den missglückten „Lösungsversuch“. Die verantwortliche Person kann sich dafür Selbst-Empathie geben, sie sollte zu ihren Handlungen stehen, sie in ihre Verantwortung nehmen, sich nicht leichtfertig entschuldigen wollen oder negative Auswirkungen nicht bagatellisieren.

Wie schon thematisiert, kann Veränderung oder Entwicklung nicht verhindert werden. Wenn ein Paar Weiterentwicklung verhindern will – aus welchen Gründen auch immer –, können sich leidvolle Symptome entfalten, welche die bestehende Struktur des Paares aufs Erste hin nicht gefährden, sondern sogar manchmal stabilisieren. Oberstes Ziel ist dann das Überleben des Paarsystems. In dieser Dynamik haben Kinder oft ihren Part zu spielen und sind dabei besonders gefährdet.

Kinder als Seismographen

Kinder übernehmen oft bei länger anhaltenden Krisen der Eltern, Verantwortung für das sich im Leiden befindliche Elternpaar. Sie machen dies unbewusst und aus Liebe heraus – für ihre Eltern, um sie zu trösten, zu beruhigen oder anders gesagt, einfach, um für sie „gut zu sorgen“. Sie machen dies instinktiv, denn schließlich hängt ihre Existenz elementar vom Wohlbefinden der Eltern ab.

Die Erscheinungsformen der kindlichen Symptom-Trägerschaft sind vielfältig. Sie reichen von auffälligem, nicht situationsadäquatem Verhalten in Familie, Schule oder Freizeit, über psychosomatische Erkrankungen oder Unfälle, bis hin zur Vollblüte einer pathologischen Persönlichkeitsstörung, die kinderpsychiatrisch behandelt werden muss.

Wie kommt es zu den krankhaften Symptomen? Das selbstregulierende System „Familie“ versucht im Gleichgewicht zu bleiben, soll sich dabei aber permanent an eine sich wandelnde Umwelt anpassen. Diese sozialen, körperlichen, psychischen und gesellschaftlichen Umweltbedingungen geben dem Paar Möglichkeiten vor oder beschränken dieses. In manchen speziell belastenden Übergangssituationen (Heirat, Geburt, Pubertät, Tod eines Angehörigen usw.) sind Krisen vorhersehbar und natürlich. Herausfordernde Ereignisse verlangen von Familien aber hohe Anpassungsleistungen. Wenn dies nicht gelingt, entsteht oftmals eine krankmachende Entwicklung im Paar- bzw. Familiensystem und die Symptome verschieben sich zu den Kindern hin.

Diese Symptome, die Kinder dann stellvertretend ausleben, sollten nicht nur als problematisches Verhalten, sondern ebenso als Lösungsversuch für eine, für sie schwer aushaltbare Situation verstanden werden, als Signal, dass in der Familie etwas nicht mehr im Lot ist. Der Symptom-Träger – oft das Sorgenkind oder das „schwarze Schaf“ der Familie – sorgt damit unbewusst für die Familie oder das Elternpaar, es nimmt ihm etwas ab.

Dies gehört, trotz aller Schwierigkeiten die damit verbunden sind, liebevoll von den Eltern wahrgenommen. Die Eltern können sich dann Veränderungsmaßnahmen für ihr Verhalten überlegen, damit es ihrem Kind wieder besser gehen kann und es die Verantwortung für die Stabilisierung des Familiensystems nicht mehr verwalten muss. Dieser Job obliegt der Verantwortung der Erwachsenen.

Veränderungen im Kontext der Zeit

Herausfordernde Veränderungsprozesse, wie z.B. die Entscheidungssuche vor einer Trennung, sind eingebettet in den jeweiligen zeitlichen Kontext des Lebens. Der aktuelle Lebensabschnitt und das Alter der Person bestimmen den „gefühlten Rahmen“ während der Orientierungssuche. Die Dauer der Beziehung und die Art und Weise des gemeinsam Erlebten, im Positiven wie im Negativen, wiegen dabei schwer.

Hohes Gewicht haben besonders Kränkungen und Verletzungen, die noch nicht abgeschlossen sind und als „offene Baustellen“ aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirken. Die Summe der gemeinsam geschaffenen, immateriellen und materiellen Werte wie Kinder, erreichte Ziele, Besitz und Lebensstandard, bestimmen das Ausmaß der Bindung. Diese Bindung wird öfters mit Liebe verwechselt. Die Anerkennung der Bedeutsamkeit dieser Bindung ist notwendig, um den möglichen Preis einer Trennung oder Scheidung erspüren zu können.