Liebe trotz Zeitnot - Michael Cöllen - E-Book

Liebe trotz Zeitnot E-Book

Michael Cöllen

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Beschreibung

Die Paare leiden in den heutigen Zeiten unter chronischem Zeitmangel. Arbeitsplatz, Kinder, Haushalt, Freizeitaktivitäten lassen kaum noch Raum für die eigene Liebesbeziehung. Die enge Taktung und die Alltagsbewältigung, die uns das heutige Leben aufzwingt, lastet Paare oft komplett aus. Immer wieder scheitern Partnerschaften deshalb aufgrund von Entfremdung. Analysiert wurde diese Problematik bereits mehrfach von Psychologen, Soziologen und Philosophen. Die renommierten Paartherapeuten Michael Cöllen und Ulla Holm haben nun erstmals ein praktisches Programm entworfen, mit dem sich Paare präventiv, aber auch akut gegen diese Bedrohung schützen können, basierend auf dem bewährten Konzept der Paarsynthese. Anknüpfend an Michael Lukas Moellers Zwiegespräche erweitert die Paarsynthese das rein kommunikative Konzept um weitere Säulen, die den Körper und die Seele der Paare einbeziehen.

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Michael Cöllen / Ulla Holm

Liebe trotz Zeitnot

Brennpunkte einer Paarkultur

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rosenheim

Umschlagmotiv: © sanjeri / iStock / GettyImages

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-451-81595-9

Für Mio und Toni

Inhalt

Einführung: Brennpunkte der Liebe

1  Die fünf Bausteine der Liebe

Aktives Lieben

Einblick in die Paardynamik und die Psychologie der Liebe

Eine Definition von Partnerliebe

Erster Baustein: Die Energie der Liebe – Sehnsucht nach Ganzwerdung

Zweiter Baustein: Die Polarität der Liebe – Netzwerk der Widersprüche

Dritter Baustein: Der Rhythmus der Liebe – Fünf Zyklen der Paardynamik

Vierter Baustein: Die Intimität der Liebe – Fünf Dialogsäulen von mir zu dir

Fünfter Baustein: Strategien der Liebe – Fünf Partnerstile

Drei Schwerpunkte krisenhafter Paarbeziehungen

Der Paarsubstanzkonflikt – Frieden in mir, Frieden mit dir

Die narzisstische Paardynamik und ihre Kränkungsmechanismen – Im Ringen miteinander

Kreative Sinnlichkeit – Lieben mit Lust

2  Brennpunkt Liebe in Zeitnot

Zeit für die Liebe

Die Liebe lebt von der Zeit – Zentrierung zum Wesentlichen

Zeitqualität – Intensivzeit mit dir

Psychologie der Liebes-Zeit – Das Leben mit Gefühlen

Arbeit contra Liebe – Kann eine Work-Life-Balance gelingen?

Sexualität in Zeitnot

Arbeiten für eine Zeit voller Liebe

Übungen für die Liebe unter Zeitdruck – Gebündelter Dialog

Anleitung zum Gebündelten Dialog

3  Brennpunkt Altern in der Liebe – Im Zeitbogen des Lebens

Statistik der Liebe: Silberhochzeit oder Scheidung?

Kennzeichen einer guten langjährigen Partnerschaft

Paare in Krisen

Arbeit an der Liebe, um in Liebe alt zu werden

Arbeitsfelder unseres Paarwerdens: Tiefenpsychologie, Dialog und Sinnfindung

Erster Arbeitsbereich Tiefenpsychologie: Altlast und Mitgift

Zweiter Arbeitsbereich: Dialog

Dritter Arbeitsbereich: Sinn- und Wertfindung für Liebesglück auf Dauer

4  Brennpunkt Intimität, Erotik und Sexualität in Zeitnot

Sexualität im Verständnis der Paar-Synthese

Was ist mit Intimität gemeint?

Der Ausverkauf der Intimität

Ersehnte Intimität und erfüllte Sexualität

Kultur der Intimität und Erotik

Die Stimulus-Theorie

(Un)Treue

Treue als Chance für menschliches Reifen und Wachsen

Sexualität und unser Inneres Kind

Sexualität und Spiritualität

5  Brennpunkt: Grenzerfahrungen in der Liebe

Dreiecksbeziehungen

Psychologischer Hintergrund von Dreiecksbeziehungen

Zerrissenheit zwischen Partnerliebe, Kinderwunsch und beruflicher Selbstverwirklichung

Wenn die Liebe kein Gegenüber hat

6  Ins Zentrum der Liebe: Der Weg zur blauen Blume

Wirkweise von geführten Zentrierungen auf den Ebenen von Körper, Geist, und Seele

Ablauf der geführten Zentrierung in vier Schritten

Schritt 1: Vorbereitung

Schritt 2: Durchführung

Schritt 3: Bearbeitung

Schritt 4: Nachbereitung

Dialoganleitungen durch geführte Zentrierungen

Abenteuerreise: Unsere Liebe als gemeinsame Reise

Abwehr und Widerstand 1: Abwehr des Inneren Kindes bei dir und mir

Abwehr und Widerstand 2: Bewusstwerden des inneren Schutzmusters

Ahnenbotschaft: Die Botschaft der Generationen vor mir an mich

Altlasten: Was trage ich aus meiner Geschichte in mir und an dich heran?

Altwerden: Will ich mit dir alt werden?

Aura – Wahrnehmung der Ausstrahlung von dir und von mir

Dialog der Hände: Mit dir

Dialog: Innerer Dialog und Brief an dich

Erkenne dich selbst: Diagnostik zur Selbsterkenntnis und Paarerkenntnis

Erkennen und versenken: In dich – in mich

Faustöffnung – Herzöffnung – wie kann ich dich wieder öffnen?

Fehler von dir benennen: Als Entwicklungspotenzial füreinander

Fluidum: Begegnung in der Gruppe

Fragen: Durch wichtige Fragen mich selbst begreifen

Gedicht zur Liebe: Für dich

Hände 1: Die Geschichte deiner Hände auf meinem Körper

Hände 2: Ich führe deine Hände über die Landschaft meines Körpers

Herzensdialog: Ich öffne mein Herz für dich

Identität durch die Liebe: Umgang mit meiner Seele

Ikebana 1: Achtsamkeit mit der Natur

Ikebana 2: Sinnlichkeit mit dir im Geist des Ikebana

Inneres verletztes Kind aus Ton formen

Intimes Interview – Ich frage dich

Kreativität und Sinnlichkeit: Von mir zu dir

Krise – Meine Verstrickung mit dir

Krise – Trennendes zwischen uns

Liebe in meinem Leben: Zu dir

Liebesbrief an mich selbst

Liebesgestaltung: Wie habe ich meine Liebe zu dir gestaltet?

Liebesmuster – Kränkungsmuster: Wie kränke ich dich?

Lobgesang: Ich lobe dich für…

Mysterium von Frau und Mann: Wünsche für unsere Liebe

Natur: Ihre Schönheit spüren und dieses Gefühl an den Partner weitergeben

Partnerschaft im Lebensplan: Mich blind dir anvertrauen?

Partnerselbstbild malen: Ich zeige mich dir

Partnerwahl: Warum habe ich dich gewählt?

Partnerwerdung 1: Begegnungspanorama und Elternbrief

Partnerwerdung 2: Haus der Kindheit

Portraitzeichnen: Die Linien in deinem Antlitz

Schatten: Malen der eigenen Schattenseiten

Seelendialog 1a: Ich schreibe einen Brief an meine Seele

Seelendialog 1b: Ich male meine Seele

Seelendialog 2a: Ich male deine Seele

Seelendialog 2b: Ich schreibe einen Brief an deine Seele

Sehnsucht: Einen Sehnsuchtsbrief schreiben

Sexualität: Meine erotischen Fantasien

Sexualität: Mit Körper, Geist und Seele

Sicherer Ort für das Innere Kind

Sinne: Tanz der Sinne in meiner Liebe mit dir

Sinnlichkeit: Berührung im Geist des Ikebana

Skulptur – Ich forme dich und du mich

Spiegeln in deinen Augen: Wer bin ich in deinen Augen?

Substanzkonflikt: Das gemeinsame Thema

Symbol für die Beziehung mit dir

Tantra: Die erste Nacht – Zur sinnlichen Achtsamkeit

Vereinigung: Stille Vereinigung mit Körper, Geist und Seele

Verzeihen: Um Verzeihung bitten

Weg: Auf dem Weg zu dir

Wer bin ich – herausgefordert durch die Liebe mit dir?

Werben um dich

Wunder: Das Wunder in dir

Wünsche: An dich

Würde: Hinführung zur Würdeübung des Paares

Yin-Yang-Bild – Wir malen zusammen an einem Bild

Zum Schluss: In Zeiten wie diesen

Literatur

Einführung: Brennpunkte der Liebe

Zeitnot ist zu einem wesentlichen Kennzeichen unserer beschleunigten Gesellschaft geworden. Zeitnot aber frisst die Liebe – unsere kostbarste Zeit – auf, indem sie Paare ihrer innersten Bestimmung beraubt: gemeinsam Momente zu verbringen, um sich selbst im Partner immer wieder neu zu finden, einander im Tiefsten zu erkennen, abzuholen und würdig miteinander heranzureifen. Stattdessen kommt es für moderne Paare durch unerträglichen Zeitdruck zu einer regelrechten Entkernung des Paarseins. Das zutiefst humane Streben der Liebe, durch Hingabe einander zu fördern, wird elementar bedroht.

Um ersehntes Liebesglück auf Dauer dennoch aufbauen zu können, brauchen alle Paare Zeiten der Ruhe und des Friedens. Von beiden Partnern wird dafür eine hohe menschliche Kompetenz gefordert, denn neben der persönlichen Arbeit am inneren Zustand der Beziehung müssen Partner lernen, sich gemeinsam und solidarisch gegen den Zeitdruck von außen zu stemmen. Allzu oft und allzu schnell wird nämlich der Stress von außen nach innen abgeleitet und gegen den Partner gerichtet. Im schlimmsten Fall wird dieser sogar zum Gegner im stressinduzierten Dauerstreit. Es gilt, die gemeinsame Liebe auch gemeinsam gegen die Zeitnot zu verteidigen, denn die Liebe ist das Ergreifendste, das wir Menschen erleben dürfen, sie ist Humanismus im eigentlichen Sinn. Das Wunder der Liebe, das Menschliche an uns Menschen, darf nicht untergehen in den Strudeln dieser Welt mit wunderlicher Technik, rasanter Gewinnmaximierung und brutaler Kriege, die alle mit digitaler Perfektion ausgeführt werden. Warum nicht auch Perfektion für die Liebe?

Dieses Buch will Paare in Zeitnot unterstützen, Frieden zwischen sich zu finden und so die Voraussetzung zu schaffen für eine starke Liebe. Dies ist eine zentrale Herausforderung gegen die „Sinnentleerung unserer Beschleunigungsgesellschaft“ (Rosa 2011). Ein solcher Frieden wirkt doppelt und dreifach: für die Liebenden selbst, für ihre Kinder und für die sie umgebende Gesellschaft. Wem aber dient die Beschleunigung? Die allgegenwärtige Zeitnot reduziert menschliche Kompetenzen wie Friedens-, Dialog- und Glücksfähigkeit, vor allem aber die Liebesfähigkeit, die uns nur zu einem gewissen Grad gegeben sind, an denen wir aber unser Leben lang arbeiten müssen. Für jede menschliche Kompetenz brauchen wir Anleitung und Einübung, erst durch die Eltern und Geschwister, dann in der Schule, in der Clique, und später mit und für den Partner. Auch in der Paartherapie üben sich die Ratsuchenden nicht nur in der Krisenbewältigung, sondern auch in ihren anderen Kompetenzen. Ohne Glücksfähigkeit kann ein Paar keinen Frieden finden: Wer nämlich nicht in der Lage ist, mit sich selbst glücklich zu sein, missbraucht den Partner schnell als Zulieferer für das eigene Glück und den eigenen Selbstwert. Um in Zeitnot zwischen Alltag und Abenteuer der Liebe den richtigen Weg zu finden, braucht das Paar zusätzlich empathische Dialogfähigkeit. Liebe kann nur aufblühen, wenn die Fähigkeit zu Frieden, Glück und Dialog an ihrer Seite steht. Dann gewinnt Liebe eine Nachhaltigkeit, die dem herrschenden Zeitstress Einhalt gebietet. An jeden von uns wird letztlich die große Herausforderung gestellt, die Liebe zu retten. Jeden Tag neu, immer wieder, über unseren Tod hinaus – für die nächsten Generationen. Diese transgenerative Denkweise über die Liebe fördert in hohem Maß die Gesunderhaltung aller Lebensprozesse und stimuliert die Lebenskräfte. Das Paar verfügt – ähnlich wie unser Körper – über ein seelisches Immunsystem, das Schaden abwehrt. Diese gesunden Abwehrkräfte der Partner entfalten sich im stetigen und fließenden Austausch von Körper, Geist und Seele. Durch einen solchen Dreiklang entsteht höchste Intimität, die weit über die Grenzen bloßer Sexualität hinausreicht. Sie wirkt glückserzeugend und heilsam, wenn Körper, Geist und Seele mit einer Stimme sprechen, die den Partner tief im Inneren abholt. Weil unter Zeitnot und Dauerstress dieses Immunsystem des Paares gefährdet ist, will dieses Buch Paare in Zeitnot zu den vier menschlichen Grundkompetenzen Friedens-, Dialog-, Glücks- und Liebesfähigkeit anleiten. Damit können sie gebündelt die Brennpunkte ihrer Beziehung angehen und bewältigen.

Dazu vermitteln wir im 1. Kapitel mit den „Bausteinen der Liebe“ ein Grundwissen über Beziehungsdynamik, um Partner zu befähigen, ihr eigenes Glück aufzubauen. In den Kapiteln 2 bis 5 werden „Brennpunkte der Liebe“ vorgestellt, die Paare an ausgewählte krisenhafte Themen heranführen: Zeitnot, Altern, Intimität und Erotik und Grenzen der Liebe. Im 6. Kapitel – der Praxis-Teil des Buches – folgen geführte Zentrierungen und Übungen, die in gebündelter Zeit hinführen zu einem intensiven Zusammenfinden der Partner und zu einem Dialog von umfassender Intimität trotz Zeitnot.

Wir wenden uns mit diesem Buch an Paare, die in ihrer Partnerschaft fortgeschritten sind und einen Weg zum „aktiven Lieben“ trotz Zeitnot suchen. Das Verlieben zu Beginn braucht uns niemand beizubringen, das gehört zur Natur des Menschen. Dem später drohenden „Entlieben“ im Alltag einer Beziehung, das in der Regel alle Paare ereilt, beispielsweise durch Stress, mangelnde Dialogfähigkeit und nicht zuletzt Zeitnot, muss aber aktiv entgegengetreten werden. Eine solche Phase der Ernüchterung und Enttäuschung bewirkt eine durchaus gesunde Phase der Entidealisierung. Dieses Zwischenstadium erfolgreich durchzustehen und zu überwinden, das zeichnet gute Paare aus. Das „Lernmodell Liebe“ im Verfahren der Paarsynthese, das in diesem Buch aufgezeigt wird, soll mit seinen Methoden von „Gebündeltem Dialog“ und geführten Zentrierungen realistisch hilfreiches Werkzeug bieten. Hierbei steht nicht die Forderung nach mehr Paarzeit – obwohl richtig – im Zentrum, sondern die Fähigkeit, die faktisch vorhandene Paarzeit im Alltag verdichtet und erlebnisintensiv zu gestalten.

Michael Cöllen und Ulla Holm

1  Die fünf Bausteine der Liebe

Die eigenen Liebesgefühle auch im Alltag immer wieder zu reaktivieren, sie direkt an den Partner heranzutragen, mit ihm darüber in lebendigen Austausch zu gehen, das lässt die Liebe auch in Krisen stark bleiben. Fortgeschrittene Liebende, die über die Flitterwochen-Gefühle hinaus aktiv lieben, d.h. Höhen und Tiefen bewusst, intensiv und auch selbstkritisch gestalten, begreifen ihre Partnerschaft als Entwicklungsgemeinschaft und Herausforderung zur Persönlichkeitsentfaltung. Sie werden auf diese Weise Entwicklungshelfer der besonderen Art füreinander.

Dazu braucht es neben tiefem gegenseitigem Einfühlungsvermögen auch Wissen um die fünf „Bausteine der Liebe“. Für die Liebe wird nämlich nicht nur das Herz, sondern auch der Kopf gebraucht, Klugheit, Vernunft und breitgefächertes Begreifen um die Gesetzmäßigkeiten und Regeln der Liebesdynamik. Intuitives Fühlen und stürmische Impulse, erotischer Frühling und dramatische Szenen einer Ehe reichen nicht aus.

Wer auf die Liebe bauen will, muss die Baustoffe und die Bausteine kennen, ebenso das nötige Handwerkszeug. Wir als Architekten an unseren Häusern der Liebe brauchen dafür sehr spezifische Baupläne. Im Vergleich zum Hausbau ist der Aufbau einer Liebesbeziehung allerdings weitaus dynamischer und impulsiver beziehungsweise weniger statisch. Sich immer wieder neu zu verlieben in den „alten“ Partner und noch tiefere Gefühle zu entwickeln, sie oder ihn mit immer neuen Augen zu entdecken – trotz Zeitnot! –, das ist die erotische Kunst. Liebesgefühle wieder und wieder aufzubauen, statt in Gewohnheit und Alltag zu erstarren, ist der sichere Weg dahin.

Aktives Lieben

Kein Weg führt daran vorbei: Das wichtigste Eigenkapital zum Aufbau starker Liebe liegt darin, nicht einfach nur Zeit, sondern intensive Zeit einzusetzen. Ohne Zeit stirbt jede Liebe. Aktiv oder gar proaktiv lieben, heißt aber noch mehr, nämlich das dynamische Entfalten und Gestalten von Liebesglück bewusst, konsequent und zeitgerecht in die eigenen Hände zu nehmen. Reaktive Gestaltung (Viktor Frankl 1946) dagegen, also abwartende, sich anpassende oder gar passive Liebesgestaltung in Abhängigkeit von der jeweiligen Stimmungslage, bringt auf Dauer hohe Verluste an Liebeszeit und Liebeserfüllung. Das kostbare Zeitbudget, das uns heute zur Verfügung steht, gerecht und vor allem im Sinn intensiver Liebe aufzuteilen zwischen Paarzeit, Familienleben, beruflicher Anforderung und persönlicher Neigung, wird immer wieder neu zu einer Herkulesaufgabe.

Oft genug endet das Ringen um diese wichtige Intimzeit mit dem Partner aber auch als Sisyphusarbeit. Viele Paare verzweifeln daran. Worte reichen nicht aus, den resultierenden Frust zu schildern. Einige brechen aus in hilflose Zornattacken, andere in ebenso hilfloses Schluchzen. Viele beginnen dann, den Partner als Gegner zu identifizieren, obwohl sehr viel Druck eigentlich von außen auf das Paar einwirkt. Wir alle müssen letztlich lernen, zusammen mit dem Partner nicht nur an uns selbst zu arbeiten, sondern uns gemeinsam als Paar gegen die von außen diktierte Zeitnot zu wehren.

Nicht mehr der Sturm der Gefühle und der prickelnde Rausch der Sinne wie am Anfang der Beziehung steuern jetzt den Alltag des fortgeschrittenen Paars. Wir überlassen uns nicht mehr den heftigen Gefühlen und vertrauen nicht mehr naiv darauf, glücklich gemacht zu werden. Wir kennen die Risiken der Liebe und haben ihre Schmerzen und traurigen Seiten am eigenen Leib erfahren. Wir haben uns in vielen Streitgesprächen gewappnet gegen Verletzungen, gegen Unrecht und Enttäuschung. Die Routine des Alltags hat Einzug gehalten bis ins gemeinsame Bett und hat uns meist die Höhen und Tiefen der stürmischen Leidenschaft genommen.

Doch genau hier und jetzt beginnt das „Aktive Lieben“! Wir beginnen miteinander ein neues Liebesleben. Das gezielte Bündeln der Zeit richtet sich bewusst auf intensive Begegnung und Berührung – auf „wesentliche Zeit“. Auch im Konflikt miteinander wird Zeitverlust durch destruktiven Streit vermieden und stattdessen konstruktiver Streit mit einer funktionierenden Streitkultur geführt. Dieser Umgang miteinander muss natürlich konsequent erarbeitet werden. Starten Sie mit dem Partner dazu möglichst noch heute einen Test, nämlich einen Selbstversuch. Experimentieren Sie miteinander und probieren Sie sich aus. Es muss nicht gleich gelingen. Auf das Probieren kommt es an.

Selbstversuch: Wesentliche Zeit

Beginnen Sie zunächst (jeder für sich) mit einer schriftlichen Bestandsaufnahme, die gemeinsame Höhepunkte und Tiefpunkte der letzten vier Wochen aufreiht und abwägt. Beide führen Sie sich bewusst den unersetzlichen Wert Ihrer Beziehung vor Augen. Lesen Sie sich gegenseitig Ihre Bestandsaufnahmen vor und besprechen diese. Trauen Sie sich bei diesem Versuch, den destruktiven Umgang miteinander zu erkennen und zu benennen. Bekennen Sie dann dem Partner gegenüber eigene Fehler, statt seine Fehler auszuschlachten. Sie üben so gleichzeitig, den Partner bewusst zu würdigen, statt ihn durch herabsetzende Kritik zu demütigen.

Trigger, die beim Partner Sofortkrisen auslösen, werden benannt und nach und nach gestoppt. Trigger sind Reizwörter und Feststellungen, die Alarmglocken schrillen lassen und sofortige Gegenwehr auslösen. Nicht kränkende Anklage, sondern um Verständnis bittende Klage ist jetzt wichtig. So zum Beispiel „Ich bin so angewiesen auf deine Zuverlässigkeit hier in der Familie. Ohne sie gerate ich in Gefühle von Alleingelassensein. Ich brauche dich als Stütze für meine Geborgenheit.“

Diese Bestandsaufnahme dauert etwa vier Wochen. Dazu gehören pro Woche zwei Termine zu je einer Stunde – mit gegenseitigem Vorlesen und Besprechen sowie einer gemeinsamen Abschlussbewertung. Grundlage dieses Procederes ist gegenseitiges Wohlwollen. In dieser Bestandsaufnahme geht es um vorbeugende Auseinandersetzung – in Friedenszeiten. Es wird Rückfälle geben, aber Übung macht den Meister.

Aktives Lieben ist gekennzeichnet vom Wissen um die Verantwortung für das gemeinsame Glück. Dazu gehört besonders das Wissen um die eigenen Altlasten und seelischen Verletzungen, die jeder von uns mitbringt in die Beziehung. Diese werden in der Regel unbewusst, oft sogar unbemerkt von beiden Partnern dem anderen zusätzlich zu seinen eigenen aufgelastet. Ohne aktive Bestandsaufnahme bleiben sie auch weiterhin unbewusst und setzen die innerseelische Zerstörung der Liebe fort. Diese bildet zusammen mit der Zeitnot als externe Zerstörungskraft die Hauptursache aller Partnerkrisen.

Aktives Lieben ist gekennzeichnet vom allmählichen Erwachsenwerden und Beendigen der „kindlichen Streitrituale“. Ziel ist, diese in der Kindheit verwurzelten inneren Kränkungsmuster, die zur unbewussten Sabotage am Liebesglück führen, sowie die aufgezwungenen äußeren Stress-Muster mit dem Partner genau zu identifizieren. Gemeinsam mit und durch den Partner lassen sich die inneren kindlichen Verletzungen durch Trost und gefühlvolle Nachnährung heilen. So wird gegenseitiges Verzeihen und Um-Verzeihung-Bitten für die im Liebesalltag zugefügten Kränkungen möglich. Dann kann auch der Kampf gegen die übermächtige Zeitnot gewonnen werden.

Liebe ist mehr als nur ein Gefühl. Liebe ist vor allem Herausforderung. Soll sie auf Dauer gelingen, fordert sie uns mit Körper, Geist und vor allem mit der Seele. Nichts und niemand auf der Welt fordert uns so vielseitig und umfassend wie der eigene Partner. Lieben heißt, immer wieder für Momente mit jeder Faser unseres Körpers, mit allen Hirnzellen und der ganzen Tiefe unserer seelischen Empfindungen für den anderen präsent zu sein. Kein anderes menschliches Phänomen wirkt so dynamisch wie die Liebe. Fortgesetzte Paar- und Selbstentwicklung stehen deshalb gleichberechtigt nebeneinander, bedingen einander sogar.

Für manchen mag das zu viel verlangt erscheinen, ist es aber nicht wirklich, da „das eigentliche Ziel der Liebe das Werden des Paares ist und nicht die narzisstische Befriedigung der Individuen, aus denen es besteht“, so der berühmte französische Philosoph Alain Badiou (2011). Er nennt das einen „minimalen Kommunismus“ und setzt damit bewusst einen Kontrapunkt gegen den Mainstream von Egomanie und narzisstischer Selbstoptimierung. Das Rigorose an dieser Aussage entspricht nicht ganz unserer Auffassung in der Paarsynthese, setzt aber einen wichtigen Akzent. Liebe meint innere Teilhabe ohne Besitzanspruch – mit voller Verantwortung füreinander, doch ohne Rechtsanspruch. Paarsynthese verkörpert sich im Zusammenwirken der Gegensätze von männlich und weiblich, von zart und hart, von stark und schwach, von Hingabe und Abgrenzung – von Ich und Du.

Können wir als Paar unsere Widersprüche und Gegensätzlichkeiten im Dialog miteinander austragen, erfahren wir Heilung unserer selbst. Damit wird Liebe zum schützenden Raum. Die oft unversöhnlichen Gegenpole von Schwächen und Stärken in dir und in mir werden nicht mehr gegeneinander ausgespielt, sondern ausgesöhnt durch Verstehen, Anvertrauen und Verzeihen. Das können wir auch proaktives Lieben nennen.

Zusammen gestalten wir daraus einen Prozess des Werdens von Selbstfindung und Paarfindung. Von dem Lernen aus deinen und meinen Fehlern, kombiniert mit dem Wachsen und Reifen deiner und meiner Stärken, ernten wir gemeinsam vom Reichtum der Liebe. Das altgriechische „Werde, der du bist“ erweitert sich zum „Werden, wer wir sind“.

Die drei Grundfragen der Philosophie: „Woher kommen wir?, „Wer sind wir?“, „Wohin gehen wir?“ – mit ihrer besonderen Bedeutung für das Paar bilden folglich den Hintergrund unserer Arbeit. Die Paarsynthese als liebevoll geführter Paarprozess ergänzt diesen Weg mit dem Satz: „Liebe ist der Sinn, Dialog der Weg, Würde das Prinzip.“

Paarsynthese – ein durchaus komplexer Begriff – meint zum einen das intime, intuitiv-spontane Zusammenwirken aller männlichen und weiblichen Kräfte mit dem Ziel, eine sinnerfüllende und lustvolle Lebensgemeinschaft zweier Liebender zu bilden. Zum anderen ist Paarsynthese der Begriff für das aktive Arbeiten und das planende Handeln der Partner – und auch ihrer möglichen Paartherapeuten – für das Gelingen einer glückvollen Dauerbeziehung. Unsere Arbeit als Paartherapeuten mit den ratsuchenden Paaren fußt auf einem paarbezogenem Menschenbild, erarbeitet 1. die Konflikt-Geschichte der individuellen Partnerwerdung, vertieft 2. den Körper-Geist-Seele umfassenden intimen Dialog und bietet 3. für die spirituelle Seite des Paarseins einen schützenden Ort zur gemeinsamen Sinn- und Wertfindung. Die Partner erreichen dadurch die Befreiung von gegenseitigen Kränkungsmechanismen, was wiederum die inneren Kräfte für kreative Selbstentfaltung und lebendige Paargestaltung freisetzt. Ein Teilnehmer einer von uns geleitetetn Paargruppe formulierte es für sich so: „Erfüllte Paarbeziehung ist der Schlüssel zum (oder bedeutet sogar) Glück schlechthin.“

Vor der praktischen Umsetzung des „Aktiven Liebens“ stellt dieses Buch für Sie ein Grundwissen über die Liebe voran, das „Lernmodell Liebe“ der Paarsynthese. Den Einstieg zum „Lernmodell Liebe“ bilden die fünf „Bausteine der Liebe“ (ab Seite 24) für den gemeinsamen Arbeitsweg des Paares. Diese geben eine oft wichtige Orientierung im Chaos aufbrandender Gefühle und helfen, die zumeist verwirrende Krisendynamik des Paares erfolgreich neu zu ordnen. Sowohl das konstruktive wie auch das destruktive Zusammenwirken (= Synthese) der beiden Partner im bewussten wie im unbewussten Handeln wird einsichtsvoll und verstehbar. Damit wird es möglich, den paardynamischen Prozess im Labyrinth der gestörten Gefühle und Bedürfnisse durch eine ordnende Struktur neu zu organisieren.

Ergänzend zu den fünf „Bausteinen der Liebe“ werden zur weiteren Vertiefung noch die drei zentralen Schwerpunkte krisenhafter Paarbeziehungen eingeführt, nämlich: der Paarsubstanzkonflikt, die Narzisstische Paardynamik und ihre Kränkungsmechanismen und die Kreative Sinnlichkeit.

Einblick in die Paardynamik und die Psychologie der Liebe

Gezeugt im liebenden Ineinander, geboren aus der Verschmelzung, aus der Kraft und der Lust von Frau und Mann, bildet das Paar das Ur-Zentrum des lebenden Universums. Individuum und Gesellschaft gehen aus dem Paar hervor. Alle drei Systeme bilden ein Ganzes und beeinflussen sich gegenseitig.

Diese Einbindung in den Kreis der Schöpfung gibt den Liebenden aber auch die Verantwortung, Leben und Erde mit ihrer Liebe zu schützen. Wie selbstverständlich fügen sich hier auch Umweltschutz, Klimaschutz und Schutz der Natur mit in diesen Verantwortungsbereich Liebender.

Eine Definition von Partnerliebe

Liebe zwischen zwei Partnern ist nicht zu verstehen als einfache Romantik oder gefühlvolles Leben miteinander. Wir definieren Liebe aus unserer Erfahrung als Paartherapeuten so: Partnerliebe verwirklicht sich im umfassenden und zeitlosen Austausch von Körper, Geist und Seele. Sie stiftet Sinn durch die beglückende Erfahrung in gegenseitiger Resonanz aus sich heraus, ohne einen anderen Zweck zu erfüllen. Die daraus erwachsende Intimität gibt dir und mir Heimat und Kraft zur heilsamen Entfaltung deiner und meiner Potenziale – um zu werden, wer wir sind.

Ergänzende Formen zur Partnerliebe sind Liebe zu den Kindern, Selbstliebe, Liebe zu Natur und Kreatur, Liebe zu Gott und anderen Menschen. Alles Beseelte trägt Sehnsucht nach Liebe in sich und sucht Erfüllung im Du. Auch Tiere und Pflanzen reagieren dankbar auf unsere liebevolle Zuwendung. Im liebenden Austausch entfaltet sich menschliche Identität durch gegenseitige Würdigung. Durch Blockierung im intimen Austausch kommt es zu Störung, Konflikt, Krise oder Zerstörung von Liebe.

Sehnsucht nach Partnerliebe ist in jedem Menschen von Natur aus angelegt, ursprünglich entzündet und entfacht im zeugenden Akt der Verschmelzung. Deshalb gilt der Geschlechtsverkehr zwischen Frau und Mann als zentraler Ausdruck von Liebe und wird Liebesakt genannt.

Sexuelles Begehren und Liebessehnsucht brauchen wir deshalb nicht zu lernen. Sie werden uns als Geschenk mitgegeben. Ganz anders verhält es sich mit der Gestaltung von Liebe: Das Umsetzen und Austauschen von Begehren und Liebe, ihre Vertiefung und Ausdifferenzierung, die ihr beigemessene ethische Bewertung sind einerseits individuell höchst verschieden, andererseits auch „Ausgeburt“ und Folge kultureller, sozialer und politischer Umwelt. Diesen Austausch wirkungsvoll zu gestalten, müssen wir alle erlernen – und jede Generation neu. Auf diese Weise erwächst aus der Natur der Liebe eine Kultur der Liebe.

Trotz aller Zerbrechlichkeit der Liebe schenkt sie uns Momente von Ewigkeit. Wir verspüren durch sie manchmal Heilung unserer menschlichen Unzulänglichkeit. Mag es nur für die Dauer einer Nacht, ja manchmal nur für die Sekunden eines einzigen „Augenblicks“ sein – so hat sich doch dieses Wunder der Vollkommenheit ereignet.

Für die Liebe zu kämpfen, wenn sie ins Fahrwasser von Zeitnot gerät, ist also in jedem Falle lohnenswert, für das Individuum, für das Paar und auch die Gesellschaft. Und mit dem Wissen um die im Folgenden vorgestellten fünf „Bausteine der Liebe“ ist dies auch ein machbares Unterfangen.

In unseren Untersuchungen zur Paarsynthese (Cöllen 1997) zeigen wir fünf essenzielle Bausteine zur kraftvollen Gestaltung von Paardynamik:

Energie der Liebe – Sehnsucht nach Ganzwerdung

Polarität der Liebe – Netzwerk der Widersprüche

Rhythmus der Liebe – Fünf Zyklen der Paardynamik

Intimität der Liebe – Fünf Dialogsäulen von mir zu dir

Strategien der Liebe – Fünf Partnerstile

Auf diese wollen wir nun auch hier genauer eingehen.

Erster Baustein: Die Energie der Liebe – Sehnsucht nach Ganzwerdung

Im manchmal atemlosen Austausch der Liebesenergie vereinigen und trennen wir uns, geben uns hin und grenzen uns ab, erleben Erhitzung und Erkaltung, Rausch und Verzweiflung, Jubeln und Weinen. Destruktion und Konstruktion gehen Hand in Hand. Es ist reine menschliche Verdichtung bis zu einem Höchstmaß von Entladung.

Das Paar bildet ein dynamisches Energiezentrum, das sich durch die bildliche Vorstellung eines Atommodells (siehe Abbildung „Energiemodell des Paares“) erklären lässt: Das Paar befindet sich im Zentrum allen Lebens und begegnet sich ständig zwischen den sieben Polaritäten der verschiedenen Lebenskräfte: zwischen Körper und Seele, zwischen Alltag und Kosmos, zwischen Gesellschaft und Individuum, zwischen Zukunft und Vergangenheit, zwischen Hingabe und Trennung, zwischen Schöpfung und Tod, zwischen Frau und Mann.

Nicht die Liebe als solche schafft Probleme, sondern erst der Austausch dieser vielfältigen und oft widersprüchlichen Energien. Ein explosives Gemisch! Kein lebendes System selbst muss so viel Widersprüche und Gegensätze in sich vereinen wie das liebende Paar. Die Steuerung dieses immensen Lebensstromes verlangt, wie aller Umgang mit Energie, sensible Strategien: Jede Energie kann aufbauen, aber auch zerstören. Nur nach den Regeln von Ökonomie und Ökologie kann sie weiter und weiter gedeihen, mit Blick auf die Ressourcen und nachhaltiges Handeln. Die Umverteilung dieser Kräfte muss für die Liebenden auf Dauer ausgeglichen sein. Wird dabei nicht auf Ressourcen geachtet, kommt es zur Erschöpfung oder Zerstörung durch emotionale Ausbeutung. So suchen sich beispielsweise in ihren Gefühlen blockierte Männer betont gefühlvolle Frauen, gehen dann aber mit diesen nicht in reizvolles Geben und Nehmen, sondern es kommt zur seelischen Ausnutzung bis zum Burnout der Liebe: Solche Männer leben von den Gefühlen ihrer Frauen. Im Gegenzug suchen gefühlvolle Frauen aber oft Männer, die wie Felsen in der Brandung stehen. Heftig umtost von wogenden Wassern, aber selbst ohne eigene Bewegung oder innere Regung. In ihrer Seele sind sie kaum abzuholen, bieten aber Halt und Schutz, doch ohne seelische Weiterentwicklung.

Fallbeispiel: Susanne und Robert

Robert, 65, der kaum Gefühle zeigen kann und nach außen ganz starr wirkt, fordert von seiner Frau Susanne täglich Sexualität ein, als gegenseitigen Beweis spürbarer Liebe. Die 45-jährige Susanne, die sich seit ihrer Kindheit schuldig am Unglück ihrer Eltern fühlte, sich seither nur eingefügt und schweigend gelitten hatte und aus Erschöpfung depressiv wurde, hat sich in der Therapie inzwischen emanzipiert, verweigert sich jetzt standhaft und pocht auf ihre endlich gefundene Freiheit. Sie will nicht mehr für sein Glück zuständig sein müssen. Robert droht daraufhin mit Suizid. Sie stellt das Dilemma in einer Collage dar, in der er in sich zusammengesunken und bleich wie während einer Operation bei ihr am lebenspendenden Tropf hängt.

Kommt es zu einer derartigen Eskalation, ist wohl jedes Paar überfordert – trotz möglicher Eigenarbeit. Dann kann Paartherapie helfen, die Blockierungen im Fluss der Liebesenergien zu lösen und zwischen den Partnern neues, sensibles Gleichgewicht von Geben und Nehmen zu finden. Auch Liebesbeziehungen sind ökologische Systeme, die angewiesen sind auf Nachhaltigkeit, zum Beispiel durch ausgleichende Gefühlsregulation.

Reflexionsfragen zur Energie der Liebe:

Sorge ich für einen seelisch ausgeglichenen Energiehaushalt und auch für einen ausgeglichenen Gefühlshaushalt in unserer Beziehung? Mit wie viel Energie sorge ich mich darum, die Partnerin, den Partner glücklich zu machen? Mit welchen Gesten, Worten und Zeichen? Wie viel Zeit nehme ich mir dafür – monatlich, wöchentlich, täglich –, trotz oder gerade wegen Stress und Zeitnot?

Zweiter Baustein: Die Polarität der Liebe – Netzwerk der Widersprüche

Wie jeder andere Energiestrom folgt auch die Liebesenergie eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten. Die im Energiemodell des Paares genannten sieben Grundpolaritäten (siehe Seite 24) erfassen die am häufigsten von Paaren genannten Aspekte ihrer Krisendynamik (Cöllen 1997). Diese immer gegensätzlichen Pole sowie die damit verbundenen Ambivalenzen und zyklischen Veränderungen der jeweiligen Liebesbedürfnisse führen das Paar oft in die Zerreißprobe. Zeiten voll inniger Verschmelzung prallen auf Zeiten heftiger Abgrenzung – zärtliche Hingabe auf aggressive Zurückweisung. Hoch-Zeit und Tiefpunkte wechseln einander ab. Liebe ist demnach kein sicherer Hafen mit einem festen Ankerplatz, sondern immer wieder Springflut der Gefühle, Sturm wechselnd mit ruhiger See.

Dazu kommt: Alle vierzehn Lebenskräfte des Energiemodells – Körper und Seele, Vergangenheit und Zukunft etc. – tragen auch einen Kern des Gegenpols in sich. Sehnsucht nach Hingabe mischt sich mit Bedürfnis nach Autonomie, Sehnsucht nach Geborgenheit mit Lust auf Abenteuer. Niemals treten diese Kräfte in absoluter Reinheit auf. Vom Wesen her können sie nur in der Einheit mit dem entgegengesetzten Pol existieren. „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, klagte deshalb schon Goethes Faust.

In der Dynamik eines einzigen Paares bündeln sich somit alle menschlichen Gegensätze und heben sich doch wieder auf. Die Lehre von der Einheit der Gegensätze („coincidentia oppositorum“, Nikolaus von Kues, Mystiker im 15. Jh.) gilt gerade und besonders auch für die Liebesdynamik des Paares: erotische Ekstase und der Abwasch, Romantik und Windeln, Liebeserklärung und Steuererklärung.

So ist die Komplexität jeglicher Paarbeziehung nur vordergründig unüberschaubar und grenzenlos. In Wirklichkeit verfügt das Paar mit den polar angeordneten Liebeskräften über einen sehr geordneten und keineswegs zufälligen Lebensraum. Die Gegenpoligkeit der Kräfte hat dann den Sinn, dass die Liebenden auch wirklich alle Kräfte einsetzen und zum Beispiel nicht nur in bequemer Harmonie verharren. Der Wandel beziehungsweise der Drang zur Veränderung sorgt für Entwicklung aller angelegten inneren Potenziale und darüber hinaus für die altersgemäße Reife der angestrebten Lebensziele. Die innere Ambivalenz gegenüber einem angestrebten Bedürfnis zwingt uns, immer wieder neu zu überprüfen, ob wir tatsächlich auf dem richtigen Weg sind, unsere jeweiligen Bedürfnisse mit dem Partner, aber auch gegen ihn durchzusetzen.

Ist allerdings die eigene innere Ambivalenz und Zerrissenheit zwischen den eigenen Bedürfnissen zu groß, bleiben wir innerlich angespannt, finden nicht zu Ruhe und Harmonie, sondern verausgaben uns auf der Suche nach immer neuen und verheißungsvolleren Zielen. So suchen manche trotz einer festen Bindung immer wieder nach einem neuen, attraktiveren Partner- oder nach mehr Karriere im Job, nach noch mehr Event und neuem Kick. Solche Menschen finden nicht zur inneren Ruhe und Gelassenheit.

Gehetzt vom eigenen Antrieb, potenziert vom äußeren Antrieb der rastlosen Gesellschaft, gibt es keinen Frieden für die Liebe. Immer mehr Konsumangebote und immer größere Freiheitsgrade verstärken diesen Trend. Die dem Menschen eigene Ambivalenz wird radikal kommerzialisiert (vgl. Eva Illouz 2012). Dadurch wächst die Zeitnot und wird zum dauerhaften Zeitnotstand.

Reflexionsfragen zur Wiedersprüchlichkeit in mir:

Bin ich innerlich ausgeglichen und zufrieden oder zwischen meinen verschiedenen Polen und Bedürfnissen (meinen „zwei Seelen“) hin- und hergerissen? In welche Zeitnot bringe ich selbst den Austausch unserer Liebesgefühle? Wie sehr setze ich dadurch meinen Partner unter Druck und gebe meinen Stress an ihn weiter?

Dritter Baustein: Der Rhythmus der Liebe – Fünf Zyklen der Paardynamik

Die gesamte lebenslange Dynamik eines Paares unterteilt sich in fünf Paarzyklen mit jeweils veränderten Bedürfnissen. Paare durchlaufen dabei Prozesse, die sich nach dem „Paar-Alter“ ordnen lassen. Alle Liebenden sind dem Rhythmus dieser Zyklen unterworfen. Sie lauten: Hingabe mit rund 25 Jahren, Aufbau mit rund 35, Liebes-Mitte mit rund 45, Liebes-Altern mit rund 60, Zweisamkeit mit rund 70. Die Altersangaben sind dabei ungefähre Werte und variieren bei jedem Paar. Das gilt auch für Paare in einer zweiten oder gar dritten Beziehung. Intensive liebende Hingabe, der Aufbau der Beziehung, die Liebes-Mitte und das Liebes-Altern vollziehen sich lediglich in kürzerer Zeit.

Kein Paar kann an einem Zyklus auf Dauer festhalten. Durch den Umbruch zum nächsten Zyklus droht aber immer Gefahr, da das Leben und die Liebe jeweils neue Ziele, Perspektiven und Bedürfnisse einfordern. Nur durch (teils heftige) Auseinandersetzung können diese in Übereinstimmung mit dem geliebten Partner gebracht werden. Gelingt dem Paar die Erneuerung nicht, kommt es auf Dauer zu Streiteskalation oder Gefühlserstarrung, Seitenbeziehung oder Trennung. Beruhigend daran ist, dass es allen Paaren so ergeht, beunruhigend allerdings bleibt, dass jedes Paar davon erschüttert wird.

Die fünf Paar-Zyklen greifen ineinander. Manchen Paaren gelingt es auch, die lustvollen Erfahrungen aus dem vorangegangenen in den nächsten Zyklus mitzunehmen. Vor allem der in der Regel abnehmende Rausch des Begehrens kann durchaus in Teilen neu belebt und in tiefste Seelenberührung transformiert werden: Das Paar erlebt dann neben dem körperlichen Erschauern auch den seelischen Orgasmus.

In der Hingabezeit geht es um intensivste, grenzenlos-lustvolle Verschmelzung als nährende Substanz für späteres, oft anstrengendes Erwachsenwerden mit Verantwortungsübernahme für Partner und Familie. Diese „Flitterwochen“ auszukosten und wenigstens in Teilen in die kommenden Zyklen mitzunehmen, gibt den Liebenden Nahrung für den langen Weg miteinander. Das Überwältigende an dieser Zeit ist, dass uns der Rausch des Lebens und der Sinne, der glückseligen Abenteuer und des Herzverströmens geschenkt wird, ohne dass wir dafür aufkommen müssen. Das Wir-Gefühl gedeiht wie von selbst.

In der Aufbauzeit geht es um innere Wesensfindung von Ich und Du in Form von kraftvoller Selbstwirksamkeit. Selbstwirksamkeit ist der Schlüssel für wachsenden Selbstwert infolge der Entfaltung eigener innerer Potenziale. Auch Selbstsicherheit kann nun wachsen und damit der innere Frieden. In den Zyklus der Aufbauzeit fällt auch die oft ersehnte Selbstverwirklichung durch Kinder, mehr bei den Frauen. Sie führt moderne Paare oft in eine Zerreißprobe im Dilemma, deine und meine Lebensziele als Paar, als Eltern und besonders auch mit beruflichem Aufstieg in Einklang zu bringen.

Die Fragen „Wer bin ich?“ und „Wohin gehe ich?“ – aber auch „Wer sind wir?“ und „Wohin gehen wir?“ – gilt es in dieser Aufbauzeit zu beantworten. Die Partner fördern und fordern sich jetzt heraus durch teils bedingungslose Hingabe ebenso wie durch manchmal bitteren und existenziellen Streit. Das macht Sinn: durch Auseinandersetzung heranzureifen und alle eigenen Potenziale und Talente entfalten zu können, was in der Symbiose der Hingabezeit so nicht möglich war. Nur diese Selbstentfaltung kann inneren Frieden, in sich selbst ruhende Ausgeglichenheit und den Boden für Glück sichern – statt alles in einer Eskalationsspirale vom Partner zu erkämpfen. Frau und Mann suchen teils miteinander, teils gegeneinander – auch in der Sexualität – ihre eigene Integrität.

In der Liebesmitte: Auf dem Scheitelpunkt der Lebenskräfte ziehen viele Bilanz und suchen nach Neuorientierung. In der Folge kommt es häufig zu Partnerkrisen um die Ausgestaltung gemeinsamer und eigener Lebensziele. Manche wollen jetzt das Leben voll auskosten. Neben dem modernen Stress auch die moderne Lust dazugewinnen. Affären, Sextourismus, Events, Gourmet-Tempel, Urlaubs-Paradiese – viele Großraumflugzeuge sind voll von Hungrigen. Trennungen mit oft traumatischen Auswirkungen sind in diesem Zyklus leider häufig und gelten in einer immer kälter werdenden Gesellschaft zynischerweise schon als normal. Statistisch gesehen, liegt in der Lebensmitte auch der Scheidungsgipfel.

Den glücklichen Paaren gelingt es, durch die Herausforderung dieser Umbruchzeit neue intime Tiefe im sinnlichen Zwiegespräch, im Körperdialog der Innigkeit, in anrührender Seelentiefe und gemeinsamer Wert- und Sinngestaltung zu gewinnen. Sie bauen dadurch beglückenden Reichtum auf.

Das Altern des Paares: In diesem Zyklus verschieben sich Perspektiven und Blickwinkel beruhigend und bedrohlich zugleich. Ein neuer Horizont öffnet sich: Wir können und dürfen jetzt die Früchte der Liebe und der gemeinsamen Anstrengungen ernten. Die Berufstätigkeit geht dem Ende zu, die Kinder verlassen das Haus, wir müssen nicht mehr so schuften, unser Leben steht. Das gemeinsame Altwerden beginnt langsam und kann beglückend sein. Die Liebenden haben wieder mehr Zeit füreinander. Größere Besonnenheit führt zur Sinnvertiefung im Miteinander der Liebenden. Bisher ungeahnte und in ihrer Art noch nie empfundene Zärtlichkeit füreinander wird wach.

Allerdings ist nun auch der Lebenszenit überschritten. Manche kämpfen jetzt mit dem Partner sogar mehr als zuvor – aus Frust, Angst und Trauer um den Verlust von Lebenskraft und sozialer Geltung. Schwindende Attraktivität kann zu Selbstzweifeln bis hin zu Panikattacken führen. Möglicherweise schon einsetzende Altersstarrheit verschärft eventuell vorhandene bittere Züge. So verschloss ein 55-jähriger Vater seinem 17-jährigen Sohn jeden Abend die Wohnungstür mit einer Kette, um ihn daran zu hindern, seine Clique zu treffen. Das führte zu erschütternden Auseinandersetzungen mit seiner Frau, die dem Sohn diese Lebensfreude und Treffen gerade auch mit Mädchen unbedingt zugestehen wollte. Im Grunde suchte sie auch nach mehr Freude und Lust im Zusammenleben mit ihrem Mann.

Spätestens in diesem Zyklus hilft die Besinnung auf das Wesentliche. Die dritte der philosophischen Grundfragen stellt sich erneut: „Wohin gehen wir? – Und wollen wir das tun? – Hand in Hand?“ Tatsächlich sollte in diesem dritten Lebensdrittel die Zeit der Ernte einsetzen, nämlich zu genießen, was bisher geschaffen wurde. Die Zeit dafür wird immer knapper.

Die Zweisamkeit: Die Liebenden verabschieden sich aus ihrer Berufstätigkeit. Sie gestalten das Leben neu. Manche erfüllen sich langgehegte Wünsche wie Reisen. Im Wesentlichen steht die Frage vor ihnen: „Wie gestalten wir im Angesicht der Endlichkeit unser Leben und unsere Liebe?“ Der Abschied vom Leben beginnt nun und Themen um Krankheit und Tod halten Einzug in den Paardialog.

Bei vielen nehmen die Kräfte ab, das soziale Netzwerk wird kleiner. Die Partner stehen sich allein gegenüber – in neuer Zweisamkeit. Liebe bedeutet in diesem Zyklus, einander zu begleiten beim Übergang in eine andere Welt. Den Tod vor Augen ist jeder für sich allein und doch geschützt im Paarsein. Sich gegenseitig zu stützen, zu pflegen, Schmerzen zu lindern und einander die Hand zu halten, bedeutet tiefen Trost. In deinen Händen geborgen.

Geradezu tragisch kann sich aber auch der Zyklus der Zweisamkeit gestalten, wenn infolge von Altersverbitterung die Partner auch jetzt noch miteinander streiten müssen.

Generell betrachten wir in der Paarsynthese den Weg durch die fünf Paarzyklen als menschliche Reifung. Damit ist aber keine Höherbewertung im moralischen Sinn gemeint, denn jeder Zyklus besitzt absolut seinen eigenen Wert und sollte entsprechend ausgekostet werden. Ältere Partner sind nicht automatisch bessere Partner oder bessere Menschen. Wird oder kann ein Zyklus infolge äußerer Einwirkungen wie Krieg, Gewalt oder Krankheit nicht erfüllt werden, destabilisiert das die Paarbeziehung erheblich. So hatten beispielsweise Kriegsehen oft gar keine Chance, die Hingabezeit voll auszukosten – und gerieten in der Folgezeit in überdurchschnittlich häufige Krisen. Viele Paare berichten aber auch darüber, dass der abnehmende sexuelle Triebdruck ganz neue Erotik zulässt – allumfassend und voll inniger Einfühlung in den anderen. Wenn es denn gelingt, statt Altersstarre zur Altersmilde zu finden, dann – so berichten viele Paare – erleben sie noch einmal einen neuen Himmel auf Erden.

Reflexionsfragen zum Rhythmus der Liebe:

Haben wir als Paar die altersgemäßen Bedürfnisse, aber auch Entwicklungswege und Zielvorstellungen erfüllt? Haben wir gemeinsam und jeder für sich die eigenen Potenziale ausgeschöpft? Sind wir selbstwirksam geworden und haben unser Leben und Lieben aktiv gestaltet?

Vierter Baustein: Die Intimität der Liebe – Fünf Dialogsäulen von mir zu dir

Der Austausch von Körper, Geist und Seele zwischen den Liebenden schafft Intimität als das wichtigste Wesensmerkmal von Liebe. Unsere Untersuchungen im Rahmen der Paarsynthese mit 350 ratsuchenden Paaren an fünfzehn verschiedenen Beratungsstellen (Cöllen 1997) zeigten, dass die Vielfalt von Worten, Signalen, Gefühlen, Fragen, Gesten und Impulsen, die den intimen Dialog kennzeichnen, von fünf Säulen getragen wird.

Es sind dies: Körperdialog, Gefühlsdialog, Sprachdialog, Sinndialog und Zeitdialog. Das Paar unterscheidet sich dadurch von allen anderen menschlichen Beziehungen mit Blick auf die ganzheitlich intime Erfassung der Gesamtpersönlichkeiten.

Am dichtesten und intensivsten wird Intimität erlebt, wenn alle fünf Dialogsäulen gleichzeitig zur Geltung kommen. Frauen suchen dieses Zusammenspiel aller Säulen mehr und drängender, wohingegen Männer oft die Körpersäule überbetonen, sodass häufig geradezu tragische Konflikte aufbrechen. Tragisch deshalb, weil beide doch Liebe meinen und wollen und zu geben glauben (vgl. Kapitel 4). Tragisch auch, weil viele der Männer aus tiefstem Herzen überzeugt sind, gerade im Beischlaf ihre wichtigste Bekundung von Liebe der Liebsten zu schenken. Hier liegt eine Wurzel von großem Missverstehen zwischen Frauen und Männern.

Diese fünf Dialogsäulen werden zum Brennpunkt aller Zuneigung und Lust, aber auch aller Blockierungen und Streitigkeiten. Sie formen sich zu Waffen im Geschlechterkrieg, sind aber auch Zentrum des Glücksempfindens. Wie bei kommunizierenden Röhren geht es um ein Fließgleichgewicht. Überlastung oder Unterversorgung einer Säule schädigt auch die anderen.

Die Hauptdynamik der Dialogsäulen liegt in ihrem Dominoeffekt: Stürzt eine Säule, droht sie, die anderen Säulen mitzureißen. Reduziert sich z.B. der Austausch der Gefühle durch Zeitnot auf ein Minimum, bricht bald auch der Körperdialog zusammen. Gepresste Zeit frisst Liebe auf. Gelingt es aber in der Krise, wenn nichts mehr läuft, wenigstens, eine der gestürzten Säulen wieder aufzurichten, richten sich auch die anderen allmählich wieder auf.

Alle fünf Säulen miteinander machen zusammen die Essenz, die Seele des jeweils spezifischen Paarseins aus. Jedes Paar charakterisiert sich und unterscheidet sich von allen anderen Paaren im Zusammenspiel dieser.

Der Körper-Dialog stellt die existenzielle Grundlage des Paares dar. Unser Menschsein ist auf den Körper angewiesen. Von der Ernährung, der Pflege und der Gesundheit über Gespräche, Freundschaften, Schutz und Freude bis hin zu Sinnlichkeit, Erotik und Sexualität, alles Leben und alles Lieben erleben wir im Körper. Den eigenen Körper zu stärken durch Reinlichkeit, Sport, Ernährung und sinnliche Schönheit stärkt auch die Liebesempfindungen des Partners. Die Körper werden füreinander kunstvolle Instrumente für geheimnisvolle Melodien. Die Poesie der Liebe mit dem ganzen Körper und mit jeder Pore zu genießen – statt nur mit Geschlechtsteilen und erogenen Zonen –, das wird jetzt möglich und ist beglückend wie nie zuvor. Ohne Fell geboren, ist unsere nackte Haut überdies auf zarte Berührung und schützende Wärme vom Partner angewiesen zur Entfaltung des eigenen gesunden Selbstgefühls und Selbstbewusstseins.

Der Gefühls-Dialog schafft den eigentlichen Reichtum des Lebens. Gefühle sind es, die uns die Freude am Leben spüren lassen oder auch die Angst davor. Gefühllose Menschen gibt es nicht. Gefühlserstarrte Menschen aber schon und diese blockieren den Lebensstrom – auch im Partner. Gefühlsüberbordende fahren oft Achterbahn zwischen Aggression und Depression. Gefühlsstau macht irgendwann krank.

Gefühle sind die Nahrung der Seele und im Austausch mit dem geliebten Partner widerfährt uns meist eine gesteigerte Gefühlsverdichtung. Erstaunlich ist für uns in der therapeutischen Praxis mit Paaren zu hören, wie kindlich, fast kindisch auch hochgebildete Menschen im häuslichen Gemetzel verbal um sich schlagen. Tief hinter der ungezügelten Wut aber liegt in der Regel ungestillte Sehnsucht nach gefühlvoller Zuwendung. Es ist das defizitäre und verletzte Kind (Chopich/Paul 1993), das um sich schlägt. Dass aber viele Männer über ihre tiefsten Gefühle nicht reden, stattdessen schweigen bei erotischer Innigkeit und herzlicher Hingabe, das führt zu immer tieferer Blockierung vieler Frauen. Natürlich gibt es viele Antworten, aber wenig fundierte psychologische Untersuchungen dazu, warum Männer so sind – aber keine wirkliche Lösung. Sie den Dialog der Gefühle zu lehren, ist wichtig. Dann nämlich gibt es weniger Kriege – sowohl zuhause mit der trotzdem geliebten Frau, aber auch in der Welt, besonders in der Politik.

Auch wenn es in der aktuellen Gender-Debatte gewagt ist, dies zu schreiben, stellen wir in der Praxis der Paartherapie fest, dass das häufige Schweigen der Männer in Liebesdingen ihre Frauen massiv in Verzweiflung bringt. Das vielfältige Schweigen der Männer vom aggressiven über beleidigtes und gekränktes bis hin zum hilflosen Erstarren ist als psychologisches Phänomen sehr viel intensiver und weiter verbreitet als bei Frauen. Männerseelen scheinen oft nicht nur den Frauen, sondern auch ihren Besitzern selbst verschlossen (Süfke 2010). Da Gefühle, besonders zarte Gefühle als Voraussetzung für befriedigende Sexualität zum Beispiel immer Zeit brauchen, wirkt sich die derzeit übliche Zeitnot geradezu katastrophal aus. Mag auch der Quickie eine wichtige Abwechslung im Liebesspiel sein, ist in der Regel das allmähliche Erwachen der Lust bis hin zum Gipfel auf Zeitlosigkeit angewiesen. Liebe schenkt Zeit, statt sie zu rauben. Das Zusammenspiel der Sinne in gegenseitiger Resonanz braucht Zeit.

Männliche Gefühlsabwehr hat – historisch betrachtet – soziologisch und psychologisch viele Ursachen: Männer wurden überwiegend als Arbeiter gebraucht, als aggressive Soldaten geformt, zu Verdienern und Leistungsbringern erzogen, von Generationen abwesender Väter emotional allein gelassen – schließlich auch noch als sexuell bedrohlich dargestellt. „Gefühlvolle Männer“ werden heute noch belächelt oder gar als schwul eingestuft.

In unserer heutigen Beschleunigungsgesellschaft (Rosa 2011) allerdings sind auch die Frauen dem Joch der gepressten Zeit unterworfen. Für gefühlvolle Zeit mit dem Liebsten und selbst mit den Kindern bleibt kaum Freiraum – beziehungsweise Freizeit. In der Zeitnot werden auch die sonst tief und reichlich fließenden Gefühle der Frauen regelrecht verschlissen.

Gefühle aber sind nicht nur Nahrung für die Seele, sie sind das Kapital der Liebe. Der Dialog der Gefühle darf niemals abreißen zwischen den Liebenden. Wir empfehlen, ihn täglich zu üben.

Der Sprach-Dialog ist das zentrale Verständigungsmittel, weil erst Sprache eine Vertiefung, Veränderung, Verfeinerung und Korrektur von Gefühlen ermöglicht. Paare reden in vielen Sprachen miteinander: Neben der alltäglichen und optimalen Funktionssprache brauchen die Liebenden eine Sprache zur geistigen Auseinandersetzung, zur Problemlösung, zur Sinnfindung, zur erotischen Stimulierung – und ganz besonders die Herzenssprache für intime Innigkeit und Romantik. Und selbst beredtes Schweigen unterbricht nicht das Gespräch der Liebenden (nach Novalis) – sofern es nicht aus feindseligem Schweigen geschieht.

Das Brennpunktthema Sexualität zeigt es besonders deutlich. Letztlich liegt die wahre Ursache für so viele tragische Konflikte in der intimen Sprachlosigkeit. Um auf Dauer sexuelle Lust aufrechtzuerhalten, bedarf es über den körperlichen Anreiz hinaus weiterer Zutaten. Die Stimulus-Theorie der Paarsynthese besagt, dass nur die sinnliche Erregung sich weiter und tiefer entwickelt, die Körper, Geist und Seele umfasst. Die sinnliche Ansprache ist das stimulierende Mittel dazu, Geist und Seele einzubinden in den Tanz der Sinne. Das körperliche Lustempfinden steigert sich dadurch und prägt sich tiefer in die sexuellen Reflexe ein. Von ordinären bis zu sinnlich feinen und poetischen Bildern und Worten. Viel zu viele Paare schämen sich oder verfügen über nur geringe Ausdrucksmöglichkeiten. Die Wärme der zarten Haut, der betörende Duft der Säfte, die unendlich schönen Linien des Körpers, der lustvolle Anblick der geheimen Höhlen und Lusterzeuger, die ergreifende Hingabe der nackt dargebotenen Körper – sie zusammen bilden ein stimulierendes Kaleidoskop für sexuelle Erregung, die im ausgesprochenen Wort doppelte und dreifache Resonanz erfährt.

Hier ist das häufig hilflose Schweigen der Männer, aber auch der schamvollen oder schüchternen Frauen auf Dauer lähmend für die Fortentwicklung von Lust und Leidenschaft.

Und ein weiterer entscheidender Faktor für die Notwendigkeit einer lebendig erotischen Sprache liegt in der Funktion gegenseitiger Verstärkung, aber auch gegenseitiger Korrektur. Die einfühlsame Ansprache von ausgelösten Missempfindungen oder sinnlichen Irritationen, von Schmerzen oder gar Grenzüberschreitungen – eine notwendige Korrektur im erotischen Duett ist letztlich nur über sprachliche Klärung differenziert möglich. Gerade hier sollte sich das Paar viel Zeit nehmen, sich in einen solch intimen Dialog einzuüben. Wir nennen das Intensivzeit für das Paar.

Der Sinn- und Seelendialog sucht nach einer Ethik, die wegweisend ist für Paargestaltung und Gemeinschaftsbildung auf dieser Erde. Sinn im Leben zu suchen, ist allein den Menschen eigen – mit Ausnahme der Jungverliebten, denn sie sind sich gegenseitig Sinn. Das ist das große Geschenk der Liebe an die Jungverliebten. Sie spüren, ahnen und fühlen mit allen Poren, dass das eigene Leben durch die Hingabe an den anderen plötzlich einen ganz eigenen und großen Sinn gefunden hat. Das Finden von gemeinsamem Sinn macht uns glücklich, macht uns stark. Sogar im KZ geschundene Menschen haben dadurch überlebt. So sagt Nietzsche: „Wer den Sinn kennt, erträgt auch den Weg“. Die Sinnsuche vollzieht sich in unserem Geist und ist Ausdruck unserer Seele. Die Liebe ist sinnerfüllend, da sie uns Identität gibt – wir werden durch Liebe zu etwas Besonderem. Alle fünf Sinne mit dem Partner auszutauschen, lässt uns beseligende Intimität fühlen. Durch Sinn