Lieben & Verzeihen - Michael Cöllen - E-Book

Lieben & Verzeihen E-Book

Michael Cöllen

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Beschreibung

Um Verzeihung zu bitten oder aus tiefstem Herzen zu vergeben sind entscheidende Fähigkeiten, wenn die Liebe dauern soll. Der bekannte Paartherapeut zeigt anhand von Fallgeschichten und Übungen für Paare, wie Versöhnung gelingen kann. In fünf Stufen beschreibt er den Weg des Verzeihens und wie wir das Tor für die Rückkehr der Liebe und für neue Nähe öffnen können.

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Michael Cöllen

Lieben & Verzeihen

Wie sich Paare wiederfinden

Impressum

Originalausgabe unter dem Titel „Das Verzeihen in der Liebe“

© Verlag Kreuz GmbH,

Freiburg im Breisgau 2009

ISBN 978-3-7831-3150-5

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: agentur IDee

Umschlagmotiv: © Oksvik - fotosearch

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN E-Book 978-3-451-81197-5

ISBN Buch 987-3-451-06892-8

Inhalt

Vorwort

Zwischen Verzeihen und Selbstachtung – im Strudel seelischer Grenzen

Verzeihen – was macht es so schwer?

Wer kann nicht verzeihen? Vier Typen im Umgang mit Kränkungen

Der sich anpassende und nachgebende Partner

Der sich durchsetzende und selbstbehauptende Partner

Der planende und kontrollierende Partner

Der intuitive und unverbindliche Partner

Wer kann verzeihen?

Der selbstkritische Partner

Der lernwillige Partner

Der einsichtige Partner

Der einfühlsame Partner

Verzeihen – was erleichtert es?

Gibt es Unverzeihliches? Grenzen des Verzeihens

Untreue

Gewalt

Abwesenheit des Vaters bei der Geburt

Abtreibung

Kind-Verweigerung

Beischlaf-Verweigerung

Arbeit statt Gefühl

Falsche Partnerwahl

Wenn Verzeihen zur Zerreißprobe wird

Gestörte Eigenliebe und das Ringen, Streiten und Kämpfen um Liebe

Borderline-Erkrankung und die krisenreiche Liebe

Liebe und Trauma – wenn die Beziehung zum Alptraum wird

Traumatisierung vor der Beziehung – frühe Alpträume und Liebe heute

Zur Psychologie des Verzeihen – Ordnung im Chaos der Gefühle

Was geschieht bei einer Kränkung in der Seele?

Gefährliche Kindheitstage – das verletzte Kind in uns

Was geschieht bei einer Kränkung durch den Partner?

Zum Nutzen des Verzeihens – die Reifeprüfung der Liebe

Seelisches Heilen durch Verzeihen

Körperliches Heilen durch Verzeihen

Zur Praxis des Verzeihens: Teamwork für die Liebe und Paartherapie

Anhören: Gegenseitige Verletzungen begreifen und würdigen

Bearbeiten: Eigene Verletzungen aus der Kindheit verstehen

Verständigen: Gemeinsame »Verknotung« in Konflikten erkennen

Verzeihen und Versöhnen: Sinn finden auf dem Weg der Reifung

Wiedergutmachen: Kreativer Aufbruch der Beziehung in neue Nähe

Schlussbemerkung

Aufruf

Paarsynthese

Anhang

Verzeichnis der Übungen

Literatur

Vorwort

Verzeihen, Versöhnen und Wiedergutmachen gehören zu den besonderen menschlichen Fähigkeiten. Sie entscheiden mit über die gesamte Liebeskultur und Lebensqualität der Partner und ihrer Kinder und auch noch ihrer Kindeskinder. Oft begleitet von heftigen Gefühlsstürmen, ringen sich viele von uns nur schwer dazu durch, nach einer schmerzlichen Kränkung oder Verletzung wieder liebevoll zu vergeben oder um Vergebung zu bitten. Erlittene Demütigungen, Kränkungen und vermeintliches Unrecht setzen sich oft irrational tief in unserer Seele fest. Der Weg zum Verzeihen geht dann über viele Stationen, die oft vermieden werden. Das wissen und spüren alle Betroffenen sehr genau. Wir kämpfen oft lange mit uns selbst, um die für die Rettung der verletzten Liebe notwendige Großherzigkeit aufzubringen. Viele Schritte innerer Reifung sind zu gehen bis zur wirklichen Versöhnung. Versöhnung aber tut not, um glücklich miteinander leben und lieben zu können. Mehr noch: Verzeihen öffnet den Weg für eine Wiedergutmachung, die überleitet in eine kreative Neugestaltung der Liebesbeziehung.

Verzeihen ist zumeist Schwerstarbeit für die Seele. Statt zu verzeihen, trennen sich viele Gekränkte. Statt Versöhnen wählen sie Zerstören, statt Dialog führen sie Krieg – zerstrittene Paare genauso wie zerstrittene Politiker. Das ist keine sinnvolle Strategie: Tiefe seelische, oft auch materielle Schäden und Wunden bleiben zurück. Bis in die Generation der Kinder und selbst noch in die Generation der Enkel und Urenkel wirken diese Verletzungen hinein. Scheidungsfolgen und Kriegsfolgen haben eins gemeinsam: Sie sind grausam und hinterlassen Kummer.

Das Paradoxe daran: Auch der Gewinner solch unversöhnlicher Auseinandersetzungen wird auf Dauer nicht glücklich. Verfeindete Beziehungen bilden eine neurotisierende Hinterlassenschaft, die auch der neuen Beziehung schadet. Die Seelen der Nichtverzeihenden bleiben in ständiger Alarmbereitschaft gefangen. Wichtige seelische Energie wird dadurch abgezogen. Diese Verfangenheit kränkt und macht krank.

Dass hingegen Verzeihen heilsam ist, bestätigen viele Autoren. Bis in die körperliche Heilung hinein wirkt das Verzeihen, sogar bis zur Heilung von Krebs (Simonton 2001). »Vergebenkönnen entfaltet eine dynamische innere Heilkraft, um physisch und psychisch wieder ganz zu werden«, schreibt Christa Schneider 1996. Die Schweizer Psychotherapeutin Verena Kast (2005) betont: »Versöhntsein – mit anderen, mit sich selbst und dem Schicksal – gibt ein Mehr an Lebensqualität.« Und der Psychiater Binswanger führt an, dass Schuld und Grenzverletzung keineswegs die Wirheit der Liebenden zerstören müssen, sondern dass sie erst frei machen für den »Reichtum des Verzeihens und die Kraft der Demut, die eigentlichen Zeichen der Liebesfülle«. (zit. nach Hubbertz 1992).

Doch gerade für die streitenden und an der Liebe leidenden Paare, die Verzeihen und Versöhnen in besonderer Weise brauchen, fehlen eigene paarspezifische und wirksame Therapieansätze. Das Thema Verzeihen, so wichtig es gerade auch in unserer modernen Gesellschaft mit ihren vielen menschlichen und politischen Risiken sein mag, ist weniger denn je gesellschaftsfähig. Es liegt nicht im Trend. Manche fühlen sich allein von den Worten schon peinlich berührt. Sätze wie: »Ich bitte dich um Verzeihung« – »Ich will dir vergeben« – »Ich möchte mich mit dir versöhnen«, kommen vielen kaum über die Lippen. Die hohen Trennungs- und Scheidungszahlen belegen dies auf tragische Weise, gerade auch für die modernen Liebesbeziehungen. Dieses Buch will dazu beitragen, auf den Grundlagen der Paarsynthese, einer eigens für Paare entwickelten Arbeitsweise, die Psychologie und Psychotherapie des Verzeihens zu fördern. Im ersten Teil zeige ich das seelische Verstehen vom Verzeihen, im zweiten Teil die praxisnahe Arbeit auf dem Weg zum Verzeihen auf. Erkenntnisse, Erfahrung und Arbeitsweise der Paartherapie werden hier den nach Versöhnung suchenden Paaren zur Selbsthilfe angeboten. Die Paarsynthese sieht es als besondere Aufgabe, die Kluft zwischen Theorie und Praxis der Liebe und insbesondere des Verzeihens zu schließen. Das praktische Verzeihen ist der Prüfstein: Die Fähigkeit zum Verzeihen wird sozusagen zum Führerschein für die Liebe.

Verzeihen, Versöhnen und Wiedergutmachen basieren auf Teamwork, in dem beide Seiten um die Wahrheit und die Stimmigkeit der Gefühle ringen. Das geeignete Handwerkszeug zum Verzeihen wird hier vorgestellt. Ratsuchende Paare und Kolleginnen haben mit ihren Briefen, Texten und Übungen zu diesem Buch beigetragen.

Verzeihen, Versöhnen und Wiedergutmachen sind die via regia, der königliche Weg in der Liebe. Wenn wir in einer menschlichen Welt leben wollen, tragen wir dazu bei, wenn wir zusammen mit unserem Partner Versöhnung feiern. Aber es ist kein leichter Weg: Statt sich an kurzfristiger Genugtuung zu orientieren, konzentrieren wir uns hier auf menschliche Werte, die auf Langfristigkeit angelegt sind. Gewinnoptimierung und Gewinnermittlung – beides bewusst Begriffe aus der Männerwelt – richten sich dann auf die Rückkehr der Liebe, auf innere seelische Ausgeglichenheit, lustvollen Frieden und neue Nähe im Miteinander der Liebenden.

Verzeihen, Versöhnen und Wiedergutmachen waren und sind immer wieder von großer psychologischer, politischer und auch religiöser Bedeutung. Jedes Paar braucht diesen Weg, soll seine Liebe überlebensfähig sein. Ebenso brauchen wir als soziale Gruppen, als öffentliche Gesellschaft, im Umgang der religiösen Gemeinschaften miteinander und im politischen Zusammenleben der Völker überlebensnotwendig diese Kraft des Verzeihens, des Versöhnens und des Wiedergutmachens. Verzeihen schafft Frieden als Voraussetzung für Liebe.

Und schließlich sind Verzeihen, Versöhnen und Wiedergutmachen nicht nur und ausschließlich ein schwerer Weg oder moralisches Gebot und menschliche Pflicht, sondern auch eine fantastische Möglichkeit, das Leben leichter, lustvoller und kreativer zu gestalten. Enge seelische Grenzen werden gesprengt zu Gunsten eines weiteren Horizonts voll vielfältiger Neugestaltung der Liebe zwischen den Partnern. Dadurch erwächst den Liebenden eine Leichtigkeit, die das Leben wieder sinnvoll werden lässt. Wenn die verletzte Liebe trotz Kränkung und Krise überleben und zukunftsfähig bleiben soll, gilt es, Selbstüberwindung zu entfalten, um verzeihen zu können. Die Liebe und der Partner – beide brauchen diese Chance.

Zwischen Verzeihen und Selbstachtung – im Strudel seelischer Grenzen

Verzeihen – was macht es so schwer?

Frauen und Männer, die sich in ihrer Liebe tief gekränkt, gar verwundet oder verraten glauben, reagieren häufig unterschiedlich, erleiden aber beide hohen seelischen Stress. Oft verfallen sie dann in Aggression oder Depression, geraten in Alarmstimmung oder fühlen sich von Panik ergriffen. Wie in einem Strudel fühlen sie sich im Auf und Ab der Gefühlsstürme hin- und hergerissen. Manche sind dann gar nicht mehr Herr ihrer selbst, ausgeliefert dem mächtigen Sog, den Anderen für sein Tun zur Rede stellen, ihn verurteilen und sich an ihm abreagieren zu sollen. In der Zerreißprobe zwischen Selbstbehauptung und Versöhnlichkeit stoßen viele an ihre seelischen Grenzen. Aufgrund der Verletzung wird nach der Schuld des Anderen gesucht und das eigene Leiden daran als übermächtig empfunden. Die Opfer-Täter-Spirale beginnt sich zu drehen, eine Falle, aus der es nur schwer ein Entrinnen gibt. Die typischen Paar-Konfliktmechanismen zwischen den streitenden Partnern setzen reflexartig ein: Abwehr von eigenem seelischen Schaden und Widerstand gegen den vermeintlichen Übeltäter geraten zu einem unentwirrbaren Knäuel. Aus dem Labyrinth gegenseitiger Anklagen gibt es dann nur einen wirklichen und wirksamen Ausweg, nämlich, um Verzeihung zu bitten und Verzeihung zu gewähren.

Umso erstaunlicher: Die Psychologie der Liebe, sowohl an den Universitäten als auch in der therapeutischen Praxis, hat sich mit ihren Analysen und Untersuchungen dem Thema Verzeihen, Versöhnen und Wiedergutmachen nur sehr begrenzt und sehr spät zugewandt. Nach Kämmerer & Kapp (2002) zählt das Thema Vergebung zu den »emotionalen Stiefkindern therapeutischen Handelns«. Erst etwa seit 20 Jahren werden Forschungen im englischen Sprachraum (Enright 2006) intensiviert, im deutschen dagegen gibt es noch relativ wenig – bis auf die Arbeiten von Schweizer Kollegen wie Allemand (2002) und Teschner (2004), die eine vergebungsorientierte Psychotherapie zu entwickeln im Begriff sind. In den therapeutischen Schulen und Verfahren wie der Gestalttherapie (Wheeler & Backmann 1999) oder der Verhaltenstherapie wird das besondere Arbeiten mit diesem Brennpunkt jeder Krisendynamik zwischen Liebenden und Streitenden erst etwa seit zehn Jahren angegangen. Für das Überleben jeder Liebesbeziehung und für ihre Zukunftsfähigkeit sind jedoch gerade das Sich-Entschuldigen, Bedauern, Verzeihen und Um-Verzeihung-Bitten, Vergeben, Versöhnen, Abbitteleisten und Wiedergutmachen meist schmerzliche, aber unerlässliche Voraussetzung. Die Liebenden und ihre Therapeuten brauchen daher das Wissen über die Dynamik der Aussöhnung und über hilfreiche Methoden und Techniken.

Auf die Frage, was ihr denn das Verzeihen gegenüber Paul so schwermache, der seit einem Jahr ihr Freund gewesen war und der sie so schlecht behandelt und schließlich verlassen habe, überlegte Mia lange. Dann antwortete sie zögernd und mit Tränen in den Augen, dass Verzeihen nur möglich sei, wenn die Vergangenheit abgeschüttelt und diese gerecht ausgeglichen werde. Und Versöhnen gelinge nur bei eigener erworbener Unabhängigkeit und Sicherheit. Das alles habe sie nicht, sie fühle sich nur schwach und verzweifelt und könne deshalb nicht verzeihen. Und die 50-jährige Doris, die ihren Mann mehrfach betrogen hatte und schwankte, ob sie ihn verlassen solle, antwortet auf die Frage, was es so schwermache, um Verzeihung zu bitten: »Sich so auseinandersetzen zu müssen und um Verzeihung zu bitten, das ist doch wie sich nackt ausziehen vor dem Partner.«

Sofort wird deutlich, wie tiefgreifend und intim Opfer und Täter diesen Prozess um das Verzeihen erleben. Und immer geht es dabei um starke Gefühle wie Scham, Gerechtigkeit, Bloßstellung und Sicherheit. Die oft zweifelnden und verzweifelten Partner stellen meist gleich zu Anfang einer Paartherapie drängende Fragen:

Ich will ja verzeihen, aber wie? Ich habe ja verziehen, aber kein Vertrauen mehr – und nun? Wovon hängt es denn wirklich ab, ob wir dem Geliebten oder ehemals Geliebten verzeihen, uns wieder versöhnen und sogar Wiedergutmachung leisten können? Kann ich Bedingungen dafür stellen? Welchen Sinn macht es überhaupt, zu verzeihen? Und wie können wir diese seelische Herkulesarbeit des Verzeihens wirklich lernen? Fällt es dem einen möglicherweise leichter als dem anderen, Verzeihung zu erbitten oder Verzeihung zu gewähren?

Und es stellen sich dann noch weitere Fragen, anhand derer sich jeder selbst prüfen kann: Sind Sie ein Verzeihender?« »Üben Sie sich selbst im Verzeihen?« – »Ihre Frau gibt Ihnen nicht so häufig sexuelle Befriedigung, wie Sie dachten? Können Sie, wollen Sie das verzeihen?« – »Ihr Partner ist so unzuverlässig. Versuchen Sie das zu verzeihen?« – Mehr Fragen als Antworten tun sich auf: Wie kann ich verzeihen? Will ich verzeihen lernen? Warum will ich dir verzeihen? Verzeihen andere eher als ich?

Wer kann nicht verzeihen? – Vier Typen im Umgang mit Kränkungen

Viele Menschen, besonders aber solche mit seelischen Verwundungen, tun sich schwer zu verzeihen. Und Liebende, die tief in ihrem Innersten vom Geliebten verwundet wurden, quälen sich selbst oft am meisten mit der Frage, ob sie dem Anderen verzeihen wollen oder überhaupt verzeihen können. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit, angemessener Strafe und liebevoller Versöhnung beginnt ein für beide Seiten zermürbendes Auf und Ab der Gefühle.

Die Fragen häufen sich im Laufe einer Beziehung: Warum fällt es so schwer zu verzeihen? Wie oft verzeihen? Wann ist es falsch zu verzeihen? Gibt es Unverzeihliches? Kann überhaupt neues Vertrauen entstehen? Was muss dazu geschehen? Verdient der verletzende Partner überhaupt diese Chance, dass ihm verziehen wird? Oder würde das Verzeihen nur erneute Rückfälligkeit, erneutes Ausbeuten der eigenen Gutmütigkeit zur Folge haben? Muss ich verzeihen, damit mir verziehen wird? Ist Verzeihen möglich, ohne um Verzeihung gebeten zu werden?

Und der Partner, der die Verletzung begangen hat, fragt sich ebenso zwiespältig: Wie tief muss der Kniefall sein, um Verzeihung zu erlangen? Bedeutet das zu viel an Demütigung und Bloßstellung? Ist die Schuld tatsächlich immer nur auf der einen Seite – und was ist mit der Schuld des Anderen? Bedeutet, die eigene Schuld anzuerkennen, nicht gleichzeitig den Untergang des eigenen Egos? Ist es nicht besser, sich in Groll zurückzuziehen oder einen Gegenangriff zu starten?

Es geht nicht nur um das große Verzeihen schwerer Kränkungen. Unauffälliger, weil sehr viel subtiler, sind die alltäglichen und kleinen Verletzungen, die in der Summe fortgesetzte Kränkung bedeuten. Sie zu verzeihen, statt innerlich aufzulisten und verbittert zu werden, erfordert wache Aufmerksamkeit im Umgang miteinander und ein inneres Ringen, um aus dem missgünstigen und strafenden Denken herauszufinden. Wer anfängt aufzurechnen, statt zu verzeihen, hat die Rechnung schon verloren.

Ilse war zusammen mit ihrem Mann Jan in die Paartherapie gekommen, weil er sie nach 20 Jahren Ehe mit einer Kollegin betrogen hatte. Sie hatte ihm gegenüber völlig »zugemacht« und wollte sich von ihm trennen. In ihrer kühlen und reservierten Art hatte sie sich schon viele Jahre lang von Jan, der eher weich und emotional, dann aber auch wieder aggressiv und fast jähzornig war, sexuell und innerlich zurückgezogen. Sie schien ihm geistig überlegen und behandelte ihn auch dementsprechend. Dadurch wirkte sie arrogant und abweisend, wobei sich hinter dieser Maske in Wirklichkeit große Selbstunsicherheit und Selbstzweifel verbargen. Jan aber war viel zu ungeduldig, um einfühlsam hinter diese Maske zu schauen. Sie aber konnte sich ihm nicht mitteilen, weil sie fürchtete, mit ihren ängstlichen Gefühlen von ihm bloßgestellt und abgewiesen zu werden. In ihrer Kindheit hatte sie dasselbe durch ihren Vater erlitten. Immer noch gekränkt und verletzt durch diese jahrelange Zurückweisung seitens des Vaters, arbeitete sie jetzt an Jan diese seelische Altlast ab, indem sie ihn ständig kritisierte und an ihm herumnörgelte. Im Verlauf der Therapie begriff sie sehr bald mit ihrem wachen Verstand, dass sie, statt mit ihrem Vater die alten Verletzungen auszutragen, sich stattdessen an Jan rächte und ihn geradezu in die Flucht geschlagen hatte.

Im Verlauf der Therapie begriff sie immer mehr diese Zusammenhänge und ihren eigenen Anteil an seinem Fremdgehen. Dafür wollte sie ihn nun um Verzeihung bitten.

Ilse schreibt dazu: »Ich wünsche mir eine vertrauensvolle Beziehung zu Dir. Ich nehme an, dazu ist es nötig, dass ich Dir wirklich verziehen habe.

Ich wünsche es mir auch, weil ich mich so hässlich und unvollkommen fühle, wenn ich es nicht kann. Das ist so, als ob es mir eine Dimension des Menschseins nähme, eine grundlegende Fähigkeit, mitzufühlen und andere in ihrem Sosein zu achten. Ich habe so lange darum gerungen, das Kleingeistige meines Elternhauses, in dem die anderen immerzu be- und verurteilt werden, abzulegen. Mit meiner Unfähigkeit zu verzeihen holt es mich wieder ein.

Ich möchte es aber können, weil es sonst in mir ein dauerndes Gefühl des Verlustes wachhält, wenn ich es nicht getan habe. Ich fühle mich sehr unfähig. Ich merke, wie müde es mich macht, immer irgendwie wachsam zu sein. Ich will nicht mehr wachsam sein müssen.«

Am Beispiel dieser Frau wird deutlich, dass Nichtverzeihen statt Verzeihen kein Zufallsergebnis, sondern die Folge einer inneren Seelenlogik ist. Ob große oder kleine Kränkungen verziehen werden, hängt nur teilweise von unserem freien Willen und unserer bewussten Entscheidung ab. Daneben werden wir unbewusst von Motiven gesteuert, die teils aus unserem Kindheitserleben herrühren, aber auch aus Erfahrungen mit Mitschülern, Lehrern, Ausbildern, Chefs und anderen wichtigen Bezugspersonen. Die Einstellung unserer Umwelt zu solchen seelischen Themen beeinflusst jeden von uns intensiv. Ob uns eine Kultur des Friedens umgibt oder eher eine Mentalität egoistischer Durchsetzung, des sozialen Ausgleichs oder der reinen Gewinnorientierung, all das entscheidet mit über unsere Fähigkeit und Bereitschaft, zu verzeihen. So haben finanzielle und existenzielle Armut manchmal auch emotionale Armut und rigide Strenge zur Folge. Wer mit dem Rücken zur Wand steht, wie beispielsweise eine alleinerziehende Mutter mit ihren zwei Kindern ohne Job und Geld, hat es schwer, großherzig und großzügig zu verzeihen. Andererseits gibt es auch viele mächtige, reiche und einflussreiche Menschen, wie zum Beispiel mächtige Politiker, die selbst kleinste Kränkungen weder ertragen noch verzeihen.

Wer verzeihen kann und wer nicht und wer dazu bereit ist, das hängt von vielen Faktoren ab. Viele Autoren sind der Ansicht, dass das Verzeihen letztendlich Ergebnis eines bewussten Entschlusses, ein Akt des freien Willens sei und auf der Grundlage einer bewussten Willensentscheidung aufbaue (Jellouschek 2005, Fliegel 2007, Weingardt 2007). Die Paarsynthese sieht diese Willensentscheidung nur als Abschluss eines langen Reifungsprozesses. Nicht jeder, der will, kann auch verzeihen. Die Kraft des Willens zur Selbstüberwindung, die von diesen Autoren angeführt wird, ist doch gerade durch eine fortgesetzte, mitunter gravierende oder gar traumatisierende Verletzung durch den Partner blockiert.

Ich habe Katja, eine eben betrogene Ehefrau und junge Mutter von zwei Kindern, erlebt, die sich zusammenkrümmte vor Schmerz und dieses verdammte Verzeihen nicht über sich brachte. Verzweifelt schrie und weinte sie um Hilfe, sie wolle doch, dass alles wieder gut werde, dass sie seinen Seitensprung mit einer Kollegin verzeihen könne, aber sie schaffe es einfach nicht. Sie streckte dabei wie eine Ertrinkende ihre Hände nach ihrem Mann und auch nach mir aus. Der Mann zeigte mehr als Reue, tat Abbitte, kniete vor ihr nieder und bat immer wieder, selbst in Tränen, um Verzeihung. Er schrieb ihr Briefe, ertrug über ein Jahr die von ihr gewünschte vorläufige Trennung, wollte alles wiedergutmachen. Sie war sehr klug und von eher sanfter Wesensart. Sie hatte im Lauf der Sitzungen an ihren Gefühlen und Wertvorstellungen gearbeitet, Wut, Schmerz und Ohnmacht herausgelassen, ihr verletztes inneres Kind nachgenährt, sich besonnen auf ihre eigenen Stärken besonnen, die Position der erwachsenen und reifen Frau eingenommen, alle therapeutisch wichtigen Stationen durchschritten. Und doch war ihr das Verzeihen nicht möglich: Die junge Familie zerbrach.

Die Tragik stand fühlbar im Raum: Täter und Opfer waren beide untröstlich und unglücklich. Beide fühlten sich unendlich schuldig. So ist das Nichtverzeihen keineswegs immer Ausdruck von bösem Willen, aggressiver Durchsetzung oder egoistischer Selbstbehauptung, sondern überwiegend Ergebnis innerer Enge und seelischer Not.

Nichtverzeihende sind häufig Menschen, die sich im Innersten hilflos fühlen. Das aber können oder wollen sie nicht eingestehen, weder vor anderen noch vor sich selbst. Sie wissen einfach nicht, wie sie es schaffen sollen, sich innerlich zu überwinden und zu verzeihen. Andere natürlich wollen bewusst nicht verzeihen, teilweise sind sie sogar stolz darauf. Hauptmotiv ihres Handelns sind Angst und Sorge, das Verzeihen könnte ihnen als Schwäche ausgelegt werden. Sie befürchten, durch das Verzeihen etwas an Stärke zu verlieren, etwas an Macht und Einfluss über den Anderen abzugeben. Wenn dieser nämlich um Verzeihung bittet, zwingt der Nichtverzeihende ihm die Schuld erneut auf und kann ihn damit kleinhalten. Dadurch aber schädigt er sich unbewusst selbst: Er bleibt der Tat des Anderen verhaftet und behält diese negative Energie in sich, findet so keinen inneren Frieden. Wer aber keine Fehler verzeiht, keine Schuld vergibt, keine Entschuldigung zulässt, wird selbst unmenschlich, weil er die eigene Fehlerhaftigkeit verdrängt. Solche Gnadenlosigkeit und Unentrinnbarkeit wird zum seelischen Gefängnis. Deshalb muss andauernde Unversöhnlichkeit als seelische Krankheit gelten, die ihrerseits zu einer Art seelischer Umweltverschmutzung (Begriff von Ulla Holm) führt.

Fragen des Verzeihens oder Nichtverzeihens begleiten jeden von uns, von der Kindheit bis zum Tod. Manche Menschen können nicht einmal auf dem Sterbebett verzeihen. In unseren Liebesbeziehungen haben wir gerade mit diesem Spannungsverhältnis zwischen Verzeihen und Nichtverzeihen besonders häufig und mit existenzieller Tragweite zu tun. Jeder von uns hat seine sehr typische Art und Weise, mit Versöhnung oder Nichtversöhnung umzugehen und dem Partner damit gegenüberzutreten. Oft hängt das Überleben der Beziehung davon ab. Jeder von uns sollte sich deshalb selbst und mit Hilfe des Partners und von Freunden genau prüfen, ob er ein Verzeihender ist oder was ihn zum Nichtverzeihenden macht.

Nichtverzeihende in Paarbeziehungen unterscheiden sich in ihrem Auftreten deutlich in vier Tendenzen, je nach ihrem vorherrschenden Partnerstil von Anpassung, Durchsetzung, Planung oder Intuition (Cöllen 1984, 1997). In der Regel mischen sich diese Stile in uns mehr oder weniger. In Streit und Krisen besinnen wir uns allerdings überwiegend auf einen dominanten Stil, den wir schon als Kind bei unseren Eltern erlebt und dann schließlich selbst übernommen haben. Jeder dieser vier Partnerstile hat seine durchaus guten und wichtigen, aber auch seine negativen Seiten. Je mehr wir alle Stile voll einsetzen können, also einen reichbestückten Werkzeugkasten für partnerschaftliche Verständigungstechnik unser eigen nennen, desto sicherer fühlen wir uns und desto leichter können wir durch Verzeihen Frieden stiften.

Haben wir alle Stile zu voller Reife entfaltet, kann der Sich-Anpassende durch sein Nachgeben Frieden stiften, für Ausgleich sorgen und Streithähne miteinander versöhnen. Der starke Durchsetzer wird überzeugt seinen Standpunk vertreten, für Klarheit sorgen und zu eigenen Fehlern stehen. Der selbstbeherrschte Planende sorgt für Ordnung und

Die vier Partnerstile Intuition, Anpassung, Durchsetzung, Planung, Integration

Im lebenslangen Lernprozess, besonders in der Kindheit, erwirbt jeder typische Verhaltensmuster, um seine Beziehungen und seine Welt zu gestalten: die Partnerstile. Sie dienen als besondere Ich-Funktionen und werden zum Ausdruck unserer unverwechselbaren Identität. Aufgrund der Lerngeschichte tritt meist eines der fünf Grundmuster stärker hervor, die anderen sind mehr oder weniger mitbeteiligt. Die Art der Mischung ist unsere persönliche Visitenkarte. In einer Krise benutzen wir bevorzugt den Hauptstil. Ziel ist es, zu lernen, alle Stile gleichermaßen zur Verfügung zu haben, um sie je nach Situation und Partner adäquat einsetzen zu können. Verzeihen braucht Anpassen und Durchsetzen, Planung und Spontanität – das Vereinen der Gegenpole.

Zuverlässigkeit und sucht nach Gerechtigkeit für alle. Der einfühlsame Intuitive schließlich sorgt für Herzenswärme, gegenseitiges Wertschätzen und liebevolles Ausgestalten der Beziehung.

Auf der anderen Seite ist eines allen, die nicht verzeihen können oder es nicht wollen, gemeinsam: Nichtverzeihende sind gesteuert von Angst oder sogar von einem Übermaß an Angst. Das ist auf den ersten Blick oft kaum zu glauben, weil die vier Partnerstile sehr unterschiedlich und geradezu konträr mit ihrer Angst umgehen. Sie haben verschiedene Angstbewältigungstechniken ausgebildet, treten daher nach außen sehr verschieden auf, und trotzdem bestimmt dieselbe Grundangst ihr manchmal kindliches Handeln. Vereinfacht ausgedrückt, verwandelt sich Angst beim Anpasser in Depression, beim Durchsetzer in Aggression, beim Planer in Erstarrung und beim Intuitiven in oberflächliches Agieren. Der Anpasser zieht sich im Kern zusammen und wird ganz klein, der Durchsetzer macht sich breit und groß, der Planer verschließt sich und der Intuitive verzettelt sich.

Bei den Nichtverzeihenden zeigen sich diese Partnerstile noch in ihrem kindlichen oder pubertären Ausdruck, der noch nicht zur reifen Form gefunden hat. Nichtverzeihende sind nämlich eher zu begreifen als Menschen, denen eine gesunde reife Entfaltung nicht möglich war. Sie sind auf einer nicht altersgemäßen Entwicklungsstufe stehen geblieben oder durch eine frühere Verletzung blockiert, die notwendigen Schritte der Selbstüberwindung zu gehen.

Der um Verzeihung Bittende und der Verzeihung Gewährende sind auf besondere Weise miteinander verstrickt. Beide ringen sie mit sich selbst. Beide müssen sich selbst überwinden, über ihren Schatten springen, ihre Angst um das eigene Ego hinter sich lassen. Dieses Wissen um die Angst dahinter erleichtert möglicherweise das Verzeihen: Das Opfer ahnt die Angst des Täters, seine Schuld einzugestehen, und kann möglicherweise deshalb großzügig entgegenkommen. Der Täter kann mit dem Wissen, dass hinter jedem Nichtverzeihen Angst steht, eher Verständnis und Geduld aufbringen, auf das Verzeihen seitens des Gekränkten zu warten. Er kann dann leichter darum bitten, ohne gleich wieder erneut gekränkt zu sein, wenn die Geste des Verzeihens vom Partner nicht sofort kommt.

Der sich anpassende und nachgebende Partner

Aus Angst vor Streit und mit übertriebenem Harmoniestreben geben die eher ängstlichen und unsicheren Partner schnell nach und fügen sich. Vordergründig lenken sie ein und scheinen meist zur Versöhnung bereit. Sie verweigern in Wirklichkeit aber das echte Verzeihen sehr subtil. Sie leiden im Stillen weiter. Sie fühlen sich im ganzen Leben mehr oder weniger ängstlich, sind vorsichtig, behutsam, auf Harmonie fixiert und meist sehr abhängig vom Partner. Ihre Selbstwahrnehmung funktioniert so: Da sie sich als den Schwächeren erleben, fühlen sie sich leicht bedroht, wähnen sich in der Rolle des Opfers, des Unterlegenen und Hilflosen. Sie geben sich daher leise, mit unterdrücktem Weinen, doch oft mit Tränen in den Augen. Auf Dritte wirken sie deshalb herzergreifend, bemitleidenswert und schutzbedürftig. Ihre Stimmen sind voll leiser und vorsichtiger Anklage, denn sie wollen niemanden verletzen. Dies gilt ganz besonders für ihren eigenen Partner, weil der im Gegensatz dazu oft bei der kleinsten Kritik explodiert. Partnerwahlen verlaufen häufig nach diesem Muster, dass nämlich ein sich ängstlich Anpassender und ein sich aggressiv Durchsetzender zusammenfinden.

Sich Anpassende sind in der Beziehung die Defensiven. Sie implodieren, statt zu explodieren. Sie drohen unter der Wucht des offensiven und aggressiven Partners ins tiefe Leid zu stürzen. Den ihnen zugefügten Schmerz wollen sie durchaus vergeben und tun es auch nach außen hin, aber sie können es nicht wirklich. Alle Wunden, jeder Schmerz, jede Kränkung bleibt in ihrem Gedächtnis haften. Der Kummer spricht aus den Augen, aus den Linien ihres Gesichtes, aus der gebeugten Haltung, aus den überängstlichen Gesten. Sie ringen ehrlich mit sich selbst, durchweinen ganze Nächte, zermartern ihr Herz – und doch können sie einfach nicht verzeihen. Zu groß die Angst, erneut Opfer zu werden, wieder gedemütigt, gar verspottet zu werden für diese tiefe Geste des Herzens, großmütig dem Anderen zu verzeihen. Tatsächlich gehört zum vorbehaltlosen wirklichen Verzeihen sehr viel Mut, den der ängstlich an sich selbst Zweifelnde gar nicht zur Verfügung hat.

Noch ergreifender wird dieses Dilemma durch die zwar ausgesprochene, in der Seele aber nicht wirklich vollendete Verzeihung. Partner, die sich anpassen, sind im Grunde wider Willen nachtragend. Sie können nicht vergessen. Mag die Versöhnung auch im liebenden Beischlaf besiegelt werden, der Schmerz über erlittenes Unrecht brennt doch heimlich weiter und wird auf diese Weise für den Partner zur Schuldfalle. Ohne dass darüber noch gesprochen wird, bleibt oft jahrelang der stumme Blick, der den Partner daran erinnert, dass er ein schlechtes Gewissen haben muss. Ohne dass beide es artikulieren können, lastet das Unverzeihliche auf der Seele. Durch ihre ängstliche und zurückhaltende Bescheidenheit wirken Anpasser ungefährlich, fast harmlos, und doch setzen sie sich auf stille Art durch. Sie manipulieren, statt zu konfrontieren. Die Angst und das Misstrauen, der Andere könnte etwa erneut untreu werden, lauert dann jahrelang. Und es ist wahrscheinlich, dass es dadurch zu einer Art sich selbst erfüllender Prophezeiung (Schnepper 2004) kommt: Irgendwann passiert es tatsächlich, dass der Täter erneut schuldig wird.

Der sich durchsetzende und selbstbehauptende Partner

Aus Angst vor Fremdbestimmung und unter dem Zwang zur Selbstbehauptung verweigern die zur Durchsetzung Neigenden das Verzeihen, indem sie vielfach heftig und laut werden. Sie neigen dazu, den Partner häufig zu kritisieren, Vorwürfe zu machen, gar zu demütigen und ihn zu beschämen. Um sich selbst zu schützen, klagen sie an. Ihre schnelle, ständige und überschießende Kränkungsbereitschaft macht sie immer wieder zu einem Pulverfass, das unerwartet und jederzeit explodieren kann. Sie sehen das zwar manchmal ein – und werden doch rückfällig. Sie tun sich sehr schwer, um Verzeihung zu bitten oder auch nur den ersten Schritt in Richtung Versöhnung anzubieten. Sie empfinden eine solche Geste als Selbsterniedrigung, wie einen Kniefall vor dem Gegner. Sie fühlen dabei Ehrverlust und verletzten Stolz. Dieser Stil der Durchsetzung ist besonders unter Männern verbreitet. Um Verzeihung bitten wirkt unmännlich, weil dabei eine Abhängigkeit entsteht, die alte kindliche Ohnmachtsgefühle aktiviert. Sich der Gnade des anderen auszuliefern und der Gefahr der Zurückweisung ausgesetzt zu werden ertragen sie nicht. Selbstbehauptung geht vor Selbstüberwindung.

Sie sind in der Beziehung die Offensiven. Selbst das Gewähren von Verzeihung bedeutet für sie Schwäche, Gesichtsverlust und eigene Beschämung. Sie agieren daher mehr oder weniger mit aggressiven Impulsen, denn sie fühlen sich durch das Ansinnen zu verzeihen in ihrer Selbstbestimmung bedroht. Verzeihung erbitten und gewähren gibt dem Anderen eine Macht, die zur Fremdbestimmung führen könnte. Dieser Bedrohung, sei sie auch noch so klein, begegnen sie, um dem Anderen nicht Recht geben zu müssen, oft mit unangemessener Aggression. Daher wirken sie, durch den ihnen eigenen Unterton, auch ohne Gewaltanwendung oft drohend und häufig angreifend. Sie drohen lieber mit Trennung, als »klein beizugeben«. Und selbst wenn sie als Schuldige entlarvt sind, kontern sie sofort mit Gegenangriff und eigenen Schuldvorwürfen. Sie greifen an, um sich zu verteidigen. Sie lösen dadurch häufig Angst beim Gegenüber aus. Sie setzen sich durch und werden dabei ungerecht.

Nur wenn sie sich ganz sicher und überlegen fühlen, können sie, wenn der Hauptgefühlssturm vorbei ist, überraschend einlenken, wieder versöhnlich werden und alles vergessen. So aufbrausend sie auch sind und so sehr sie um sich schlagen, so gutmütig können sie danach wieder freundliche Seiten aufscheinen lassen. Sie sind nicht nachtragend. Manchmal ärgern sie sich selbst, dass sie den Streitanlass vergessen haben. Sie können sich die Kränkungen durch den Partner gar nicht merken. Sie nehmen sich dann vor, alles einmal aufzuschreiben und Buch zu führen, tun es aber nie.

Der planende und kontrollierende Partner

Aus Angst vor zu starken Gefühlen und Kontrollverlust bei sich selbst oder dem Partner verweigern diese sonst so korrekten Menschen das Verzeihen, indem sie sich in Schweigen hüllen. Bei Kritik unterbrechen sie sofort jeden Dialog und fallen in Erstarrung. Sie können schweigen, tagelang, manche sogar wochenlang, manchmal gnadenlos. Sie sind oft beleidigt, leicht kränkbar, empfindlich wie ein rohes Ei. Sie werden aber nicht laut, sondern treten den Rückzug an. Sie lassen den Partner schmoren. Sie vergessen keine Kränkung, addieren eher die eine zur anderen. Dort, in ihrer Nische des Gekränktseins, können sie sich erstaunlich selbstgenügsam einrichten, fühlen sich sogar noch wohl dabei und sind überzeugt, damit im Recht zu sein. Insgeheim hoffen sie allerdings, ohne sich das einzugestehen, der Andere möge wieder den ersten Schritt tun, weil der so sehr leidet, dass er nachgibt und von sich aus um Verzeihung bittet.

Gefühlsausbrüche gibt es nur selten, denn sie haben sich allzu sehr unter Kontrolle. Sie leiden zwar selbst unter dieser Starrheit, manchmal auch Sturheit, aber sie erlauben sich und dem Partner keinerlei heftigen Gefühle. Sie reagieren und wirken dadurch nach außen eher distanziert, oft gefühllos, manchmal unerreichbar, oft hart mit sich selbst, aber auch mit dem Partner, während sie innerlich voll drängender Emotionen sind. Wie ein beleidigtes Kind wollen sie aus der Schmollecke herausgebeten werden.

Ihre Selbstwahrnehmung lässt oft keine Kritik zu. Ihr Hauptdilemma: Sie können das Problem bei sich selbst gar nicht erkennen. Stattdessen verfügen sie manchmal über eine brillante intellektuelle Rechtfertigung. Der Druck, Recht haben zu müssen oder sich zu rechtfertigen, wird geradezu zum Zwang. Um Verzeihung zu bitten oder als Erster den Schritt zur Versöhnung zu tun ist für sie noch schwerer, als Verzeihung zu gewähren. Dem Anderen zu vergeben fällt genauso schwer wie eigene Fehler zuzugeben. Sie können es nicht ertragen, ins Unrecht zu geraten, schuldig zu sein. Sie haben Angst, ihr Gesicht zu verlieren, ihren Ruf und ihr Ansehen. Sie sind in erster Linie um sich selbst besorgt, nicht weil sie egoistisch sind, sondern weil sie übergroße Angst haben, dann als der Schuldige zu gelten.

In seltenen Momenten, vielleicht, wenn das Flehen des Anderen die starren Mauern aufweicht, können sie tatsächlich mitweinen, Verständnis zeigen, die Tür zu ihrem Herzen einen Spalt öffnen und weich werden. Diese Sternstunden sind kostbar, aber selten. In solchen Momenten ist die Versöhnung mit ihnen wunderbar, doch kurz danach schämen sie sich für diese »Schwäche« und erstarren von Neuem. Ihre Angst besteht tatsächlich darin, sich weich zu zeigen, weich zu werden, weil sie dann befürchten, der Andere könne sie in der Hand haben. Deshalb delegieren sie das Suchen nach Liebe und Verzeihen auch überwiegend an den Partner, wie Markus nach einem Seminar schrieb:

Agnes, ich habe bis vor einiger Zeit Dir die Arbeit, die Mühe, die Tränen dafür überlassen, mich von meiner Ahnenbotschaft zu erlösen (von den Altlasten der Herkunftsfamilie – der Autor). Ich habe mich von Deiner Liebe tragen lassen. Manchmal habe ich mich sogar davon abgeschaltet, diese Liebe zu spüren, nur um nicht in meiner Ruhe gestört zu werden. Ich merke, während ich dies schreibe, welche Brutalität in diesem Satz liegt. In wie vielen Konflikten konnte ich sicher sein, dass Du den Anfang der Wieder-Annäherung machst, und habe nur gewartet. Oft konnte ich Dein Bemühen um mich spüren und konnte auch meine Ängste vor Zärtlichkeit und meine Blockaden spüren, aber Dir habe ich es aufgeladen, sie zu besänftigen und zu durchbrechen. Ich glaube, manchmal habe ich schon gemerkt, worum es ging, und war einfach bequem.

Bitte verzeih mir, dass ich Dir so viel aufgeladen habe. Manchmal – glaube ich – habe ich mich herzlos gemacht, um Dir noch mehr aufladen zu können. Dafür bitte ich Dich um Verzeihung. Markus

Der intuitive und unverbindliche Partner

Intuitive Partner sind eher weich und können sich in ihrer Sensibilität schlecht selbst schützen. In ihrer Gefühlsüberschwänglichkeit öffnen sie alle Herzen, fühlen mit und fühlen sich ein, finden aber in sich selbst keine Mitte. Sie laufen Gefahr, sich in ihren Gefühlen selbst aufzulösen oder gar in den Gefühlen des Anderen sich zu verlieren. Sie haben zu wenig Selbstgefühl vor lauter Mitgefühl. Aus Angst, mit ihrer eigenen Gefühlshaftigkeit sich nicht abgrenzen oder die eigenen Grenzen nicht vertreten zu können, verweigern sie das Verzeihen, indem sie erst einmal so tun, als ob sie gar nichts bemerkt hätten, als ob es gar keine Kränkung gäbe. Sie reden darüber hinweg, verharmlosen den Vorfall oder lächeln, manchmal etwas unpassend und gequält. So herzzerreißend sie auch weinen mögen, können sie doch im nächsten Moment schon wieder Scherze machen. Der Täter wird sich dadurch seiner Tat kaum bewusst oder sieht sich nicht genötigt, sich damit auseinanderzusetzen. Alles wirkt eher leicht und unbeschwert. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (Kundera 1984) steht im Vordergrund. Das ist zunächst ganz angenehm, besonders für den Verursacher. Auf Dauer aber wird deutlich, dass dadurch ein gewisser Tiefgang fehlt. Der Schmerz, den eine Kränkung mit sich bringen würde, wird schon gar nicht zugelassen, wird verdrängt und geleugnet. Die Angst vor Auseinandersetzung und Konflikten ist so groß, dass sie gar nicht wahrgenommen werden. Es gibt dann einfach nichts zu verzeihen.

Im Auf und Ab der Gefühle, gerade noch himmelhoch jauchzend und dann wieder zu Tode betrübt – in diesen Wechselbädern findet die Seele keinen Halt. Aber wo der wirkliche und durchtragende Tiefgang fehlt, da fehlen auch die Höhenflüge, die echtes Glück bescheren. Die Gefühle werden in der Tiefe nicht ausgelebt, gewinnen dadurch auch keine Beständigkeit. Innige Hingabe und schmerzliche Kränkung, sie verflachen und zerfließen beide gleichermaßen. Diese Strategie der Verdrängung erstreckt sich auf alle Gefühlsbereiche, das Leben und die Liebe spielen sich nur an der Oberfläche ab.

Wird die Kränkung aber so groß, dass sie gar nicht mehr weggewischt oder übergangen werden kann, dann sind eine Auseinandersetzung darüber und ein wirkliches Verzeihen gar nicht mehr möglich. Entweder werden die Intuitiven dann von ihren Gefühlen überschwemmt und stürzen ins Bodenlose oder sie trennen sich einfach, ohne Vorwarnung. So zog die Frau eines Klienten auf einer Party nachts um 2 Uhr ohne irgendeinen Kommentar mit einem anderen Mann davon. Sie kehrte nie mehr in das gemeinsame Haus zurück. Eine Auseinandersetzung, ein Gespräch oder eine Aussprache, kam nie mehr zustande.

Diese vier beschriebenen Partnerstile sind zwar wichtige Persönlichkeitsmerkmale, aber sie können sich natürlich im Lauf der persönlichen Entwicklung verändern. Diese Sichtweise der Paarsynthese, dass nämlich Fähigkeit und Vermögen zum Verzeihen, Versöhnen und Wiedergutmachen vom Entwicklungsstand der Persönlichkeit und ihrer jeweiligen Entfaltung der Partnerstile abhängen, verdeutlicht noch einmal, dass es hier nicht um eine rein willentliche Entscheidung geht. Es bedarf dazu einer gewissen Kompetenz der Persönlichkeit. Nicht jeder verfügt darüber und ist so weit gereift, dass er in innerer Freiheit wählen kann, ob er verzeiht oder nicht. Andererseits eröffnet sich ein hoffnungsvoller Horizont: Verzeihen wird möglich durch Nachreifen der Persönlichkeit mithilfe von seelischem Lernen. Dann kommen die positiven Seiten dieser Partnerstile mehr und mehr zum Tragen und ergänzen sich sinnvoll, um der jeweiligen Anforderung der Situation mit dem Partner gerecht zu werden. Aus der Anpassung erwächst dann Friedfertigkeit, aus der Durchsetzung erwächst sinnvolle Selbstbehauptung, aus der Planung wird zuverlässige Verantwortungsbereitschaft und aus der Intuition schließlich entfaltet sich einfühlsame Verständigung.

Wer kann verzeihen?

Diese Frage gibt erneut Anlass, uns selbst zu fragen, ob wir persönlich zu den Verzeihenden oder den Nichtverzeihenden gehören. Zudem regt die Frage an, darüber nachzudenken, welche Partnereigenschaften uns selbst kennzeichnen oder bei uns besonders ausgeprägt sind. »Was für ein Partner bin ich?«, wird für viele zur herausfordernden Frage. Leider aber beantworten sie viele nicht konsequent, denn es kostet Mühe, sich darauf einzulassen. Ein kurzer Partnerschaftstest (Cöllen 2003) kann die tiefere Auseinandersetzung damit erleichtern, besonders wenn die Partner diesen zunächst für sich selbst, dann aber auch gegenseitig ausfüllen und auswerten. Doch es gibt darüber hinaus noch einen sehr aussagefähigen intuitiven Schnelltest, der an einem einzigen Kriterium misst, welche Kompetenz als Partner wir mitbringen. Ob wir wirklich kompetente Partner sind, lässt sich nämlich am schnellsten und eindeutigsten daran messen, ob wir selbst auf gute Weise verzeihen und um Verzeihung bitten können.

Die Fähigkeit zum Verzeihen, sie ist das Reifezeugnis für die Liebe. Wer sie erworben hat, der besitzt die Lizenz zum Lieben. Sie gewährleistet die menschliche Kompetenz, die erforderlich ist, um die vielfältigen und notwendigen Auseinandersetzungen mit dem Partner richtig auszusteuern. Die Fähigkeit zum Verzeihen schließt gleich mehrere andere Fähigkeiten mit ein, die zusammen den liebevollen, konstruktiven seelischen Austausch mit dem Partner gewährleisten. Wer die unten angeführten Bereitschaften, vielleicht auch Fähigkeiten mitbringt, kann sicherlich verzeihen, wo es nötig und wichtig ist. Jeder möge sich selbst prüfen.

Der selbstkritische Partner