Liebe von Zauberhänden gemacht - Mara Raabe - E-Book

Liebe von Zauberhänden gemacht E-Book

Mara Raabe

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Beschreibung

Zum ersten Mal findet in der Schönheitsklinik Fortini in Stresa am Lago Maggiore ein Kongress für Ärzte und Fachanwälte für Medizinrecht statt. Doch es liegt ein Schatten über dieser Veranstaltung: Seit Monaten drohen Aktivisten diesen Kongress als Plattform zu nutzen, um gegen Schönheitswahn und Schönheitsoperationen zu protestieren. Im Mittelpunkt dabei steht ein Bild zweier Brüste mit schwarzen Löchern, wo einst Brustwarzen waren. Immer wieder taucht es in der Klinik auf. Der Seniorchef Dr. Raimondo Fortini und sein Neffe Dr. Remus Alexander Fortini sehen dieser Schmutzkampagne zunächst gelassen entgegen ... Remus schwelgt zudem in neu entbrannter Liebe zu Flora von Rother, einer Fachanwältin für Medizinrecht aus Florenz, die ebenfalls an dem Kongress teilnimmt. Über zwei Jahre waren sie ein Paar, bis Remus zur Weiterbildung ins Ausland ging. Kurze Zeit später brach jeder Kontakt zwischen ihnen ab. Erst jetzt, zehn Jahre später, erfährt Remus von Floras schwerem Autounfall, der ihr Leben auf den Kopf stellte.

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Liebe von Zauberhänden gemacht

Mara Raabe

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet - www.herzsprung-verlag.de

© 2022 – Herzsprung-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2022

Lektorat und Herstellung: CAT creativ

www.cat-creativ.at

Cover: © germancreative

ISBN: 978-3-98627-024-7 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-98627-025-4 - E-Book.

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Inhalt

2017 - Mailand

Freitag: 2018 Frankfurt/Main – Lago Maggiore

2017 - Mailand

Samstag

2017 - Mailand

Sonntag

2017 - Mailand

Montag

2017 - Mailand

Dienstag

2017 - Mailand

Mittwoch

2017 - Mailand

Donnerstag

2017 - Mailand

Freitag

Die Autorin

Buchtipp

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2017 - Mailand

Ihr Traum rückte in greifbare Nähe. Nur eine Woche noch würde es dauern. Aber Geduld zu haben, hatte sie in den letzten Jahren gelernt. Allein, um sich diese Reise jetzt leisten zu können, hatte sie über zwölf Monate einen Teil ihres Gehaltes gespart.

Es war ein besonders heißer August in diesem Jahr in Mailand und ihre Freunde hatten nur den Kopf geschüttelt, dass sie sich ausgerechnet jetzt dieser Prozedur unterziehen wollte.

„Seht es als Urlaubsreise“, hatte sie allen erklärt. „Eine Woche all-inclusive für nur knapp 2000 Euro, das kann man sich nicht entgehen lassen. Es gibt nur positive Bewertungen im Internet und wenn ihr die Bilder seht, am Anfang und am Ende, einfach umwerfend.“ Dabei hatte sie in die Hände geklatscht und war vor Glück hin und her gesprungen.

Und wenn sie sich etwas vorgenommen hatte, dann ließ sie sich auch nicht mehr so leicht davon abbringen. Wie hatte ihre Mutter gesagt? „Jeder Mensch hat ein Talent oder etwas Besonderes, das er nutzen sollte, um im Leben was zu erreichen.“ Sie hätte bei sich eigentlich nicht lange suchen müssen. Mutter Natur hatte es ihr sozusagen mit in die Wiege gelegt. Nur war es ihr zunächst nicht bewusst.

Nun aber war endlich der Tag gekommen, auf den sie so lange hingearbeitet hatte. Die Reisetasche war gepackt und es war mitten in der Nacht, als sie sich zum Busbahnhof aufmachte. Sie musste sparen, ein Flug war nicht in ihrem Budget enthalten. Der Bus war nicht voll besetzt und so hatte sie zwei Sitze zur Verfügung und ein erstes Urlaubsfeeling überkam sie. Nur hin und wieder beschlich sie ein Angstgefühl, das sie aber schnell beiseiteschob.

Irgendwann war sie dann eingeschlafen und erwachte erst wieder, als die ersten Sonnenstrahlen den neuen Tag ankündigten. Sie sah, dass sich der Bus langsam der Grenze näherte. Ihr Ziel war nun nicht mehr fern und ihre Aufregung wuchs. Noch nie war sie ganz alleine in ein Land gereist, dessen Sprache sie nicht verstand. Aber im Internet versprach man, dass es Ansprechpartner auch in ihrer Sprache geben würde.

Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und es gab ihr ein warmes und dankbares Gefühl, wenn sie daran dachte, dass es ihr gelungen war, das Besondere an sich zu entdecken. Schon als kleines Mädchen hatte sie danach gesucht, hatte sich vor dem Spiegel hin und her gedreht und überlegt, ob nicht Tanzen vielleicht ihr ganz besonderes Talent sei. Nachdem aber der Applaus ausgeblieben war, hatte sie es mit Singen versucht. Doch sie hatte sich selbst eingestehen müssen, dass sie auch damit niemanden würde überzeugen können. Letztlich hatte sie es ihrem Umfeld zu verdanken, das sie immer wieder auf ihre Besonderheit aufmerksam machte. Kein Talent im klassischen Sinne, eher ein Phänomen und auch einzigartig war vielleicht übertrieben, aber es war etwas, auf das man aufbauen konnte.

Der Zollbeamte lächelte sie an, sah ihr in die Augen, ein wenig zu intensiv, fand sie, blätterte in ihrem Pass und wünschte ihr dann einen angenehmen Aufenthalt in seinem Heimatland. Wie immer war sie davon überzeugt, es war sie selbst, was ihn in seinen Bann gezogen hatte. Denn ihr Talent lag zweifellos weder im Sport, im Musischen, noch im Praktischen, nein, es war einzig und allein ihr Körper, der ihr helfen würde, ganz nach oben zu kommen.

Noch aber war der nicht in allen Bereichen perfekt, doch da konnte nachgeholfen werden. Dafür hatte sie die letzten Jahre hart gearbeitet, Überstunden im Büro gemacht, hatte sich nicht geschont. Hauptsache, am Ende des Monats blieb genügend Geld übrig. Und nun endlich war es so weit.

Sie schaute aus dem Fenster und fächelte sich mit einer Zeitschrift etwas Kühlung zu. Selbst so früh am Morgen war es im Bus schwülwarm. Sie dehnte und streckte ihre Arme und Beine und trank aus ihrer Wasserflasche. Sie hatte Urlaub und, auch wenn das Kommende noch im Nebel lag, die Vorfreude durchströmte warm ihren Körper und ihre Gedanken planten ein Leben im Glamour und Wohlstand, eines High Society-Stars würdig.

Nachdem sie die Grenze passiert hatten, fuhr der Bus weiter und sie machte es sich auf ihren beiden Sitzen wieder gemütlich. Die Straßen waren nicht mehr ganz so gut geteert wie in Italien und es ruckelte ganz schön. Sie hätte gerne was gelesen, aber bei dem Schaukeln wurde ihr übel. So schaute sie aus dem Fenster und versuchte erst einmal, das Kommende auszublenden. Es war wenig Verkehr und sie genoss die Landschaft, die an ihr vorbeiflog. Zu beiden Seiten gelbe Kornfelder, die auf die Ernte warteten, unterbrochen von grünen Weideflächen, auf denen geruhsam schwarz weiß gefleckte Kühe grasten, und einzelne Bauernhöfe, die wie kleine Oasen die Landschaft belebten. Die Menschen schienen freundlich zu sein, denn sie winkten ihnen zu und die Kinder hoben ihre kleinen Hände hoch, in der Hoffnung, etwas geschenkt zu bekommen.

Sie lehnte sich zurück, aber als sie die Augen schloss, waren sie plötzlich wieder da, die warnenden Stimmen, denen sie kein Gehör geschenkt, sondern sie aus ihren Gedanken verbannt hatte. Sie wollte glauben, was im Internet stand, den vielen positiven Stimmen und den schönen Fotos vertrauen und sich nicht an dem sensationell niedrigen Preis stören. Schon gar nicht sich eingestehen, dass dieser möglicherweise ein Risiko darstellen könnte.

*

Freitag: 2018 Frankfurt/Main – Lago Maggiore

Er ließ die Zeitschrift sinken. Die Worte, die er las, ergaben für ihn keinen Sinn – aneinander gereihte Begriffe, leer und ohne Inhalt. Aber er wusste, es waren seine grauen Zellen, die sich weigerten, den Text zu verstehen und an nichts anderes zu denken, als an den Anruf seines Onkels gestern Abend.

Remus Alexander Fortini legte das Blatt beiseite, erhob sich aus dem unbequemen dunkelgrünen Ledersessel und ging die paar Schritte zum Fenster. Das Hotel lag zentral in der neuen Frankfurter Altstadt. Von hier aus dem zweiten Stock schaute er herab auf eine bunte Menschenmenge, die vor dem Römer stand. Nur die wenigsten wussten, dass lediglich das mittlere der drei Häuser mit den charakteristischen Treppengiebelfassaden das Zentrum der Stadtpolitik war. Touristen aus aller Herren Länder liefen mit Handys und Fotoapparaten herum, um möglichst viele Eindrücke im Bild festzuhalten. Und auch jetzt noch, Mitte September, wollte der Besucherstrom nicht enden.

Das Wetter meinte es ebenfalls gut mit den Interessierten. Die Sonne schien und selbst am späten Nachmittag konnte man auf eine dickere Jacke verzichten. Und doch fröstelte es Remus. Die Sonne war nicht zu vergleichen mit der Wärme Italiens und er freute sich, morgen dahin zurückkehren zu können. Aber er hatte es auch genossen, für eine Woche hierher zurückzukommen, wo er einige Zeit gelebt und sein Studium beendet hatte.

So gehörte es auch wie selbstverständlich für ihn dazu, dieses Jahrhundert-Bauprojekt Frankfurter Altstadt zu bewundern, was er am Tag zuvor gemacht hatte. Er war den Krönungsweg zwischen Dom und Römerberg gegangen und hatte das Prunkstück des Wiederaufbaues, das Haus zur goldenen Waage, in Bild und Video festgehalten. 2012 hatte man begonnen und in nur fünf Jahren Plätze und Straßenzüge getreu der historischen Vorlage wieder aufleben lassen.

Doch auch dieser Anblick konnte ihn im Moment nicht wirklich aufheitern. Seine Gedanken kreisten einzig und allein um den Kongress nächste Woche am Lago Maggiore, dessen Hauptakteur er neben seinem Onkel Raimondo sein würde. Und jetzt diese plötzliche Bedrohung. So zumindest empfand er es, auch wenn bislang noch keine Forderungen gestellt worden waren.

Er ging ins Bad. Aus dem Spiegel schaute ihm ein sonnengebräuntes Gesicht an, schmal, mit aristokratischer Nase und markantem Unterkiefer. Das volle, dunkelbraune, leicht gelockte Haar trug er kurz geschnitten. Er musste lächeln, wenn er an die immer wieder gestellte Frage nach seinem Aussehen dachte. Nein, keine Schönheitsoperationen waren dafür notwendig geworden. Es war das Erbe seiner italienischen Mutter und seines deutschen Vaters und wie er war er ein Meter zweiundachtzig groß. Nur bei der Figur, schlank und muskulös, hatte das Fitnessstudio nachgeholfen. Er war jetzt fünfunddreißig Jahre alt, in Deutschland geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur aber hatte es ihn hinaus in die Welt gezogen. Ein Jahr war er herumgereist, von Amerika nach Australien und über Asien zurück in seine Heimat. Es war sein Onkel gewesen, der ihn ermuntert hatte, zurückzukommen und mit dem Medizinstudium zu beginnen.

„Ja, Onkel Raimondo“, dachte er und hatte wieder auf dem unbequemen grünen Sessel Platz genommen. Er war der Bruder seiner Mutter und ebenso wie sie von Mutter Natur reichlich mit Schönheit bedacht worden. Und dessen war sich sein Onkel immer bewusst gewesen. Er zog die Frauen an wie Motten das Licht und hatte früh beschlossen, das später mal in seinem Beruf zu nutzen. So war er am Ende Schönheitschirurg geworden. Hatte eine eigene Klinik in Stresa am Lago Maggiore, wo er den Schönen und Reichen dieser Welt mit Hingabe und viel Technik zu einem neuen Selbstbewusstsein verhalf. Aber es war nicht allein sein Können, die Landschaft, das Wetter und das köstliche italienische Essen unterstützten ihn bei seinem Bemühen. Trotz allem aber war sein Onkel immer Realist geblieben. Er wusste, es würde nicht ewig so weitergehen, und was er trotz all seines Erfolges nicht geschafft hatte, war, eine Familie zu gründen. Er war zweimal verheiratet gewesen. Die Ehen aber waren nicht von langer Dauer. Und er war niemals Vater geworden. Ob es an ihm lag oder einfach nicht geklappt hatte, das hatte er nie hinterfragt. Er gab ehrlich zu, Kinder nicht vermisst zu haben. Erst als die Frage nach einem möglichen Erben aufkam, war ihm das bewusst geworden.

Und so war er, sein Neffe und Sohn seiner Schwester, in seinen Fokus geraten. Remus Alexander hatte zweifellos die Schönheit der Familie geerbt. War darüber hinaus intelligent und stand einem Medizinstudium nicht ablehnend gegenüber. Auf die Unterstützung seiner Schwester konnte Raimondo bauen, die sich nichts sehnlicher wünschte, als dass ihr Sohn nach Italien ziehen würde. Deutschland war ihre zweite Heimat geworden, im Inneren aber war sie Italienerin geblieben.

Das alles ging Remus durch den Kopf, während er versuchte, Klarheit in sein derzeitiges Leben zu bekommen.

Seine Gedanken wurden vom Klingeln seines Handys unterbrochen. Auf dem Display sah er, dass es Jonathan war. Er war sein bester Freund und Kollege. Sie hatten sich zu Beginn ihres Studiums kennengelernt und niemals wieder richtig getrennt. Inzwischen waren sie auch beruflich miteinander verbunden und Jonathan würde mit ihm nach Stresa kommen. Das war auch der Grund, dass er selbst eine Woche hier in Frankfurt verbracht hatte. Zusammen mit Jonathan hatte er den wissenschaftlichen Teil des bald stattfindenden Kongresses in Stresa vorbereitet, morgen würden sie zusammen nach Mailand fliegen.

„Gibt es was Neues an der Front?“ Wie immer klang sein Freund fröhlich und unbeschwert. „Was machst du gerade? Wie wäre es mit einem kurzen Abstecher nach Sachsenhausen? Kleine Schweinshaxe essen, bevor wieder nur Nudeln angesagt sind? Ich könnte dir bei der Gelegenheit noch etwas zeigen, was dich möglicherweise überraschen könnte.“

„Dein heiteres Gemüt möchte ich haben“, klagte Remus. „Ja und nein, es gibt nichts Neues. Oder vielleicht doch. Erzähle ich dir, wenn wir uns sehen. Essen ist okay, aber Schweinshaxe kommt mir nicht auf den Teller und dir auch nicht“, fügte er schnell hinzu. „Das macht Pickel.“

„Warum Schönheitsärzte immer so Spielverderber sein müssen.“ Auch dieser Satz wurde beendet mit einer Lachsalve.

Remus legte das Handy beiseite und schaute auf die Uhr. Jonathan würde in einer halben Stunde da sein. Da konnte er sich in Ruhe umziehen und noch einmal seine Aufzeichnungen durchgehen. Er ging zu dem kleinen Schreibtisch neben dem Fenster und nahm einen weißen Ordner in die Hand. Mit großen Lettern stand auf dem ersten Blatt:

Drs. Raimondo und Remus Fortini

Fachärzte für plastische und ästhetische Medizin

Erfahrungsberichte der letzten Jahre von über fünfhundert durchgeführten Brust- und Nasenkorrekturen in unserer Klinik Fortini in Stresa.

Eingeladen sind Fachärztinnen und Ärzte dieser Disziplin, als auch Anwältinnen und Anwälte für Medizinrecht.

Über die Teilnahme der Juristen hatte Remus sich gewundert. Irgendwann war sein Onkel mit der Idee an ihn herangetreten, Fachanwälte einzuladen. Eine weitere Diskussion hatte Raimondo nicht zugelassen und Remus hatte auch keine Argumente dagegen vorzubringen.

Wenn er an den nächste Woche stattfindenden Kongress dachte, der erste in der Klinik Fortini in Stresa, erfüllte ihn das schon mit Stolz. Mehr als sechs Jahre hatte seine Ausbildung gedauert und hatte ihn unter anderem einige Jahre ins Ausland geführt, bevor er vor vier Jahren in Frankfurt seinen Facharzt erhielt. Kurz danach hatte er Deutschland verlassen und war der Bitte seines Onkels Raimondo gefolgt und zu ihm an den Lago Maggiore gezogen.

Später als er selbst hatte sich auch Jonathan für den Beruf eines Arztes für plastische Chirurgie entschieden. Während für ihn selbst nur die ästhetische Chirurgie infrage kam, war es Jonathan ein Anliegen, angeborene Fehlbildungen zu korrigieren und Unfall- und Krebsopfern wieder zu einem lebenswerten Aussehen zu verhelfen. Er war in der Klinik in Frankfurt geblieben, wo er die besten Möglichkeiten für eine erfolgreiche Behandlung sah. Inzwischen war er Privatdozent und gefragter Gastredner auf Kongressen.

„Einerseits bin ich froh, dass du dich so entschieden hast“, hatte Remus seinem Freund einmal gesagt. „So können wir unsere Erfahrungen austauschen. Andererseits – am allerliebsten hätte ich dich ganz bei mir am Lago Maggiore. “

Mehrmals im Jahr verbrachte Jonathan einige Wochen bei ihm und auch Raimondo zeigte sich hocherfreut von diesen Besuchen.

Den jetzt stattfindenden Kongress in seiner Klinik Fortini hatten sie ebenfalls zu dritt geplant und inzwischen die letzten Punkte des Programmes fertiggestellt.

Da sie morgen zusammen nach Italien fliegen würden, war Remus daher verwundert, dass sein Freund jetzt kommen wollte. Wäre es nicht normaler, er würde den letzten Abend mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Töchtern verbringen, statt mit ihm um die Ecken zu ziehen?

Wie Remus richtig kalkuliert hatte, klopfte es eine halbe Stunde später an der Tür und ein gut gelaunter Jonathan begrüßte ihn. Zu einer hellen Jeans trug er ein maisgelbes Poloshirt und über die Schultern gehängt einen gelb-blau gestreiften Pullover. Er war ebenso schlank wie Remus, allerdings etwas größer und trug die dunkelblonden Haare kurz geschnitten wie sein Freund. „Ich soll dir schöne Grüße von Sophia bestellen. Sie gibt mir bis zehn Uhr frei. Dann möchte sie mich noch mal zum Abschiednehmen haben.“

Sein verschmitztes Grinsen brachte nun auch Remus zum Lachen. „Okay, dann sage ihr danke. Ich bin schon froh, dass du gekommen bist.“ Er versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben.

Jonathan war ans Fenster getreten. „Einen tollen Blick hast du von hier. Ich könnte stundenlang durch die Gassen wandern, nur hier wohnen, nein, das wäre nichts für mich. Da bevorzuge ich doch eine Gegend mit etwas mehr Natur.“ Er hatte sich umgedreht und seine Stimme klang plötzlich ernst. „Was ist passiert? Irgendetwas stimmt doch nicht, oder?“

Remus ließ sich in den grünen Ledersessel fallen und nickte. „Mein Onkel hat gestern Abend angerufen. Es gab einen Anruf und etwas später fand er ein Foto in seinem Briefkasten.“

„Ein Foto? Kam es mit der Post?“

Remus schüttelte den Kopf. „Der Anrufer sagte so etwas in dem Sinn von: In Ihrem Briefkasten liegt ein Foto. Es wird in den nächsten Tagen in der Zeitung zu sehen sein.“

„Und weiter?“

„Nichts weiter, das ist das Problem. Du weißt, Raimondo ist sehr spontan und schnell in Rage zu bringen. Hat wohl: „Fuck you“, gebrüllt und das Gespräch beendet.“

„Und der Anrufer hat sich nicht noch mal gemeldet? War es eine Frau oder ein Mann?“

„Genauso so ist es. Sie hat sich nicht noch einmal gemeldet. Die Stimme war zwar etwas verstellt, aber Raimondo ist sich sicher, es war eine Frau.“

Jonathan zog sich den anderen Sessel herbei. „Und was war es für ein Foto?“

Remus sprang auf und holte sein Handy, das auf der Fensterbank lag. „Es ist dieses. Warte, mein Onkel hat es mir auf Whatsapp geschickt. Hier, schau selbst.“

Jonathan runzelte die Stirn und blickte seinen Freund verwundert an. „Zwei Brüste? Und was sollen diese schwarzen Flecken in der Mitte sein?“

„Absterbende Brustwarzen, nehme ich an.“

Eine Weile herrschte Schweigen.

„Krass“, meinte Jonathan schließlich. „Würde sagen, die Operation war nicht wirklich erfolgreich. Nur, was soll das Ganze? Wem gehören diese Prachtdinger eigentlich?“

„Hör auf zu grinsen. Kannst du nicht einmal ernst sein?“

„Sorry, aber ich muss mich erst einmal an diesen Anblick gewöhnen. Wer hat die Operation denn gemacht?“

Remus zuckte mit den Schultern. „Weder mein Onkel noch ich wissen, wessen Busen das ist. Es muss überhaupt keine Operation in unserer Klinik gewesen sein. Es gibt nur den Anruf, das Foto und die Drohung, an die Öffentlichkeit zu gehen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

Jonathan war aufgestanden und wieder zum Fenster gegangen. „Das Ganze sieht nach Erpressung aus. Hat der Anrufer denn irgendwelche Forderungen gestellt?“

„Nichts, aber wie ich sagte, mein Onkel hat ja gleich das Gespräch weggedrückt. Und ein weiteres Mal hat die Betreffende sich nicht gemeldet.“

Jonathan legte den Arm um seinen Freund. „Entspann dich erst einmal. Sollte dein Onkel tatsächlich an diesem Zustand schuld sein, er hat so viele Erfolge vorzuweisen und eine gute Haftpflichtversicherung hat er auch. Komm, lass uns essen gehen und dann erzähle ich dir etwas, was dich möglicherweise aufheitert.“

Remus rührte sich nicht.

„Ist noch was?“

„Und wenn ich derjenige war, der operiert hat?“

Jonathan schüttelte den Kopf. „Es muss doch feststellbar sein, ob in den letzten Monaten bei euch etwas schiefgelaufen ist?“

„Das hat mein Onkel geprüft. Da war nichts, aber das Foto kann ja auch viel älter sein. Da war doch vor einem Vierteljahr schon einmal ein Anruf.“

„Hast du mir davon erzählt?“ Jonathan krauste die Stirn.

Remus schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Es war gar kein richtiger Anruf.“

„Verstehe ich nicht. Was war es dann?“ Er hatte wieder auf dem grünen Sessel Platz genommen.

„Es war in der Zeit, wo wir den Kongress geplant haben. Da gab es diesen Anruf. Es hat ihn aber nicht mein Onkel angenommen, sondern Giulia. Sie war danach ganz verstört.“

„Du meinst das Kunstobjekt, mit dem dein Onkel zusammenlebt? Werde nie verstehen, wie man an so etwas Gefallen finden kann.“

„Das verstehst du nicht, weil du kein wirklicher Schönheitschirurg bist. Du willst die natürlichen Zustände wiederherstellen, mein Onkel aber will Kunstwerke erschaffen. So nennt er das. Damit hat er sich seinen Namen gemacht und unsere Klinik weltbekannt. Sein Schönheitsideal sieht er übrigens in der Nofretete, der Gemahlin Echnatons im alten Ägypten.“

„Na, dann hat seine Giulia aber noch einige Operationen vor sich.“

„Sei nicht so sarkastisch“, ermahnte ihn Remus. „Für unsere Klinik ist Giulia von großem Nutzen. Man braucht auch ein Aushängeschild.“

Jonathan sah nicht überzeugt aus. „Dein Onkel ist letztes Jahr siebzig geworden. Eigentlich ein Alter, mal an die Rente zu denken. Würdest du Giulia in dem Falle, er zieht sich zurück, dann behalten?“

Remus schüttelte den Kopf. „Nein, sicher nicht, aber das steht auch nicht zur Debatte. Mein Onkel braucht das Bad in seinen Meisterleistungen. Doch zurück zu dem Anruf. Also, der ist bei Giulia gelandet und dem Wortlaut nach sollte sie ihm ausrichten, wenn wir den Kongress veranstalten würden, müssten wir mit einer bösen Überraschung rechnen. Das war alles. Einen weiteren Anruf gab es nicht und auch kein Foto, bis auf das, was ich dir eben gezeigt habe. Das, was jetzt gekommen ist.“ Remus war wieder zum Fenster gegangen. „Und am Montag beginnt der Kongress.“

Jonathan sah plötzlich ernst aus. „Ich finde das alles sehr sonderbar. Und du bist sicher, es gab keine weiteren Vorfälle?“

„Keine, von denen ich wüsste, aber jetzt, wo du das so sagst, könnte ich mir vorstellen, dass mein Onkel mehr weiß, als er mir erzählt hat. Neider gibt es in unserer Branche ausreichend.“

Jonathan war zu Remus ans Fenster getreten und hatte den Arm wieder um ihn gelegt. „Was könnte beim Kongress passieren? Wir müssen die Augen offen halten, was anderes können wir im Moment nicht machen. Ich werde heute Abend noch mit Sophia sprechen. Als Journalistin kennt sie sich mit solchen Drohungen besser aus.“

Während sie sich auf den Weg zum Essen machten, hing jeder seinen Gedanken nach. „Weißt du, was mich wundert ist, dass beide Brüste betroffen sind. Bei der Operation muss die Durchblutung der Brüste so gestört worden sein, dass es zum Absterben des Gewebes und der Brustwarzen gekommen ist. Aber gleich bei beiden?“ Remus hatte das mehr zu sich selbst gesagt. „Das macht es alles so unwirklich. Es handelt sich bei diesem Brüsten entweder um eine schlechte chirurgische Arbeit oder um eine Zweit- oder Drittoperation. Oder eine unzureichende Nachsorge.“

Jonathan nickte. „Deine Meinung teile ich voll und ganz. Und was hat Raimondo jetzt vor?“

„Du kennst doch meinen Onkel. Den Kopf tief in den Sand bohren und erst wieder rausziehen, wenn der Sturm vorbei ist.“

Jonathan stieß seinen Freund in die Seite. „Also bleibt es an uns beiden hängen. Ich habe das Empfinden, es könnte eine spannende Veranstaltung werden.“

Das wurde so pathetisch gesprochen, dass selbst Remus zu grinsen begann. „Wenn du doch nur einmal etwas ernst nehmen könntest“, stöhnte er. „Aber ich freue mich, dass ich deine Unterstützung habe.“

Nach einem kurzen Fußweg hatten sie ihr Lokal erreicht. Die Wirtin schaute etwas skeptisch. „Sie sehen, wie voll es ist. Ich könnte ihnen nur noch den Katzentisch da hinter der Säule anbieten. Immerhin können Sie sich da ungestört unterhalten. Liebespaare nehmen ihn sehr gern.“ Sie lachte.

Jonathan nickte. „Den nehmen wir. Ein Liebespaar sind wir zwar noch nicht, aber über genügend Gesprächsstoff verfügen wir schon.“

„Also ich esse auf alle Fälle den Handkäs mit Musik mit extra viel frischen Zwiebeln, Essig, Öl und Kümmel.“ Remus fuhr sich genüsslich mit der Zunge über die Lippen.

„Du meinst, jetzt isst du und die Musik machst du heute Nacht.“ Jonathan grinste vergnügt. „Das würde mir Sophia nie verzeihen.“

„Deshalb ist doch Kümmel dabei. Der hilft beim Verdauen. Und was nimmst du?“

„Nachdem du mir eine Schweinshaxe verboten hast, entscheide ich mich für das Schnitzel mit Salzkartoffeln und Frankfurter Grüner Soße. Und dazu trinken wir jeder ein Glas Ebbelwoi.“

„Wenn es denn sein muss.“ Remus verzog das Gesicht.

Das Essen kam sehr schnell und während sie sich genüsslich Bissen für Bissen in den Mund schoben, fragte Remus: „Was wolltest du mir eigentlich erzählen?“

Jonathan legte das Besteck beiseite und holte aus seiner Jackentasche ein gefaltetes Papier heraus. „Hast du schon mal einen Blick in die Teilnehmerliste geworfen?“

Remus schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, dass es vierzig Personen sind. Wir hatten es doch auf diese Zahl limitiert. Es soll ja ein Austausch an Erfahrungen möglich sein. Ich würde das Ganze nicht als Kongress, sondern eher als Workshop sehen, aber Raimondo war dieser Ausdruck zu profan.“

„Ich hatte bislang auch keine Ahnung, wer alles kommt, aber Sophia als Journalistin hat sich die Teilnehmer mal angeschaut.“ Er schob Remus die Liste hin. „Sieh mal Nummer vierunddreißig.“

Remus las, schaute seinen Freund an und las wieder. „Florentina von Rother? Du glaubst doch nicht, dass es unsere Flora ist?“

„Meine nicht, wohl eher deine. Doch, das glaube ich schon. Dazu ist der Name zu ausgefallen.“

Der Name ging Remus noch durch den Kopf als er längst schon im Bett lag. Jonathan hatte sich nach dem Essen verabschiedet. Sie würden sich am nächsten Morgen am Flughafen treffen, um nach Mailand zu fliegen. Von dort würde man sie abholen. Da es ein Samstag war, erwartete er, dass Giulia es tun würde. Einen Shoppingtag in Mailand würde sie sich nicht entgehen lassen.

*

2017 - Mailand

Der Bus hatte in der Zwischenzeit noch einige Male gehalten, Leute waren aus- und eingestiegen, nach wie vor aber war er nicht voll besetzt. So hatte sie weiterhin zwei Sitze zur Verfügung. Sie hatte erneut versucht, zu schlafen, aber ihre Gedanken zur Ruhe bringen, wollte ihr einfach nicht gelingen. Schon als kleines Mädchen war sie schwer zu bändigen gewesen. Immer neue Einfälle hatte sie gehabt und dabei keine Geduld. Ihre Mutter hatte sie dann geschimpft, aber im selben Moment auch in die Arme geschlossen und ihr versichert, sie würde es bei ihrem Ideenreichtum einmal weit bringen im Leben.

„Und das hier ist ein erster Schritt ganz nach oben“, dachte sie und musste dabei wohl tatsächlich nochmals eingeschlafen sein. Denn als sie wieder auf die Uhr schaute, war es Mittag und damit war sie nah an ihrem Ziel. Fast dreizehn Stunden war sie jetzt unterwegs. In spätestens zwei Stunden würde sie endlich da sein.

Wenn sie erst einmal Erfolg hatte, würden solche Fahrten der Vergangenheit angehören. Sie würde in ein Flugzeug steigen und sich über den Wolken hin zu ihrem Bestimmungsort fliegen lassen. Ja, die Gage würde so hoch sein, dass sie sich in der ersten Klasse verwöhnen lassen könnte.

Aber auch Zweifel mischten sich immer wieder mit ein. Sie war kein Großstadtkind. Sie war in einer Kleinstadt aufgewachsen. Erst nach ihrem Abitur, darauf hatten ihre Eltern bestanden, war sie in die Großstadt gezogen. Hier hatte sie sich bei den Reichen und Schönen umgesehen und versucht, deren Lebensstil zu kopieren.

Ihre Eltern drangen darauf, dass sie eine Bürolehre machte. Aber das Ausbildungsgehalt reichte nicht, sie ihrem Traum näherzubringen. So jobbte sie nebenbei als Verkäuferin und einige Male hatte sie lukrative Beschäftigungen auf Messen. Das Geld, welches sie da verdiente, investierte sie in einen Modelkurs. Dort fühlte sie sich wohl und dort fand sie die Bestätigung dafür, dass sie auf dem richtigen Weg war.

Am Ende aber stand ernüchternd für sie fest: Nur Geld öffnet Türen, nur Geld macht unabhängig, aber vor allem – nur Geld macht schön. Andererseits – sie hatte ihre Besonderheit. Und sie musste ihrer Mutter recht geben, sie hatte bislang niemanden kennengelernt, der diese so hatte wie sie selbst.

Der Bus näherte sich seinem Ziel. Die Passagiere begannen, ihr Gepäck zusammenzusuchen, man unterhielt sich mit den Nachbarn, fragte nach deren Zielen und die Frauen bemühten sich, die Müdigkeit aus ihren Gesichtern zu bekommen.

Sie hatte eine Reise- und eine Umhängetasche, nicht das neueste Modell, aber dafür von einem bekannten Designer. Fast ein Dreivierteljahr hatte sie dafür sparen müssen.

Und dann hielt der Bus am Bahnhof. Sie stieg aus und war erst einmal orientierungslos. Eine fremde Stadt, eine fremde Sprache, dazu die brütende Hitze, aber darauf hatte sie sich vorbereitet. Es gab Internet, wo man alles nachlesen konnte, was man benötigte, und nach einigen Nachfragen saß sie eine Stunde später im nächsten Bus, der sie in kurzer Zeit zu ihrem Ziel bringen würde.

Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel und die Hitze staute sich zwischen den Häusern. Sie hatte nur ein T-Shirt an, aber das war schon völlig durchgeschwitzt. Sie trank den letzten Rest Wasser, der noch in der Flasche war, und versuchte wieder, eine Sitzbank für sich allein zu finden. Am Ende aber musste sie es zulassen, dass sich eine ältere Frau neben sie setzte. Auch die schwitzte, was man nicht nur sah, sondern auch roch, und sie rückte, so weit es ging, von ihr ab.

Nachdem der Bus die Stadt verlassen hatte, erhöhte er sein Tempo und fuhr ratternd und schnaufend an Ackerflächen und Wiesen vorbei. Die Häuser, die vereinzelt an der Straße standen, sahen größtenteils renovierungsbedürftig aus und waren durch eine dünne Staubschicht unansehnlich grau. Auch der Zustand der Straßen war schlecht. Tiefe Schlaglöcher wechselten mit Buckelpisten. Sie und die anderen Passagiere wurden ganz schön durchgerüttelt. Immer wieder hielt der Bus, um Leute aussteigen zu lassen und neue Passagiere aufzunehmen.

Der Ort, wo sie aussteigen musste, hatte einen unaussprechlichen Namen. Nur zwei weitere Mitfahrer hatten dasselbe Ziel und verließen mit ihr den Wagen. Nach einem kurzen Halt fuhr der Bus weiter.

Sie sah sich um. Die zwei Mitfahrer schienen hier zu Hause zu sein und waren schnell verschwunden. Alles erschien recht dörflich und ganz ohne Zweifel hätte den meisten Häusern ein frischer Anstrich gutgetan. Als zwei Mädchen die Straße entlang kamen, zeigte sie ihnen die Adresse, zu der sie wollte. Wie sich herausstellte, war es nicht weit. Das Haus, etwas am Hang gelegen, hatte sie in kurzer Zeit erreicht. Überrascht schaute sie auf eine großzügige Gartenanlage, an deren Ende ein älteres Gebäude mit Türmen und Erkern lag. Kleine Balkone hingen wie Vogelnester vor den Fenstern. Auf der Spitze einer der Türme war eine Fahne gehisst, zerfetzt, im Wind hin und her schwingend. Und wie schon im Dorf war auch dieses Gebäude von einer grauen Staubschicht überzogen.

Sie hatte ihre Reisetasche auf den Boden gestellt und verglich in Gedanken diese Anlage mit den Bildern im Internet. Was sie sah, entsprach nicht ganz ihren Erwartungen. Im Internet hatte es heller, moderner ausgesehen, vom dörflichen Ambiente drumherum ganz zu schweigen.

Durch ein offen stehendes Eisentor betrat sie das Gelände und ging den breiten Pfad hinauf zum Eingang. Vor dem Haus war die Rasenfläche frisch gemäht, rund geschnittene Buchsbäume säumten den Aufgang und Beete mit bunten Sommerblumen wirkten aufmunternd auf sie.

Hier draußen war sie noch niemandem begegnet, was sie bei der drückenden Hitze nicht weiter verwunderte. Auch sah sie weder Liegen noch Sonnenschirme, wie sie im Internet abgebildet waren. Ein Pool war ebenfalls nicht da, doch sie vermutete, dass er sich hinter dem Haus befand.

Die Tür zum Hotel stand offen und sie war überrascht, nicht nur über die angenehme Kühle, auch über die Höhe und Weitläufigkeit der Hotelhalle. Noch nie hatte sie so etwas Imposantes gesehen. Im Raum verteilt gab es Sitzecken mit schweren dunklen Ledersesseln, dazwischen riesige Vasen mit Blumenbouquets, die sich erst beim näheren Hinsehen als Kunststräuße erwiesen.

Die Räder ihrer Reisetasche klapperten auf dem glänzenden rot-braunen Marmorboden, als sie in Richtung der Rezeption ging. Es stand für sie außer Zweifel, dass dieses Haus einmal ein Fünfsternehotel gewesen war, und je länger sie sich umsah, desto wohler begann sie sich zu fühlen. Genauso würde sie einmal leben wollen. Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen, Zweifel daran ließ sie nicht aufkommen.

*

Samstag

Remus hatte unruhig geschlafen, war immer wieder aufgewacht, denn wie ein Geist hatte Flora im Traum vor ihm gestanden und ihn streng angesehen. Er hatte es geliebt, wenn sie ihn anblitzte. Erst wenn er seinen Hundeblick aufsetzte und sie fest an sich zog, begann sie meist, zu lachen. „Ach, könnte ich dir nur widerstehen, mein kleiner Italiener.“ Sie kuschelte sich dann an ihn, biss ihn zärtlich ins Ohrläppchen und fuhr mit der Zungenspitze über seine Nase. Mehr als zwei Jahre waren sie ein Paar gewesen.

Seine Mutter war es, die ihn eines Tages ermunterte, einen Teil seiner chirurgischen Ausbildung im Ausland zu machen. Erst später hatte er erfahren, dass Raimondo, ihr Bruder, hinter diesem Gedanken stand. Er selbst hatte nie Kontakt zu seinem Onkel, der in Italien lebte und dem tristen Deutschland wenig abgewinnen konnte. Aber seine Mutter hatte das Fernweh neu in ihm erweckt und so war er nach Miami gegangen.

Flora und er hatten sich anfangs täglich Mails geschrieben, Fotos geschickt und sogar ein Besuch Floras bei ihm in Miami war geplant, als plötzlich alle Kontakte abbrachen. Er wusste, wie verärgert er damals darüber war. Er vermutete, ein neuer Mann hatte ihn in Floras Leben abgelöst. Schmollend hatte er sich daraufhin zurückgezogen, bis irgendwann Flora nur noch Erinnerung war.

Als ihm aber jetzt Jonathan den Namen gezeigt hatte, war die Vergangenheit plötzlich wieder allgegenwärtig. Und Fragen über Fragen tauchten auf. Sie war keine Medizinerin, sie war Juristin. Und wenn sie sich für diesen Kongress angemeldet hatte, musste sie Fachanwältin für Medizinrecht sein. Er konnte sie sich als solche gut vorstellen. Ein Meter fünfundsiebzig groß, dunkelblonde Haare, sehr schlank als Ergebnis eines strengen Fitness- und Ernährungsplanes und die entzückendsten Grübchen, die man sich vorstellen konnte. Ihr Tag war immer bis aufs kleinste durchstrukturiert, aber nie hatte sie dabei gehetzt oder überfordert auf ihn gewirkt. Warum hatte er damals es nicht weiter versucht, sie zu finden, sich dem Konkurrenten gestellt. Wie oft schon hatte Raimondo ihn ermahnt, mehr Kampfgeist zu zeigen. Jetzt aber war es zu spät, sich darüber Vorwürfe zu machen.

Der Wecker erlöste ihn endlich aus seinen Tagträumen. Er hatte Mühe, sich auf seine Abreise zu konzentrieren. Der Koffer musste fertig gepackt, das Hotel bezahlt und die Taxe bestellt werden. Er verstaute seinen Laptop und seine Kongressunterlagen im Handgepäck, aber Floras Bild ging ihm dabei nicht aus dem Kopf.

Sie war wie er fünfunddreißig Jahre alt. Wie mochte sie aussehen? Noch immer so, wie er sie in Erinnerung hatte? Und vor allem: War sie verheiratet? Hatte sie Kinder? Sie trug noch ihren Mädchennamen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Und was war der Grund, dass sie nach Stresa kam? Warum hatte sie ihn nicht angerufen? Oder hatte auch sie ihn aus ihrem Gedächtnis gestrichen? Es gab so viele Fragen und keine Antworten. Welches Glück, dass er Jonathan dabei hatte.

Wie verabredet traf er seinen Freund am Flughafen, der wie immer eine Ruhe und Zufriedenheit ausstrahlte, um die Remus ihn beneidete. „Sophia lässt dich schön grüßen und sie wird morgen mit der Recherche beginnen. Sie ist aber auch der Meinung, dass es schon vorher ähnliche Drohungen gegeben haben muss.“

Remus nickte zustimmend. „Ich würde es meinem Onkel zutrauen, dass er frühere Anrufe einfach ignoriert hat.

Nach etwas über einer Stunde landete der Flieger pünktlich auf dem Flughafen Malpensa in Mailand. Sie waren auf dem Flug noch mal einige Punkte der Veranstaltung durchgegangen und es war Jonathan, der schließlich aussprach, was auch ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. „Ich habe keine Ahnung, was Flora mit ihrer Anwesenheit bezweckt, aber ich bin mir sicher, es steckt ein Plan dahinter.“

Remus sah Jonathan erschrocken an. „Wie kommst du darauf, dass Flora einen bestimmten Grund hat, nach Stresa zu kommen? Sie hat sich nie wieder bei mir gemeldet oder auf meine Briefe geantwortet.“

„Das ist es ja, was mich so irritiert. Flora ist ein durch und durch organisierter Mensch. Sie hat nie etwas ohne erkennbaren Grund gemacht. Sie weiß, wem die Klinik gehört, trotzdem sucht sie im Vorfeld des Kongresses keine Verbindung zu dir. Findest du das nicht seltsam?“

Remus verspürte ein innerliches Unbehagen, aber ganz tief drinnen auch ein Kribbeln, was er seit Langem nicht mehr gespürt hatte.

Sie verließen das Flughafengebäude, in dem es durch die Klimaanlage ziemlich kühl war, genossen nun aber die warme Luft, die ihnen entgegenschlug, als sie nach draußen kamen.

Wie vermutet, erwartete Giulia sie am Gate. Sie begrüßte Jonathan mit Handschlag, Remus aber mit einer Umarmung. Nur durch eine schnelle Reaktion konnte er einen Kuss auf den Mund verhindern. Wie immer war sie top gestylt – von der teuren gelben Lederjacke, dem Blümchenrock eines bekannten Designers bis hin zu den Stilettos in schwindelnder Höhe. Abgerundet wurde das Ganze mit einer hippen, dunkelblauen Ledertasche.

„Ich hoffe, wir sind nicht zu früh gekommen und haben dich beim Shoppen gestört.“ Remus Stimme klang gereizt, aber Giulia schien das nicht zu stören.

„Ich kann doch jederzeit wieder hierherfahren. Über die Autobahn habe ich gerade mal etwas über eine Stunde gebraucht.“

„Du machst meinen Onkel noch arm an Strafzetteln.“

Am Auto drehte Giulia sich um und schob eine junge Frau, die hinter dem Wagen stand, zu ihnen hin. „Darf ich euch Rosa Valentini vorstellen? Eine Freundin. Wir waren zusammen auf der Modelschule. Zurzeit modelt Rosa aber auch nicht. Sie arbeitet beim Amt für Ökologie und Naturschutz hier in Mailand.“

Fast ein wenig erschrocken schauten Remus und Jonathan das junge Mädchen an. Das Gesicht bestand fast nur aus Sonnenbrille. Ein ungewöhnlich großes Modell, dazu noch Silber verspiegelt. Zögerlich gab sie den beiden die Hand und murmelte ein fast nicht zu verstehendes: „Ciao“, um sich dann ganz schnell wieder wegzudrehen.

„Ihr habt doch nichts dagegen, wenn wir sie mitnehmen.“

„Nein, ist schon okay.“

„Wie wäre es, wenn wir zurück auf der Uferstraße fahren würden? Ich liebe den Blick auf den Lago Maggiore und das Tempo reguliert sich bei den vielen Kurven von selbst.“ Jonathan sah Remus bittend an. „Machen wir, oder?“

Giulia nickte. „Ich liebe diese Strecke auch und für unsere Gäste tue ich, was ich kann.“ Sie bedachte die Männer mit einem zustimmenden Blick.

Am Ende genossen sie alle die Fahrt. Auf der rechten Straßenseite leicht ansteigend grüne Wiesen, immer wieder unterbrochen von dichtem Buschwerk, kleinen Olivenbäumen und Pinienwäldern. Auf der linken Seite aber lag der See, das Wasser klar, von einem hellen bis dunklen Blau. Am Horizont erhoben sich die Berge der Schweiz und Italiens. Viele kleine Ortschaften durchfuhren sie. Vor den Fenstern und in den Gärten eine Blütenpracht von Dahlien, gelben Strauchmargeriten und Bougainvillea, die sich an Hauswänden hochrankten.

„Wie schön ihr es hier habt“, stellte Jonathan fest. Vielleicht sollte ich mich doch anders entscheiden.“ Dabei lachte er, doch auch echte Zweifel an seiner Entscheidung, in Deutschland zu bleiben, schwangen mit.

Rosa hatte die ganze Fahrt geschwiegen. Remus hatte neben Giulia Platz genommen und Rosa neben Jonathan im Fond. Auf den ersten Blick waren keine Ähnlichkeiten zwischen den beiden Mädchen zu erkennen. Rosa war etwas kleiner als Giulia mit ihren ein Meter achtzig. Die lockigen, dunkelbraunen Haare wurden von einem grauen Leinentuch in Schach gehalten. Dadurch wurden die Unreinheiten der Gesichtshaut sowie die feinen Äderchen im Wangenbereich mehr betont und ließen die junge Frau ungepflegt erscheinen. Auch von Designerkleidung, wie Giulia sie trug, schien sie nichts zu halten oder, wie Jonathan vermutete, konnte sie sich nicht leisten. Die weite sommerliche Hose in einem verwaschenen Hellblau und die dunkelblaue Bluse schienen eher im Discounter erworben zu sein. Jonathan versuchte, sie möglichst nicht anzusehen, und vermied, ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Auch Remus kümmerte sich nicht weiter um sie. Nur beim Einsteigen, als sie für einen kurzen Moment ihre Sonnenbrille abnahm, hatten beide fasziniert in ihre Augen gesehen. Obgleich sie abweisend und mürrisch schaute, hatte ihr Blick eine sinnliche, fast erotische Ausstrahlung. Rosa hatte aber die Brille schnell wieder aufgesetzt und dann im Auto Platz genommen. Die ganze Fahrt hatte sie schweigend aus dem Fenster gestarrt. Auch sie schien keinerlei Interesse an einem Gespräch zu haben.

Nach einer guten Stunde Fahrt fuhren sie an der Schönheitsklinik Fortini vorbei. Sie lag ein Stück vor Stresa, am Hang gelegen, eine ehemalige Villa, die Raimondo bei der Übernahme von Grund auf saniert und umgebaut hatte. Im Erdgeschoss befanden sich die Warte- und Behandlungsräume, in den beiden oberen Stockwerken die Gästezimmer, wie die Klinikzimmer genannt wurden. Die modernen Operationsräume dagegen waren in einem Anbau untergebracht. Raimondo war der Spezialist für Nasen, Remus für Brustkorrekturen. Darüber hinaus gab es noch zwei angestellte Assistenzärzte für weitere Eingriffe.

Die Fortbildungsveranstaltung aber würde nicht hier in der Klinik stattfinden, sondern im Konferenzraum eines nahe gelegenen Hotels. Dort nächtigte auch der Großteil der Teilnehmer.

„Hältst du mal kurz am Hotel“, bat Remus Giulia. „Ich will nur was fragen.“

Und wirklich – nach zwei Minuten war er zurück und Giulia fuhr die Straße weiter, bog dann rechts ab und hielt vor einem kastenförmigen Neubau mit großen Fenstern und einem gepflegten Garten davor. „So, da wären wir, alle aussteigen.“

„Danke, dass du uns abgeholt hast.“ Remus legte den Arm um Giulia und drückte einen flüchtigen Kuss auf ihre Haare. „Ist Raimondo hier oder in der Klinik?“

„Ich denke, er ist noch nicht da. Wir erwarten euch um fünf zum Kaffee.“ Remus glaubte, eine gewisse Angespanntheit in dieser Antwort zu hören.

Inzwischen war auch Rosa ausgestiegen, hatte aus dem Kofferraum eine große, graue Plastiktasche genommen, die sie sich jetzt über die Schulter hängte und die schwer zu sein schien. Auf ein leises geflüstertes: „Grazie“, von Rosa antwortete Giulia lediglich: „Ist schon okay.“ Als sie noch etwas hinzufügen wollte, war das Mädchen bereits um die Ecke verschwunden.

Jonathan schaute Remus an. „Wer war denn dieser exotische, kleine Vogel? Den habe ich hier noch nie gesehen.“

Remus zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, sehe das Wesen auch eben zum ersten Mal. Kommt mir vor wie eine kleine Raubkatze.“

„Oder eine Meerjungfrau – bei den Augen. Komisch, dass Giulia sie als Freundin bezeichnet und du sie nicht kennst. Ob Raimondo sie wohl mag?“ Jonathan schaute skeptisch.

Remus zeigte keinerlei Interesse. „Zunächst mal gut, dass er nicht da ist. Wir bringen rasch unser Gepäck nach oben und machen dann einen Spaziergang am See entlang. Nach einer Woche Beton lechzt mein Körper nach Natur. Verstehe nicht, wie du es in Frankfurt aushältst.“

„Du solltest dich mit Sophia zusammentun. Sie liegt mir auch dauernd damit in den Ohren.“

Remus bewohnte den ersten Stock des Hauses, Raimondo das Erdgeschoss. Jonathan würde wie immer bei ihm wohnen.

Giulia schloss gerade die Tür zu Raimondos Wohnung auf, drehte sich aber noch einmal um. „Ach ja, das mit dem zweiten Foto wisst ihr doch? Es lag vor drei Wochen im Briefkasten. Hat Raimondo das nicht erzählt?“ Und damit war sie in der Wohnung verschwunden.

Remus runzelte die Stirn und sah seinen Freund fragend an. „Hast du das eben verstanden? Warum hat sie das Foto gerade erwähnt? Langsam blicke ich nicht mehr durch.“

Die Wohnung von Remus hatte vier Zimmer. Ein Wohnzimmer, das fast die gesamte Vorderfront des Hauses einnahm. Mit eingeschlossen waren das Esszimmer und eine kleine Küche. Die Fensterscheiben reichten bis zum Boden und man hatte von hier einen atemberaubenden Blick über den See. Zur anderen Seite befanden sich drei kleine Zimmer, von denen Jonathan nun eins ansteuerte.

„Ich nehme das äußere – wie immer?“ Es war eine rein rhetorische Frage, denn so oft wie möglich kam Jonathan hierher, nicht nur, um zu entspannen, auch den Klinikalltag kannte er inzwischen bis ins Kleinste. Manchmal brachte er die ganze Familie mit und seine Töchter waren begeistert, ein eigenes Zimmer zu haben. Unweigerlich kam dann immer das Thema auf: „Remus, wann willst du endlich eine Familie gründen?“

Remus genoss es, seinen Freund hier zu haben. Ihm fehlte jemand, der ihm zuhörte, mit dem er Probleme besprechen konnte und der ihn vor allzu forschen Annäherungsversuchen seiner zweifelsohne hochkarätigen Kundschaft schützte. Denn trotz des riesigen Angebotes an schönen Frauen hatte es bisher noch keine geschafft, sein Herz zu erobern.

Das war auch Thema, als er kurze Zeit später mit Jonathan die Uferstraße überquerte und durch die schmale Parkanlage am Rande des Lago Maggiore Richtung Stresa ging.

„Kann es sein, dass die Bemühungen, dich zu gewinnen, bei Giulia zugenommen haben?“, erkundigte sich Jonathan und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich denke, sie hat noch mal ganz schön Botox verbraucht. Wenn meine Töchter das mit achtundzwanzig Jahren machen, bekomme ich einen Tobsuchtsanfall. Ihr Gesicht sieht wie eine Maske aus. Da müsste dein Onkel mal ein Machtwort sprechen.“

Remus zuckte mit den Schultern. „Raimondo ist im letzten Jahr deutlich gealtert. Vieles fällt ihm schwerer und auf Giulias Handlungen hat er oft keinen Einfluss mehr. Ich glaube, er hat nur noch Angst, sie zu verlieren.“

„An dich? Pass nur auf. Wie sie dich am Flughafen umarmt hat! Fast noch mit Zungenkuss. Aber super, wie du reagiert hast.“

Remus lachte. „Nun, einfach ist es für sie auch nicht. Sollte mein Onkel aufhören, was wird dann aus ihr? In der Klinik spielt sie schon eine große Rolle. Sie kann gut mit den Patientinnen umgehen und ist eine super Verkäuferin.“

„Für Botox oder was? Und mit fünfzig kommen sie dann zu mir und ich soll den Originalzustand wiederherstellen.“ Jonathan verzog das Gesicht.

Da konnte auch Remus nicht ernst bleiben. „Ich bin immer wieder überrascht, wie du es schaffst, durch Krebs oder Unfall entstellten Menschen ein neues Aussehen zu geben. Deine Arbeit ist wirklich wichtig. Die ästhetische Chirurgie, die ich mache, ist dagegen medizinisch völlig unwichtig, meistens sogar überflüssig, wenn nicht sogar gefährlich.“

„Noch mal meine Frage: Würdest du Giulia behalten?“

Remus war stehen geblieben. „Wenn du meinst, sie würde zu mir in den ersten Stock ziehen? Ein ganz eindeutiges Nein. Aber was aus der Klinik werden würde, keine Ahnung. Raimondo ist in unseren Kreisen immer noch hoch angesehen. Die Klinik profitiert von seinem Ruf.“

„Dann machst du eben alleine weiter. Dein Image ist nicht wesentlich geringer.“

„Allein? Nein, das ist nicht zu schaffen. Und Nasen operieren, macht mich nervös. Ich muss die Hände voll haben.“ Das alles kam in solch einem leidenden Ton heraus, dass sie beide lachen mussten.

„Und du hast diese Rosa noch nie gesehen?“ Jonathan musterte seinen Freund.

Der schüttelte den Kopf. „Nein, ganz sicher nicht. Allerdings, wenn ich so überlege, Giulia fährt in letzter Zeit häufiger nach Mailand. Hat sie ja eben selbst gesagt. Ich dachte mehr aus Langeweile. Wie ich schon sagte, Raimondo braucht mehr Ruhe und dafür gibt er ihr seine Kreditkarte.“

„Du meinst, sie trifft dann diese Rosa? Aber was findet sie an ihr? Ihr Aussehen macht das arme Vögelchen im Vergleich zu ihr ja noch unansehnlicher.“

Remus musste seinem Freund recht geben. „Ich werde meinen Onkel mal so nebenbei fragen, was er von dieser Freundschaft hält.“ Remus war stehen geblieben. „Ist das nicht ein wundervoller Blick von hier über den See? Isola Bella, wie das klingt. Italienisch ist einfach eine faszinierende Sprache, voller Musik und Poesie.“

Jonathan stellte sich zu ihm. „Isola Bella ist die größte der vier Borromäischen Inseln?“

Remus schüttelte den Kopf. „Nein, die größte ist Isola Madre, die kleinste Isola di San Giovanni. Isola Bella aber ist die bekannteste. Man muss es sich mal vorstellen. 1632 war da nur ein Felsen und Carlo III. Borromeo war der Erste, der den Felsen plattmachen ließ und zu bauen begann. Es war ein gewaltiges Projekt. Das Ganze sollte die Form eines Schiffes bekommen. Ein schmaler Bug, ein gewaltiges Mitteldeck und ein gigantisches Heck. Wenn man von oben darauf schaut, kann man es genau erkennen. Und das alles hat er für seine Frau Isabella gemacht. Wie muss er sie geliebt haben. Später wurde daraus Bella. Isola Isabella ließ sich nicht so gut sprechen.“ Remus schwieg, aber sein Blick verriet, wie ihn dieses Thema auch emotional beschäftigte.

Jonathan schaute ihn von der Seite an. „Manchmal steht die Liebe schon vor der Tür. Man muss das Tor nur öffnen, damit sie hereinkommen kann“, sagte er leise. „Wohnen die Borromeos eigentlich noch dort?“

Remus schüttelte den Kopf. „Nein, nur in den Ferien oder zu Feiern kommen sie hierher. Ein Teil des Schlosses und auch des Gartens aber ist privat und für Touristen nicht zugänglich.“ Er schaute auf seine Uhr. „Ich glaube, wir sollten zurückgehen. Raimondo liebt Pünktlichkeit.“

Sie kehrten um. „Was hast du eigentlich vorhin im Hotel gewollt?“ Jonathan schaute seinen Freund fragend an. „Deine leichte Verlegenheit gibt mir recht. Und kommt sie?“

„Du meinst Flora? Ja, aber erst morgen.“

Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Remus versuchte, Flora aus seinen Gedanken zu verdrängen. Jetzt musste er sich erst einmal auf seinen Onkel konzentrieren und auf die Erpressung. Das Letztere machte ihm ein mulmiges Gefühl.

Giulia öffnete ihnen wenig später die Tür und führte sie ins Wohnzimmer, das ähnlich groß war wie das von Remus. Nur hier gab es eine breite Terrasse, die man durch die geöffneten Flügeltüren betreten konnte. Da das Wetter es zuließ, hatte Giulia den Kaffeetisch dort gedeckt. Sie traten nach draußen. Raimondo Fortini erhob sich sogleich aus einem der dunklen Korbsessel und kam auf die beiden Freunde zu. Er umarmte seinen Neffen und Jonathan herzlich und lud sie ein, Platz zu nehmen. Trotz seiner siebzig Jahre war er mit seinen ein Meter fünfundachtzig noch immer eine stattliche Erscheinung. Das dunkle, volle Haar war zwar mit einigen hellen Strähnen durchzogen, was ihn aber eher attraktiver machte. Dazu war er schlank und durchtrainiert, das Ergebnis von regelmäßigen Golfrunden. Das zeigte sich auch an seiner Kleidung. Meist trug er – wie auch heute – Jeans und Poloshirts.

Trotzdem fand Remus, dass sein Onkel müde und abgespannt wirkte. Unter den Augen lagen dunkle Ringe und um den Mund zogen sich tiefe Falten. Die Farbe der Haut war fahl, zeigte nicht die gesunde Bräune italienischer Sonne wie sonst.

„Welch ein fantastischer Blick. Ich bin immer wieder beeindruckt.“ Jonathan war bis zum Geländer gegangen und ließ seinen Blick über den See schweifen.

„Ja, es war der Hauptgrund, warum ich unbedingt dieses Grundstück haben wollte.“ Raimondos Augen begannen, zu strahlen, und etwas von seiner alten Energie schien damit zurückzukommen. Er war neben Jonathan getreten. „Isola Bella, Isola Percatore, Isola Madre und der Winzling Isola di San Giovanni. Allein die Namen dieser Inseln auszusprechen, gibt mir ein unglaubliches Glücksgefühl. Doch genug geschwärmt, ich freue mich, dass Remus zurück ist und du, Jonathan, unseren Kongress begleiten wirst.“

Sie gingen zurück, nahmen auf den bequemen Korbstühlen Platz und dankten Giulia, die ihnen Kaffee einschenkte. Noch mehr freuten sie sich über eine Platte mit Pasticcini, die Giulia nun herumreichte.

„Ich habe jetzt richtig Hunger. Hast du die selbst gemacht?“, fragte Jonathan. „Ich liebe diese kleinen Dickmacher.“

„Giulia lässt machen“, sagte Raimondo trocken. „Sie weiß genau, wo es die besten Leckereien gibt, nicht wahr, mein Schatz?“ Der Blick, den er ihr dabei zuwarf, wirkte allerdings eher unterkühlt. „Dabei – so schwer ist es nicht, sie selbst zu machen. Diese Törtchen sind gefüllt mit Puddingcreme und darauf verteilt man Obst ganz nach Belieben.“

„Wenn das so einfach ist, warum machst du sie dann nicht? Die Zeiten, wo Frauen nur in der Küche dahinvegetieren durften, sind zum Glück vorbei.“ Damit ging Giulia zurück ins Haus und ließ die Männer allein.

„Auch wenn sie nicht selbst gemacht sind, schmecken tun sie köstlich.“ Jonathan griff nach einem weiteren mit Himbeeren belegt.

Remus war noch am Überlegen, ob er seinen Onkel auf die Fotos ansprechen sollte, da war der aber schon aufgestanden und hatte aus dem Haus einen Umschlag geholt, den er den beiden reichte. „Wir sollten vielleicht erst das Unangenehme erledigen, dann haben wir an den anderen Sachen mehr Freude.

Remus zog zwei Fotos aus dem Kuvert und betrachtete sie eingehend. Dann reichte er sie an Jonathan weiter. „Giulia erzählte vorhin, dass eins der Fotos schon vor drei Wochen gekommen ist. Wieso hast du nichts davon gesagt?“ Remus sah, wie schwer es seinem Onkel fiel, darüber zu sprechen.

„Es stimmt, das eine Foto ist vor drei Wochen gekommen. Es wurde von Giulia zwischen der Post entdeckt. Sie wollte mich erst schonen und hat es unterschlagen. Zum Glück aber ist sie eine Frau und kann nicht lange ein Geheimnis bei sich behalten.“ Der Sarkasmus, mit dem er das sagte, war nicht zu überhören.

Remus hielt die beiden Bilder nebeneinander. „Also für mich sehen sie fast identisch aus. Zwei Brüste mit absterbenden Brustwarzen.“

Jonathan nickte. „So sehe ich das auch. Und zwar mit dem ganzen Warzenvorhof.“ Sie schauten Raimondo an, der nichts weiter gesagt hatte.

Jetzt nickte er. „Ganz klar handelt es sich um einen postoperativen Zustand. Wenn ihr aber genau hinschaut, ein kleiner Unterschied besteht schon. Bei dem letzten Foto sieht man, wie das Gewebe sich an den Rändern beginnt, abzustoßen. Was auch bedeutet, diese Brüste sind real. Aber in unserer Klinik habe ich so etwas noch nicht gesehen.“

Remus räusperte sich. „Ich denke, wenn das hier passiert wäre, müsste ich der Schuldige sein. Brüste fallen in mein Ressort.“

Raimondo schüttelte den Kopf. „Du weißt doch gar nicht, wie alt diese Aufnahmen sind. Ich habe, bevor du hierhergezogen bist, natürlich auch Brustkorrekturen gemacht.“ Als er sah, wie niedergeschlagen sein Neffe war, drückte er seine Hand. „Deine Operationen sind legendär. Die Frauen liegen dir zu Füßen. Das hier ist eindeutig eine Schmutzkampagne, die allein mich treffen soll. Aber das gehört in unserem Job nun mal dazu.“

„Neider gibt es überall“, stimmte Jonathan ihm zu und klopfte Remus auf die Schulter. „Mach dich frei von irgendwelchen Schuldgefühlen. Was willst du machen?“, wandte er sich an Raimondo.

Der zuckte mit den Schultern. „Ich kann nichts tun, ich muss abwarten. Es gibt nichts Konkretes, nur diese beiden Bilder und zwei Anrufe, wobei nur einer bei mir gelandet ist.“

„Anwalt? Polizei? Man darf sich doch so etwas nicht einfach gefallen lassen“, empörte sich Remus.

„Ich habe mich genau dort erkundigt. Wir müssen abwarten. Außerdem, nichts regt Täter mehr auf, als wenn sie nicht erhört werden. Deshalb nichts tun und die ganze Sache ignorieren. Genauso machen wir das.“

Jonathan nahm erneut die Bilder in die Hand und schaute Raimondo in die Augen. „Und du bist ganz sicher, es gab vorher nie eine ähnliche Drohung? Natürlich macht es Sinn, vor einem Kongress so etwas publik zu machen. Man hat auf einen Schlag ein größeres Publikum, aber das alles will vorbereitet sein. Das braucht Zeit.“

Raimondo war aufgestanden und an das Geländer getreten. Er blickte über den See und seine Worte waren fast nicht zu verstehen. „Du hast recht, Jonathan. Es ist nicht der erste Brief dieser Art. Seit Anfang des Jahres kommen immer wieder Drohungen und ebendiese Fotos. Ich denke, es ist immer dieselbe Brust in verschiedenen Stadien nach der Operation.“ Er drehte sich um. „Es war mir klar, Remus würde sich sofort schuldig fühlen. Nur wäre er tatsächlich der Verursacher, hätten wir schon längst eine Klage am Hals und würden in allen Zeitungen stehen. Nein, das ist keine Patientin von uns. Nur – was will sie damit bezwecken? Ich habe keine Ahnung.“

Remus räusperte sich. „Hast du gewusst, dass Giulia ihre Freundin Rosa vorhin mitgebracht hat?“

Raimondo hob die Augenbrauen, sagte aber weiter nichts.

„Kennst du diese Rosa näher? Ich habe sie noch nie hier gesehen.“

„Ich habe Giulia gesagt, dass ich den Kontakt mit dieser Person in meinem Haus nicht möchte. Aber unser Verhältnis ist momentan etwas angespannt und sie hört wohl nicht auf mich.“ Er schloss kurz die Augen. „Lass uns nach dem Kongress darüber sprechen. Ich brauche die nächsten Tage meine volle Konzentration. Kommt, lasst uns unsere Beiträge noch mal durchgehen.“

Gegen halb sieben verließen sie Raimondo, der sich ausruhen wollte. Giulia war nicht wieder aufgetaucht und so brachte Remus das Tablett mit dem Kaffeegeschirr in die Küche und räumte alles in den Geschirrspüler.

„Wollen wir nach Stresa reingehen? Ich habe Hunger.“ Er schaute Jonathan an.

Der nickte. „Mir geht es genauso. Lass uns einen Pullover holen und dann los.“

Inzwischen war es dunkel geworden und sie gingen im Schein der Laternen an der Uferpromenade entlang in Richtung Stresa.

„Schau mal die Isola Bella.“ Jonathan war stehen geblieben. „Sieht sie nicht zauberhaft aus mit den vielen Lichtern. Vielleicht schaffen wir es mal, einen Abend rüberzufahren und dort zu essen.“

Remus nickte, ohne hinzusehen.

„Du machst dir Sorgen? Ich sehe es dir an. Ist es wegen Raimondo?“ Er legte den Arm um seinen Freund.

Der schüttelte den Kopf.

„Dann ist es wegen Flora? Warum?“

„Ich habe Angst, sie zu sehen.“

„Angst? Das klingt ja fast, als würdest du sie noch lieben, und befürchtest, sie könnte nicht mehr deinen Vorstellungen entsprechen?“ Jonathan warf einen fragenden Blick auf Remus.

„Oder sie ist verheiratet. Ach, ich verstehe einfach nicht, dass sie sich nicht vorher gemeldet hat, wenn sie weiß, dass sie hierherkommen will.“

Restaurants gab es ausreichend. Am Ende entschieden sie sich für eine Osteria. „Hier riecht es lecker nach Thymian und Oregano und wir können draußen sitzen.“

Sie wählten einen Platz in der Nähe eines Heizstrahlers und legten sich vorsorglich noch eine rote Decke über die Beine.

„Ich glaube, ich werde tatsächlich eine Pizza essen“, entschied Jonathan und blätterte in der Speisekarte. „Vielleicht die mit Meeresfrüchten, bietet sich so nah am Wasser an.“

„Ich schließe mich dir an, allerdings nehme ich Hawaii. Ich bevorzuge es mehr süß.“ Remus lehnte sich zurück. „Und dazu ein Glas roten Landwein. Wir brauchen ja nicht mehr Auto zu fahren. Das ist auch ein Vorteil gegenüber Frankfurt.“

Der Wein wurde schnell gebracht und Jonathan merkte, wie sich sein Freund langsam entspannte. „Ich hatte vorhin das Gefühl, zwischen Raimondo und Giulia herrscht eine gewisse Spannung und dann hat er es ja selbst bestätigt.“ Jonathan schaute Remus fragend an.

„Das war wohl nicht zu übersehen und zu überhören. Es geht schon eine ganze Weile so.“

„Und kennst du auch den Grund?“

„Gründe gibt es einige, aber Genaues weiß ich nicht.“

In diesem Moment stellte der Kellner die Pizzen vor sie hin.

Jonathan beugte sich darüber und sog den Duft von Basilikum und Rosmarin tief in seine Nase. „So riechen Pizzen nur in Italien. Lass es dir schmecken. Aber trotzdem, was ist das Problem bei Raimondo und Giulia? Wie lange kennen sie sich eigentlich schon?“

„Lass mich überlegen. Es sind bestimmt sieben oder acht Jahre. Giulias Familie lebt in der Nähe von Mailand, also gar nicht so weit von hier. Ich habe die Eltern mal kennengelernt. Es sind einfache, aber sehr nette Leute. Die Mutter arbeitet, glaube ich, im Pflegebereich. Giulia hat Abitur gemacht. Sie ist also nicht dumm, im Gegenteil. Sie weiß auch genau, was sie will, und dazu besitzt sie noch ein starkes Durchsetzungsvermögen. Ihr Wunsch war von klein auf, Model zu werden. Letztlich hat es dann aber nur zu einem Dessousmodel gereicht.“

„Nur? Ich weiß nicht. Wenn ich an die amerikanischen Engel denke? Die sind eine Weltmarke.“

„Du hast recht, aber ich denke, sie träumt auch heute noch davon, ein Fashionmodel zu werden. Mailand, Paris, New York, in der ganzen Welt.“

„Wo hat Raimondo sie denn kennengelernt?“

Remus spießte ein Stück Ananas auf, wickelte etwas Mozzarellakäse darum und steckte es genüsslich in den Mund. „Ich sage dir ja, Giulia sollte man nicht unterschätzen. Nach dem Abitur hat sie eine Art Fachschule für Bürotätigkeit absolviert und mit diesem Abschluss hat sie sich dann bei uns auf eine Stellenanzeige hin beworben.“

„Vor oder nach der Modelausbildung?“ Jonathan pickte sich eine Muschel aus seiner Pizza, begutachtete sie von allen Seiten, bevor er sie in den Mund schob.

„Danach. Aber das alles war vor meiner Zeit. Ich weiß es nur aus Erzählungen. Ich kann mir allerdings gut vorstellen, wie gestylt sie daherkam. Ihr Zeugnis ist brillant.“

„Und Raimondo schmolz bei ihrem Anblick hin wie die Butter in der Sonne. Ich sehe ihn direkt vor mir.“ Jonathan konnte ein beifälliges Grinsen nicht unterdrücken.

Remus stimmte ihm zu. „Er hatte zu der Zeit keine Partnerschaft und Giulia entsprach genau seinem Beuteschema.“

„Und das wäre?“ Jonathan nahm einen Schluck Wein und krauste die Stirn.

„Gepflegt, gut aussehend, aber noch ausbaufähig. Auf keinen Fall dumm, aber auch nicht zu intelligent und vor allem duldungsfähig. Mit zwei Worten würde ich meinen Onkel als liebevollen Despoten bezeichnen.“

Jonathan lachte. „Super getroffen. Er will schon lange, dass ich zu euch komme ...!

Remus unterbrach ihn und legte seine Hand auf die seines Freundes. „Du solltest endlich Ja sagen und ihn nicht länger hinhalten.“

Sie aßen schweigend weiter.

Dann aber lachte Jonathan. „Jetzt erzähle erst einmal weiter von Giulia. Ich verstehe, Raimondo durfte erst einmal ihren Körper auf Vordermann bringen. Was hat er alles an ihr schon operiert?“

„Auf alle Fälle die Nase. Du kannst sagen, was du willst, es ist eine echte Fortininase.“ Sie mussten lachen. „Nein, im Ernst, auf die Nasen meines Onkels lasse ich nichts kommen. Sie sind in meinen Augen perfekt. Ich habe dir doch schon gesagt, sein Schönheitsideal ist das Gesicht von Nofretete.“

„Hohe Wangenknochen, gerade Nase, das Gesicht nicht zu voll, zu schmal, zu lang, zu dünn, also ebenmäßige Proportionen. Dazu dieses geheimnisvolle, leise Lächeln.“

„Ich würde sagen, ein typisch durchschnittliches Gesicht“, lachte Jonathan. „Wenn es da nicht noch dieses böse Botox gäbe, das alle Bemühungen auf Dauer wieder zerstört. Ist das auch eine Verordnung von Raimondo gewesen?“

Remus winkte ab. „Ganz so negativ solltest du es nicht sehen. Es gibt Fälle, da hilft nur noch Botox, wenn man sich nicht zu sich selbst bekennen will, aber ganz sicher gehört Giulia noch nicht dazu.“

Für einen Moment konzentrierte er sich auf sein Essen und hatte den Mund so voll genommen, dass er nicht weiterreden konnte. „Ich glaube, ich bestelle mir noch ein Glas Wein. Wir hätten gleich eine Flasche nehmen sollen.“

Nach einer weiteren Pause fuhr Remus fort. „Natürlich spielt auch das Alter in ihrer Beziehung eine Rolle. Mein Onkel ist nicht mehr der Don Juan, der er einmal war. Giulia aber ist jung. Sie braucht richtigen Sex, nicht den Quickie eines alten Mannes.“

„Da kann ich mich nur wiederholen. Pass auf dich auf. Du bist das Opfer, auf das sie es abgesehen hat.“

„Quatsch, ich empfinde nichts für sie. Wir arbeiten zusammen, mehr nicht.“

„Und wenn Raimondo mal in Rente geht? Kannst du dir sie als Altenpflegerin vorstellen? Ganz sicher nicht, aber als Ehefrau des neuen Chefs schon.“