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Lieber Vati! Wie ist das Wetter bei Dir? E-Book

Michael Kogon

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Beschreibung

Michael Kogon schildert in seinem Erinnerungsbuch die dramatische Geschichte seiner Familie im Nationalsozialismus. Direkt nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich war sein Vater Eugen Kogon im März 1938 als Widerständler der ersten Stunde verhaftet worden. Kurz nach der Befreiung des KZ Buchenwald 1945, in dem er inhaftiert war, schrieb Eugen Kogon das Grundlagenwerk "Der SS-Staat". Danach sollte er einer der bekanntesten Publizisten in der jungen Bundesrepublik werden. Michael Kogon illustriert seine Erinnerungen mit Briefen und Kassibern, die sein Vater aus der Gestapohaft und aus dem KZ herausschmuggeln konnte, und mit sämtlichen Kinderbriefen, die ihm seine Söhne in die Haft schrieben.

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Michael Kogon

Lieber Vati! Wie ist das Wetter bei Dir?

Erinnerungen an meinen Vater Eugen Kogon Briefe aus dem KZ Buchenwald

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungVorwortZeittafel zu Eugen Kogon1. Flucht und VerhaftungMärz 1938: Der »Anschluss« Österreichs und die Flucht meines VatersDie Flucht misslingtZwei LebenMein Vater im GefängnisMein Vater war viel weg gewesen. Aber …Erste GefängniskorrespondenzMein Vater in der Gewalt der GestapoMai–Juli 19382. Ab ins KlosterMein Bruder und ich müssen nach Bayern»Mutti, ich möchte heim!«Vater, Mutter, Kinder richten sich in ihrem neuen Leben einWas mein Vater im Gefängnis lernen mussFreund oder Feind: Wo stehe ich?Glaube und Hoffnung im GefängnisDer Kampf ums finanzielle ÜberlebenDas Gefängnis als Freiraum von DichterseelenSeptember 1938: Mein Vater wird von der Verschickung in ein KZ zurückgestelltNoch immer keine Haftentlassung – warum?Oktober 1938: Nicht viel Neues aus dem KlosterDie länger werdenden Schatten des KZ BuchenwaldDie »Reichspogromnacht«, beobachtet in einem Wiener GefängnisVorweihnachtszeit 1938Weihnachten 1938 zu Hause3. Fern von Mutter und VaterMein Bruder und ich in der Obhut der pensionierten PfarrersköchinMeine BestrafungDie Söhne des Gestapo-Häftlings in der HitlerjugendJuli–August 1939September 1939: Deutscher Überfall auf Polen. Beginn des Zweiten WeltkriegesDie Aufhebung meiner Bestrafung4. Vater im KZErste Verschickung meines Vaters in das KZ BuchenwaldJanuar 1940: Mein Vater zurück nach Wien, mein Bruder und ich zurück zur Pfarrersköchin, von dort zurück ins KlosterUnsere Mutter fährt mit dem D-Zug in die Höhle des LöwenSpätsommer, Herbst und Winter 1940Anfang 1941Die Auflösung des Klosters – mein Bruder und ich wieder in WienFrühling (na ja) in WienMein Vater zum zweiten Mal im KZSommer 1941 in WienIm GymnasiumImmer mehr Nazis, überall5. Die »Judenfrage« der NazisDie Ermordung der Juden EuropasSeptember 1941: Die Kogons und die Missongs ziehen zusammen1942: Mein Vater zum zweiten Mal zurück in ein Wiener GefängnisAugust 1942: Mein Vater endgültig nach Buchenwald1943. KapitelMein Vater in akuter ErmordungsgefahrMein Vater möchte leben, sein Sohn sterbenMein angelernter katholischer Glaube verflüchtigt sich6. Im BombenkriegWien wird BombenzielAnfang 1944: Ich werde Luftwaffenhelfer»Es geht ihm gut …«Bombenkrieg in WienFrühjahr 1944: Mein Vater im KZ erneut in TodesgefahrDie KZ-Gefangenen von AchauFrühjahr, Sommer, Herbst, Winter 1944: Briefe aus dem KZVorweihnachtszeit 1944: Briefe und BombenWeihnachten 19447. BefreiungAnfang 1945: Abenteuer und GefahrenDie Befreiung meines VatersApril 1945: Die »Befreiung« Wiens durch die Rote ArmeeLeben im besetzten WienWas mein Vater nach seiner Befreiung erlebteUnsere Familie wieder beisammenFazit für einen Siebzehnjährigen nach siebenjähriger UnterdrückungFriedenszeitBildteilLiteraturverzeichnis
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Für Matthias, Beate, Manuela,

Anna, Jonas, Ethan und Max

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Vorwort

»Lieber Vati. Wie ist denn das Wetter bei Dir? Ich glaube Du wirst es nicht wissen, weil zu Dir keine Sonne und kein Regen kommt!«, schrieb mein Bruder Alexius am 3. März 1939 an unseren Vater ins Gefängnis. Der saß in Gestapohaft, mein Bruder und ich saßen in einem Kloster fest. Eine zerrissene Familie. Was war geschehen?

Am 12. März 1938 hatte der deutsche Reichskanzler und »Führer« Adolf Hitler den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich erzwungen. An jenem Tag wurde mein Vater, nach misslungener Flucht aus Wien, verhaftet. Er hatte sich in Österreich an Aktionen gegen Hitler beteiligt. Sieben Jahre lang hielt ihn die gefürchtete deutsche »Geheime Staatspolizei« in Gefängnissen und in einem Konzentrationslager gefangen. Mein Bruder und ich wurden für drei Jahre in einem bayrischen Kloster untergebracht. Meine Mutter schlug sich in Wien mit meiner kleinen Schwester durch. Ab September 1941 verfolgten die Nazis die Juden mit aller Härte. Das traf auch meinen Vater; seine Mutter war Jüdin. 1944 geriet Wien in den Einzugsbereich der alliierten Bomber. Das ganze Jahr 1944 hindurch musste ich als »Flakhelfer« solche Flugzeuge abschießen helfen. Im April 1945 brachte die Besetzung Wiens durch sowjetische Truppen neue Ängste und Entbehrungen. Im selben Monat erreichten amerikanische Truppen das KZ Buchenwald; mein Vater war nach siebenjähriger Gefangenschaft frei. Hitler beging Selbstmord. Deutschland kapitulierte. Die Herrschaft der Nazis war zu Ende. Ab August 1945 war unsere Familie wieder beisammen. Doch was war aus ihr geworden? Und wie hatten wir die schwere Zeit überstanden?

Die siebenjährige Gefangenschaft meines Vaters zerfällt in zwei Phasen: dreieinhalb Jahre Inhaftierung in Wien und die insgesamt ebenso lange KZ-Gefangenschaft. Als Gefangener der Gestapo in Wien schwankte mein Vater zwischen immer neuer Hoffnung auf Freilassung und immer neuer Enttäuschung. Die durch Willkür bewirkte Ungewissheit war die schlimmste seelische Folter, die er erlitt. Im KZ hingegen konnte er nicht mehr enttäuscht werden. Dass die Gestapo ihn nicht mehr freilassen würde, war ihm zur Gewissheit geworden. Doch je mehr sich das Kriegsglück von Deutschland abwendete, desto mehr konnte er hoffen, von alliierten Truppen befreit zu werden. Dies war eine zwar nicht unmittelbare, dafür aber auch nicht mehr trügerische Hoffnung.

Über seine Zeit im KZ hat mein Vater später öfter berichtet. Von diesen Berichten habe ich die aufschlussreichsten in dieses Buch aufgenommen. Anders verhält es sich mit den dreieinhalb Jahren, die mein Vater im Gefängnis verbrachte. Sie wurden bisher nur spärlich dokumentiert. Diese Lücke wird in dem vorliegenden Buch mit zahlreichen Originaldokumenten geschlossen.

Meine Eltern hatten zwei Möglichkeiten, während der Gefangenschaft meines Vaters miteinander in Verbindung zu bleiben. Die eine Möglichkeit waren »normale« Postbriefe und Postkarten. Textumfang und Schreibzeiten waren beschränkt, der Inhalt wurde zensiert. Dies ließ keine vertraulichen Mitteilungen zu. Mein Vater bediente sich mehrerer Methoden, um diese Beschränkung zu umgehen. Eine Methode war eine Wasserschrift. Wenn man das Papier anfeuchtete und gegen das Licht hielt, wurde die Schrift lesbar. Eine zweite Methode war, den Text zu verschlüsseln – am einfachsten durch die Verwendung von Decknamen.

Meine Mutter ihrerseits versuchte, die Zensur als Gelegenheit zu nutzen, um Hafterleichterungen zu erreichen. Manche ihrer Briefe und Karten wirken mehr an den Zensor als an meinen Vater gerichtet. Sie betonte die schlimmen Verhältnisse, in denen die Familie zu leben gezwungen war, und die Ungerechtigkeit der langen Gefangenschaft ihres Mannes. Nur war der Zensor die falsche Adresse. Er hatte »Vorschriftswidriges« und »Gefährdendes« durch Schwärzung unlesbar zu machen. Hingegen war es nicht seine Aufgabe, Klagen und Beschwerden an die Gestapo-Referenten weiterzugeben, damit sie endlich ein Einsehen hätten.

Die zweite Möglichkeit schriftlicher Verständigung zwischen meinen Eltern waren versteckte Mitteilungen (Kassiber). Sie setzen entweder einen persönlichen Kontakt oder den Austausch von Gegenständen (Wäsche, Toilettenartikel, Nahrungsmittel, Zeitschriften, Bücher) voraus, in denen sie versteckt werden können. Meine Eltern konnten Kassiber nur austauschen, wenn mein Vater in einem Wiener Gefängnis war. Dann durfte meine Mutter ihm einmal in der Woche saubere und geflickte Wäsche bringen, während umgekehrt er ihr seine defekte und schmutzige Wäsche herausgeben ließ. Aus dem KZ Buchenwald war ein offizieller Austausch von Gegenständen nicht möglich. Zwar konnte mein Vater Päckchen und Pakete empfangen, doch wäre es zu riskant gewesen, darin persönliche Nachrichten zu verstecken.

Der Austausch von Kassibern – in beide Richtungen – gewährleistete, so mühselig er war, einen vertraulichen Kontakt. Auf diese Weise konnte mein Vater sich einen kleinen kontrollfreien Bereich von Liebe, Austausch, Verständnis und Aufrichtigkeit mit einem Rest von Selbstbestimmung bewahren. Im Gefängnis hatte er mehrere Methoden gelernt, um Kassiber anzufertigen und versteckt auf den Weg zu bringen. Als die Kontrollen noch nicht so penibel waren, legte er sehr dünne Papierservietten zwischen Wäsche- und Kleidungsstücke. Später ritzte er Nachrichten in Packpapier ein. Wenn meine Mutter das Papier im richtigen Abstand über eine Flamme hielt, verkohlte die Schrift und wurde sichtbar. Meine Mutter musste aber sehr sorgfältig vorgehen, damit nicht das Papier in Flammen aufging. Mit zunehmender Erfahrung kritzelte mein Vater seine Botschaften auf schmale Stoffstreifen. Die nähte er in den Saum von Wäschestücken ein. Dasselbe tat meine Mutter.

Meine Mutter hob alle schriftlichen Mitteilungen meines Vaters auf, auch die Kassiber. Das war riskant. Sie musste jederzeit mit einer Durchsuchung rechnen, hatte aber in dem einen Raum, in dem sie mit uns drei Kindern lebte, kaum Verstecke. Doch sie hatte Glück. Die Kassiber überstanden Krieg und Nazizeit unentdeckt als Knäuel gräulicher Stoffstreifen mit verblasster Schrift. Die Kassiber meiner Mutter konnte mein Vater in seiner Zelle nicht aufbewahren. Sie sind verlorengegangen. Ebenso ist keiner der Briefe erhalten geblieben, die er im KZ erhielt. Er seinerseits konnte meiner Mutter unmittelbar vor seiner ersten Verschickung ins KZ alle Briefe und Postkarten übergeben lassen, die ihn bis dahin in seinem Wiener Gefängnis erreicht hatten. So sind sie erhalten geblieben.

Nach dem Tod meiner Eltern sortierte ich ab 1989 aus dem schriftlichen Nachlass meines Vaters alle von mir aufgefundenen Briefe, Postkarten und versteckten Mitteilungen der Jahre 1938–1945 aus. Aus dem vorhandenen Quellenmaterial konnte ich jedoch lediglich eine knappe Auswahl berücksichtigen. Dies hat folgende Gründe. 1. Ein Teil der versteckten Mitteilungen meiner Eltern in das oder aus dem Gefängnis konnte noch nicht lesbar gemacht werden. 2. Aus den erhalten gebliebenen Briefen und Postkarten sowie aus den bisher lesbar gemachten versteckten Mitteilungen habe ich alle Textstellen gestrichen, a) in denen auf Ereignisse und Personen Bezug genommen wird, die nicht mehr erklärt werden können oder die für dieses Buch uninteressant sind, b) deren Veröffentlichung Persönlichkeitsrechte verletzen würde. 3. Zusätzliche Kürzungen musste ich vornehmen, um den Rahmen des Buches nicht zu sprengen. Alle Auslassungen sind mit drei Punkten kenntlich gemacht. Alle in diesem Buch abgedruckten Briefe, Postkarten und versteckten Mitteilungen sind Erstveröffentlichungen. Die ursprüngliche Schreibweise wurde weitgehend beibehalten. Meine Eltern und meinen Bruder hätte ich gerne um ihre Einwilligung zur Veröffentlichung ihrer Briefe gebeten. Doch sie leben nicht mehr. Alle ihre Äußerungen sind achtenswert und ein authentisches Stück Zeitgeschichte. So fühle ich mich ermächtigt, anzunehmen, dass sie nichts gegen die Veröffentlichung einzuwenden gehabt hätten. Ich bin mir bewusst, dass ich, ohne etwas beschönigen zu wollen, als Sohn und Bruder der guten Erinnerung an diese drei mir nahestehenden Menschen verpflichtet bin.

Die Idee zu diesem Buch hatte mein Sohn Matthias. Ursprünglich wollte ich nur den Briefwechsel publizieren, den mein Bruder und ich in den knapp drei Jahren unseres bayrischen Kloster-Exils mit unserer in Wien verbliebenen Mutter geführt hatten. Der Verlag meinte, wenn schon, dann sollten es der gesamte Briefwechsel der auseinandergerissenen Familie und ihre Erinnerungen aus allen sieben Jahren der Inhaftierung meines Vaters sein. Das Material war vorhanden, wenngleich an mehreren, nicht immer leicht zugänglichen Orten. Ich brauchte es »bloß« zusammenzutragen, zu sichten, zu ordnen, zu kürzen und erforderlichenfalls zu erklären, zu kommentieren und die Lücken durch eigene Texte zu füllen. Es war nicht immer leicht, alle Einzelteile zu einem konsistenten Bild zusammenzufügen. Meine Frau brachte mit großem Engagement ihren Realitätssinn, ihre Sachkenntnis und ihr Sprachgefühl ein. Von meinen beiden in der Nähe wohnenden Kindern Matthias und Beate erhielt ich wertvolle Anregungen. Meine in San Francisco wohnende Tochter Manuela ließ es sich trotz der großen Entfernung nicht nehmen, das Projekt mit wichtigen Hinweisen aus ihrer Berufs- und Erfahrungswelt mitzugestalten. Dipl.-Ing. Gerhard Raganitsch, Dr. Agnes Missong-Wild und Botschafter a.D. Dr. Alfred Missong junior ließen mich bereitwillig an ihren Erinnerungen teilhaben. Elisabeth Battke überließ mir die »Skizzen von Dr. Kogon« auf S. 136. Das Bonner Archiv der Sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung öffnete mir bereitwillig seine Bestände. Ihnen allen danke ich herzlich.

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Zeittafel zu Eugen Kogon

2.Februar 1903: Eugen Kogon wird in München geboren. Mutter Jüdin aus Nikolajew in der Ukraine, Vater unbekannt. Bis zum elften Lebensjahr Pflegekind in einer Münchner Familie.

1914–1918: Internatsschüler in zwei Klöstern.

Ab 1923: Studium der Nationalökonomie und der Soziologie in München, Florenz und Wien. Wohnsitznahme und freiberufliche Tätigkeit in Wien.

1927 Promotion. Eheschließung mit der Münchner Jugendfreundin Margarethe Lang. Eintritt in die Redaktion der Wiener katholisch-konservativen Wochenschrift Schönere Zukunft.

Oktober 1932–12. Januar 1934: Geschäftsführer und Mitgesellschafter der Neuen Zeitung.

23. Februar–12. April 1934: Chefredakteur des Österreichischen Beobachters.

Juni 1934: endgültiger Abschied von der Illusion, der Nationalsozialismus könne »verchristlicht« werden. Von da an Beteiligung an Aktionen gegen den Nationalsozialismus.

Ab 1935 Vermögensverwalter des Prinzen Coburg.

11. März 1938: beim »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich misslungene Flucht und Verhaftung.

Mai 1938: erstes Verhör. Schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung.

September 1939: Verschickung in das KZ Weimar-Buchenwald. Arbeit im mörderischen »Schachtkommando«, dann durch Bestechung in einer wettergeschützten »Feldschmiede«.

Januar 1940: Rücktransport in ein Wiener Gefängnis zwecks Einvernahme als Zeuge.

Juni 1941: wieder nach Buchenwald, Arbeit in der Häftlingsschneiderei.

Februar 1942: ein zweites Mal zu Zeugenaussagen in ein Wiener Gefängnis.

August 1942: definitiv nach Buchenwald. Arbeit wieder in der Häftlingsschneiderei.

Frühjahr 1943: Gestapo-Befehl zur Überstellung nach Auschwitz zwecks Vergasung. Dramatische provisorische Rettung durch Stellenantritt als Schreiber bei einem gefürchteten SS-Lagerarzt.

Februar 1944: nochmalige Nachfrage der Gestapo Wien: »… Volljude … warum noch immer nicht überstellt?«

März 1944: Registrierung als »Volljude«. Definitive Rettung durch den SS-Arzt. Deal: Wenn der SS-Arzt Kogon und andere Gefangene schützt, wird Kogon dies nach der deutschen Kriegsniederlage wahrheitsgemäß bezeugen.

Oktober 1944: mit Deckung durch den SS-Arzt Rettung des französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel.

April 1945: Amerikanische Truppen befreien das KZ Buchenwald.

1946: Erscheinen von Kogons Buch Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager und Gründung der Zeitschrift für Kultur und Politik Frankfurter Hefte. Von da an wurde Kogon zu einer bekannten Orientierungsfigur der moralischen und geistigen Erneuerung Deutschlands.

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1. Flucht und Verhaftung

März 1938: Der »Anschluss« Österreichs und die Flucht meines Vaters

11. März 1938, Freitag. Ein »ekelhaft kalter Tag«, erinnerte sich meine Mutter später. Mein Bruder und ich drückten Radieschensamen in die Erde der beiden Beete, die unsere Eltern uns zwischen dem Nussbaum und den Weichselbäumen zugeteilt hatten, als Aufgabe ebenso wie zum Vergnügen. Im Krottenbachtal brannten bereits die Straßenlaternen. In Sievering drüben verloren sich die Weinberge in der Dämmerung. In der Baumschule nebenan arbeitete niemand mehr. Die Kälte trieb uns ins Haus zurück. Hungrig stürmten wir die paar Stufen zur Glasveranda hinauf. Unsere Mutter hatte uns nicht gerufen. Der Tisch war nicht gedeckt, die Küche verwaist. Die Eltern drängten sich im Wohnzimmer vor dem Radio. Schließlich bat eine sehr ernste Stimme Gott, er möge Österreich schützen. Mein Vater zündete sich eine Zigarette an. Meine Mutter rannte in die Diele, schob die Portiere zur Seite und eilte die geschwungene Treppe hoch. »Promotionsurkunde im Schreibtisch rechts!«, rief mein Vater ihr nach. Nach einer Weile kam sie mit einem Koffer herunter. Das Telefon läutete, schrill. Mein Vater dämpfte seine Stimme, obwohl außer uns niemand da war, der hätte mithören können. Meine Mutter kramte im geöffneten Koffer. Es tat ihr sichtlich wohl, sich abzulenken. Einen zweiten Telefonanruf beendete mein Vater rasch. Aufgeregt redete er auf meine Mutter ein, als könne nur noch Reden helfen, und doch half gerade Reden nichts mehr. Mein Bruder und ich suchten in der Küche nach Essbarem. Die Sekretärin meines Vaters – für ihn Fräulein Schultz, für uns Tante Sophie – kam, auch sie beunruhigt, aus dem Arbeitszimmer herunter, auf dem Arm meine dreieinhalbjährige Schwester Cornelia, das Mauserl.

Bald erfuhr ich, was es mit jenem Satz im Radio auf sich gehabt hatte, in dem Gott von einem offenbar wichtigen Mann um den Schutz Österreichs gebeten worden war. Der Mann war der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg gewesen. Mit jenem Satz hatte er seine Abdankung verkündet. Die hatte Adolf Hitler von ihm gefordert. Er sollte seinen Sessel für einen nationalsozialistischen Bundeskanzler räumen. Der sollte dann für den auch formell korrekten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich sorgen. Schuschnigg hatte in seiner Abdankungsrede außerdem das österreichische Bundesheer angewiesen, bei einem Einmarsch deutscher Truppen sich ohne Gegenwehr zurückzuziehen. Das kleine Land lag ungeschützt vor dem aufgerissenen Maul des »großen Bruders«.

Kurz nach seiner Abdankung wurde Schuschnigg in seiner Wiener Dienstwohnung im Schloss Belvedere unter Hausarrest gestellt. Dann überstellte ihn die deutsche Gestapo als ihren Gefangenen in ihr gefürchtetes Wiener Hauptquartier im beschlagnahmten Hotel Metropol am Morzinplatz. Von dort verschickte sie ihn, wie später auch meinen Vater, in ein KZ. »Seines« hieß Dachau, dasjenige meines Vaters Buchenwald. Ein schöner Name für einen so schlimmen Ort. Das noch schlimmere KZ Auschwitz trug den Zusatznamen Birkenau. Dort wuchs keine Birke und schimmerte auch keine Au neben den offenen Gräben, in denen die frisch vergasten Menschen in unerträglichem Gestank verbrannten. In der geographischen Mitte des KZ Buchenwald stand immerhin eine »Goethe-Eiche«. Die SS hatte sie bei der Rodung pietätvoll – oder zynisch – stehen lassen.

Die Nacht jenes 11. März senkte sich schwer auf unser Land. Mein Vater schleppte den Koffer zu seinem dunkelblauen Hudson Terraplan. Abhauen, das passte nicht zu ihm. Wir standen winkend am Straßenrand: meine Mutter, mein Bruder, Tante Sophie mit dem Mauserl auf dem Arm und unsere junge fröhliche Haushaltshilfe Olga. Ebenso wie Tante Sophie wohnte Olga mit uns im Haus. Noch nie hatte unser Vater sich von unserer Mutter verabschiedet, ohne ihr mitzuteilen, was er vorhatte und wann er zurückkommen würde. Das war diesmal zwangsläufig unterblieben, außer dass er ihr etwas Tröstendes zugerufen haben mochte: Wird schon werden, mach dir keine Sorgen, bin bald wieder da, – wahrscheinlich eher: Ich hole euch bald nach. Tröstungen ohne Substanz, nur dazu gedacht, die Angst zu verscheuchen. Doch die Angst kroch in uns hoch, nachdem das Auto in der Dunkelheit verschwunden war.

Es sollte ein Abschied für längere Zeit werden, genauer gesagt: für sieben Jahre. So gesehen, hätte er feierlicher sein müssen. Der beträchtlichen Dauer stand eine sehr kurze Wegstrecke der Abwesenheit gegenüber. Nach 46 Kilometern wurde mein Vater verhaftet und nach Wien zurückspediert. Danach hatte er noch anderthalb Jahre Gestapo-Gefangenschaft zu erdulden, bis er zum ersten Mal in das KZ auf dem Ettersberg oberhalb der Goethe-Stadt Weimar verbracht wurde.

An unserem Abschied hatten auch unsere beiden Möpse Moritz und Nanette durch Dabeistehen teilgenommen. Moritz und Nanette waren Zuschauer von Natur aus. Wien und seine phlegmatischen Hunde: Ist es denkbar, dass der Charakter einer Menschenbevölkerung sich auf den Charakter der von ihr gehaltenen Hunde überträgt? Jedenfalls sorgten die beiden Möpse in unserer Familie für das Beruhigungsprogramm. Je lebhafter es zuging, desto behäbiger benahmen sie sich. Als mein Bruder und ich wenig später abgeholt wurden, um in ein bayrisches Kloster verfrachtet zu werden, sahen die beiden Möpse ebenfalls bloß zu. Bald darauf wurden auch sie abgeholt.

Moritz und Nanette waren eine Leihgabe von Onkel Jussy. Hauptmann Julius Glaser war Direktor im Wiener Bank- und Kommissionsgeschäft Hübner & Cie. Mein Vater war in jenem Bankhaus nur Prokurist, dies aber im Auftrag eines Prinzen – als Treuhänder für einen Teil von dessen Familienvermögen. Einmal war der Prinz bei uns zu Gast. Er war nicht jung, und auch Locken hatte er keine und auch keine Prinzessin an seiner Seite. Sollten die Gebrüder Grimm mich hereingelegt haben? Wenigstens einen prinzlichen Namen trug er. Der war so lang, dass ich ihn mir nicht merken konnte. Bei uns zu Hause hieß er einfach »der Prinz« oder, wenn respektvollerer Abstand gefordert war, »Prinz Coburg«.

Von 1927 bis 1933 war mein Vater Redakteur, später stellvertretender Chefredakteur der konservativ-katholischen Zeitschrift Schönere Zukunft gewesen. 1935 war er, nach einem Intermezzo bei zwei Wiener Zeitungen, in die Dienste ebenjenes Prinzen getreten. Das ideelle Bindeglied zwischen den beiden Männern war der »christliche Ständestaat«, eine unter österreichischen Katholiken weitverbreitete Idee. Mein Vater hatte sie sich im Rahmen seiner Klostererziehung angeeignet. Gemäß dieser Idee sollten die Klassengegensätze in Wirtschaft und Gesellschaft durch eine quasidemokratische berufsständische Ordnung (Nazi-Beispiel: »Nährstand, Lehrstand, Wehrstand«) überwunden und die parlamentarische Demokratie angesichts ihrer als desaströs empfundenen Funktionsunfähigkeit in vielen europäischen Ländern durch eine autokratische Staatsordnung ersetzt werden. Die europäischen Diktatoren oder Halbdiktatoren der zwanziger und dreißiger Jahre – Mussolini in Italien, Franco in Spanien, Salazar in Portugal, Horthy in Ungarn, Dollfuß und Schuschnigg in Österreich, Hitler in Deutschland – legten alle ein Lippenbekenntnis zur demokratischen Ordnung innerhalb der Stände ab, hatten aber in Wahrheit vor allem den anderen Teil der Idee im Sinne: eine nicht demokratisch legitimierte Regierung. Mein Vater versprach sich Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre viel vor allem von Mussolini, dem »Duce« und Ministerpräsidenten des Königreichs Italien, und noch die Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 kommentierte er mit der Hoffnung, der Nationalsozialismus werde ein Bollwerk gegen den Bolschewismus sein und sich »verchristlichen« lassen.

Von seiner anfänglichen Affinität zu Teilen des politischen Systems Hitlers distanzierte sich mein Vater schon 1934. (Jahre nach dem Ende des Krieges, 1961, verarbeitete er seine Erfahrungen mit Diktatoren in dem Film Die Diktatoren. In ihm versuchte er verständlich zu machen, warum in den dreißiger Jahren so viele Menschen, auch er, auf jene Machttypen hereingefallen waren. Vermutlich war dieser erste Ausflug meines Vaters in die Welt der Filmproduktion nicht sehr gelungen. Immerhin legte er aber den Grund zu seiner anschließenden Erfolgskarriere als Moderator politischer Magazine – zuletzt von Panorama – im jungen deutschen Fernsehen.) So entschloss sich mein Vater zur »… Mitarbeit an dem, was man die Verhinderung der nationalsozialistischen Machtergreifung in österreichischen Presseorganen nennen könnte … Da fand ein Jahr lang, von 1933 auf 1934, ein erbitterter Untergrundkampf statt, in dem ich mit Rafael Spann, einem Sohn Othmar Spanns, und zwei anderen einiges gegen die Nationalsozialisten organisierte.«[1]

Othmar Spann, seit 1919 ordentlicher Professor für Nationalökonomie und Gesellschaftslehre an der Universität Wien, war der Begründer der Gesellschaftslehre des »Universalismus« und ein wichtiger Vertreter der Ständestaatsidee. Mein Vater promovierte bei ihm 1927 zum Thema Faschismus und Korporativstaat. »Der Grundgedanke des Universalismus von Spann ist der uralte aristotelische Satz, wonach ›das Ganze vor dem Teil‹ ist … Dieser Grundsatz … vom Organismus und seinen Teilganzen führt einerseits zu der Erkenntnis, daß im staatlichen Leben Autorität und Bindung (nicht Knebelung) höher stehen als die Freiheit, die ja in der Anarchie, d.h. der Autoritäts- und Bindungslosigkeit, nicht ihren Höhepunkt erreicht, wie es bei umgekehrter Rangstellung der Fall sein müßte, sondern zerfällt, weil nur Bindung Freiheit überhaupt ermöglicht; andererseits zu den ›Baugesetzen des sozialen Lebens‹, deren eines besagt, daß organisches, fruchtbares Staatsleben nur über kleine Kulturgemeinschaften (Familie, Stand) möglich ist (Stufenbau des sozialen Körpers), ein anderes aber, daß demokratische Abstimmung und politische Autonomie nur unter relativ Gleichen, also im Stand, denkbar sind.«[2] Nach anfänglichen ideologischen und organisatorischen Querverbindungen zwischen dem Spannschen Universalismus und dem Nationalsozialismus entwickelten sich die beiden Richtungen bis 1938 weit auseinander. Nach dem »Anschluss« Österreichs wurde Spann verhaftet, in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert und schwer misshandelt.

Mein Vater hatte nach seinem Ausscheiden aus der Redaktion der Schöneren Zukunft die Leitung der von den christlichen Gewerkschaften Österreichs getragenen Neuen Zeitung übernommen. Sie erschien von Januar 1933 bis Januar 1934. Im Herbst 1933 geriet sie in finanzielle Schwierigkeiten. Mein Vater hatte bereits eine Finanzhilfe von rund 150000 Schilling organisiert. Weitere 15000 Schilling steuerte ein Nationalsozialist namens Zogelmann bei. Damit sicherte er sich eine Option auf den Erwerb der Zeitung. Mit seiner Finanzhilfe erreichte er, dass österreichische Nazis den Vertrieb der Neuen Zeitung übernehmen konnten und dass er selbst in die Finanzverwaltung der Zeitung aufgenommen wurde. Aus Angst vor Verhaftung nach einer anonymen Anzeige angeblich meines Vaters floh er Anfang Dezember nach Hitler-Deutschland. Dort gab er bei der Gestapo zu Protokoll, er habe der Neuen Zeitung60000 (statt 15000) Schilling zur Verfügung gestellt, und demgemäß gehöre die Zeitung seither ihm beziehungsweise einer von ihm zu benennenden Gruppe. Entsprechende Belege seien aber aus seiner Schublade entwendet worden, wiederum vermutlich von meinem Vater. Die Anzeige Zogelmanns war einer der Gründe, warum die Gestapo meinen Vater nicht wieder freiließ.

Beim »Röhm-Putsch« vom 30. Juni 1934 verlor mein Vater den letzten Rest seiner Hitler-Illusionen. »Ich bin der Meinung, daß das Ereignis des 30. Juni jedem, wo immer er stand, klarmachen mußte, daß es sich in der Tat um ein Unrechtsregime äußersten Ausmaßes handelte … Der 30. Juni ist für mich also wirklich der entscheidende Einschnitt, von dem an es für mich sozusagen keinen ›Pardon‹ mehr gab.«[3] Sein politisches Engagement in den anschließenden vier Jahren bis 1938 schilderte mein Vater später so: »Auch ich half, um zuerst das Einfache, aber menschlich Wichtige zu nennen, systematisch deutschen Emigranten in Österreich. Zweitens finanzierte ich … antinationalsozialistische Bestrebungen in Deutschland selbst. Drittens versuchte ich mitzuhelfen, international alle Richtungen, die gegen den Nationalsozialismus arbeiteten, in einen Informationszusammenhang zu bringen.«[4]

Die Finanzierung »antinationalsozialistischer Bestrebungen in Deutschland« erklärte mein Vater später so: »Als Vermögensverwalter des Prinzen kam ich geschäftlich öfters nach Deutschland, wo wir große Sperrmarkbeträge hatten.«[5] … »Wir hatten damals dem Matthias-Grünewald-Verlag … für Teile seiner Tätigkeit – besonders die religiösen, kirchlichen, zum Beispiel die berühmte Riessler Bibel – 30000 Sperrmark aus unseren Vermögensbeständen vermittelt.«[6] … »Ich wurde in Deutschland zweimal von der Gestapo verhaftet. Die erste Inhaftierung 1936 dauerte nur einen Tag. Das zweite Mal verhaftete mich die Gestapo im März 1937. Beide Male warf man mir Zuwiderhandlungen gegen die deutschen Devisengesetze und, im Gesamtzusammenhang meiner Arbeit für antifaschistische Kräfte außerhalb des Reichsgebiets, die Unterstützung deutscher Emigranten in Österreich, der Tschechoslowakei und der Schweiz vor. Bei der zweiten Verhaftung wurde ich nach vierzehn Tagen bedingt auf freien Fuß gesetzt, aber ich durfte Deutschland nicht verlassen. Nach viereinhalb Monaten wurde mir in Wiesbaden der Prozeß gemacht, und ich wurde als Vertreter des Prinzen Coburg wegen wiederholten Verstoßes gegen die deutschen Devisengesetze im Zusammenhang mit der finanziellen Unterstützung eines großen katholischen Verlagshauses in Deutschland vom Ausland her zu einer Geldstrafe von 10000 Reichsmark verurteilt, die der Prinz bezahlte.«[7]

Ein Tätigkeitsbild, das dem meines Vaters ähnelt, zeichnet Rudolf Ebneth in seinem Buch Die österreichische Wochenschrift »Der Christliche Ständestaat«[8] von Klaus Dohrn. Diese Zeitschrift, deren Chefredakteur Dohrn damals war, erschien von 1933 bis 1938. Sie bildete einen ideellen Gegenpol zur Schöneren Zukunft. Weltanschauliche Konflikte zwischen den beiden Zeitschriften waren vorprogrammiert. Das schloss freundschaftliche Beziehungen zwischen meinem Vater und Klaus Dohrn nicht aus, zumal mein Vater schon vor dieser Freundschaft aus der Redaktion der Schöneren Zukunft ausgeschieden war. Dem Christlichen Ständestaat fehlte es oft an Geld. Anfang 1937 hatte Caspar Graf Preysing, ein Angestellter des Privatbankhauses Hübner & Cie, Klaus Dohrn darauf aufmerksam gemacht, dass mein Vater bereit sei, dem Christlichen Ständestaat auszuhelfen. »Kogon half tatsächlich mit verschiedenen Zuwendungen, unter anderem durch die Bezahlung von Druckrechnungen. Mitte 1937 stand sogar der Kauf der Zeitschrift durch Kogon zur Debatte.«[9]

Klaus Dohrn und mein Vater agierten gegen Hitler in vergleichbarer Weise. Die Gestapo schätzte sie jedoch unterschiedlich ein. Dohrn war aus Deutschland geflohen, weil er um sein Leben fürchtete. Mein Vater floh, weil er um seine Freiheit fürchtete. Was Dohrn in Deutschland gegen die Nazis unternommen hatte, mochte nach Nazi-Recht strafbar gewesen sein. Für das, was mein Vater in Österreich unternommen hatte, galt Nazi-Recht nicht. Für die Gestapo war dies allerdings nur ein formeller Unterschied. Dennoch scheint sie Dohrn als »Staatsfeind«, meinen Vater hingegen »nur« als Regimegegner angesehen zu haben.

1937 leistete sich mein Vater den nächsten Affront. »Im Spätherbst 1937 hatte ich in Frankfurt am Main Gelegenheit, mich mehrere Nachmittage lang mit einem SS-Führer der Burg Vogelsang eingehend zu unterhalten.«[10] In der NS-Ordensburg Vogelsang in der Eifel schulte die NSDAP1936–39 ihren Kadernachwuchs. Diese Burg war in Deutschland nach den Parteitagsbauten in Nürnberg das größte Bauwerk der Nazis. »Es war eine ganz offene Aussprache. Ich glaube aber nicht, daß er mich nachher ans Messer geliefert, das heißt veranlaßt hat, daß die erste Verhaftungsliste, die die Gestapo am 12. März 1938 beim Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich von Berlin nach Wien mitbrachte, meinen Namen enthielt. Ich vermute, daß meine Verhaftung auf ganz andere Tätigkeiten zurückging … Die Gestapo wußte, daß ich Klaus Dohrn und eine ganze Reihe anderer Persönlichkeiten sehr unterstützt hatte.«[11]

Um das Maß voll zu machen: »Im Frühjahr 1938, vor dem deutschen Einmarsch in Österreich und meiner Verhaftung gleich am ersten Tag, arbeitete ich an einem Buch Gespräche mit Deutschen. Es sollte die Erfahrungen zusammenfassen, die ich bei zwei Reisen durch Deutschland gemacht hatte … Ich erinnere mich, meinen Gesamteindruck wie folgt angedeutet zu haben: Damals, Jahre nach 1933, gab es nur wenige Deutsche, die nicht in irgendeinem Punkt mit dem Nationalsozialismus übereinstimmten und irgend etwas an seiner Praxis begrüßenswert, zumindest anerkennenswert fanden. Ebenso wenig Deutsche, außerhalb der Partei, gab es, die an dieser Praxis nicht noch mehr auszusetzen hatten. So gut wie niemanden aber gab es, wiederum außerhalb der NSDAP und ihrer direkten Anhängerschaft, der gewagt hätte, mit Sicherheit zu sagen, daß dies der richtige politische Weg der Deutschen in die Zukunft sei. Die erklärten Gegner sahen den Krieg voraus. Sonst fast jedermann verschloß die Augen davor, hoffte auf ein Arrangement in der Außenpolitik, bei dem ›Großdeutschland‹ mit respektiertem Ansehen in der Welt erhalten blieb, sowie auf ›Normalisierung‹ im Innern, das heißt Abschluß der revolutionären Veränderungen und ›vernünftige Kompromisse‹, in denen man das bereits Verfügte einschließlich massiver Unrechtsmaßnahmen hinzunehmen bereit war, wenn sie sich nicht fortsetzten.«[12]

Meine Mutter vernichtete das Buchmanuskript Gespräche mit Deutschen nach der Verhaftung meines Vaters. Ich kann mir vorstellen, wie einem Schriftsteller zumute ist, der sein Werk vernichten lassen muss. Vermutlich glaubte mein Vater, es später neu schreiben zu können. Um dafür einen Anhaltspunkt zu haben, schickte er meiner Mutter im Juni 1940 aus dem Gefängnis einen Kassiber mit dem Inhaltsverzeichnis.

Als i-Tüpfelchen seiner »regimefeindlichen Gesinnung« hatte mein Vater in einer Veröffentlichung Hitler-Deutschland »das Land der Kasernen und der Gefängnisse« genannt.

All dies zusammengenommen reichte aus, um ihn nach der Abdankung Schuschniggs zur Flucht zu bewegen. Groteskerweise erbrachte die Flucht einen neuen Straftatbestand. Einer der beiden Männer, mit denen mein Vater nach Schuschniggs Rede telefoniert hatte, war ebenjener Klaus Dohrn gewesen. Er hatte meinen Vater gebeten, ihn mitzunehmen. Ihm gelang als Einzigem die Flucht. Damit konnten die Nazis meinen Vater wegen Fluchterleichterung bzw. Fluchthilfe belangen. Ein Gestapo-Referent hielt meinem Vater bald darauf vor, allein dies reiche aus, ihn zwei Jahre in Haft zu behalten.

Die Flucht misslingt

Der Wagen meines Vaters war in der Dunkelheit verschwunden. Wir gingen mit dem Gefühl in das Haus zurück, auch wir müssten es bald verlassen. Aus einem Fenster des Nebenhauses lugte ein Hakenkreuz-Fähnchen. Die erste Ratte hatte sich aus dem Versteck gewagt, im aufsteigenden Schiff.

Mein Vater fuhr als Erstes zu Alfred Missong. Der wohnte mit seiner Familie nicht weit weg von uns in der Hartäckerstraße. Er war ein früherer Kollege aus der Zeit der gemeinsamen Redaktionsarbeit in der Schöneren Zukunft. Unsere Familien waren befreundet. Die Kogons hatten die Missongs oft am Sonntagnachmittag besucht und Kuchen und Marzipanfiguren von der Konditorei Aida oder vom k.u.k. Hofzuckerbäcker Demel mitgebracht. Lia, die attraktive Frau Alfred Missongs, war meinem Vater sehr zugetan, und auch er mochte sie gut leiden. Beiderseits bestand Einvernehmen, dass ich als ältestes Kogon-Kind einmal die älteste Missong-Tochter Agnes heiraten würde. Agnes und ich verbannten diese elterliche Vision nicht ganz aus unserem Bewusstsein, aber sie beschäftigte uns auch nicht sehr. Wir waren Kinder.

Als Nächstes holten mein Vater und Alfred Missong Klaus Dohrn ab. Die drei Freunde fuhren die 46 Kilometer zu dem der Familie Kohary gehörenden Schloss Ebenthal bei Dürnkrut – auch »Schloss Coburg« genannt. Anders als gehofft war die tschechoslowakische Grenze geschlossen. Klaus Dohrn schwamm durch den Grenzfluss March und rettete sich. Mein Vater und Alfred Missong wurden verhaftet.

Nach seiner Einlieferung in ein Wiener Gefängnis verfasste mein Vater bis zum 26. August 1938 einen Kriminalroman, Zelle 26, von dem nur ein Fragment erhalten ist. Mehrere Indizien sprechen dafür, dass seine darin enthaltene Schilderung der Flucht und des Gefängnislebens autobiographisch ist. 26 war tatsächlich die Nummer seiner Zelle. Der Monat stimmt: März. Der Gefangene ist, wie er, Intellektueller, trägt eine Brille. Die Diele seines Hauses ist identisch mit der Diele des von uns bewohnten Hauses an der Glanzinggasse 7. Auch der Bericht über den Fluchtversuch ist weitgehend authentisch. Die Reaktion der Gestapo, diesen Roman als Unrechtsakt zu bewerten, spricht dafür, dass auch sie ihn für authentisch hielt.

Andererseits fehlen Passagen, die meinen Vater als Flüchtling oder Fluchthelfer hätten belasten können. Für den Fall, dass die Gestapo das Manuskript entdecken würde (dies war tatsächlich der Fall), hoffte er vielleicht, die Lektüre würde belegen, dass er weder hatte fliehen noch Klaus Dohrn zur Flucht verhelfen wollen. Für den Fall der Nichtentdeckung hoffte er andererseits, nach seiner Freilassung mit dem Manuskript Geld zu verdienen. Er füllte seine Romanhandlung mit prallem Leben, und das einzige pralle Leben, von dem er jetzt noch eine Erfahrung hatte, war das eines Gefangenen der Gestapo. Über die Erfahrungen von Gestapo-Gefangenen im Wien des Frühjahrs 1938 war ja noch nicht viel an die Öffentlichkeit gedrungen. Nach seiner erhofften Freilassung und Auswanderung nach Südamerika würde das die Leser interessieren.

Die Voraussetzungen scheinen günstig gewesen zu sein, um im Gefängnis einen solchen autobiographischen – nach der einen Seite entlastenden, nach der anderen Seite erfolgversprechenden – Roman zu verfassen: reichlich Zeit bis zum ersten Verhör, in jener Phase des gerade erst sich etablierenden Terrorregimes verhältnismäßig lasche Haftbedingungen mit der Möglichkeit, zumindest über Papier und Bleistift zu verfügen, und eine gewisse Aussicht, nicht erwischt zu werden. Diese Aussicht erfüllte sich freilich nicht. Das Manuskript wurde entdeckt, und die Gestapo konstruierte aus dem Inhalt einen weiteren Vorwand, um meinen Vater auf unbestimmte Zeit in Haft zu behalten.

Mein Vater sah Klaus Dohrn erst nach dem Krieg wieder. Der eine kam aus der Gestapo-Gefangenschaft, der andere aus der Emigration: zwei typische Schicksale deutscher Hitler-Gegner. Viele Deutsche brauchten etliche Zeit, bis sie diese beiden Kategorien, ähnlich wie die Kriegsdienstverweigerer und die politischen Deserteure, in das Positivbild des »guten Deutschen« integrierten.

Zwei Leben

Die Lebenskurven meines Vaters und Adolf Hitlers sind in auffälliger Weise gegenläufig. Der als Österreicher geborene Adolf Hitler war schon vor 1933 deutscher Staatsbürger geworden; derweil wurde der in Deutschland geborene Eugen Kogon 1927 Österreicher. Auf dem Wiener Heldenplatz feierte Hitler im März 1938 einen seiner größten politischen Triumphe; mein Vater wanderte ins Gefängnis. Als Hitlers Erfolge in »seinem« Krieg schwanden, stieg mein Vater im KZ zu einem wichtigen Vertreter des lagerinternen Widerstands auf. Im April 1945 konnte Hitler seinen Berliner Bunker nicht mehr verlassen; mein inhaftierter Vater stand vor seiner Befreiung. Am 30. April 1945 beendete Hitler sein Leben; mein Vater hatte ein zweites Leben von 42 Jahren vor sich. Als Hitler vor der Weltöffentlichkeit seinen Nimbus verloren hatte, gelangte mein Vater mit seinem Buch Der SS-Staat zu Ruhm und Ehre. Als Hitler in der Geschichtsschreibung auf den Platz eines Kriegsverbrechers abrutschte, wurde mein Vater zu einer Orientierungsfigur der Nachkriegszeit und zu einem der bekanntesten Publizisten Deutschlands. 1987 war der Name Hitlers nur noch ein Kürzel für »Massenmörder«; mein Vater wurde in Nachrufen »ein mutiger Kämpfer für eine bessere Republik« und das »Gewissen der Nation« genannt. Zwei Leben, zwei Kurven. Nach dem Tod meines Vaters vertauschten sich allerdings auf gewisse Weise »oben« und »unten«. Wer Adolf Hitler war, weiß noch jeder. Eugen Kogon kennt fast niemand mehr.

Der 12. März 1938 war ein Samstag. Wir hatten schulfrei. Aber wir konnten uns nicht darüber freuen. Nicht einmal meine Mutter wusste, was mit ihrem Mann und seinen zwei Freunden geschehen war. Mein Bruder und ich versuchten, brav zu sein. Die Meldungen im Radio überstürzten sich. Nach der Abdankung Schuschniggs fungierte als neuer österreichischer Bundeskanzler Arthur Seyß-Inquart, ein langjähriger österreichischer Nationalsozialist. Er war auf Druck Hitlers bereits seit einigen Wochen österreichischer Innen- und Sicherheitsminister gewesen. Ohne sein Wissen setzte in seinem Namen der ranghöchste deutsche Offizier, Hermann Göring, ein Telegramm an Hitler mit der Bitte um Entsendung deutscher Truppen nach Österreich auf. Hitler gab dem angeblichen Wunsch Seyß-Inquarts bereitwillig statt. 65000 deutsche Soldaten und Polizisten marschierten in Österreich ein. Am Nachmittag überschritt Hitler bei seiner Heimatstadt Braunau die Grenze auf dem Weg nach seinem geliebten Linz. Etwa gleichzeitig landete der deutsche Reichsführer-SS Heinrich Himmler auf einem Flugplatz bei Wien. Noch am selben Tag diktierte Hitler Seyß-Inquart das »Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich«. Es wurde sogleich vom österreichischen Marionetten-Kabinett durchgewinkt und von Seyß-Inquart beurkundet, der zu diesem Zweck für einige Minuten als österreichischer Bundespräsident amtierte. Damit war Österreich formell Teil des Deutschen Reiches geworden. Seyß-Inquart wurde von Hitler mit dem Titel »Reichsstatthalter« zum Leiter der nunmehrigen Landesregierung der »Ostmark« bestellt. Zu seinem Auftrag gehörte auch die Beschlagnahme jüdischen Eigentums. Was er dabei im Einzelnen zu verantworten hatte, genügte 1946 dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, um ihn als Kriegsverbrecher zum Tod zu verurteilen.

Währenddessen waren mein Vater und Alfred Missong in der Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf provisorisch verhört worden. Am darauffolgenden Sonntag, dem 13. März, wurden sie in das Wiener Polizeigefangenenhaus an der Rossauer Lände eingeliefert. In ganz Österreich wurden in jenen Tagen 72000 Personen verhaftet – mehrheitlich Juden. Alle Gefängnisse waren überfüllt.

Von den Umwälzungen jener Tage bekamen wir drei Kinder vor allem das Geschrei aus dem Radio mit. Am lautesten war am 15. März das Jubelgebrüll mehrerer hunderttausend Österreicher zu Hitlers Füßen auf dem Heldenplatz am Rande der Inneren Stadt. Diesen Platz hatte sich Hitler wegen seiner für Massenaufmärsche besonders geeigneten Größe ausgesucht, um »als Führer und Reichskanzler der deutschen Nation und des Reiches … vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich« zu melden. Vom imperialen Balkon blickte er auf die jubelnden Massen herab, darunter auf viele Belegschaftsmitglieder, die ungefragt, zum Teil von weither, hertransportiert worden waren. Nicht im Radio gemeldet wurden der Jammer und die Todesangst der sogleich schlimmer Verfolgung ausgesetzten Wiener Juden.

Dass Österreich seine Selbständigkeit verloren hatte, beschäftigte meine Mutter nicht sehr. Als gebürtige Münchnerin war sie, wie mein Vater, in Deutschland aufgewachsen und erst 1927 nach Wien gekommen und Österreicherin geworden. Mein Vater war ebenfalls bis 1933 der Meinung gewesen, das Deutsche Reich müsse groß und stark sein, um seiner »gewaltigen« Mission »in der Mitte des Abendlandes« gerecht werden zu können. »Die fernweilenden Katholiken im Reich aber grüßen wir in herzlicher Verbundenheit, gewiss eines kommenden Tages, der uns wieder vereint sehen wird auf dem Weg in ein neugeordnetes Abendland christlich-nationaler Volksgemeinschaften.«[13] So aber, wie nun Hitler sie vollzog, hatte er sich die »Neuordnung des Abendlandes« nicht vorgestellt.

Demgegenüber war Alfred Missong ein leidenschaftlicher österreichischer Patriot. Nach dem Krieg setzten sich die beiden gegensätzlichen Ausrichtungen fort. Missong strebte in Wien eine politische Karriere an, um auf eine eigenständige, außenpolitisch neutrale »österreichische Nation« in klarer Abgrenzung zu Deutschland hinzuwirken. Demgegenüber ließ mein Vater Österreich hinter sich, um in Deutschland als Publizist Einfluss auf die Neugestaltung des geistigen und politischen Lebens zu nehmen – weit über Deutschland hinaus. In der Weltpolitik zeichnete sich ja bald schon der Beginn des Ost-West-Konflikts ab.

Mein Vater im Gefängnis

Es gibt keine unmittelbaren Zeugnisse, was mein Vater in den ersten Wochen seiner Haft erlebte. Ein indirektes Zeugnis sind mehrere Stellen in seinem Roman Zelle 26. Mangels anderer Quellen scheint es mir vertretbar zu sein, aus diesem Roman meines Vaters jene Stellen wiederzugeben, in denen er das Leben in einem Wiener Gefängnis nach dem »Anschluss« schildert:

»Er trug sein Schicksal relativ heiter, wenn er auch dann und wann von Depressionen heimgesucht wurde. Allzu ungewohnt war ja alles, besonders für einen Menschen der gehobenen Gesellschaftsschichten, der gewohnt war, bestimmte Ansprüche an das Leben zu stellen und sie ohne viele Umstände erfüllt zu sehen. Bei der Einlieferung in das Gefängnis nackt ausgezogen zu werden, Krawatte, Kragen, Manschettenknöpfe, ja sogar die Schuhbänder abliefern zu müssen, ohne Augengläser zu bleiben, trotz starker Kurzsichtigkeit, vor mehreren Mitmenschen in enger Zelle seine Notdurft verrichten zu sollen, drei Stück trockenes Brot, einen Blechnapf wässerigen schwarzen Zichorienkaffees ohne Zucker, zwei Blechschalen voll Dünnsuppe und eine Schale Bohnen oder Linsen oder Grieskoch als gesamte tägliche Nahrung – 7 Uhr früh, 11 Uhr vormittags und 5 Uhr nachmittags – zu erhalten, um ½ 8 Uhr abends auf meist nur drei Strohsäcken zu viert und fünft schlafen, morgens fünf Uhr bereits aufstehen und sich in einem langgestreckten Blechbehälter mit 4 Wasserhähnen binnen dreier Minuten unter anfeuernden Zurufen eines oder mehrerer Wachleute waschen zu müssen, insbesondere aber mit Kriminellen leichter und allerschwerster Sorte … auf ein- und dieselbe Stufe gestellt zu werden – das alles konnte an sich einem … Herrn von Ansehen … nicht gerade übermässig leichtfallen. – Fahl tastete sich das Licht des regnerischen Märzmorgens durch die Fenster des Polizeigefangenenhauses in Wien. Am ›Lauf‹ herrschte noch Ruhe. Betongang über Betongang nur der Schritt der wachhabenden Posten, gleichmässig-gleichgültig, von Zelle zu Zelle. Zuweilen bleibt einer stehen, um durch die geöffneten Gucklöcher einen Blick auf die Gefangenen zu werfen, die zu viert und fünft auf 16 Quadratmetern liegen. Politische Zeiten, die schaffen Überbelag … Es wird Zeit zum Wecken. Jeder ›Lauf‹ hat neunzehn Zellen. Aufstehen, Waschen, Zellenlüften, Strohsäcke heraus, Brotausgabe – das alles bei 80–100 Mann in einer Stunde: sie machen sich gern schon einige Minuten vor 5 Uhr an die Arbeit, um zur Tagwache um 6 Uhr bestimmt fertig zu sein, die Wachleute. Der im ersten Stock fängt an. Der Schlüssel rasselt ins Schloss der Zelle 21, Tür auf, schwere Luft dringt heraus, das Klosett befindet sich in dem kleinen Raum, fünf Mann liegen drinnen, aller Berufe und Schichten und Altersklassen, das hochgelegene gerippte Milchglas-Klappfenster geschlossen, denn der März ist noch kalt. ›Tagwache!‹ Die Häftlinge, ein Teil längst geweckt durch eine wahre Armee frühmorgendlich geschwätziger Spatzen, die auf den drei Bäumen dieses Teilgefängnishofes ihr gesichertes Nachtquartier haben und schon beim ersten Schwinden der Nacht multisono Reveille pfeifen, erheben sich von den vier aneinander gepressten Strohsäcken: wieder ein Tag in diesen trostlosen Mauern. 21, 22, 23, 24, 25 – Zelle sechsundzwanzig. Auf der schwarzen Tafel an der Aussenwand der Tür stehen mit Kreide vier Zahlen verzeichnet: vier Gefangene verschiedener Kategorien – zwei Politische, ein Sicherheitspolizeilicher, ein Wirtschaftspolizeilicher. ›Auf!‹ Die Tür fällt nach dem Kommando wieder ins Schloss. Der erste in der Zelle, der links an der Wand unter dem aufgeklappten Holztischchen liegt, erhebt sich gähnend. Die Decke wird abgestreift, er dehnt die Arme und springt auf. Einer der andern blinzelt verschlafen. Der erste benutzt das Klosett. Er lässt den Deckel herunterfallen, dass es klatscht. – Es gab immer Mittel und Wege der Nachrichtenweitergabe in dem riesigen Gebäude. Da waren die auf ›Schub‹ befindlichen Häftlinge, welche die Hausarbeiten verrichteten und so täglich mehrmals, zur Brotausgabe, zur Zellenreinigung, zur Menage-Verteilung, zum Strohsack-Ab- und Zutransport, mit den übrigen Gefangenen in Berührung kamen. Ferner der Friseur mit seinen Gehilfen, der wöchentlich an zwei Tagen zum Rasieren und Haarschneiden kam. Dann wurde der eine oder andere Häftling in die Hauptkanzlei gerufen, um Schriftstücke zu fertigen oder Gegenstände, die irrtümlich in falsche Aufbewahrungskästchen gekommen waren, zu agnoszieren. Ausführungen zu Verhören, zu Gerichten, zu anderen Ämtern fanden statt. Zum Waschen traf man sich auf einige Sekunden im Waschraum oder im Vorübergehen, die genügten, um eine Mitteilung in Umlauf zu setzen. Schliesslich wurde beim wöchentlichen Brausen in den Kellerräumen, wo sich zuweilen sogar ›Bewohner‹ verschiedener ›Läufe‹ trafen, und vor allem beim Spaziergang, der zu dreissig und vierzig an allen halbwegs schönen Tagen absolviert wurde, untereinander gesprochen – Hauptthema neue Einlieferungen, Abgänge in die Gefängnisse der sehr beliebten ordentlichen Gerichtsbarkeit, Transferierungen in Notarreste oder Lager, Verhöre, seltene Freilassungen, Amnestiehoffnungen, Einzelfälle, Tagesdinge. – Der Gefängnisarzt war allen Häftlingen verhasst. ›Nicht so schlimm – hab’ ich auch gehabt!‹ war eine seiner beliebtesten Antworten, wenn über welches Leiden immer geklagt wurde. Beschwerden gegen ihn wagte in diesen revolutionären Tagen, da die Gestapo ihre ersten Schrecken verbreitete, niemand vorzubringen.«

Eugen Kogon später: »Nach meiner Verhaftung wurde mir zunächst einmal fast 60 Tage überhaupt kein Grund genannt. Ich war wie die meisten anderen Gefangenen in einer kleinen Zelle eingesperrt, zuerst mit vielen, später allein.«[14]

Eine ganze Woche lang blieben meine Mutter und wir drei Kinder ohne Nachricht. Wir wussten nicht, ob dem Mann unserer Mutter, unserem Vater, die Flucht gelungen, ob er »auf der Flucht erschossen« oder im Grenzfluss March ertrunken oder verhaftet worden war oder sich irgendwo versteckt hielt. Diese Ungewissheit war schwer zu ertragen. Manchmal hoffte ich, er werde gleich wieder vor unserer Haustür erscheinen in seinem Terraplan und hupen, hallo, da bin ich, weiß nicht, wo bleiben, also da bin ich wieder, mal abwarten, vielleicht wird alles gar nicht so schlimm. Und er würde mit uns ins rote Zimmer gehen, sich eine Zigarette anzünden und uns erst mal eine Geschichte vorlesen.

Nach einer Woche erhielten wir Gewissheit – durch eine Postkarte. Aus der Tschechoslowakei? Nein. Es war eine Postkarte der nunmehr Deutschen Reichspost, normal adressiert an Frau »Dr. Margarethe Kogon, Glanzinggasse 7, Wien 18«, als ob es eine Ansichtskarte aus den Ferien gewesen wäre. Aber die Postkarte trug den Absender »Dr. Eugen Kogon, Elisabeth-Promenade, Polizei-Gefangenhaus, Zelle 26, Wien IX.« Mit einer Briefmarke noch der Österreichischen Post, 12 Groschen.

»Montag, 21. III. 38, 11 h vorm. Liebste Rita: – Lass mit den Kindern den Kopf nicht sinken! Wir werden schon durchkommen. Hoffentlich bin ich bald wieder bei Euch. Dies ist meine erste Karte an Euch. Am 12. III. abends bin ich von Ebenthal-Gänserndorf mit Dr. M[issong] eingeliefert worden. Die Koffer sind hier im Haus. Man bekommt aber nichts. Die Brille geht mir sehr ab. Wäschepakete werden an uns weitergegeben. Bitte, Mumm, schick’ mir 3 Taschentücher, 2 Paar gewöhnliche Socken, Zahnbürste, Seife u. Handtuch, sowie Kamm, sonst nichts. Kopf hoch, Mumm, Kopf hoch! Viele Grüße an die Kinder, an [die Sekretärin] Frl. Schulz, an [die Hausangestellte] Olga. Was macht Direktor [der Bank Hübner] Glaser? Kann die Bank [Hübner] weiter? Grüße auch an ihn … Herzlichst und innigst stets Dein Eugen. Kann ich mich Sr. Hoheit [Prinz Coburg] empfehlen lassen? Und [dem technischen Gutachter der Bank Hübner] General Pummerer!«

Seltsamerweise bedrückte mich diese Nachricht nicht. Wenigstens wussten wir Bescheid. Und ich konnte mir nicht im Geringsten die Konsequenzen dieser Verhaftung für uns alle vorstellen.

Mein Vater war viel weg gewesen. Aber …

»Der April brachte Tauwetter. Von allen Bäumen des Döblinger Cottage-Viertels troff es. Föhn fegte durch die Strassen und Gassen und schmolz im Handumdrehen den letzten Schnee von den verwinkelten Ecken der Altvillen und den Flachdächern der Modernbauten weg.«[15] Meine Mutter stand in der lauen Frühlingsnacht mit Olga an der Gartentür und sinnierte zu den Sternen hinauf, wie lange »es« wohl noch dauern werde. Wir waren an lange Abwesenheiten unseres Vaters gewöhnt gewesen. Doch nun wurde es zu viel. Wir erinnerten uns an schöne Stunden mit ihm, trotz seiner – schon damals! – chronischen Überbeschäftigung.

Ja, unser Vater war viel weg gewesen. Wenn er aber da war: sein Melonenzauber! Er legte eine Melone auf den Tisch und prophezeite meinem Bruder und mir, der Melonengeist werde sie wegzaubern, sobald die Sonne im Fenster einen bestimmten Punkt erreicht habe – wir sollten nur genau hinschauen. Und in der Tat: Kaum hatte ich, nachdem ich mit größter Aufmerksamkeit längere Zeit auf das Fenster gestarrt hatte, festgestellt, dass die Sonne genau am bezeichneten Punkt stand, und hatte den Blick wieder zum Tisch gewandt, hatte der Melonengeist die Melone weggeschafft. Unfassbar!

Ja, unser Vater war viel weg gewesen. Wenn er aber da war: sein unumstößlicher Beweis, jeder Mensch habe elf Finger! Er streckte mir seine gespreizten Hände entgegen, zählte die Finger der einen Hand rückwärts von 10 bis 6, dann die Finger der anderen Hand vorwärts bis 5, addierte zu diesen fünf die sechs der anderen Hand, und siehe: Es waren elf! Sieben Jahre später wollte ich mit meinem Vater über ähnliche Späßchen der altgriechischen Sophisten diskutieren: Warum der schnelle Achilles die Schildkröte nicht einholen konnte, warum der fliegende Pfeil sein Ziel nie erreicht und warum alle Kreter die Wahrheit sagen, wenn sie lügen. Sosehr er sieben Jahre vorher seinen Spaß daran gehabt hatte, mich von den elf Fingern jedes Menschen zu überzeugen, so sehr war es ihm nun zuwider, die Tricksereien der Sophisten zu zerpflücken. Als Nächstes würden dann wohl die Wunder und die Geheimnisse seines katholischen Glaubens an die Reihe kommen.

Ja, mein Vater war viel weg gewesen. Wenn er aber da war: Wie aufrecht er – fast schon: – thronte zwischen meinem Bruder und mir auf dem Sofa im roten Zimmer, mit dem Buch in der Hand! Piranhas nagten in zwei Minuten ein lebendiges Pampa-Pferd ab! Wenn ich mir das vorstellte: Wie das Knochengerüst des Pampa-Pferdes, das Wasser sich abschüttelnd, das steile Ufer hochkletterte und in die ebenfalls wie abgenagt wirkende Landschaft davonstiebte, während die satten Piranhas ihr Mittagsschläfchen im Algenwald hielten! Nie würde ich im Amazonas baden! Obwohl es mich gelüstet hätte, die Gesichter meiner Lieben zu sehen, hätte ich als Knochengerüst mit ihnen am Tisch die kalte Suppe gelöffelt, die meine Mutter so vorzüglich zubereitete. Obwohl, wiederum andererseits, ich dann nicht gewusst hätte, wohin mit der kalten Suppe, weil ohne Bauch. Obwohl, nochmals andererseits, dann vielleicht, da wir alles – und somit auch das Bad im Amazonas – gemeinsam unternahmen, auch meine Mutter ein Gerippe gewesen wäre, und wie hätte sie dann eine kalte Suppe zubereiten können? Ach, dann hätten wir eben statt der kalten Suppe eine große Portion Piranhas verspeist, mit viel saftigem Fisch an den Gräten.

Im Bewusstsein der Brüchigkeit der politischen Situation in Österreich hatte mein Vater unsere Auswanderung nach Südamerika betrieben. Diese Idee verfolgte er im Gefängnis weiter. Auf 53 Oktavseiten verfasste er den Plan einer Ansiedlung in Übersee: einer Genossenschaftssiedlung im Urwald, mit Vorgaben und Berechnungen zur Organisation, Finanzierung und Durchführung mit Baumaterialien, Höfen, Ställen und Konstruktionsprinzipien – so detailliert, dass auch ein Nichtfachmann in der Lage gewesen wäre, die Leitung eines solchen Projekts zu übernehmen. Woher hatte er alle diese Informationen? Wer sollte dieses Projekt in Angriff nehmen: Nichtfachleute – Emigranten aus Österreich, Intellektuelle, Geistliche, Juden, Leute, die, wie er, nach der eventuellen Freilassung nur noch außerhalb von Hitlers Herrschaftsbereich eine Chance hätten? Er beendete jenes Manuskript mit einem Anhang über Bienenzucht und mit dem Fazit: »Die Durchführung eines solchen Siedlungsplanes hängt von drei Voraussetzungen gleichermaßen ab: erstens von der Tüchtigkeit, dem unbedingten Zusammenhalt und der Treue der Stammsiedler, zweitens von der Aufbringung des Kapitals, drittens vom Segen Gottes, den andere ›Glück‹ nennen.«

Ja, mein Vater war viel weg gewesen. Wenn er aber da war: Gerne saßen wir an Abenden im Mai mit ihm und unserer Mutter auf unserem gegen Einblick zugewachsenen Sitzplatz im Garten, süffelten selbstgebrautes Süß-Alkoholisches und wärmten uns die Hände am Holzkohlenfeuer, mit dem meine Eltern die Gelsen (Stechmücken) fernzuhalten versuchten. Ich spürte: Wir gehören zusammen.

Mein Vater war auch mal da gewesen, in jener schönen Zeit vor seiner Verhaftung. In der Abenddämmerung stellte er die Laterna magica auf, knipste sie an und kramte geheimnisvoll nach einem Satz Laternbilder. Ich kannte sie alle, hatte die licht-bunten Darstellungen auch ohne die Camera von beiden Seiten betrachtet und mich gewundert, dass der kleine Muck den Schatz mal links, mal rechts im Garten des Sultans entdeckte, je nachdem, von welcher Seite ich auf die Scheibe sah. Welcher Verlass war auf eine Geschichte, in der Schätze ihren Platz wechselten? Unser Vater würde uns diesmal tatsächlich wieder das Märchen vom kleinen Muck vorlesen. Er hatte vermutlich gemerkt, dass mich Geschichten von kleinen Jungen faszinierten, die heimatlos und benachteiligt und dennoch kleine große Helden waren. Was mein Vater damals nicht wissen konnte – ich natürlich ebenso wenig –, war, dass auch der Verfasser jener Geschichte, Wilhelm Hauff, Jahre später in noch anderer Weise meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Einige Jungen in unserer Klasse hatten sich für Mädchen zu interessieren begonnen. Zu ihnen gehörte, als einer der Ältesten in der Klasse, auch ich. Allerdings verbarg ich mein Interesse unter einer dicken Schicht Schüchternheit. Einer der Kameraden gab sich besonders erfahren: Hauff biete »übrigens« unerhörte Genüsse … Jedermann wusste, was er meinte. Doch niemand fragte nach den Fundstellen. So wanderte ich die paar Kilometer zur Leihbibliothek in der Tuchlaube in der Inneren Stadt und lieh mir nacheinander alle Novellen, Erzählungen und Romane Hauffs aus. Von seinen Märchen und Sagen hingegen vermutete ich, sie enthielten nichts Anzügliches. Nacht für Nacht vertiefte ich mich in die Lektüre, sobald meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester eingeschlafen waren. Durch viele Nächte musste ich mich hindurchlesen, bis ich endlich auf reichen Lohn stieß. Was tänzelte mir da entgegen, zart und hold: ein Mädchen! »Sie lüftete … das leichte Überröckchen; eine himmlische Aussicht öffnete sich; der weiße Alabasterbusen schwamm auf und nieder …« Unter einem Busen konnte ich mir etwas vorstellen, unter Alabaster nicht. Doch im gegebenen Zusammenhang musste es etwas sein, das aus einem gewöhnlichen Busen einen Gegenstand unerhörter Begierde machte. Wie lange hatte ich nach dieser Stelle suchen müssen! Heute bietet sie Google nach wenigen Klicks.

Wenn mein Vater nicht verreist war, hatte er es sich zum Grundsatz gemacht, zum Mittagessen nach Hause zu kommen. Die Mahlzeiten sollte die Familie gemeinsam einnehmen, so gehörte es sich. Bevor er aus dem Büro wegfuhr, rief er zu Hause an, und dann durften mein Bruder und ich, wenn unsere Schulpflichten es zuließen, die Glanzinggasse hinunterlaufen zur Ecke Ludwiggasse und dort warten, bis sein Auto um die Ecke kam. Die Wartezeit vertrieben wir uns mit dem Verzehr je einer damals noch exotischen Banane, die wir am Kiosk kaufen durften. Das gemeinsame Mittagsmahl der Familie, von der Hausfrau zubereitet, während der Hausherr seine Erwerbspflichten erfüllte, gehörte für meinen Vater zur Grundordnung der Welt. Im Alter von 28 Jahren hatte er unter seinem Pseudonym Peter Gundwin ein Buch Philosophie der Arbeit rezensiert, in dem der Verfasser, kein Geringerer als der amerikanische Autobauer und Erfinder des Fließbandes, Henry Ford, unter zahlreichen Thesen die folgende vertrat: »Es mag etwas utopistisch klingen, aber ich bin überzeugt, daß wir bald Mittel und Wege finden werden, die Hauptmahlzeiten außer Hause zu bereiten und sie warm und appetitlich zugerichtet auf den Tisch zu bringen, ohne daß es mehr kosten wird als das Essen, das heute im Heim des Arbeiters gekocht wird.«[16] Das hatte Henry Ford bereits 1930 prophezeit. Wie sehr hatte sich mein Vater über diesen baldigen Anbruch »des paradiesischen Zeitalters des herdlosen Heims« mokiert!

Der Höhepunkt unserer Freuden mit den Eltern waren unsere Reisen gewesen. Mit dem Auto über unendlich viele (präzise: 36) Haarnadelkurven in die schwindelnde Höhe von zweieinhalbtausend Metern, der Duft von Latschen und Lärchen im Hochgebirgs-August, und als der Kühler dampfte, Rast in einer Berghütte, in der es nur noch ein Stück Apfelkuchen, dafür aber reichlich Kaffee gab mit einem Duft, wie ich ihn erst fünf Jahrzehnte später in der Souterrain-Lounge der Zürcher Oper wieder einatmete – später Anlass zur Erinnerung an jene Fahrt auf der neueröffneten Großglockner-Hochalpenstraße.

Am Jahreswechsel danach, 1935/36, die Silvesterfeier in Mönichkirchen, immerhin auch fast tausend Meter hoch. Es lag viel Schnee, doch der heutige Skirummel blieb ihm erspart. Dort trank ich mir meinen ersten Silvesterschwips an, mit sieben Jahren.

Der Geschmack von Walderdbeeren, die es heutzutage kaum noch zu pflücken gibt. Ich verschlang sie in solcher Menge, dass ich hohes Fieber bekam. Mein Vater ruderte noch in der Nacht über den See, um aus der Nachtdienst-Apotheke drüben ein Medikament für mich zu holen. Tagsüber dann, kaum hatte ich mich erholt, der Geruch von sonnenheißem Bootslack – damals waren alle Ruderboote aus Holz – und von brackigem Wasser, dazu wedelnder Tang in trüb-grünem Wellengeplätscher.

Ein Jahr später in Bruck an der Mur, in der Steiermark. Mein Vater lag im Liegestuhl neben dem Bauernhaus und las. Ich kratzte von der Hauswand Kalk und kostete ihn. Er schmeckte nicht gut und nicht schlecht, er schmeckte neu. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich meinen Vater, nach der Art von Hunden. Eine Bremse (Stechfliege) nahm Kurs auf seine nackte Schulter. Ich nichts wie ran, leise und schnell wie Winnetou. Und schon klatschte meine Hand hernieder. Dass ich nicht nur die Bremse, sondern auch die Schulter meines Vaters getroffen hatte, merkte ich an der Reaktion eines ebenso erschrockenen wie verärgerten Mannes, der zugleich wusste, dass er sich beherrschen musste, weil sein Sohn es gut gemeint hatte.

Der Duft des Kaffees, des Bootslacks, der Geschmack der Walderdbeeren, des Kalks, das Geplätscher der Wellen, der wedelnde Tang – es waren schöne Augenblicke gewesen mit meinem Vater. Ab 1936 konnten meine Eltern sich Sommerferien und Winterausflüge leisten – innerhalb Österreichs. Jetzt war das vorbei. Meine Mutter warf es meinem Vater nach dem Krieg vor: Hättest du dich damals nicht politisch so engagiert, wäre uns das alles erspart geblieben. Doch er hatte es für seine Pflicht gehalten als Mensch, Staatsbürger, Christ und vermutlich auch für seine Familie. Und hatte er nicht vorsorglich die Auswanderung nach Südamerika in die Wege geleitet?

Erste Gefängniskorrespondenz

Der 20. April 1938 war jetzt ein offizieller Feiertag: der »Führergeburtstag«. Der angeordneten Beflaggung folgten in der Glanzinggasse, soweit wir die gewundene Straße übersehen konnten, nur die Bewohner eines einzigen Hauses. Meine Mutter hängte keine Hakenkreuzfahne über das Balkongeländer vor dem nun leeren Arbeitszimmer im ersten Stock. Sie besaß keine. Die Häkchenkreuzchenfähnchen, die ich in den Tagen davor in der Volksschule, von der Lehrerin fürsorglich angeleitet, gebastelt hatte, waren zu klein, um aus dem Fenster gehängt zu werden. Das Radio schaltete meine Mutter an jenem Tag nicht ein. Gebrüll, Lobhudeleien, Treueschwüre und Propagandasprüche – das war für sie Tamtam und Tschindarabumbum. Aber schulfrei hatten wir an jenem Freitag nicht. Das wäre uns dann doch recht gewesen. Auch arbeitsfrei war nicht dekretiert. 49 Jahre alt war Hitler an jenem Tag geworden. Wie hätte er sich gefühlt, hätte er gewusst, dass er nur noch sieben solche Tage mit seinem Volk in seinem Reich zu feiern haben würde?

Damit hatte freilich auch ich nach jenem »Feiertag« noch sieben ähnliche vor mir. So schlimm es für Hitler gewesen wäre, hätte er damals gewusst, dass danach Schluss sein würde mit ihm und seinem Reich und seinem Leben und seiner vermeintlichen Größe, so schlimm empfand ich es später, dass mit diesem Datum, nach seiner noch siebenmal wiederholten propagandistischen Einhämmerung in mein Hirn, in demselben nie mehr Schluss mit diesem Datum sein würde bis zum heutigen Tag. 20. April, 20. April, 20. April. Ausgerechnet dieses Datum wurde 1989 der Todestag meiner Mutter. Meinem Vater war für seinen Tod zwei Jahre vorher ein würdigerer Tag beschieden gewesen: der Tag vor der jährlichen Erinnerung an die Geburt Christi, der 24. Dezember 1987.

Das Einkommen meiner Mutter schrumpfte dramatisch. Sie erhielt etwas Geld von ihrem Vater aus München. Sie verpfändete ihren Schmuck im Wiener Versteigerungshaus Dorotheum. Sie machte Schulden. Belastungen anderer Art kamen hinzu. Der Hausangestellten Olga war zu kündigen, die beiden Möpse waren unterzubringen. Der Auszug aus dem Haus war vorzubereiten, der umfangreiche Hausrat einzulagern, eine neue Bleibe zu finden – dies alles zudem nun ohne Hilfe. Vor allem sollte dem Ehemann die Haft erleichtert werden, wirksam, doch fast ohne Geld. Dazu die Kassiber! Es war eine Aufgabe ohne Ende, sie zu schreiben und in einen Saum einzunähen und die erhaltenen ausfindig zu machen, herauszutrennen und irgendwo aufzubewahren in der Hoffnung, sie würden bei einer Hausdurchsuchung unentdeckt bleiben.

Von den offiziellen Postkarten, die mein Vater meiner Mutter aus dem Gefängnis schreiben durfte, trägt die zehnte, vom 10. Mai, bereits die offizielle Briefmarke des Deutschen Reichs, 5 Rpf., mit dem Kopf des früheren Reichspräsidenten Hindenburg, der am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte.

»Absender: Dr. Eugen Kogon, Hermanngasse 38, Wien VII. – 10. V. 38, 5 h. 10. Karte. – Liebste Mumm: – Heute war ein großer Tag für mich: Überstellung hierher u. gleich anschliessend erstes Verhör bei der Gestapo am Rennweg! Endlich, endlich kommt die Sache in Fluss, nach 60 Tagen Haft, Gottseidank! Unsere Zukunft scheint mir zwar trüb zu sein, wirtschaftlich gesprochen, aber es wird schon werden, wenn wir wieder einmal beisammen sind, gelt. Hoffentlich sind die Kinder schon gesund; ich lasse sie herzlichst grüßen u. küssen. Hier ist manches besser als auf der Elisabethpromenade – aber mach’ Dich ruhig noch auf längere Zeit gefasst. Die Radiesl im Garten werden wir nicht mehr geniessen, gib sie ruhig her! – … Seine Hoheit [Prinz Coburg] lasse ich herzlichst grüßen; ich sinke und falle mit ihm … – Liebste, liebste Mumm: ich liebe Dich! – Kopf hoch u. wenn die Welt voll Teufel wär’ – wir müssen durchhalten, unsertwegen u. um der Kinder willen. Schreib mir recht oft. – In herzlichster Liebe: Dein Eugen.«