Liebesbrand - Feridun Zaimoglu - E-Book

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Feridun Zaimoglu

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Beschreibung

Die Liebe in den Zeiten der kalten Rationalität – Feridun Zaimoglu beschwört die großen Gefühle Am Anfang ist es fast zu Ende: Das Leben von David, sowieso nicht in bester Verfassung, droht bei einem Busunglück im Ausland zu verlöschen. Doch er wird gerettet und begegnet einer engelsgleichen Erscheinung. Eine junge schöne Frau übernimmt die Erstversorgung und verschwindet in einem Auto mit deutschem Kennzeichen. Fortan ist der Erzähler in Liebe entflammt und macht sich auf die Suche.Nach seinem Bestseller Leyla begibt sich Feridun Zaimoglu mit Liebesbrand hinein in die bundesrepublikanische Gegenwart. Seine Hauptfigur ist ein junger Aktienhändler, der rechtzeitig vor dem Börsenkrach aus dem Geschäft ausgestiegen ist; jetzt lebt er in Kiel und sehnt sich nach einer neuen Versuchung. Er kann zwar einen Familienzwist bei entfernten Verwandten im Ausland schlichten, es kostet ihn aber eine Menge Geld und fast das Leben. Mit zahlreichen Blessuren am Körper, dem Bild eines Ringes mit blauem Emaillekopf im Gedächtnis und einer Haarspange im Gepäck kehrt er nach Deutschland zurück. Dort begibt er sich auf die unermüdliche Suche nach der Frau seines Lebens, die ihn nach Nienburg an der Weser und weiter nach Prag und Wien führt. Unterwegs wird er geliebt und verstoßen, angegriffen und gehasst, erleuchtet und enttäuscht. Die Hoffnung aber, dass er sich nicht vergeblich sehnt, gibt er nicht auf.Feridun Zaimoglu gelingt es, eine Liebesgeschichte unserer Tage in der Tradition der deutschen Romantik zu erzählen. Der Suchende strebt nicht nach Perfektion, aber nach Erfüllung, sogar nach Erlösung – und begegnet dabei immer neuen Anfechtungen und Herausforderungen. Gut, dass es den Freund und Helfer Gabriel gibt, der dem Erzähler beisteht und ihm beizeiten den Kopf zurechtrückt. Mit Mut zum Pathos und feiner Ironie erzählt der Roman von einer großen Liebesbeschwörung – rasant, berührend und komisch.

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Feridun Zaimoglu

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel
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1

Es wurde dunkel, es wurde hell, dann aber starb ich. Ein Stoß – mehr brauchte es nicht, um mich zu töten. Ich wurde aus dem Schlaf gerissen, ich wurde aus dem Sitz geschleudert, ich sah, bevor ich auf dem Mittelgang aufschlug, wie der Bordmonitor barst und der Mann auf der anderen Fensterseite im Funkenregen erlosch, ja, auch er bezahlte mit seinem Leben, ich sah den Metallspieß, dem ich entgegenflog, nur für einen kleinen häßlichen Augenblick, dann hüllte mich die Finsternis ein, und ich lag zwischen den Sitzen, hörte wenige Sekunden vor meinem Tod einen Schrei, schloß die Augen. Und ich erinnerte mich: Wenn sich der Mensch für den dunklen Traum schminkt, verbleicht der Glanz.

Und ich erinnerte mich: Wenn man stirbt – kurz bevor der Faden reißt –, leiten die Nerven Millionen von Impulsen weiter, und vielleicht ist diese Impulsexplosion das Fegefeuer, die kleine Hölle vor dem Eintritt in das große Paradies. Ich war nicht darauf vorbereitet, ich hatte Angst.

Es ging ein kalter Windhauch über mein Gesicht, und ich drehte mich in die Seitenlage, um besser sterben zu können – wann habe ich die Augen geöffnet? Über einer zersplitterten Armlehne hing ein junger Mann, der Rasurbrand oder die Furcht hatte seine Wangen gerötet, er mahlte mit den Zähnen, nein, er sprach zu mir, jetzt, da sich unsere Köpfe berührten, mußte ich ihn doch verstehen, er rüttelte mich wach mit seiner freien Hand, und plötzlich brach der Lärm in meine Welt, der Lärm der Männer und Frauen im Nachtexpreßbus, ich sah die hinteren Sitze brennen, das Feuer ließ Glas, Metall und Holz knacken. Ich mußte mich aufgerichtet haben, der junge Mann hatte das Bewußtsein verloren, ich wollte ihn aus dem Sitz ziehen, doch ein Stoß warf mich zu Boden, ein Schatten stieg über mich hinweg, und ich spürte einen scharfen Schmerz in meiner Schulter. Wie kann ich hier sterben? dachte ich, das darf nicht sein, also erhob ich mich aufs neue, ich verlor beim Aufrichten das Gleichgewicht und schloß vor Angst die Augen, zwang mich, sie zu öffnen, und da prasselten Glassplitter auf mein Gesicht herunter, der Schatten schlug immer und immer wieder mit einem kleinen Hammer nach oben. Das konnte unmöglich sein, wieso bestand die Decke aus Glas, wieso zog es mich zur Seite, und als ich an mir heruntersah, entdeckte ich eine blutige Hand, der junge Mann zerrte an mir, ich umgriff seine Hüfte, er drehte sich aus seinem Sitz hoch. Schau nicht hoch! brüllte ich und wischte mir den Schweiß aus den Augen, wir waren in der Nähe der donnernden Hammerschläge, und das Licht des Feuers aus dem hinteren Busende verwandelte den Schatten in einen alten Mann, der sich durch das Loch in der Glasdecke zwängte, die Glaszacken schnitten ihm in die Hose, die rechte Sandale löste sich vom Fuß. Jetzt bist du dran! brüllte ich und ließ mich auf alle viere fallen, der junge Mann stieg auf meinen Rücken, und einige Sekunden später schaute er auf mich herunter, jetzt du! schrie er und streckte mir seine Hand entgegen, ich ergriff sie, ich zog mich hoch, ich schnitt mich, ich weinte drauflos.

Auf dem Dach des brennenden Busses machten wir unsichere Schritte, doch da riefen uns Männer zu, wir sollten uns fallen lassen, sie würden uns auffangen. Wo kamen sie nur her, diese fremden Männer, ich wurde vom Wrack weggeschleift, jemand schob mir ein zusammengeknülltes Hemd in den Nacken, und dann lag ich unter dem freien Himmel im Niemandsland, das war ein Platz, an den sich die blinden Hunde zum Sterben zurückzogen, so sagten es die Einheimischen, sie scharten sich zusammen auf dem kahlen Streifen Land neben der Leitplanke, in der Ferne aus dem Dunkel ragten laubnackte Bäume. Ich fror, ich hatte Schmerzen, ich fürchtete mich vor dem Dunkel, ich weinte leise.

Su! Su! rief jemand aus der Nähe, und ich öffnete wieder die Augen und sah in ein Gesicht, in das Gesicht einer Frau, in das Gesicht einer Ausländerin, sie sprach das türkische Wort für Wasser mit einem starken deutschen Akzent aus. Was wollen Sie von mir? sagte ich leise und dann etwas lauter: Ich habe Ihnen nichts getan, lassen Sie mich in Ruhe, bitte. Ich hielt sie für eine Plünderin, die den Unglücksort aufsuchte, um den Verletzten die Armbanduhren und Brieftaschen zu rauben, ich konnte mich gegen sie nicht zur Wehr setzen, sie mußte doch ein Einsehen haben. Sie aber wühlte nicht in meinen Hosentaschen, sie setzte vorsichtig die Öffnung einer Plastikflasche an meine Unterlippe, erst rann das Wasser an meinen Mundwinkeln herunter in den Nacken, dann trank ich es Schluck für Schluck, und während ich trank, heftete ich meinen Blick auf den silbernen Ring, den sie an ihrem langen rechten Zeigefinger trug: Auf dem Ringkopf lag ein hellblaues Emaillemedaillon, die Ringschultern zierten bunte Glassteine in gezahnten Fassungen.

Ich mußte in einen Sekundenschlaf gefallen sein, ich wurde von ihrem Rütteln wach, Beine mit Soldatenstiefeln zogen an mir vorbei, dann Beine mit Straßenschuhen, blaue Lichter gingen an und aus, ich sah flappende weiße Kittelschöße, und ein Arzt fragte mich, ob ich ihn hören und verstehen könne, ich wollte nicken, ich konnte nicht. Ja, sagte ich, wo ist die Frau, die mich Wasser trinken ließ? Hier, sagte sie, der Arzt kann Sie nicht verstehen, er spricht kein Deutsch. In meiner Jackentasche ist ein Tuch, sagte ich, können Sie mir den Schweiß vom Gesicht wischen?

Das ist kein Schweiß, das ist Blut, sagte sie und schlug sich auf den Mund, der Ring klackte gegen ihre Zähne, sie stieß einen kurzen Schmerzenslaut aus, ihr Lippenstift hatte auf ihren Schneidezahn abgefärbt. Sie tränkte das Taschentuch mit Wasser und wischte mir in sanften Strichen das Blut aus der Stirn, aus den Augenbrauen, von den Wangen, und während sie mich versorgte, musterte ich sie. Sie steckte in einem konservativen Kostüm, die Haarspange hatte sich gelöst und hing an einer blonden Strähne, sie kümmerte sich nicht darum, auch nicht um die im Brandqualm stehenden Schaulustigen, ich hob das Kinn, um besser sehen zu können, der Verkehr war auf der dreispurigen Autobahn zum Erliegen gekommen, auch auf der Gegenfahrbahn hielten die Fahrer an, stiegen aus ihren Wagen und rannten mit Handfeuerlöschern herbei.

Sie sind unterwegs zu einer Feier, sagte ich, Sie sind festlich angezogen. Und Sie delirieren im Fieber, sagte sie ungehalten, im Schein des rotierenden Blaulichts konnte ich erkennen, daß sie gegen ihre aufkommende Wut ankämpfte, sie blickte in Richtung von Menschen, die von einer Unruhe erfaßt wurden, ein spitzer Schrei ließ mich zusammenzucken, eine Tochter beweinte ihre Mutter, deren lebloser Körper auf einer Trage weggebracht wurde, und im Nu war die junge Frau von Frauen umgeben, sie strichen ihr übers Haar und sprachen ihr Trost zu, eine Schaulustige gab ihr seltsamerweise den Rat, sich in die Hinterbacke zu kneifen, sie würde schlagartig nüchtern werden.

Ihr Hemd ist völlig zerfetzt, sagte die Deutsche, Sie haben einige kleine Wunden, aber machen Sie sich keine Sorgen, Sie haben es überlebt.

Wieso sind Sie hier? sagte ich, sind Sie auf der Durchreise?

So kann man es nennen, sagte sie und richtete sich wieder auf, ich muß jetzt weiter, und ohne ein Wort verließ sie mich, ich stützte mich auf, griff nach der Haarspange, die dann doch abgefallen war, ich sah ihr nach, sie hatte Erste Hilfe geleistet, ich hatte aus ihrer Wasserflasche getrunken, und was gab es für sie noch an dem Unfallort zu tun, die Toten waren tot und wurden geborgen, um die Verletzten kümmerten sich die Ärzte, ich sah ihr nach, bis sie an einem Kombiwagen stehenblieb, den sie auf dem Seitenstreifen abgestellt hatte, sie stieg kurzerhand ein, und bevor sie aus meinem Blickfeld verschwand, konnte ich gerade noch die ersten Ziffern des Kennzeichens lesen – NI, ich sagte die Buchstaben laut auf, immer wieder, vielleicht hoffte ich, daß sie wie eine Zauberformel wirkten und das Dröhnen in meinen Ohren verklang.

Jetzt lag ich allein auf dem Boden, ich stand langsam auf, für den ersten Bericht waren die Reporter zur Stelle, und sie schossen ein Foto nach dem anderen, meine Beine gaben nach, doch bevor ich zu Boden ging, hielt mich ein Gendarm fest, er legte meinen linken Arm um seine Schultern, fast wäre ihm der Helm vom Kopf gefallen.

Ruhig, Bruder, sagte er, ich bringe dich zum Doktor, und er wird dich heilmachen, ich blieb stumm, er glaubte, er müßte mich wachhalten, also erzählte er mir von seiner nichtsnutzigen Schwester, die trotz der Ermahnungen ihrer drei Geschwister, ihrer Eltern und überhaupt fast der ganzen Verwandtschaft in die große Stadt gezogen sei, was hätte er ihr nicht ins Gewissen geredet, die Wölfe streifen am hellichten Tag dort herum, hätte er gesagt, und junge Mädchen aus dem Dorf würden sich, ob sie es wollten oder nicht, geradezu als Aas anbieten, er würde nicht an der moralischen Standfestigkeit seiner Schwester zweifeln … ich humpelte neben dem Gendarmen her und wunderte mich, was ihn die Anstandsregeln vergessen ließ, da sprach er mir, einem fremden Mann, von seiner Schwester, die er aufgegeben zu haben schien. Es muß schlimm um mich stehen, dachte ich, wahrscheinlich glaubt er an meinen schnellen Tod, wahrscheinlich findet er nichts dabei, daß ich dieses kleine Geheimnis mit ins Grab nehme. Ich stolperte über ein Wrackteil, von dem sich Rauch kräuselte, der Gendarm hievte mich hoch und ließ mich auf das Trittbrett eines Krankenwagens setzen, eine Ärztin kletterte heraus, bat mich, beide Arme zur Seite auszustrecken, dann schnitten sie mir mit einer großen Schere das zerfetzte Hemd vom Leib. Während sie sich um meine Wunden kümmerte, starrte ich auf die Spange in meiner Hand, ein Schildpattplättchen war abgefallen, an der Klebstoffkruste hatten sich Erdkrümel verfangen. Ich rieb die Hornspange sauber, starrte auf meine Hände, die einem anderen Willen gehorchten, und als ich den Blick über die Unfallstelle schweifen ließ, sah ich Menschen im Morgendunst, Männer und Frauen mit wenig oder schwindender Hoffnung, sie lagen auf dem kalten Boden, und das Blut sickerte oder quoll aus ihnen heraus, sie standen reglos neben den Ärzten und Gendarmen, und sie waren unempfänglich für jede Frage und jeden Trost.

Ein Offizier bellte einen Befehl, und wenig später waren fünf Körper mit Jacken und Plastikplanen zugedeckt. Eine Schande, schrie ein alter Mann, der ein Stück Stoff auf seine Platzwunde an der Schläfe drückte, wo ist der gottverfluchte Fahrer, ich bring’ ihn um, ich zünde seine Haare an … Einige Überlebende gesellten sich zu ihm und schrien sich heiser, gebt uns den Schweinehund, riefen sie, wir sind in der richtigen Stimmung, um den Blutsäufer abzustechen. Dann zeigte der junge Mann, den ich gerettet hatte, der mich gerettet hatte, auf eine Gestalt im Dunkeln, und die Männer setzten sich in Bewegung, doch ehe sie dazu kamen, den Fahrer einzukreisen, stellten sich ihnen die Gendarmen in den Weg. Die Wut der Überlebenden war unermeßlich, sie überrannten die Menschensperre, sie brüllten obszöne Parolen, sie warfen sich auf den Fahrer, dem es nicht gelang, in die Dunkelheit zu flüchten. Auf einen erneuten Befehl hin gaben die Gendarmen Warnschüsse ab, und mir war, als hätte man mir Stacheln ins Ohr getrieben, ich zog den Kopf ein und fiel einfach vom Trittbrett herunter, ich verstand nicht, wieso zwei Männer aus dem Buswrack herausrannten. Es waren Plünderer, sie hatten geglaubt, daß die Schüsse ihnen gegolten hatten, ihre Flucht wurde vereitelt, ein Mann bekam einen harten Gewehrkolbenhieb in die Hüfte, den anderen nahm sich der Offizier höchstpersönlich vor, er schlug ihm mit der Kante seines Spiralblocks ins Gesicht, legte ihm Handschellen an und ließ ihn abführen. Die beiden Kerle sind Blutsäufer, rief er den wütenden Überlebenden zu, denen der Schreck in die Glieder gefahren war und die, weil man ihnen den Busfahrer aus den Fängen gerissen hatte, anfingen, über die falsche Ordnung in diesem Staat zu schimpfen. Die Ärztin half mir auf und legte eine Wolldecke um meine Schultern. Sie haben den schweren Unfall überlebt, sagte sie, es wäre wirklich schade, wenn Sie sich eine Bronchitis zuziehen würden.

Was ist hier überhaupt passiert?

Sie schien eine Weile über meine Frage nachzudenken, sie sah mir in die Augen und machte einen halbherzigen Versuch, sich ahnungslos zu stellen, doch dann zog sie die Luft ein und erzählte, daß der Fahrer am Steuer eingeschlafen und einem Überlandlaster hinten aufgefahren wäre, das müßte man sich einmal vorstellen, der Kerl hätte auf diesem Abschnitt der Autobahn nur hundert fahren dürfen, er wäre aber mindestens hundertdreißig gefahren, um dann, nach der Kollision, das Steuer erst nach links und dann nach rechts herumzureißen, der Bus wäre gegen die Mittel- und die Seitenleitplanken gekracht, dem Fahrer ginge es übrigens recht gut.

Er ist im entscheidenden Moment abgesprungen, sagte sie, der herrenlose Bus ist umgekippt, und die Menschen da drin waren der Hölle überantwortet.

Mein Koffer, sagte ich.

Seien Sie froh, daß Ihr Koffer verbrannt ist und nicht Sie, sagte sie, es gibt jetzt schon böse Gerüchte über viele verkohlte Leichen, Ihr Name steht nicht auf der Todesliste.

Es hat also einige von uns erwischt, stellte ich fest.

Gut ein Dutzend, das hat mir der Herr Offizier verraten, sagte sie, aber wehe, Sie berufen sich auf mich. Tun Sie es doch, wird niemand Ihnen Glauben schenken, Sie stehen unter Schock, und später werden Sie sich an mich nicht erinnern können, das müssen Sie sich vornehmen.

Ich ging auf ihre Drohung nicht ein, mir tat das Fleisch weh, mir schmerzten die Knochen, es hätte mir nichts eingebracht, wenn ich ihr verraten hätte, daß ich kein Gesicht vergaß, in das ich geschaut hatte, manchmal war es ein Fluch, denn in meinen Alpträumen blickte ich in blutlose Gesichter und in Augen mit großen Pupillen. Die Ärztin forderte mich auf, in den Krankenwagen zu steigen, ich stahl mich mit eingezogenem Kopf hinein, klappte einen schmalen Sitz herunter, und als ich sicher saß und die Schiebetür zugezogen wurde, fielen mir die beiden Frauen und der Mann auf, die vor sich hin stierten, sie hatten sich, genauso wie ich, leichte Verletzungen zugezogen, viele kleine Wunden, die schon verheilen würden. Ich wünschte ihnen aus einem Impuls heraus eine gute Fahrt, und sie schauten mich böse an – glaubten sie wirklich, ich wäre, kurz nach dem Unfall, zum Scherzen aufgelegt? Es machte mir nichts aus, daß ich mich im Seitenfenster spiegelte, ich starrte hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft, ödes Brachland, unterbrochen von Fabriken, aus deren Schloten schwarzgrauer Rauch herausquoll, ich sah zwei Bauern am Straßenrand hocken, sie hatten ihre Schiebermützen nach der guten Sitte in den Nacken geschoben, ihre Strickwesten zugeknöpft, es waren Tagelöhner kurz vor dem Antritt der Knochenarbeit. In der Ferne konnte ich die Vororte der Großstadt ausmachen, von deren Bürgermeister es hieß, daß er einem ungeratenen Kind glich, das unter dem Eßtisch an den Zehen der Gäste zieht, er strafte die Bürger dafür, daß sie ihn mit überwältigender Mehrheit gewählt hatten. Ich dachte an das Abenteuerbuch in meinem Koffer, ich dachte an meinen Ausweis und meine Kreditkarten in meiner Börse, ich dachte daran, daß man mich seltsamerweise nicht gefragt hatte, ob man meine Verwandten benachrichtigen sollte. Ich hatte keine Frau und keine Kinder – sah man es mir an?

Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie mich die ältere der beiden Frauen musterte, ihre linke Gesichtshälfte war von einem Stoß oder Schlag geschwollen, sie funkelte mich mit ihrem gesunden rechten Auge an.

Wo haben Sie gesessen? sagte sie und sorgte mit einem Blick in die Runde für Aufmerksamkeit.

In der Mitte, sagte ich, ich hatte den Platz am Gang, gleich gegenüber dem Einstiegstrittbrett.

Der Fensterplatz war also frei, rief die Frau triumphierend aus, wußte ich’s doch!

Was wußten Sie?

Sie gehören zu der Sorte Mensch, die zwei Sitzplätze bucht, sagte sie, damit stellen Sie sicher, daß Ihnen kein Nebenmann die Luft zum Atmen nimmt.

Wäre ich reich, würde ich trotzdem nur einen Sitzplatz reservieren, sagte ich.

Das sagt ausgerechnet der Erste-Klasse-Mann, schrie die Frau, und auch wenn ihre Tochter sie bat, Ruhe zu geben und mich in Ruhe zu lassen, war die Frau nicht zu besänftigen, sie warf mir vor, jenen Platz blockiert zu haben, auf den sie sich vielleicht hätte setzen können, es wäre ganz sicher nicht zu spät, um mir wegen meines schlechten Charakters Vorhaltungen zu machen, ich könnte ja vor allen Leuten nicht zugeben, daß ich böse gehandelt hätte. Erst als die Ärztin mit den Worten intervenierte, eine große Beruhigungsspritze läge bereit, sie würden jeden und jede damit zur Besinnung bringen, da verstummte die Frau und ließ sich von ihrer vor Scham angelaufenen Tochter die Oberarme massieren. Jetzt ein zweiter Unfall, und die Sache ist erledigt, dachte ich und zog die Decke fester um meinen Oberkörper, ich hatte genug erlebt und gesehen, ich war ein mit dem Vorgang Vertrauter, so hätte es ein Freund ausgedrückt, doch er war weit weg in Deutschland … ich faßte an die Hosentasche und befühlte die Ausbeulung, Gott sei Dank, mein Handy war nicht verlorengegangen. Eine Weile spielte ich mit dem Gedanken, den Freund anzurufen, aber nein, ich hätte mit ihm Deutsch gesprochen, ich empfand nicht die geringste Lust auf eine weitere Komplikation, solange ich mich in Gegenwart der ungehaltenen Frau aufhielt, war ich ungeschützt. Unsere Fahrt zum Staatskrankenhaus dauerte schon viel zu lange, wir fuhren durch menschenleere Straßen, an den meisten Kreuzungen waren die Ampeln ausgeschaltet, in der einen oder anderen Wohnung brannte Licht, und einige Bauchladenverkäufer zogen ihre schwerbeladenen Karren hinter sich her. Es hatte uns fast genau auf halber Strecke erwischt, das war mein letzter Gedanke, bevor ich einnickte.

Ich wachte auf, als der Krankenwagen mit einem harten Ruck zum Stehen kam. Die Ärztin zog die Schiebetür auf, wir stiegen, einer nach dem anderen, aus und blieben erst einmal stehen, ich hatte mich schon an Zurufe und Orders gewöhnt und traute mich nicht, ohne Anweisung einen Schritt zu machen. Auf dem Vorhof der Notfallstation gingen unrasierte Männer im Pyjama und Morgenmantel herum, sie bildeten eine kleine Schlange vor dem Kiosk, saßen auf den Parkbänken oder unterhielten sich mit ihren gesunden Verwandten. Ich sah zwei Wachbeamte, die uns einer flüchtigen Blickkontrolle unterzogen, auf ein Wort der Ärztin riefen sie Krankenwärter herbei, die uns in die Notaufnahme führten, und weil ich mir dumm vorkam, versuchte ich den mir zugewiesenen Pfleger abzuschütteln, doch er klammerte sich um so fester an mich und bat um Geduld. Wieso soll ich Geduld aufbringen? dachte ich, ich blute aus leichten Wunden, mein Gesicht sieht aus, als wäre ich von wilden Hunden angefallen worden, und ihr alle glaubt, der Unfall hätte aus mir einen Idioten gemacht. Der Pfleger brachte mich in einen kleinen Raum, und kaum war ich eingetreten, blickte der Polizist von den Akten auf, die er grob zur Seite wischte, man hatte ihn an einen Zwergenschreibtisch gesetzt, und vielleicht versetzte es ihn in Wut, daß er mitten in der Nacht den Befehl entgegennehmen mußte, unverzüglich zur Notfallstation zu eilen und die Aussagen der Leichtverletzten aufzunehmen.

Können Sie stehen, oder müssen Sie sich hinsetzen? sagte er.

Bin ich festgenommen?

Reden Sie keinen Blödsinn, sagte er, aber als er entdeckte, daß der Pfleger mich mit beiden Händen festhielt, wies er ihn forsch an, mich auf der Stelle loszulassen und zwei Tulpengläser Tee zu bringen, er schaute dem davonstürmenden Pfleger hinterher, er schaute sich kopfschüttelnd im Zimmer um, er schaute mir in die Augen.

Was genau ist passiert? sagte er, die Einzelheiten sind wichtig.

Ich habe geschlafen, sagte ich, ich glaube, ich bin ein unbrauchbarer Zeuge.

Das steht nicht zur Debatte, sagte er seltsamerweise, Sie sollen mir nur erklären, wie sich ein nagelneuer Bus in eine große verschmorte Ziehharmonika verwandeln konnte.

Man muß mich doch erst einmal untersuchen, oder liege ich falsch?

Sie sind an Ort und Stelle notärztlich behandelt worden, sagte der Polizist, wir müssen uns also keine Sorgen machen, daß Sie mir in meinem Büro wegsterben … Die Fahrgäste auf den vorderen Sitzplätzen behaupten, der Fahrer wäre auf das Steuer gesackt, und sie schwören, daß er einen Herzinfarkt erlitten hat.

Der Fahrer lebt doch noch, sagte ich, er hätte sich von einen Herzanfall nicht so leicht erholen können …

Herzinfarkt, verbesserte er mich, und tatsächlich schließe ich einen Infarkt aus. Also, was ist bei Ihnen im Bus passiert?

Die Hölle ist ausgebrochen, sagte ich, ich fand mich auf dem Mittelgang wieder, und wenige Sekunden später bin ich durch ein Loch im Fenster geschlüpft … dann kam eine Ausländerin und gab mir Wasser.

Eine ausländische Passagierin? rief der Polizist.

Nein, sie eilte mir zu Hilfe. Sie ist dann auch schnell in ihr Auto gestiegen und weggefahren. Ich halte sie nicht für eine Terroristin.

Nehmen Sie nicht so sorglos dieses Wort in den Mund, sagte er, das hat sonst unangenehme Konsequenzen für Sie. Sie wissen, daß die Irreführung der Ermittlungsbehörden einen Straftatbestand darstellt?

Ich wußte nicht, daß ermittelt wird, gab ich zu, ich entschuldigte mich bei dem Polizisten für meinen sorglosen Umgang mit der türkischen Sprache, ich erklärte ihm, daß ich fast mein ganzes Leben im Ausland verbracht hätte, und je mehr ich redete, desto gebrochener sprach ich, die Worte sprangen wie torkelnde Narren aus meinem Mund und fielen mir vor die Füße, der Polizist aber nahm mir meine Laschheit gegenüber seiner Muttersprache nicht übel, er ließ mir vom Pfleger das Teeglas reichen, schickte ihn weg, ich nahm einen Schluck und einen zweiten und einen dritten, die schwere Wolldecke verhüllte nur knapp meinen Oberkörper – ich sah aus wie ein Opfer, und ich schämte mich dafür. Schließlich entließ mich der Polizist, nicht ohne vorher meine Personalien aufgenommen zu haben, ich schlurfte dem Pfleger hinterher, eine Putzfrau war dabei, den Linoleumboden im Flur zu wischen, sie erstarrte in ihrer Bewegung, als wir auf gleicher Höhe waren, und ich umschritt den nassen Feudel, bog in den Hauptgang ab und fiel dem Pfleger nicht ins Wort, als er dem diensthabenden Arzt langatmig erklärte, daß er ›den Überlebenden Nummer zwei‹ dem Herrn Doktor übergab. Dann ging er davon.

Sie müssen den Mann entschuldigen, sagte der Arzt, er ist etwas wunderlich, aber er tut seine Arbeit, er wird schlecht dafür bezahlt … wie wir alle hier, die wir unsere verdammte Arbeit tun.

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er mir die Decke ab, beschaute meine Wunden und die Schnittverletzungen im Gesicht, und als er mir an die rechte Seite griff, stöhnte ich auf. Drei bis vier gesplitterte oder gebrochene Rippen, sagte er, wir werden Sie röntgen, die Fleischwunde am Rücken sieht übel aus, ich nähe sie am besten. Ich saß auf der Pritsche, und trotz der örtlichen Betäubung fühlte ich jeden Nadelstich ins Fleisch, gelobt sei, was hart macht, rief der Arzt lachend aus, was hätte es ihm auch eingebracht, wenn er Mitleid bezeugt hätte, er reparierte den Schaden, und mich verließen langsam die Kräfte.

Der Pfleger nahm mich wieder in Empfang, ich ließ mich von ihm führen, ich ließ mich röntgen, ich ließ mir eine Tetanusspritze geben, und als ich im Flur neben ihm herging, sagte ich zu ihm: Ich brauche ein Hemd und eine Jacke, du siehst mir so aus, als würdest du wissen, wie man für Überfluß sorgt, wenn Knappheit herrscht. Ich klaubte einen Geldschein aus der Hosentasche und steckte ihn dem Pfleger zu, der keine Anstalten machte, seine Unbestechlichkeit zu demonstrieren. Er musterte mich kurz vom Scheitel bis zur Sohle, wahrscheinlich schätzte er meine Konfektionsgröße.

In einer Stunde, sagte er, grundsätzlich gilt: Ich erfülle jeden Wunsch, aber nichts Ungesetzliches und nichts Unmoralisches.

Sei unbesorgt, sagte ich, wir sind außerdem nicht im Gefängnis.

Er mußte darüber lange und laut lachen, am liebsten hätte ich ihn gegen die Wand gestoßen, doch ich hatte wahrscheinlich drei oder vier gebrochene Rippen, das Atmen fiel mir schwer, ich war hier auf mich allein gestellt und brauchte diesen dienstbaren Geist. Er stieß eine Tür auf, sie öffnete sich auf einen großen Saal mit Betten, in denen Männer oder Frauen lagen, mein Blick fiel auf eine schamhafte Frau, sie hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und ihre Achselhöhlen mit weinroten Papierservietten bedeckt. Der Pfleger wies mir das freie Bett links neben der Tür zu und bat mich, einfach zu liegen und zu warten: auf ihn, auf das Essen, auf die Visite des Chefs der Station, auf meinen Schutzengel, der sich die zerrupften Flügel richten und putzen müßte, und erst dann würde er sich wieder auf meiner rechten unverletzten Schulter niederlassen. Was ist mit der linken Schulter? rief die schamhafte Frau ihm nach, ist die Stelle auch unbesetzt, oder hat der persönliche Teufel, der für die Schäden im Leben zuständig ist, zur Belohnung frei? Einige Männer im Saal lachten auf, die Frauen blieben still, sie waren damit beschäftigt, zu prüfen, ob sich ihr Körper unter der Decke auf eine unziemliche Weise abzeichnete. Ich entrichtete meinen Gruß, die Männer grüßten zurück, und ich schlüpfte schnell unter die Bettdecke und zog sie bis zur Nase hoch, mir war kalt, ich fror am ganzen Körper. Im benachbarten Bett hockte ein Mann mit angezogenen Beinen, er hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Pantoffeln abzustreifen, er harrte in dieser Haltung aus wie erstarrt, um sich mir leicht zuzuwenden, Friede den Kommenden, Freude den Bleibenden und Segen den Scheidenden, sagte er, willst du eine kostenlose Führung durch das Krankenhaus, willst du deine Ruhe, oder willst du, da du errettet bist, unter der Decke eine Zwiesprache mit deinem Herrgott halten?

Das Zweite, sagte ich.

Eine ökonomische Antwort, stellte er fest, ich bin Herr Leber.

Wie bitte?

So ist es hier unter uns eingerichtet, wer kann sich schon an all die vielen Namen erinnern? Ich bin ein Trinker, ich habe es mit der Leber, also heiße ich Herr Leber. Dann gibt es noch einen, den haben sie mit einem doppelten Fußknöchelbruch eingeliefert, der heißt Herr Knöchel … was ist mit dir?

Eine tiefe Wunde am Rücken, ein paar gebrochene Rippen, sagte ich.

Du wirst einige Tage hierbleiben. Such dir lieber selber einen Namen aus, dann wird man es mit dir gut meinen.

Rippe, sagte ich.

Rippe paßt, sagte er, und jetzt einen schönen Schlaf.

 

Ich konnte mich betten, wie ich wollte, ein Spieß steckte in meiner Flanke und ließ mich bei jeder Bewegung jäh innehalten, ich zog die Decke über meinen Kopf, ertrug aber die Dunkelheit nicht, irgendein Greis sprach zischend und tuschelnd ein Gebet und bat den gerechten Gott um ein klein bißchen Gesundheit für seinen Sohn, den es unverschuldet getroffen hatte … Schöne Worte, dachte ich, wir Siechen und Versehrten sind in diesem Krankensaal, weil die Vorsehung oder der Teufel uns mit der großen Kelle aus dem Kessel geschöpft hat, wir bedauern doch nur, daß wir nicht daran glauben mögen, daß Fehlschläge uns befeuern. Doch wer war ich schon, ich durfte an der Wirkung der Gebete frommer alter Männer zweifeln, ich konnte mich dagegen sperren, eine Gefälligkeit vom Himmel einzufordern – im Grunde meines Herzens wußte ich es besser. Kein Mensch stand an meinem Bett und hielt mir die Hand. Verdammt sollte ich sein, der Anfall von Selbstmitleid beschämte mich, ich hatte diese Busfahrt angetreten, um einen Familienstreit zu schlichten, meine Tante hatte, ganz gegen ihre Gepflogenheiten, eine schlichte Bitte geäußert, die Bitte, ihren wildgewordenen Stiefsohn zur Vernunft zu bringen, der wenige Monate nach dem Tod seines Vaters gegen die Tür meiner Tante gehämmert hatte und schließlich von ihr eingelassen worden war. Er kam gleich zur Sache, forderte seinen Anteil an der Wohnung, denn er, der Sohn aus erster Ehe, halte zwei Fünftel der Räume, in denen sie, seine angenommene und nicht leibliche Mutter, weiter zu leben gedachte. Er berief sich auf die Gesetze der Logik, einer alleinstehenden Frau stünde so viel Wohnfläche einfach nicht zu, und deshalb wäre es keinesfalls herzlos von ihm, ihren Auszug aus der Wohnung und den unverzüglichen Verkauf zu fordern, er hätte Schulden und könne die Eintreiber nicht auf bessere Tage vertrösten …

Eine hanebüchene Geschichte. Es war mir bekannt, daß dieser Mensch wegen eines Drogendelikts im Gefängnis gesessen hatte, daß er auf die Kraft baute, die sich vom Vater auf den Sohn übertrug, sein Vater hatte sich mit Gott und seinen Freunden, Bekannten und Verwandten angelegt und war dann doch davongekommen. Er hatte nicht gesiegt, der Sohn aber glaubte es und sagte mir ins Gesicht, daß nichts und keine Kraft der Welt ihn dazu brächte, feige schlappzumachen. Was soll das heißen? sagte ich ihm, die Frau deines verstorbenen Vaters hat fast mit ihrem Leben abgeschlossen, sie rechnet fest damit, daß man sie im Altersheim unterbringt. Ich hasse diese Melodramatik, sagte er, sie wohnt im sechsten Stock, und wenn sie zum Blumengießen auf den Balkon tritt, starrt sie auf das Altersheim auf der anderen Straßenseite, sie sieht die Alten am Fenster sitzen und ihr zuwinken, und es ist kein einziges Mal vorgekommen, daß sie zurückgewinkt hat. Mein Vater hat mir davon erzählt. Jetzt ist er tot, ich lebe und habe Schulden, meine Tante schickt dich vor, um mich umzustimmen, ich kenne dich gar nicht, wir sind uns in der Vergangenheit vielleicht zweimal begegnet, und du hast es nie für nötig befunden, mich nach meinem Leben und meiner Lebensphilosophie zu fragen … Ich war angewidert von diesem aufgeklärten Idioten, der Blut, Familie, Ehre, Gefühle und Heimatliebe für Mißtöne im orchestrierten orientalischen Krach hielt, er war sich seiner sehr sicher, aber ihm mißlang fast alles. Ein linker Geschäftsmann, nun ja, diese Menschen gab es nicht selten, sie hatten sich früher in kleine schmerzhafte Scharmützel mit ›dem Staat‹ verwickelt, vielleicht hatten sie auch nur Aufrufe und Flugblätter verfaßt, und weil sie Verkommenheit voraussetzten, fingen sie an, sich gegenseitig zu bekämpfen. Im Verlauf des Gesprächs gerieten der Idiot der Familie und ich aneinander, es kam, wie es kommen mußte, er warf mir eine ultrakonservative Gesinnung vor, ich war ihm in die Falle gegangen und hatte mich auf ein politisches Streitgespräch eingelassen, trotzdem nannte ich ihn einen linken Versager, und es traf ihn hart. Er nannte mir eine Frist, er nannte mir eine Summe, die man ihm auf sein Konto zu überweisen hätte, und er drückte mir einen Zettel in die Hand, auf dem er seine Bankverbindung aufgeschrieben hatte. Wer war also der Versager? Wieder zurück bei meiner Tante verschwieg ich den Streit und erzählte ihr das Märchen von den zwei entfernt verwandten Männern, die es nicht zum Konflikt kommen lassen, sondern die Angelegenheit auf eine sehr zivilisierte Weise lösen. Dann rief ich bei meiner Bank in Deutschland an, bat darum, einen nicht unbeträchtlichen Teil meines über viele Jahre angesparten Geldes noch am selben Tag ins Ausland zu transferieren, die Auslandsüberweisung machte den Bankangestellten mißtrauisch, er kannte mich persönlich und wußte um meinen gelegentlichen Leichtsinn. Er nahm dann doch schweren Herzens ›die Transaktion‹ vor. Hatte ich den Familienstreit geschlichtet? Nein, ich war nach einigen Tagen Aufenthalt in Ankara völlig entkräftet und wütend in den Nachtbus gestiegen, mein Plan sah vor, an der Ägäis eine Woche Urlaub zu machen und darüber nachzudenken, wie ich wieder zu mehr Geld kommen konnte. Meine Tante war glücklich, der linke Geschäftsmann war zufrieden, ich war am Ende.

 

Entweder hast du einen Alptraum, oder du kannst ums Verrecken nicht schlafen.

Das Zweite, sagte ich.

Der Chef läßt sich Zeit mit der Visite, sagte der Trinker, er schwang sich auf die Bettkante, blieb sitzen und ließ den Blick schweifen. Ehe er dazu kam, eine launige Bemerkung über die Menschen im Krankensaal zu machen, stürmte der Pfleger herein, er hielt ein Hemd, eine Weste, ein Wintersakko und eine Hose an Drahtbügeln hoch und drehte sich, wie um Applaus bedacht, um seine Achse.

Du hast die Ärzte beklaut, sagte der Trinker.

Ich schwöre auf das Kantinenessen, daß es nicht wahr ist, rief der Pfleger.

Ein sehr seltsamer Schwur, stellte der Trinker fest, Rippe, los, zieh’ die Sachen an, Frau Leistenbruch ergötzt sich schon die ganze Zeit an deinem Anblick, mach’ sie glücklich und zieh’ dich vor ihren Augen an.

Die schamhafte Frau richtete sich im Bett auf, die Papierservietten segelten zu Boden, und während sie den Trinker mit Flüchen bedachte, stand ich auf, bat den Pfleger, mir die Decke vorzuhalten; dann zog ich mich in Zeitlupe um, die Hose spannte am Bauch, ich konnte den Reißverschluß nur zur Hälfte hochziehen, aber wenn ich das Hemd nicht in die Hose stopfte, würde ich kein öffentliches Ärgernis darstellen.

Sie sehen wie ein Kavalier aus, Herr Rippe, sagte der Pfleger.

Lüg’ nicht, sagte die schamhafte Frau, er sieht aus wie ein herausgeputzter Bauer auf dem Dorffest.

Ein wahrer Mann schmückt sich nicht, er zieht sich einfach nur an, sagte der Trinker, Rippe, du mußt dir den obersten Hemdknopf zuknöpfen, das ist bei uns Männern hier so üblich, sonst denkt man, du wärst ein Schlagersänger oder hättest die Absicht, dir einen Mann anzulachen.

Mir war es egal, was man von mir hielt, aber ich fügte mich, wahrscheinlich hatte der Pfleger die Kleider einem Losverkäufer abgeschwatzt, der in einer Ruine hauste, oder er hatte in eine Altkleidertüte des Roten Halbmonds gegriffen und die besten Stücke ausgesucht. Ich stolperte dem Trinker hinterher, ich entzog mich dem Griff des Pflegers und trat auf den Vorplatz, auf dem Männer in Pyjama und Strickjacke in Gruppen zusammenstanden oder hin und her schlurften, manch einer schob einen Tropf am Ständer neben sich her, ich sah einen Mann gedankenverloren mit einem Plastikstäbchen im Kaffee rühren, mit wenigen Schritten war der Trinker bei ihm, er winkte mich herbei und drückte den Mann herunter, als er Anstalten machte, aufzustehen.

Herr Bluterguß, das ist unser Neuzugang, Herr Rippe. Er hat sich tapfer geschlagen und nur ein paar Kratzer davongetragen.

Hocherfreut, sagte Herr Bluterguß und klopfte auf den freien Platz neben sich auf der Parkbank, der Trinker und ich setzten uns, und weil ich aufgefordert wurde, von dem Unfall zu erzählen und kein mir bekanntes Detail auszulassen, schilderte ich die Einzelheiten, bald fing mein Gesicht vor Anstrengung an zu brennen, da ich aber meine neuen seltsamen Freunde nicht enttäuschen wollte, sprach und sprach ich, bis es tatsächlich nichts mehr zu erzählen gab.

Rippe hat jetzt einen Kaffee verdient, sagte Bluterguß, es fiel mir auf, daß er nur eine Mundhälfte bewegte, der Trinker sprang auf, eilte zum Kiosk, brachte drei Tassen brühheißen Kaffee in Plastikbechern, und wir verbrachten die nächsten Minuten damit, im Kaffee zu rühren.

Du wirst bestimmt in ein paar Tagen entlassen, sagte Bluterguß, was kommt dann? Wirst du nach Deutschland zurückkehren?

Ja, sagte ich.

Erwartet dich dort eine Frau? sagte Leber.

Nein, sagte ich.

Du siehst doch, daß er keinen Ehering trägt, sagte Bluterguß, er ist nicht verheiratet, und so wie es aussieht, hat er keine Freundin.

Frauen, rief Leber, Frauen, Frauen, Frauen.

Mir blieb nichts weiter zu tun, als ihnen zuzuhören, denn sie schienen sich über ihr Lieblingsthema zu unterhalten, sie lebten im ersten Jahrzehnt nach ihrer Scheidung, und von ihren ehemaligen Ehefrauen wußten sie wenig zu berichten, der Trinker warf der Davongelaufenen vor, sein Alkoholproblem übermäßig negativ bewertet zu haben … Übermäßig negativ, dachte ich, habe auch ich etwa den prächtig aufgeklärten Stiefsohn meiner Tante mißverstanden? Bluterguß zupfte mich am Ärmel, er wollte von mir wissen, wieso ein erwachsener Mann in der Liebe zum Kind werde, ich setzte schon zu einer Antwort an, da gebot mir der Trinker mit einem Zungenschnalzer Einhalt.

Kannst du dir hinters Ohr schauen? sagte er zu Bluterguß.

Nein.

Eben, fuhr der Trinker fort, ich kannte einen, der konnte sein Ohr umknicken, die reinste Zirkusattraktion. Aber sich hinters Ohr sehen konnte er nicht. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, sagte Bluterguß, ich lernte meine Frau kennen, da war sie noch eine Lilie der Reinheit, die Katzen des Viertels liefen ihr zu, und ich wußte, sie wird vielleicht nicht die Mutter meiner Kinder, aber sie wird auf jeden Fall meine Frau. Ich hegte keine Zweifel. Ein ganzes Jahr hat sie mich hingehalten, rosenwasserbesprengte Briefe, kleine und große Geschenke, Seidenhalstücher, Handschuhe, Nylonstrumpfhosen … und dann, ein Jahr lang hatte ich geschuftet, durfte ich sie auf den Mundwinkel küssen … Das ist ein geringes Entgelt …

Ich drehte mich um, vor mir stand ein Unrasierter, ein junger Mann, der sich einen Protestbartschatten hatte wachsen lassen, und wie um seine Unnachgiebigkeit zu untermalen, knackte er Kürbiskerne und spuckte die Schalen nicht etwa aus, sondern schob sie mit der Zungenspitze auf die Unterlippe, von der sie einfach herunterfielen. Von diesem Mann ging eindeutig Gefahr aus, ich mußte an meinen Vater denken, vielmehr an den Merksatz, den er mir immer wieder eingebleut hatte: Kontakte zu einfachen Bürgern in der Dämmerung und im Morgengrauen bergen ein hohes Risiko. Leber stellte mich vor, Herr Rippe, Herr Messer, natürlich, der Name lag nahe, wahrscheinlich ging Messer keinem Streit aus dem Weg und hatte vielleicht diesmal seinen Meister gefunden.

Du hättest dich doch damals für sie in Stücke hacken lassen, sprach dieser Messer zu Bluterguß, und ich sage dir: Hättest du sie um ein Leumundszeugnis gebeten, sie hätte es dir nicht ausgestellt.

Woher willst du das wissen? sagte Bluterguß.

Wir beugen das Haupt und spucken dem Herrscher auf den Stiefelspann.

Und das heißt was?

Das heißt, daß wir die Frauen nicht beherrschen können, sagte Messer, sie lieben in alle Richtungen, und wenn wir zufällig in der Richtung anzutreffen sind, in die sie sich bewegen, werden wir ein wenig glücklich. Sie befassen sich mit uns, wir nennen es Liebe, und dann schlagen sie eine andere Richtung ein, und wir reiben uns die verweinten Äuglein.

Du bist ja in der Liebe ein Alleswisser, sagte Leber, und da mich der Gesprächsgegenstand zermürbte, blickte ich mich um, der Vorplatz der Notaufnahme wurde begrenzt von einem hohen, an manchen Stellen durchbrochenen und notdürftig geflickten Zaun, es schloß sich ein großes Baugelände an, auf dem die ersten vier Stockwerke eines Hochhauses hochgezogen waren. Der umgekippte Betonmischer versank im Matsch, ein Gartenschlauch war wie eine Geschenkschleife um den verschlammten Kessel herumgewickelt, auf dem Schutthaufen daneben entdeckte ich den Abfall aus den Haushalten der Bürger, Toilettenschüsseln, Wäschespinnen, aufgeschlitzte Sofapolster. Die Insekten des Spätsommers schwirrten über dem Müll, es war eigenartig, daß der Blick über den Zaun meine Angst aufflammen ließ. Sonderbar waren meine neuen Bekanntschaften, sie fragten nicht nach Name und Beruf, es zählte allein das wunde Organ, der geprellte Knochen oder das Mordinstrument, das glücklicherweise nicht getötet, aber verwundet hatte. Was mache ich hier? dachte ich, dies war kein Ort der Bedrohung, doch ich hatte noch immer diese Kopfschmerzen, und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, ist das Schicksal ein Kinderfinger, der ins heiße Kerzenwachs fährt und Löcher hineinsticht? bin ich dumm, weil ich in meinem blinden Eifer, am Leben bleiben zu wollen um jeden Preis, wichtige Dinge übersehe? Vielleicht sollte ich meinen guten Willen zeigen und den Männern lauschen, vielleicht verbarg sich in ihren Worten eine Wahrheit, an die ich mich nur zu halten brauchte, denn die Wahrheit ist, daß man ahnen kann, woran man bereit ist, sein Herz zu hängen. Und ich dachte, mein Gott, jetzt spürst du die Spätfolgen des Unfalls, jetzt kommt der Schock, es wird eine kleine Ader platzen, und du wirst gleich an Hirnblutung sterben …

Unser neuer Freund ist wohl ein unerbittlicher Denker, sagte Messer, er weilt nicht wirklich unter uns.

Doch, sagte ich, ich weiß nur nicht, wie es weitergehen soll.

Willkommen in unserer Gemeinschaft, sagte Bluterguß, nimm einfach das erstbeste Angebot an, versuch’ nicht den Preis herunterzuhandeln, sei zufrieden und troll dich.

Er meint den Ablauf auf der Station, sagte Leber.

Wir gehen lieber mal wieder rein, sagte Messer, die schöne Ärztin möchte sich bestimmt ein Bild machen. Ich sage dir, Rippe, sie mag dir die Vene zerstechen, wenn sie dir eine Kanüle legt, doch glaube mir, du bettelst bei ihrem Anblick darum, daß sie dir weiter weh tut. Ich kenne nur eine Lilie der Reinheit, und das ist die herrlich schöne Frau Ärztin.

 

Ich schlurfte ihnen hinterher, und tatsächlich, wir kamen gerade rechtzeitig, der ›Chef‹ war eine Ärztin und machte ihre Visite im Krankensaal, sie nahm unsere Anwesenheit stirnrunzelnd zur Kenntnis, sie stand am Bett der schamhaften Frau und hielt ein Röntgenbild hoch, sie sprach mit einem Arzt zu ihrer Rechten, der sich emsig Notizen machte und zwischendurch Anweisungen gab, eine Krankenschwester eilte davon, die Ärztin rief ihr zu, sie sollte nicht wie in Panik losstürmen, sonst kämen die Patienten noch auf falsche Gedanken. Nun ja, dachte ich, diese Frau ist erstens dank ihrer Stellung in der Hierarchie eine Respektsperson, und zweitens hat sie mit leichtem Rougeauftrag ihre hohen Jochbögen akzentuiert, und drittens sollte Messer alle Hoffnung fahren lassen, die Chefärztin trägt einen Ehering, sie wird auf die Liebesschwüre eines Mannes nicht eingehen, der jeden Nebenbuhler niederschießt. Eine zweite Krankenschwester scheuchte eben diesen Messer nach hinten in den Saal, es sei unfein, sagte sie, die Krankengeschichten anderer Menschen zu belauschen, Messer bedachte sie mit einem finsteren Blick, schlenderte zum Saalende und zog, an seinem Bett angekommen, den Trennvorhang zu. Ich setzte mich auf die Bettkante, und da ich nicht Leber gegenübersitzen wollte, schüttelte ich das Kissen auf und streckte mich auf dem Bett aus. Es dauerte keine fünf Minuten, bis die Ärztin an meinem Bett stand, ich wollte mich aufrichten, doch sie befahl mir, die entspannte Haltung nicht aufzugeben, das waren ihre Worte: Ich befehle Ihnen, Ihre entspannte Haltung nicht aufzugeben. Sie hielt mein Röntgenbild gegen das Licht, schaute mich ernst an, und weil ich keinen Sinn darin sehe, fremde Frauen anzulächeln, blickte auch ich ernst zurück.

Sie haben Glück im Unglück gehabt, sagte sie, Ihre Rippen sind nicht gebrochen, wir werden Sie noch weitere zwei Tage hierbehalten. Haben Sie besondere Wünsche, die wir berücksichtigen sollen?

Nein, danke, sagte ich, wie viele Menschen sind bei dem Unfall gestorben?

Die genaue Zahl liegt mir nicht vor, sagte sie, und auch wenn ich sie wüßte, Sie würden es von mir nicht erfahren.

Ärztliche Schweigepflicht, sagte ich dumm.

Nein, sagte sie, Pietät.

Und wie ist es mit der Zahl der Schwerverletzten?

Kein Kommentar, sagte sie, vergessen Sie nicht: Zu viel Neugier ist tödlich. Und dann lachte sie, vielmehr entgleisten ihre Gesichtszüge, und sie ließ ein seltsames Kleinmädchenkichern vernehmen, ihr Lachen verebbte mit einem hellen Zimbelton, und ich bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Messer den Trennvorhang hastig aufzog, und als ich ihm den Blick zuwandte, sah ich ihn in meine Richtung starren.

Ich mußte natürlich mit ihm reden, ich mußte ihm glaubwürdig auseinandersetzen, daß ich keinerlei Ambitionen hegte, daß es mir in den kommenden zwei Tagen darum ginge, zu genesen und wieder richtig zu atmen, denn dann würde ich ihm, Leber und Bluterguß Lebewohl sagen, er mußte mich nicht verwünschen, er mußte mir den Himmel nicht auf meinen Kopf fallen lassen, ich würde ihm, falls er darauf bestünde, in die Hand versprechen, von allen Frauen die Finger zu lassen, ich würde ihm sagen, daß ich die Liebe geringer schätzte als ein leeres Zündholzheftchen, ich würde meinetwegen sogar die Armeleutepsychologie ins Spiel bringen und die These vertreten, daß ich zu den Egoisten gehörte, die einer Frau verfallen, weil ich das Gefühl liebte, das sie in mir auslöste, denn es, das Liebesding, machte mich selbstvergessen; ich würde diese oder eine andere gegenteilige These vertreten, es ging schließlich darum, komplizierte Menschen zu meiden und Komplikationen zu vermeiden, was wollte ich schon es, das Liebesding, an mich heranlassen, viel schöner fände ich es, in meiner Küche zu sitzen und mich zu vergewissern, daß das Geschirrtuch ordentlich am Griff der Backofentür hing, eine Orangenhälfte auf den Elektro-Entsafter zu drücken und über den aus der Tülle herausrinnenden Saft glücklich zu werden, und falls ich dann im Schlitz eines Münzfernsprechers ein Fünfzigcentstück fand, das sich mit dem Fingernagel herausziehen ließ, war ich an jenem Tag ein wirklich glücklicher Mann. Ich würde Messer fragen, ob er je in seinem Leben Ingwer an Hühnerschlegel in Alufolie im Ofen gegessen hätte, oder, noch besser, in Knoblauch eingelegte Kolibrizungen, ich würde ihm verraten, daß ich vom erstgenannten Gericht probiert und vom zweitgenannten nur gelesen hätte, Messer und ich würden, könnten und mußten eine für beide Seiten gesichtswahrende Lösung finden, das stand außer Frage, ich kannte Feuerzeugfunken, aber keinen Liebesbrand im Herzen, ich war im Westen verdorben, ich war ein durch und durch degenerierter Mann des Abendlandes, und von der Tradition der orientalischen Frauenanbetung hatte ich keine Ahnung, Messer, würde ich sagen, ich bin ein kampfmüder Soldat auf dem Feld nach der Schlacht, ich habe meine Munition verschossen, und das einzige, was ich möchte, ist, aus diesem verdammten Krankenhaus einigermaßen heil wieder herauszukommen, also, die Ärztin gehört dir, deine Ärztin hat einen wirklich lahmen Witz gemacht, und da sie zu den Menschen gehört, die über ihre eigenen Witze am lautesten lachen, hat sie eben gelacht, ich aber blieb ernst, das sollte dir zu denken geben, Liebe und anderer Blödsinn hat damit nicht das mindeste zu tun. Und ich würde meine Brandrede mit den Worten beenden, daß er, Messer, und sie, die Ärztin, kein gutes Paar abgaben, sie war eine Studierte, eine Kultivierte, eine Lilie der Reinheit, er aber war eine große unrasierte Null, eine recht einfältige Kreatur in der Peripherie des Lebens und der Liebe, was könnte sie schon dazu bewegen, Messer in ihre Welt einzuladen, er war so blöd, daß er sich das Alphabet ins Gedächtnis rufen mußte, bevor er einen vernünftigen Satz sprach. Nein, mein Junge, sie möchte sich ihre Gesellschaft aussuchen können, und du bist ein summendes schwirrendes Spätsommerinsekt. Verdammt noch mal.

 

Die Ärztin war mit ihren Hofgünstlingen weitergezogen, das hielt Messer nicht davon ab, von ganz hinten in meine Richtung zu stieren, ich stand auf, zeigte mit dem Finger auf mich, dann auf ihn und endlich auf die Tür, er setzte sich in Bewegung, und ich wartete, bis wir auf gleicher Höhe waren, ich ließ ihm den Vortritt, folgte ihm auf den Vorplatz.

Was ist los? sagte ich.

Frau Nebel, sagte Messer.

Wer?

Die Frau im Bett dir schräg gegenüber, sagte Messer.

Ja und?

Bist du an ihr interessiert?

Kein Interesse, sagte ich.

Gut, sagte Messer, und die Ärztin?

Kein Interesse, wiederholte ich.

Dann ist alles gut, und wir brauchen uns nicht um die Beute zu balgen.

Wieso Nebel?

Sie ist schon richtig im Kopf, sagte Messer, aber manchmal wirkt sie benebelt. Ich kenne ihre Geschichte, willst du sie hören?

Nein.

Eine gute Einstellung, sagte Messer, worüber hat sich die Frau Chefin denn amüsiert?

Hab’ ich vergessen, sagte ich und ging an ihm vorbei und wieder zurück in den Krankensaal, die schamhafte Frau Nebel hatte ihre Blößen bedeckt, die Ärztin war zu anderen Kranken weitergezogen, Leber blätterte in einer Sportzeitung, und als Messer Frau Nebel einen wunderschönen Resttag wünschte, stellte sie trocken fest, daß sie sich geschmeichelt fühlte, die Schicklichkeit aber einen weiteren Aufenthalt seinerseits an ihrem Bett strikt verböte, er sollte sie bitte nicht länger in Anspruch nehmen. Ich sann wieder einmal darüber nach, ob ich in diesem Land böse Blicke auf mich zog, denn jedesmal, wenn ich hierherkam, schienen Flüche ihre volle Wirkkraft zu entfalten, ich brach mir den Fuß, bekam eine Mittelohrentzündung, litt an beiden Handgelenken an Sehnenscheidenentzündung oder überlebte nur knapp einen schweren Verkehrsunfall. War ich in Deutschland geschützt? Ich wußte es nicht, diese Gedanken brachten mich nicht weiter, und mir ging auf die Nerven, daß Frau Scham und Nebel mir schmachtende Blicke zuwarf; sie bot mir sogar süßes Gebäck an, ich lehnte dankend ab, sie zeigte mir die in Öl eingelegten, mit Hackfleisch gefüllten Paprikaschoten, ihre charakterlahme Schwägerin hätte sie bei ihrem letzten Besuch vorbeigebracht, und ich könnte doch, wenn ich schon nicht davon probieren wollte, Brot ins Öl tunken. Ich lehnte dankend ab. Und schlief ein, ich schlief tief und fest, ich hatte keine Alpträume, ich wachte nicht schreiend auf, sondern wurde von Leber wachgeschüttelt, er sagte, ich hätte mit meinen schnarrenden und pfeifenden Nasenlauten fast den ganzen Saal unterhalten, fünf Stunden Schlaf wären genug. Am kleinen Waschbecken rechts neben der Tür wusch ich mein Gesicht, es gab keinen Spiegel, in den ich hätte schauen können, vielleicht war es besser so, ich schlüpfte in den buntgestreiften Reservemorgenmantel, den mir Leber aufdrängte, ein Mann im Morgenmantel machte, wie er laut verkündete, viel mehr her als ein Mann in einer lausigen Jacke. Wir gingen los, Messer und Bluterguß hatten sich uns angeschlossen, wir alle steckten in Morgenmänteln und Straßenschuhen, ein unbeteiligter Beobachter hätte uns für eine Kampftruppe von Irren halten können. Leber übernahm die Führung, und während wir um Ecken bogen, Treppen hoch- und runterstiegen, lange und kurze Flure entlangschritten, sprach er davon, daß dieses Staatskrankenhaus ein Reich der Trennvorhänge und kleinen Kammern wäre, man würde die besondere Affinität der Krankenschwestern zu gutaussehenden Ärzten aus den Groschenheften kennen, hier aber herrschten die Gesetze der Realität, hier würden dicke, mit Keulenwaden watschelnde Krankenschwestern buckligen und verwarzten Ärzten verfallen, man sollte die schöne Frau Ärztin bitteschön als Ausnahme von der Regel begreifen. Messer blieb ruhig. Von einem Kuß wird man nicht schwanger, fuhr Leber fort, und auffallend ist, daß die Schwangerschaftsrate null Prozent beträgt, also pflegt das Personal bei seinen heimlichen Praktiken höllisch aufzupassen. Aber gut, diesen schnellen Schüssen und dem Dunkelkammerbeischlaf haben wir es zu verdanken, daß man uns Kranken mit einiger Nachsicht begegnet, man stelle sich mal die Seelenlage der Ärztinnen und Ärzte vor, wenn … Messer blieb ruhig, und ich war damit beschäftigt, den mir entgegenkommenden, bandagiert flanierenden Männern und Frauen auszuweichen, die Langeweile hatte sie, genauso wie uns, aus den Betten gescheucht, die Siechen, Lahmen und Einäugigen trotteten durch die Flure der Stationen, gelegentlich stürzte eine Schwester zu einem Kranken und trieb ihn wieder zurück.

Dies ist kein Ort der Bedrohung, stellte ich fest, ich hatte längst die Orientierung verloren, ich glaubte nur, daß wir uns zum rückwärtigen Teil des Krankenhauskomplexes vorarbeiteten, und tatsächlich glichen die Krankenschwestern nicht den jungen Elfen in Weiß, die man in den Vorabendserien bewundern konnte, die Kittel spannten um die Hüften, und ich sah Schminkkästen aus ihren Taschen hervorlugen.

Schließlich fanden wir uns in der Kantine ein, ich schaute mich fragend nach Leber um, wir werden am Bett bedient, sagte er, aber wer den üblen Fraß ißt, ist selber schuld, Messer drängte an der langen Schlange vorbei, wobei er hier und da Ellenbogenstöße verteilte, und als er vor dem Essensausteiler stand, umfaßte er mit beiden Händen seinen Kopf, zog ihn sanft heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Mann schien über die Verletzung seiner persönlichen Unantastbarkeit keineswegs empört, er nickte, tauchte die Schöpfkelle in den Aluminiumbottich, und während er die Hackfleischkloßsuppe ausgab, bellte er seinen zweiten Kantinenoffizier an. Messers Anweisung wurde wohl über die Befehlskette bis zu den Köchen durchgegeben, Messer war es zufrieden, und er führte uns an einen freien Tisch, wir schlüpften aus unseren Morgenmänteln, hängten sie über die Stuhllehnen und setzten uns hin. Wenig später löffelten wir unsere Suppe, die Schärfe trieb mir die Tränen in die Augen, ich blieb ruhig.

Du kennst den richtigen Mann am richtigen Ort, sagte ich.

Er ist mein Bruder, sagte Messer.

Was? Dein Bruder arbeitet in der Kantine, dann ist ja alles klar.

Messer schaute mich nur an, und ich verstand, daß er enttäuscht war, daß ich nicht wirklich verstand, und endlich ging mir ein Licht auf, der Essensausteiler war deshalb Bruder, weil er Messers Wünsche respektierte. Bluterguß wischte seinen Teller mit einem Brotstück blitzblank und lehnte sich zurück.

Die Suppe ist der wahre Höhepunkt eines Tages, stellte er fest.

Da kann ich mir aber ganz andere Dinge vorstellen, sagte Leber, schade, daß sich nur in Filmen eine Krankenschwester in einen Patienten verliebt. Und schade, daß die hiesigen Schwestern, wie gesagt, nicht mit übermäßiger Schönheit gesegnet sind.

Wir wollen die Schwester aus der Intensivstation nicht übergehen, sagte Bluterguß.

Ich habe sie in die Konditorei zwei Straßen von hier entfernt eingeladen, sagte Messer, ich habe mich wie ein Kavalier alter Schule verhalten. Und trotzdem hat sie mich abgewiesen. Sie ist nicht einmal verlobt, und meines Wissens hat sie sich auch auf keine Trennvorhang-Liaison eingelassen.

Ich kann dir den Grund nennen, sagte Bluterguß, vielleicht sogar zwei Gründe. Erstens, du bist unrasiert.

Das sehe ich ein.

Zweitens, du bist ein Patient und damit die Horizontale, weil du per Definition zu den Liegenden gehörst. Eine Schwester ist die Vertikale, sie macht dein Bett, bringt dir das Essen ans Bett und wechselt deinen Tropf oder gibt dir eine Spritze. Sie steht, du liegst, die Waagrechte kann sich schlecht zur Senkrechten ins Verhältnis setzen.

Als ich sie zum Tee und Gebäck einlud, stand ich vor ihr, sagte Messer, deine Theorie bleibt eine Theorie.

Bedenke, daß die besagte junge Frau von oben empfängt und nach unten reicht, sagte Leber, dies ist ein Haus für Kranke und Verletzte, du bist verletzt, sie ist gesund, sie steht an deinem Bett hinter dem Vorhang und schaut auf dich herunter. Gleich zu gleich gesellt sich gern, also muß einer von euch beiden fallen, und das kann nur die Schwester sein.

Die zweideutige Bemerkung schien Messer kurz aufzuwühlen, doch weil er schlecht aus seiner Rolle des Gastgebers fallen konnte, drückte er sein Mißfallen mit einem Zischlaut aus und ließ den ungerührt löffelnden Leber in Ruhe. Er verließ die Runde, um kurz danach mit einem Tablett voller Kompottschüsseln zurückzukehren, wir putzten den Nachtisch weg und machten uns für den Verdauungskaffee auf den Weg zum Kiosk. Man mußte sich also nur fügen und treiben lassen, diese Männer im Morgenmantel hatten sich meiner angenommen, sie hatten mir sogar einen Morgenmantel geliehen, eine mittelalte Dame schmachtete mich an, diese Liebe konnte ich zwar aus vielen Gründen nicht erwidern, aber Zuneigung blieb Zuneigung, und ich mußte dankbar sein. Ich war eher verwirrt.

Draußen trieben sich die üblichen Verdächtigen herum, ruhelose Geister und professionelle Schaulustige, einige wenige Frauen, die Kürbiskerne knackend miteinander schnatterten. Die Parkbänke waren besetzt, wir bezogen vor dem Kiosk Stellung, der Polizist, den wir nur hinter seinem Rücken Blutnase zu nennen wagten, war in Bombenstimmung und genehmigte sich aus dem Kaffeeplastikbecher ein paar Schlucke Bier. Die Abenddämmerung verwischte die Farben und Umrisse, die Neonlampen gingen flackernd an, und die Tauben beäugten von den unteren Ästen der wilden Birke auf dem Nachbargrundstück aus die Brotkästen, die der Pfleger aufeinanderstapelte. Zweimal fuhr ein Krankenwagen vor, die Heckklappen wurden aufgerissen, die Krankenbahre wurde ausgefahren, und ich sah beide Male wimmernde Männer darauf, die den Himmel um Beistand anflehten. Jedesmal stimmten wir ein Amen an und legten eine Minute Gesprächspause ein. Dann sprachen wir weiter, über Gott und die Politik, über kratzende Herrenunterwäsche, über Frauen, über die Techniken der Nasenhaarentfernung, über ein neues deutsches Wunderprodukt, den Gartenschlauch mit Nachtropfstopp, über Frauen, über Einwegrasierer, die schon nach dem zweiten Gebrauch stumpf werden und mit denen man sich fast verstümmelt, über die Abdrücke im Teppich, die Kommodenbeine hinterlassen und deretwegen der Mann von seiner Ehefrau beschimpft wird (der Polizist), über die verdammten Meteorologen, die eine Schlechtwetterfront vorhersagen, und die Wahlprognoseinstitute, die fast immer die Opposition zum Wahlsieger erklären, über das gute Wetter und die siegreiche Regierungspartei. Und über die Frauen. Ein häßlicher Zwischenfall im Tagesablauf eines jeden von uns, mit Ausnahme des Polizisten, der seiner Arbeit nachging, hatte uns zusammengeführt, und wenn wir ehrlich sein wollten, waren der Unfall, der Zusammenbruch, die Messerstecherei, die plötzlich ausbrechende Krankheit willkommene Anlässe, den Trott zum Teufel zu schicken, der Lebensüberdruß jagte uns Männer im Morgenmantel einen Heidenschreck ein. Die Verkommenen wollten sich an uns schmiegen, und wir hatten es satt, den Verkommenen Wärme zu spenden. Natürlich bildete ich mir das Gemeinschaftsgefühl nur ein, ich sah ein gemeinsames Band, eine kleine Verschwörung auf dem Vorplatz der Notfallambulanz, ich sah uns, die wir in Plastikkaffeebechern rührten, ein perfides Bubenstück planen, dabei hatte der Polizist, nach einer Wutpredigt wider das üble Eheweib, unsere Losung ausgesprochen: Angeschossen ist nicht tot. Wen wollten wir damit beeindrucken? Die Tauben, den sprechbehinderten Kioskbesitzer, der die Tauben die Krümel aus den Brotkästen picken ließ? Oder den Pfleger? Leber hatte keine hohe Meinung von ihm, er hatte mir im Vertrauen verraten, daß er ihn für einen Minderbegabten hielt, und jeder Minderbegabte hätte das Zeug zum Kollaborateur, dem verlausten Pfleger fehlte es allein an Courage, an den richtigen Feind heranzutreten und ihm seine Dienste anzubieten, die Lümmel und Verbrecher warteten nur auf die passende Gelegenheit. Wenn nicht bei dem Pfleger, dem Kioskmännchen und den Tauben – bei wem also wollten wir Eindruck schinden? Nichts ist erbärmlicher, als vor einem Losverkaufsstand auf dem Jahrmarkt zu stehen, dachte ich, und mit der Schuhspitze die Lottonieten in den Boden zu treten, man kommt gegen den Drang, sein Glück trotzdem zu versuchen, nicht an.

 

Unser Denker hat seine Stirn gefurcht, sagte Bluterguß, wahrscheinlich fördert er jetzt eine fürchterliche Wahrheit zutage.

Müßt ihr noch lange hierbleiben? sagte ich.

Länger als du, aber kürzer als die Todgeweihten, sagte Messer, Rippe, sei unbesorgt, wenn du an meine Tür klopfst, werde ich aus dem Fenster spähen und nur kurz darüber grübeln, ob ich dich hereinlasse.

Ihr seid mir auch willkommen, sagte ich.

Ich weiß ja nicht, sagte Leber, lohnt sich der lange Weg nach Deutschland?

Du bist ein unsensibles Rind, sagte der Polizist, Rippe kämpft mit den Tränen, er hat uns in sein kaltes Herz geschlossen, und du sagst ihm ins Gesicht, daß du frierst.

Ich brauche Rat, sagte Messer.

Es geht selbstverständlich um eine Frau, stellte Leber fest.

Die Frau, um die es tatsächlich geht, ist sehr vergeßlich, deshalb schreibt sie Merkworte auf den unteren Teil ihrer Handflächen. Ich habe Verständnis dafür. Sie unterstreicht die Merkworte und versieht sie mit mehreren Ausrufezeichen, ich meine, sie hat es sich in der Grundschule angewöhnt, sie nennt es das Prinzip der Spickhand …

Aha, rief Bluterguß aus, du hast dich mit ihr unterhalten.

Wir kennen uns, ja.

Kommt sie aus einer guten Familie? sagte der Polizist.

Das ist wohl zweitrangig, sagte Messer, viel wichtiger ist doch die Frage, ob sie … na gut, ich gebe meine Geschichte in groben Zügen wieder. Eines Tages, ich gehe friedlich herum …

Schwer vorstellbar, unterbrach ihn der Polizist.

Ich gehe also durch die Straßen dieser Stadt, und da kommt sie mir entgegen, sie ist völlig damit beschäftigt, ihre Schrift auf der Handinnenfläche zu entziffern, und schaut nicht nach rechts und links und nicht geradeaus, es gibt zwar genug Platz auf dem Bürgersteig, ich denke aber kurz darüber nach, ob es eine gute Idee wäre, ihr eben nicht auszuweichen …

Messer nahm einen großen Schluck Kaffee und trat nach den Tauben in der Nähe, doch sie umtippelten gurrend seinen Fuß.

Und? sagte Leber.

Es ist eine gute Idee, ihr nicht auszuweichen, wir stoßen also zusammen. Sie ist völlig aufgelöst, ich entschuldige mich bei ihr, da stellt sich eine blöde Göre dazu und sagt zu ihr, daß es volle Absicht gewesen sei, er habe mich dabei beobachtet, wie ich Anlauf genommen hätte, sie solle auf meine Kollisionsmasche bloß nicht hereinfallen …

Der miese kleine Teichmolch! sagte der Polizist.

Und? sagte Leber.

Ich habe der Göre einen Klaps gegeben, wohlgemerkt, keinen Fausthieb, keine Ohrfeige, keine Kopfnuß, nur einen Klaps, und das bringt die Zerstreute dermaßen aus der Fassung, daß sie sich schützend vor die Göre stellt und mit mir schimpft, ich muß zugeben, ich bin verblüfft, sie hat wirklich ordentlich geflucht, ich möchte das hier alles nicht wiedergeben …

Jetzt bloß keine falsche Scham, sagte Bluterguß.

Dann drückt sie der Göre einen Schein in die Hand, wirft mir einen vernichtenden Blick zu und eilt weiter. Ich natürlich hinterher. Ich entschuldige mich ein zweites Mal, ich sage ihr, daß ich von dem Zusammenstoß noch ganz benommen gewesen sei, vorhin, sonst sei es nicht meine Angewohnheit, fremden Kindern Klapse zu verpassen, außerdem, sage ich, habe mich ihr Anblick derart überwältigt, erschüttert und bezaubert, daß ich nicht wußte, was ich tat.

Die alte Kavaliersschule, stellte der Polizist fest.

Ich konnte sie schließlich überzeugen, und da sie sich nicht darauf einlassen wollte, mit mir in einer Konditorei zu sitzen, habe ich sie auf ihrem fast zweistündigen Spaziergang begleitet. Ich hasse es zwar, sinnlos herumzulaufen, aber ich paßte mich an. Sie läßt mich erzählen, dann und wann bringt sie einen langen Kommentar unter, dem ich nicht folgen kann, und plötzlich sagt sie: Eine letzte oder vorletzte Frage – Woher du kommst, ist mir egal, was du machst ist mir egal, aber wieso mußt du bei mir sein?

Eine harte Braut, sagte Leber, und?