Liebesglück - Kathrin Werner - E-Book

Liebesglück E-Book

Kathrin Werner

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Beschreibung

Vom Glück der ganz großen Liebe - wahre Geschichten Die große Liebe. Die eine, magische, die ganz große Liebe, für die man lebt und sterben würde, die alles bedeutet, die allem einen letzten Sinn verleiht. Die größte Kraft im Universum, wenn es sein muss gegen die widrigsten Umstände. Die Liebe, von der jeder Mensch träumt, von der die größten und schönsten Filme und Bücher erzählen. Es gibt sie. Es gibt sie wirklich, die ganz großen Liebesgeschichten dieser Welt. Kathrin Werner hat viele Länder bereist und die zwanzig schönsten Liebesgeschichten, die ihr begegnet sind, aufgeschrieben. Sie erzählt sie uns auf bewegende, bezaubernde Weise.

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Seitenzahl: 358

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Kathrin Werner

Liebesglück

Wahre Geschichten von der ganz großen Liebe

FISCHER E-Books

Inhalt

Für meine MutterBrianna und MattOdile und MalteElvira und FortekLindsey und DaveNellie und JohanElena und JuanAnne und HansRamin und NimaLois und LewisJenny und FatihKrickitt und KimClaudia und DorotheaJulie und RudiSandra und TomLisa und KristinaChrissy und AliouMarina und AnthonyCynthia und HowieCarmen und MonirRenee und JohnNachwort

Für meine Mutter

Brianna und Matt

Matt wacht auf, als sein Handy klingelt. Es ist 7.50 Uhr an einem Samstagmorgen im Februar, er ist ein bisschen verkatert, gestern Abend war er mit seinen College-Freunden etwas trinken. Trotzdem ist er gleich hellwach, als er die Nummer auf dem Display sieht. Am Telefon ist Briannas Schwester, die er nicht besonders gut kennt. Warum nur ruft sie ihn an, so früh am Morgen? »Ich wusste sofort, dass etwas Schlimmes passiert ist«, erzählt er. »Ich habe schlechte Nachrichten«, sagt die Schwester am Telefon. »Brianna hatte einen Autounfall. Wir sind nicht sicher, ob sie überlebt.« Was ist passiert? Was hat sie? Wie geht es ihr? Kann sie sprechen? Ist sie wach? Matt stellt eine Frage nach der anderen, doch Briannas Schwester antwortet nicht. »Matt, ich muss auflegen«, sagt sie. »Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt. Du bist ja ihr bester Freund.« Und dann legt sie auf.

Matt springt aus dem Bett, rafft seine saubere Wäsche aus dem Trockner zusammen, wirft sie in seine Reisetasche, die Tasche ins Auto und fährt los. Es ist 7.59 Uhr, als er auf den Highway einbiegt. Er kann kaum etwas sehen, seine Augen sind voller Tränen. Er denkt daran, wie sie sich kennengelernt haben vor so vielen Jahren. Matt hatte gerade die Schule gewechselt, von der katholischen Privatschule auf die öffentliche Highschool. Er kannte kaum jemanden und galt in der neuen Schule nicht gerade als cool. Bri hingegen war immer mit all den hübschen, beliebten Mädchen zusammen, mit denen alle befreundet sein wollten. Er hat sie oft beim Fußballtraining für die Schulteams gesehen, denn sie war so gut, dass sie manchmal mit den Jungen zusammen trainiert hat, zusammen mit Matts Mannschaft. Er fand sie schön, sie lachte viel und konnte perfekt mit dem Ball umgehen, das fand er toll. Aber er hat sie nie angesprochen. Er hätte sowieso keine Chance bei ihr gehabt, dachte er. Er war eher schüchtern.

Matt fährt und fährt, den schnurgeraden Highway von seinem College, der University of Mississippi, durch den ganzen Bundesstaat hindurch Richtung Süden, Richtung Krankenhaus, immer schneller, er weint, bis keine Tränen mehr kommen. Seine Eltern rufen an. »Fahr vorsichtig, Sohn«, sagen sie. »Pass auf dich auf.«

Matt denkt daran, wie Brianna damals in der zehnten Klasse bei ihm geblieben ist, als er sich seinen großen Zeh beim Fußball gebrochen hat, obwohl sie ihn da noch überhaupt nicht richtig kannte. Der rechte Zeh stand zur Seite ab, hing nur noch an einem Fetzen Haut, überall war Blut. Alle anderen fanden das eklig, Bri nicht. Sie blieb bei ihm, bis seine Mutter kam und ihn ins Krankenhaus brachte. Er weiß noch immer nicht, warum sie geblieben ist. Wäre es doch nur bei seinem gebrochenen Zeh geblieben. Wäre ihr Körper doch unverletzt.

Auf dem Weg zum Krankenhaus wird Matt von einem Polizisten angehalten, er fährt viel zu schnell, 185 Kilometer pro Stunde, doppelt so schnell wie erlaubt. Aber der Polizist lässt den weinenden Neunzehnjährigen weiterfahren, als er seine Geschichte hört, gibt ihm nur eine strenge Ermahnung mit auf den Weg.

Von da an hält sich Matt an die Geschwindigkeitsbegrenzung, doch seine Gedanken rasen weiter. Wie sie nach dem gebrochenen Zeh angefangen haben, sich über Facebook Nachrichten zu schreiben. Dann per SMS, Bri hat ihm Fotos von dem blutenden Fuß geschickt. Wie sie Freunde wurden. Beste Freunde. Er fuhr sie jeden Nachmittag zum Fußballtraining, diese langen, lustigen, unbeschwerten Autofahrten. Sie wussten immer, was der andere gerade dachte. Sie hatte einen Freund in der Highschool, ein Blödmann, der nicht nett zu ihr war. Matt war eifersüchtig, er war in Bri verliebt. Aber er hat nie etwas gesagt. Er hat nie gestanden, dass er eigentlich mehr sein wollte als ihr bester Freund. Wahrscheinlich hat sie es sowieso immer gewusst. Hätte er doch nur etwas gesagt. Zum Abschlussball ging sie in einem lilaweißen Kleid, er mit einer lilaweißen Weste, ihre Outfits passten ganz zufällig zusammen, sie hatten das nicht verabredet. Aber sie gingen mit anderen Partnern zum Tanz. Wäre er doch nur mit Bri gegangen.

Matt schafft es in dreieinhalb Stunden zum Krankenhaus, normalerweise braucht man sechs Stunden für die Strecke. Er denkt daran, wie traurig er war, als Bri zum College wegzog. Sie ist ein Jahr älter als er und war ein Jahr vor ihm mit der Highschool fertig. Sie schrieben sich ständig SMS, aber sie fehlte ihm trotzdem. Matt erinnert sich, wie sie zu Besuch kam, wie sie wieder so viel Zeit wie möglich miteinander verbrachten. Dann war auch Matt mit der Schule fertig, er zog in den Norden von Mississippi für die Uni, weit weg von Bri. Die beiden sahen sich immer seltener, aber sie blieben in Kontakt. Er dachte immer an sie, jeden Tag. Dann, drei Wochen vor dem schrecklichen Anruf und vor dieser schrecklichen Autofahrt, konnte er Bri endlich besuchen. Sie haben zusammen Harry Potter geschaut und ein bisschen gekuschelt. Das hatte es noch nie zwischen ihnen gegeben: kuscheln. Am Abend fuhr sie ihn nach Hause, sie hielten Händchen. Auch das hatte es noch nie zwischen ihnen gegeben. Kurz nach dem Abschied schickte sie ihm eine SMS: Mit dir Zeit zu verbringen hat mir gezeigt, wie sehr ich dich liebe. Ach, wäre er doch nur nicht so dämlich gewesen, denkt Matt, als er mit tränennassen Wangen über den Highway rast. Ich habe Angst, unsere Freundschaft zu verlieren, hatte er auf ihre SMS geantwortet. Sie vereinbarten, Freunde zu bleiben, nichts als gute Freunde. In den achtzehn Tagen vor dem Unfall haben sie kaum miteinander gesprochen, kaum SMS ausgetauscht. Bri war traurig, und Matt wusste nicht, was er sagen sollte. Wie dumm er doch gewesen war!

Als er im Krankenhaus ankommt, trifft er Briannas Eltern im Wartezimmer. Bri wird gerade operiert. Eine von vielen Operationen nach dem Unfall, die sie zu diesem Zeitpunkt schon hinter sich hat und die noch vor ihr liegen. Matt und ihre Familie warten zusammen auf Nachrichten aus dem OP. Niemand darf Bri sehen, niemand weiß, was los ist. Die Ärzte sagen nur, dass es ernst ist, sehr ernst, und dass sie nichts versprechen können. Matt verbringt die Nacht im Wartezimmer. Am nächsten Morgen sagen die Ärzte zu Briannas Geschwistern, dass sie die Eltern darauf vorbereiten sollen, dass Bri den Tag wahrscheinlich nicht überleben wird.

Aber Bri stirbt nicht. Sie ist eine Kämpferin, sagen die Ärzte am Ende des Tages, aber sie wissen immer noch nicht, ob sie es schafft. Zu viele Organe sind zerstört, die Wirbelsäule ebenfalls, vielleicht hat Bri auch eine Hirnverletzung. Matt schläft noch eine Nacht im Wartezimmer.

Nach drei Tagen dürfen ihre Eltern Bri zum ersten Mal sehen. Sie kommen ganz bleich zurück. Matt bleibt im Krankenhaus, er verpasst die Uni, aber er erklärt seinen Professoren, was passiert ist, und sie geben ihm frei. Nur für die Klausur am Donnerstag soll er wieder im College erscheinen. »Ich will nicht wegfahren, ohne sie zu sehen«, sagt er zu Briannas Eltern. Die Ärzte lassen ihn kurz zu ihr.

Wenn Matt nicht gewusst hätte, dass es Brianna ist, dass es seine beste Freundin ist, die da liegt – er hätte sie nicht erkannt. Die Augen zugeschwollen, das Gesicht schwarz und blau verfärbt, der Schädel halb rasiert. Eine Metallstange ragt aus ihrem Kopf heraus, irgendein medizinisches Gerät. Eine Decke liegt über ihrem Bauch, den die Ärzte nicht zunähen konnten, weil alles in ihr zu sehr geschwollen ist. Er streichelt ihre Hand und flüstert ihr zu: »Ich bin für dich da. Ich fahre nur ganz kurz zur Uni, dann komme ich wieder. Versprochen.« Brianna reagiert nicht. Die Monitore flimmern, ihr Herzschlag piept, Matt betrachtet all die Kabel und Schläuche mit wachsendem Entsetzen. »Ich war froh, dass ich sie gesehen habe«, sagt er. »Aber ein bisschen habe ich es auch bereut.« Er weint wieder die ganze stundenlange Autofahrt zurück zur Uni. Eigentlich ist er kein Typ, der nah am Wasser gebaut ist.

Am Tag nach der Klausur fährt er wieder ins Krankenhaus, wieder die lange Strecke vom Norden bis in den Süden von Mississippi. Wieder sitzt er im Wartezimmer, Stunde um Stunde. Abends rufen seine Eltern an, er soll doch wenigstens zum Abendessen nach Hause kommen. Sie machen sich Sorgen um ihn.

Nach ein paar Tagen geben die Ärzte endlich Entwarnung: Brianna wird leben. Aber noch ist nicht klar, wie schwer ihre Verletzungen sind. Ob sie jemanden erkennen wird, wenn sie aufwacht. Ob sie je wieder laufen wird. Matt darf nun öfter zu ihr ins Zimmer. Er hält ihre Hand und redet mit ihr. Wenn er spricht, beruhigt sich ihr Herzschlag auf dem Monitor. »Wenn ich gesagt habe, dass ich jetzt gehen muss, ist ihr Puls wieder hochgegangen«, sagt Matt. »Ich schwöre, dass ich mir das nicht ausdenke. Es war unglaublich. Ich wusste, dass sie mich hören kann.«

Vier Wochen bleibt Brianna auf der Intensivstation. Unter der Woche studiert Matt, am Wochenende sitzt er an ihrem Bett, er verbringt Stunden auf dem Highway, immer unterwegs zwischen Uni und Krankenhaus. Bri geht es nach und nach besser. An einem Tag kann sie Matts Hand zurückdrücken, wenn er sie hält. Dann öffnet sie ihre Augen. Dann kann sie ihren Kopf bewegen, auf Dinge zeigen. Sie erkennt Matt und will so viele ihrer dreißig Minuten Besuchszeit pro Tag wie möglich für ihn reservieren, andere Besucher schickt sie weg. »Sie war sehr resolut, obwohl sie noch gar nicht sprechen konnte«, sagt Matt. »Ich habe gemerkt, dass ich nur glücklich bin, wenn ich mit ihr zusammen bin. Sogar im Krankenhaus.«

Hier in der Geschichte von Brianna und Matt beginnt die Zeit nach dem Unfall, an die sich Bri wieder erinnern kann. Dazwischen ist alles dunkel. Sie erinnert sich an den Abend vor dem Unfall, sie war mit einer Freundin im Kino, nach dem Film sind die beiden zurückgefahren, die Freundin am Steuer, Bri auf dem Beifahrersitz. Danach weiß sie nichts mehr, bis zu dem Moment, in dem sie im Krankenhaus langsam aufwacht, Matt immer an ihrer Seite. Fast vier Wochen sind ausgelöscht aus ihrer Erinnerung. Sie hat Fotos von dem Autowrack auf ihrem Handy, die ihr andere Leute geschickt haben. Manchmal schaut sie sie an. »Sieht nicht so aus, als könnte da jemand lebend herauskommen, oder?«, sagt sie. Die Fotos fühlen sich für sie an, als stammen sie aus dem Leben eines anderen Menschen. Aus den Polizeiberichten weiß sie, dass eine Geisterfahrerin mit voller Geschwindigkeit in ihr Auto hineingerast ist. Sie war betrunken und sofort tot. Bris Freundin hat den Unfall mit ein paar Schrammen und einem gebrochenen Fußgelenk überstanden, Bri saß auf der Seite des Aufpralls. Als der erste Polizist zur Unfallstelle kam, hat Bri gerufen: »Bitte lass mich nicht sterben. Bitte lass mich nicht sterben. Bitte lass mich nicht sterben.« Sie kann sich an nichts davon erinnern. Es ist wohl besser so, glaubt sie.

»Ich war so schwach, als ich aufgewacht bin«, erzählt sie. »Ich weiß noch, wie ich die Augen aufgemacht habe, und er saß neben mir in seinem kleinen Plastikstuhl und hielt meine Hand. Ich bin wieder eingeschlafen. Und als ich aufgewacht bin, saß er da immer noch.« Matt bringt ihr Essen, füttert sie. Er schleppt einen DVD-Player und Disney-Filme ins Krankenhaus, die sie zusammen anschauen. Einmal versteckt er einen Brief unter ihrem Kopfkissen. »Ich habe ihn immer und immer wieder gelesen«, sagt sie. »Mein Gedächtnis weigert sich, sich an den Unfall zu erinnern. Ich erinnere mich nur an die guten Dinge danach.« Jedes Mal, wenn er sich von ihr verabschiedet, küsst er sie auf die Stirn. Einmal sieht sie, wie er im Krankenhausflur weint.

Die Ärzte sagen, wenn sie nicht so fit gewesen wäre vom vielen Fußballspielen, hätte sie den Unfall nicht überlebt. Sie hat viel Blut verloren. Ihr Zwerchfell ist gerissen, ihre Milz und ihr Blinddarm sind geplatzt, ihr Darm an zwei Stellen verletzt, ihr Unterleib offen, ihre Wangenknochen, Fußgelenk, Bein und Knie gebrochen. Und ihre Wirbelsäule, die ist auch angebrochen.

Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wird, kann sie sich kaum bewegen. Ihre Mutter bringt sie zur Reha nach Chicago. Es geht ihr schlecht in diesen ersten Wochen, in denen ihr klar wird, dass sie wohl nie wieder laufen können wird. Manchmal geht sie nicht ans Telefon, wenn Matt anruft. Er hinterlässt ihr Nachrichten, telefoniert mit ihrer Mutter. Ihre Mutter versteht nicht, warum Bri Matt zurückweist. »Ich bin wie ein Baby, ich kann nichts mehr allein«, sagt Bri zu ihr. »Ich bin nicht in der Verfassung, jemanden zu lieben. Und wieso sollte er mich überhaupt wollen?« Aber Matt gibt nicht auf. Ständig klingelt ihr Handy, dann kommt er zu Besuch nach Chicago. Briannas Geschwister reden ihr gut zu. »Der ist doch so ein toller Mann, Bri, wirf das nicht weg«, sagen sie. Die Krankenschwestern finden Matt toll. »Der liebt dich doch«, sagen sie. »Ich konnte damals einfach nicht glauben, dass mich jemand so lieben könnte, wie ich jetzt bin«, erzählt Brianna.

Aber mit der Zeit geht es ihr besser. Bri ist stark, nicht nur ihr Körper, auch ihr Wille, ihr Mut. Es geht bergauf, langsam aber stetig in den Wochen in Chicago, bald kann sie ihre Arme wieder normal bewegen, die Ärzte geben ihr viel Zuspruch, sie schöpft wieder Hoffnung. »Sie hat angefangen, um sich zu kämpfen«, sagt Matt. »Sie war schon immer eine Kämpfernatur. Und sie hat sich nie beschwert, sie war schnell wieder wahnsinnig optimistisch.« Er ist dabei, wieder zu Besuch in Chicago, als sie ihre ersten Schritte auf dem Laufband macht, sie stemmt sich mit den Armen hoch, ihre Beine sind ganz schwach. Matt applaudiert. »Ich weiß nicht, ob ich es ohne ihn geschafft hätte«, sagt sie. »Ich meine nicht nur seine Unterstützung, seine emotionale Unterstützung. Ich wollte kämpfen und gesund werden, weil ich seine Freundin sein wollte. Das war ein unglaublicher Antrieb.« Matt ist der Erste, mit dem sie wieder im Auto fährt. Es ist ein großer Vertrauensbeweis.

Vor seinem zweiten Besuch in Chicago erzählt Matt in seinem Freundeskreis, dass er zu seiner Freundin fährt – zu seiner Freundin, nicht zu einer Freundin. Es spricht sich herum, dass die beiden jetzt offenbar zusammen sind, Bri erfährt von den Gerüchten über Facebook. »Wenn du willst, dass ich deine Freundin bin, musst du mich erst einmal fragen«, sagt sie zu ihm, als er bei ihr in Chicago ankommt. Er führt sie zum Essen aus, schiebt ihren Rollstuhl in ein schickes Restaurant und schenkt ihr einen Ring. Jetzt sind die beiden offiziell ein Paar. »Seinetwegen habe ich mich wieder wie ein normaler Mensch gefühlt«, sagt sie. »Er hat mir gezeigt, dass ich liebenswert bin. Das hat mir geholfen, mich selbst wieder zu lieben.«

Der erste Kuss ist komisch. Wie wechselt man von Freunden zum Liebespaar? Sie erwartet einen Kuss auf die Wange, aber Matt küsst sie auf den Mund. Zuerst erschrickt sie sich, dann ist es doch ganz schön. Brianna traut sich, Matt zu fragen, was sie sich selbst ständig fragt: »Warum sollte irgendjemand mit mir zusammen sein wollen?« »Vertraue mir«, antwortet Matt. »Wenn ich nicht mit dir zusammen sein wollte, dann wäre ich nicht mit dir zusammen.«

Heute besuchen die beiden die gleiche Universität, sie hat sich auch an der University of Mississippi eingeschrieben. Sie leben noch nicht zusammen, sondern in getrennten Wohnungen, sie sind da ein bisschen konservativ – schließlich sind sie ja nicht verheiratet und noch so jung. Bri kann selbständig leben, sie kann Auto fahren, alleine duschen, alleine ins Bad und alleine ins Bett gehen. Sie sitzt im Rollstuhl, aber sie hat eine Art Krückengerüst, mit dem sie zu Hause herumlaufen kann, immerhin ein paar Schritte. Ihr Oberkörper ist stark, sie trainiert viel. Und sie hofft, dass die Medizin Fortschritte machen wird, damit sie bald auch ohne Rollstuhl das Haus verlassen kann. Ihr Rückenmark ist nicht beschädigt, die Nerven darum herum aber sehr stark, sie hat kein Gefühl im unteren Rücken.

Matt feuert sie an, sich anzustrengen, zu trainieren, auch er hofft, dass sie vielleicht wieder ein wenig laufen lernt. »Ich denke schon manchmal daran, was ich alles machen könnte mit einer Freundin, die laufen kann«, sagt Matt. »Aber nicht mit einer irgendeiner anderen Frau. Ich denke nur darüber nach, was wir alles machen könnten, wenn Bri laufen könnte.« Manchmal macht Matt einen Witz: »Ich hab dir gerade an den Hintern gefasst, Schatz.« Wenn sie sich mal nicht sehen, schreiben sie sich nach spätestens zwei Stunden eine SMS: Ich vermisse dich. Wenn sie mit dem Auto fahren, schicken sie immer gleich eine SMS, wenn sie gut angekommen sind.

Die beiden sind, so oft es geht, zusammen, fast jeden Tag gleich nach den Vorlesungen, fast jeden Abend. Sie schauen Fernsehserien, spielen Brettspiele, manchmal sehen sie sich ein Footballspiel im Stadion an, sie haben ein paar gute Freunde an der Uni. »Wir sind einfach gern zusammen«, sagt Bri. »Wir müssen gar nicht viel unternehmen. Wenn wir zusammen sind, ist alles gut.« Wer den beiden bei Instagram, Facebook oder einem dieser anderen sozialen Netzwerke folgt, denkt: was für ein schönes, junges, glückliches Paar. Als Matt kurz aus dem Zimmer geht, um sein Handy zu holen, sagt Bri: »Ist er nicht großartig? Ich habe noch nie jemanden getroffen, der ihn nicht auf Anhieb mag.«

Matt kommt wieder ins Zimmer. »Wenn er weg ist, vermisse ich ihn sofort. Einfach, weil mir seine Gegenwart fehlt«, sagt sie. »Hör auf, mein Ego explodiert gleich«, sagt er und lacht. Wenn die beiden zusammen sind, berühren sie sich ständig. Sein Bein über ihrem Schoß, ihre Hand auf seinem Arm. Wenn er aufsteht, streicht er ihr über die Schultern. Sie erzählen ihre Geschichte gern, aber es ist ihnen auch ein wenig peinlich. Sie mögen keinen Kitsch, sagt Matt. Als Brianna kurz Tränen in die Augen steigen, wischt sie sie schnell weg und entschuldigt sich. »Ich bin eigentlich keine Heulsuse.« Als Bri kurz aus dem Zimmer rollt, sagt Matt: »Sie ist so toll. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der sie nicht mag.«

Sie reden viel über die Vergangenheit, über ihre Zeit in der Highschool, als sie gute Freunde waren und nicht mehr. Manchmal scheint es wie eine verlorene Zeit. All die Dinge, die sie hätten machen können, als Brianna noch laufen konnte. Sie hätten zusammen zum Abschlussball gehen können, miteinander tanzen können. Sie reden über ihre langen Autofahrten, über ihre Gespräche von früher, als ihre größten Sorgen die Hausaufgaben waren. »Wir waren so unschuldig«, sagt Brianna. »Es kommt mir vor wie ein anderes Leben. Wir sind beide sehr schnell erwachsen geworden.« Sie hat immer geahnt, dass Matt in sie verknallt war in der Highschool. Er hat ihr seine Lieblingsmusik auf CD gebrannt, er brachte ihr Lieblingsgetränk mit, Powerade mit Wildkirschgeschmack, oder die bunten, sauren Weingummis, die sie so gern mag. »Ich habe nur ein einziges Mal kurz erwähnt, wie sehr ich die mochte, und Matt hat es sich gemerkt«, sagt Bri. »Ich habe schon damals überall Dinge gesehen, die mich an sie erinnern«, sagt Matt. »Er war super niedlich«, sagt Bri. »Alle unsere Freunde wussten schon seit Jahren, dass wir zusammenkommen würden. Nur wir wussten es nicht. Und ich bin mir nicht sicher, ob wir ohne den Unfall ein Paar geworden wären. Vielleicht hätten wir uns weiter selbst im Weg gestanden.«

Sie planen ihr Leben zusammen, sie wollen Kinder haben, Brianna kann ein Baby bekommen, wenn sie vorsichtig ist und sich regelmäßig untersuchen lässt. Vielleicht wollen sie danach noch eins adoptieren. Matt möchte Ingenieur werden, er entwirft schon das Haus, das er für Brianna und ihre gemeinsame Familie bauen will, es hat überall Fahrstühle und eine befahrbare Dusche. Brianna studiert Psychologie, sie will sich später um Unfallopfer kümmern. »Unsere Geschichte ist erst kurz, aber das wird sie nicht bleiben«, sagt Matt. »Unsere Beziehung ist anders als die von anderen Zwanzigjährigen. Der Unfall hat mir gezeigt, was wichtig ist. Ich weiß jetzt, was mich glücklich macht.«

Odile und Malte

Diese Geschichte beginnt mit einer Briefmarkensammlung. Nicht gerade, wie man sich den Anfang einer großen Liebesgeschichte vorstellt. »Ich habe Briefmarken geliebt, sie haben mich an die weite Welt erinnert«, sagt Odile. Im Jahr 1991 lebt sie auf Mauritius, einer Insel im Indischen Ozean, noch immer zu Hause bei ihren Eltern in ihrem alten Kinderzimmer. Flugtickets kann sich die Zwanzigjährige nicht leisten, sie hat noch nicht einmal ein Auto und überhaupt: Reisen und Freiheit gehören sich nicht für eine junge, alleinstehende Frau auf Mauritius und in ihrer katholischen Familie. Also schreibt Odile Postkarten an einen Brieffreundschafts-Club und hofft auf Antworten – mit bunten Briefmarken für ihre Sammlung. »Briefmarken haben die Welt zu mir gebracht«, sagt sie.

Auf der anderen Seite der Welt, am Rande des Pazifiks, lebt Malte in San Francisco. Er ist dreiundzwanzig Jahre alt, wohnt in einer Männer-WG, jobbt in einem Hotel, fährt einen kleinen, roten Alfa Romeo und lernt am College Französisch. Als ein Freund ihm von einem internationalen Verein für Brieffreunde erzählt, tritt er bei. Vielleicht antwortet ja jemand, mit dem er auf Französisch hin- und herschreiben kann, denkt er. Malte bekommt Post aus Taiwan, Bulgarien und Ungarn, antwortet auch ein paarmal, aber das Ganze wird ihm bald langweilig. Ein paar Monate später kommt noch eine Postkarte an. Auf der Vorderseite ist ein Bild des Dodos, einer Vogelart, die längst ausgestorben ist und einst auf Mauritius zu Hause war. Die Karte stammt von einer jungen Frau namens Odile und trägt nur ein paar freundliche, unverbindliche Sätze. Eigentlich will Malte antworten, aber er kommt nicht dazu. Er steckt die Karte in eine Kiste und schiebt sie unter sein Bett. Odile bekommt keine Briefmarke aus Amerika.

Erst vier Jahre später.

Seine Mutter ist gerade von einem Urlaub im Indischen Ozean zurück, und Malte erinnert sich, dass er doch einmal mit einer jungen Frau von dort Brieffreundschaft schließen wollte. Da war doch dieser Dodo. Er kramt in der Kiste unter seinem Bett und findet Odiles Karte wieder. Mauritius klingt spannend, findet Malte jetzt. Er schickt Odile eine Postkarte mit der Golden Gate Bridge und ein paar kurzen Sätzen über sich selbst und einer Entschuldigung. »Ich hatte so ein Bauchgefühl, ich war ganz aufgeregt, als ich ihr geschrieben habe«, erzählt er. Odile antwortet sofort: Ich hoffe, dein nächster Brief kommt nicht wieder erst in vier Jahren.

Nein, diesmal schreibt Malte sofort zurück, und diesmal wird der Brief auch ein wenig länger. Und gleich darauf schreibt Odile wieder an Malte. Ein Jahr lang schicken die beiden einander Briefe. Es sind Nachrichten ohne große Worte, ohne große Gefühle, die beiden kennen sich ja gar nicht. Sie erzählen vom Wetter, ihren Ländern und ihren Familien, von ihren Leben, die unterschiedlicher kaum sein könnten: der freie Malte mit seinen längst geschiedenen Hippie-Eltern und seinem Single-Leben und Odile in ihrem Kinderzimmer, die von der Welt träumt. Sie werden Brieffreunde, keine Brief-Verliebten.

Jeder schickt dem anderen ein Foto. Malte lehnt an seinem roten Sportwagen. Odile ist beeindruckt. Für ihr Foto hat sie sich hübsch gemacht: rote Lippen, hohe Föhnwelle, dicke Schulterpolster, so war das modern in den frühen neunziger Jahren. Malte ist beeindruckt. Ist da vielleicht mehr zwischen ihnen?, fragen sich die beiden, die Tausende Kilometer trennen. Jedes Mal, wenn der Postbote auf Mauritius kommt, bimmelt er mit einer kleinen Glocke, Odile kann das Signal kaum erwarten. »Die Post war damals so langsam«, sagt Malte. »Mein Brief hat mindestens drei Wochen zu ihr gebraucht und ihr Brief dann genauso lange zu mir.« Malte geht von Buchladen zu Buchladen, schaut sich alle Bildbände über Mauritius an und stellt sich vor, wie Odile in dieser Bilderbuchwelt lebt, unter Palmen, mit weißen Stränden.

Komm mich besuchen, schreibt Malte eines Tages an Odile und schickt den Brief auf seine dreiwöchige Reise. Nein, das gehört sich nicht bei uns, ich kann nicht um die halbe Welt zu einem fremden Mann fliegen, schreibt Odile in ihrer Antwort, die sechs Wochen später bei ihm im Briefkasten landet. »Komm du doch hierher.«

Was habe ich schon zu verlieren, denkt sich Malte. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass es ein netter Urlaub wird und sonst nichts. Er verkauft seinen Alfa Romeo und kauft von dem Geld ein Flugticket. »Ich dachte, dass mich die Reise glücklicher macht als das Auto«, sagt er. »Es hat sich verrückt angefühlt und wagemutig.« Einer von Maltes besten Freunden prophezeit, dass Malte die Frau, für die er um die halbe Welt fliegt, einmal heiraten wird, er habe das im Gefühl. Malte lacht nur, kann das nicht recht glauben. Odile erzählt ihrer Mutter, dass ein fremder Mann aus Amerika zu ihr zu Besuch kommt. »Den wirst du heiraten«, sagt ihre Mutter. Odile lacht. »Ich muss mich erst mal verlieben, Mama.«

Odile und ihre Schwester warten auf Malte am Flughafen. Ein komisch aussehender alter Mann nach dem anderen steigt aus dem Flugzeug, bei jedem denken sie, er könnte Malte sein – und hoffen, dass er es nicht ist. Odile hat ja nur ein einziges Foto. »Ich war wahnsinnig nervös«, sagt sie. Aber dann kam ein Mann aus dem Flugzeug, der nicht komisch und alt aussah, ganz im Gegenteil. Malte. »Er sah gut aus, damals hatte er ja noch Haare«, sagt Odile und lacht. »Sie trug ein blaues Jeanskleid und war sehr hübsch, sehr klein und sehr unschuldig«, sagt Malte. Sie erkennen sich gleich und winken einander zu.

Am Anfang stockt das Gespräch noch ein wenig, Odiles Englisch ist nicht so gut, Maltes Französisch noch schlechter, er hat im College nicht gut aufgepasst und mit der Brieffreundschaft hat es ja auch über Jahre hinweg nicht geklappt. Aber nach und nach entspannen sie sich. »Ich habe mich schnell sehr wohl mit ihr gefühlt«, sagt Malte. Gerade einmal elf Tage haben die beiden zusammen bis zu Maltes Rückflug. Odiles Eltern schlafen im Esszimmer unter dem Tisch, Malte bekommt das Schlafzimmer. Odile zeigt ihm ihre Heimat. »Dieser Geruch in der Luft, die vielen warmherzigen Menschen, das fremde Essen, das Zuckerrohr, das zwei Meter hoch stand, es war wie ein Rausch«, sagt Malte.

Nur allein sein mit Odile darf er nie, irgendeine Aufpasserin begleitet die beiden immer. »Ich kann nicht erklären, warum ich sie so schnell so toll fand, ich hatte keinen Filter, ich war überwältigt von dieser wundervollen Person«, sagt er. »Aber ich hatte keine Ahnung, was sie fühlt. Wie denn auch?« All die Regeln aus Kalifornien gelten nicht, mit denen er sich auskennt. Wie verliebt man sich, wie wird man ein Paar ohne lange, einsame Spaziergänge, ohne Flirts, ohne Berührungen, ohne Händchenhalten? Malte weiß nicht, was Odile überhaupt von ihm hält. Er fürchtet, dass sie nie mit ihm allein ist, weil sie ihn nicht mag. »Aber es lag nur daran, dass ich mich niemals allein mit einem weißen Mann hätte zeigen können«, sagt Odile.

Malte ist sich sicher: So verliebt wie in Odile war er noch nie zuvor. Wie soll er nur herausfinden, ob sie ihn auch mag, wenn er nicht einmal allein mit ihr sprechen darf? An seinem vorletzten Tag wird ihm klar, dass er sich trauen muss. Er will nicht zurückfliegen, ohne ihr einen Heiratsantrag zu machen – er, der an Heirat in seinem Leben kaum je gedacht hat. Malte nimmt all seinen Mut zusammen und setzt sich neben sie auf die Bank in dem Bus, der sie gerade zum Strand bringt. Odiles Begleiterin kann ihn nicht hören, als er Odile ins Ohr flüstert: »Was würdest du sagen, wenn ich dich fragen würde, ob du mich heiraten würdest?« Odile flüstert zurück: »Ich glaube, ich würde ja sagen.« Sie ist genauso verliebt in ihn wie er in sie, ihr Herz pocht immer ganz schnell, wenn sie mit ihm zusammen ist. Aber sie wusste nicht, wie sie ihm das zeigen sollte. Sie hatte so gehofft, dass er sie fragen würde, ob sie seine Frau werden wollte, sagt sie. »Ich war so glücklich.«

Malte und Odile kennen sich gerade einmal zehn Tage, als sie gemeinsam zum Juwelier fahren. Er kauft ihr einen Ring, den schönsten, den sie finden. Am nächsten Tag steigt er ins Flugzeug und fliegt achtzehntausend Kilometer weg von seiner Verlobten, die er kaum kennt. »Ihre ganze Familie hat am Flughafen geweint. Ich habe auch geweint, dabei mache ich das sonst nicht so oft«, sagt Malte. Odile, mit seinem Ring am Finger, fürchtet, dass sie ihn nie wiedersieht. »Das einzige, was mich abhalten könnte, wäre ein Flugzeugabsturz«, verspricht er ihr.

Malte fliegt zurück nach Kalifornien, sucht sich einen besseren Job, zieht aus seiner Männer-WG aus, mietet eine Wohnung mit Platz für zwei, kümmert sich um Ehe-Formulare und Einreiserechte. »Ab und zu habe ich darüber nachgedacht, wie unglaublich die ganze Sache ist«, sagt er. »Aber ich wusste immer, dass sie richtig für mich ist.« Odile plant die Hochzeit auf Mauritius. »Ich habe mich ein bisschen vor all den Dingen gefürchtet, die vor mir lagen, aber ich bin meinem Herzen gefolgt«, sagt sie. »Und das schlug für ihn.« Maltes ganze Familie reist mit ihm an zur Insel-Hochzeit. »Mir war erst etwas peinlich, dass meine Eltern geschieden waren. Und ich wusste nicht, wie ich mich in ihrer Kirche verhalten soll. Da waren eine Menge Unsicherheiten«, sagt er. »Aber es war dann ein wunderbares Fest.« Maltes Vater radebrecht auf Französisch und versteht sich prima mit allen. Odiles Familie bewundert, dass Malte die Schritte für den traditionellen Eröffnungstanz gelernt hat, dann tanzen alle zusammen, Amerikaner und Mauritier. »Ich hätte mir keine Sorgen machen müssen«, sagt Malte.

Kurz darauf fliegt Odile mit Malte nach San Francisco – weg von Mauritius, von den weißen Stränden und Palmen, von dem Zuckerrohr und der katholischen Kirche, von ihren Eltern und ihrem Kinderzimmer. Hinaus in die Welt mit dem Mann, mit dem sie nur wenige Tage verbracht hat. »Die ersten Monate waren schwer«, sagt sie. »Ich kannte niemanden, alles war fremd. Und wir haben uns ja auch erst nach der Hochzeit richtig kennengelernt.« Schon nach drei Monaten in dem fremden Land ist sie schwanger. San Francisco liegt dauernd im Nebel, das viele Fleisch im Essen schmeckt ihr nicht, die Leute sind immer in ihren Wohnungen statt wie auf Mauritius zusammen auf der Straße, Malte muss viel arbeiten, ihr ist ständig übel und sie hat Heimweh.

Aber bald lässt die Übelkeit nach, und ihr Bauch wird immer dicker. Sie erinnert sich, wie neugierig sie einst in ihrem Kinderzimmer auf andere Länder war und wie sie dachte, dass sie außer Briefmarken nie etwas von der Welt sehen würde. Jetzt hat sie einen Mann, den sie liebt und der sie liebt, und ist draußen in der weiten Welt. Dann kommt das Kind, eine Tochter, und Odile merkt, dass San Francisco immer mehr zu ihrer Heimat wird. Sie findet Freunde, einen Job und einen Markt, auf dem sie die Lebensmittel ihrer Heimat kaufen kann. Und sie lernt, ihre Freiheit zu lieben. Sie beginnt zu genießen, dass sie machen kann, was sie will. Auf Mauritius musste sie immer überlegen, was die Leute wohl von ihr denken. »Hier kann ich ich selbst sein«, sagt sie. Und das bedeutet: eine selbstbewusste, neugierige Frau, der keiner sagt, was sie tun und lassen soll, die laut lacht und sich wenig kümmert, was andere Leute denken. »Es ist unglaublich: Wohin sie auch kommt, jeder liebt sie«, sagt Malte. »Malte ist genau der Ehemann, den ich mir immer gewünscht habe«, sagt Odile. »Respektvoll, zuverlässig, ein guter Vater und ein richtiger Partner, nicht so einer, der einen rumkommandiert.« Malte lacht: »Und ein guter Küsser bin ich auch.«

Die beiden leben heute in ihrem kleinen Haus in einem Vorort von San Francisco. Ihre zweite Tochter ist vier Jahre alt und klettert über den Schoß ihrer Eltern. Die große Tochter ist schon siebzehn, sie geht bald zur Uni. Manchmal streiten Odile und Malte, weil Odile zu direkt ist oder Malte etwas nicht so macht, wie Odile es will. »Liebe ist, wenn man gut miteinander reden kann und einander zuhört«, sagt Odile. »Wir sind sehr verschieden«, sagt Malte. »Aber eigentlich nur in Äußerlichkeiten. Wenn man die vergisst, sind wir innen drin gleich.« Herausgefunden haben sie das nach und nach – da waren sie schon verheiratet. Neben dem Bett auf Odiles Seite steht ein Rahmen mit Fotos von Maltes erstem Besuch auf Mauritius, ein junger Mann mit vollem Haar, der im türkisblauen Meer badet und in die Kamera strahlt. Das Foto von der jungen Odile mit den rotgeschminkten Lippen und den Schulterpolstern steht auf der anderen Seite auf Maltes Nachttisch.

Ihren Traummann, sagt Odile, habe sie sich immer genauso vorgestellt wie Malte. »Ich hätte aber nie gedacht, dass er von der anderen Seite der Welt kommt.«

Elvira und Fortek

Ja, Fortek war ein gutaussehender junger Mann. »Wollen Sie mal sehen?«, fragt Elvira. »Wo ist denn mein Portemonnaie?« Sie stemmt sich vom Esstisch hoch, geht schwankend und krumm durch das Wohnzimmer. Im Haus braucht sie keinen Stock, sie stützt sich am Sessel und am Schrank ab. Sie ist einundneunzig Jahre alt. Elvira findet ihren Geldbeutel aus braunem Leder und zieht ein Foto heraus. Es ist schwarz-weiß und zeigt einen jungen Mann mit ebenmäßigem Gesicht, prächtigem Haar und ernstem, direkten Blick. Das Foto hat einen geriffelten Rand, wie das damals üblich war in den vierziger Jahren. Es ist verblichen, aber es hat keine Risse und keine Knicke. Elvira hat immer gut darauf aufgepasst. »Das Bild habe ich immer im Portemonnaie gehabt, die ganzen fünfzig Jahre lang«, sagt sie.

Das Foto zeigt ihre große Liebe, ihre einzige Liebe: Fortunant, genannt Fortek. Fünfzig Jahre lang hat sie das Bild jedes Mal gesehen, wenn sie Geld aus der Tasche zog. Sie hat ein Portemonnaie nach dem anderen weggeworfen, wenn es alt wurde. Das Foto hat sie behalten und in jedes neue Portemonnaie gesteckt. Manchmal hat sie Leuten erzählt, wer der Mann auf dem Foto ist. »Dann habe ich gesagt: Unter normalen Umständen hätten wir geheiratet.« Aber die Umstände waren nicht normal in den Jahren 1946 und 1947 in ihrem Heimatort östlich der Oder, der früher zu Deutschland und dann zu Polen gehörte. Besonders nicht für die Liebe zwischen einem deutschen Mädchen und einem polnischen Jungen.

Heute sitzt der Mann von dem Schwarzweißfoto neben Elvira am Tisch. Fortek ist nicht mehr ganz so jung, aber die Haare sind noch in der gleichen dicken Tolle, und die Augen, obwohl inzwischen leicht milchig, haben noch immer diesen wachen, direkten Blick. Fortek ist sechsundneunzig Jahre alt. Er lächelt und drückt Elviras Hand. »Moje kochanie«, sagt er, das heißt: »Mein Liebling«.

Fortek gab Elvira das schwarzweiße Bild mit dem gezackten Rand, als sie sich im Herbst 1947 voneinander verabschiedeten. Elvira überreichte ihm auch ein Foto von sich, die dunklen Haare nach hinten gekämmt, ihre glatte junge Haut, ein ordentlicher weißer Blusenkragen. Es steht heute gerahmt im Regal hinter dem Esstisch. Elvira musste damals im Herbst 1947 mit ihrer Familie die Stadt verlassen, Fortek blieb mit seiner Familie zurück. »Man gab uns eine halbe Stunde, um einige Sachen zu packen«, erinnert sie sich. »Der Abschied war kurz und schmerzhaft.«

Die beiden standen vor der Fabrik, in der Elviras Familie jahrelang Zollstöcke produziert hatte. Sie sagten zwar »Auf Wiedersehen«, glaubten aber nicht, dass sie sich je wiedersehen würden. Elvira versprach, Fortek zu schreiben. Aber er antwortete: »Schreibe nicht, sonst denken sie, wir sind Spione.« Elvira hielt sich an seinen Rat, sie schrieb ihm nie einen Brief und bekam nie einen Brief von ihm. Fünfzig Jahre lang wussten beide nicht, ob der andere noch lebte.

Die Geschichte von Fortek und Elvira begann ein Dreivierteljahr vor dem kurzen und schmerzhaften Abschied, es war das Jahr 1946, der Zweite Weltkrieg gerade zu Ende. Elvira, Tochter eines deutschen Zollstock-Fabrikanten in einem ehemals deutschen Örtchen östlich der Oder, war von den Russen nach dem Krieg nach Sibirien verschleppt worden. Sie überlebte tagelange Fußmärsche und Fahrten in Güterzügen Richtung Osten, zusammengepfercht mit Tausenden Fremden. In einem Arbeitslager in Sibirien musste sie Bäume fällen und Straßen bauen. »Es war schwere Arbeit, und es gab wenig Essen«, erzählt sie. Viele andere haben nicht überlebt. »Manche sind schon morgens beim Appell einfach umgefallen und wurden verscharrt«, sagt sie. »Ich habe Glück gehabt.« Sie wurde sehr krank von der Kälte, dem Hunger und der harten Arbeit, bekam hohes Fieber und traf in der Krankenbaracke eine russische Ärztin, die ihr half. »Hast Glück, bist auf Liste nach Deutschland«, sagte diese. Statt in Sibirien zu sterben, fuhr Elvira mit dem Güterzug zurück nach Frankfurt an der Oder.

Dort erfuhr sie, dass ihr Heimatort nun anders hieß und in Polen lag. Und dass ihre Eltern noch immer dort wohnten. Die russischen Soldaten hatten sie leben und bleiben lassen, weil ihre Dienste wichtig waren. Ihr Vater, der Zollstock-Fabrikant, sollte im Auftrag des polnischen Staates die Produktion weiterbetreiben, denn die Turbinenanlage der Fabrik versorgte den ganzen Ort mit Strom. Elvira machte sich auf den Weg zurück zu ihrer Familie, obwohl sie dafür die Grenze überqueren musste. Polnische Fischer brachten sie nachts über die gesperrte Oder. Als sie im Winter 1946 zu Hause ankam, war sie schwach, krank und abgemagert. Sie wog nur noch dreiunddreißig Kilo und hatte die ersten grauen Haare, obwohl sie erst zwanzig Jahre alt war.

Zu jener Zeit arbeitete in der Zollstock-Fabrik ein gewisser Fortunant, er war fünfundzwanzig Jahre alt, sprach ein wenig Deutsch und wurde der Assistent von Elviras Vater. Seine Familie war neu in dem Ort. Fortek stammte aus Ostpolen, aus der Gegend von Vilnius, und war mit seiner ganzen Familie vor den Sowjets geflohen. Wie so viele Menschen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten fanden sie eine neue Heimat an der Oder. Als seine Familie in ihrem neuen Wohnort ankam, lebte dort kaum noch jemand, erzählt er. Viele Häuser standen leer. Tausende Deutsche waren erschossen worden oder weiter Richtung Westen gezogen, nur noch achtzehn Deutsche waren in dem Städtchen geblieben. Darunter Elviras Familie.

Elvira traf Fortek schon kurz nach ihrer Rückkehr. Ihre Familie, obwohl gutsituiert vor dem Krieg, hatte nichts zu essen, darum baten sie bei Fortek und seinen Eltern um Milch. Forteks Familie hatte Kühe und im Krieg nie schlechte Erfahrungen mit Deutschen gemacht. Anders als viele andere im Ort hatten sie Mitleid mit Elviras Eltern und gaben ihnen immer wieder Milch, ohne etwas dafür zu verlangen. Als Elvira zurück war aus Sibirien, schickten die Eltern sie zum Milchholen zu den freundlichen Nachbarn. Sie wollte erst nicht gehen, sie hatte Angst vor den Fremden. Aber die Familie empfing die junge, dünne Deutsche freundlich. Forteks Mutter gab ihr eine Kanne Milch.

Fortek war zu Hause, er saß am Tisch in der Küche, als Elvira zum ersten Mal zum Milchholen kam. Sie tat ihm leid, wie sie so schüchtern und schmal an der Haustür stand und das Kännchen an die Brust drückte. Elvira fürchtete sich vor ihm. »Ich war ja ein bisschen geschädigt durch die ganzen Erfahrungen, die wir mit den Männern unterwegs gemacht haben, darum war ich erst mal zurückhaltend«, sagt sie. »Ich bin Gott sei Dank verschont geblieben, aber viele andere sind unentwegt vergewaltigt worden.« Doch Fortek lächelte sie freundlich an und begleitete sie aus dem Haus. Zum Abschied gab er ihr einen Kuss auf die Stirn, als Geste der Freundschaft.

Als sie sich zum zweiten Mal trafen, war Elvira schon viel aufgeweckter und mutiger. »Elvira sagte: ›Habe die ganze Nacht nicht schlafen und an dich gedacht. Bist du guter Mann?‹«, erzählt Fortek in seinem gebrochenen Deutsch. Fortek versprach ihr, dass er ein guter Mann ist. Die beiden verbrachten danach viel Zeit miteinander. »Meine Familie liebe Elvira. Ihre Familie liebe mich.« Elvira half auf dem Hof von Forteks Familie mit, molk die Kühe. Fortek arbeitete mit ihrem Vater. Die beiden gingen spazieren und fuhren zusammen Fahrrad. »Wir fanden uns ganz nett«, sagt Elvira und lächelt verschmitzt. »Man war sich sympathisch. Es hat hingehauen. Es passte.« Ihre Schüchternheit war wie weggeblasen. »Ich habe ihm vertraut, das war das Merkwürdige an der ganzen Familie, dass man einhundert Prozent Vertrauen hatte.« Wann genau sie sich verliebt haben, wissen die beiden nicht mehr, es passierte einfach. »Das war früher anders«, sagt Elvira. »Wir hatten unendliches Vertrauen zueinander, daraus ergab sich das.«

Die beiden beschlossen zu heiraten. Aber würde das gehen – ein Pole und eine Deutsche in diesen wirren Zeiten? Fortek ging zur Gemeindeverwaltung und fragte: »Darf ich ein deutsches Mädchen heiraten?« Unmöglich sei das nicht, antwortete der Beamte im Standesamt. Aber als er erfuhr, dass Fortek nicht irgendeine Deutsche heiraten wollte, sondern Elvira, die Tochter des Fabrikanten, rief er: »Die Tochter von Kapitalisten? Den Klassenfeind?« Er verbot die Ehe und verkündete Fortek, dass die deutsche Familie ohnehin nicht in Polen würde bleiben dürfen. »Das war ernüchternd«, sagt Elvira. »Damit war dann für uns auch besiegelt, dass wir das Land verlassen müssen.« Kurz drauf bekamen die letzten Deutschen im Ort Nachricht, sich fertig zu machen für die Abreise. Sie würden nach Deutschland gebracht werden. Binnen einer halben Stunde packte Elviras Familie ihre Sachen. Die junge Deutsche und der junge Pole überreichten einander die Fotos und vereinbarten, keine Briefe zu schreiben.

Dies hätte das Ende der Geschichte von Elvira und Fortek sein können. Und ab hier hat ihre Geschichte tatsächlich eine lange Unterbrechung, fast fünfzig Jahre. Elvira und Fortek lebten getrennte Leben. Elvira überstand eine aufreibende Flucht, ihr Vater schmuggelte Geld mit, ein paar tausend Mark, die er im rechten Stiefel versteckte. Als die Familie gefilzt wurde, musste er nur den linken Stiefeln ausziehen und zur Inspektion übergeben. Das Geld blieb unentdeckt und half ihm dabei, eine neue Fabrik zu gründen. Zuerst zog die Familie nach Brandenburg. Als der Vater dort enteignet wurde, zogen sie weiter nach Westdeutschland und landeten in Westfalen, wo Elviras Vater noch einmal eine Zollstock-Fabrik aufbaute. Seine Tochter half ihm dabei. Und sie studierte Pädagogik und Psychologie, arbeitete mit geistig behinderten Kindern und baute eine Einrichtung für betreutes Wohnen in West-Berlin auf, die sie zwanzig Jahre lang leitete.

Elvira heiratete nicht und bekam keine Kinder. »Ich habe nie Zeit gehabt«, sagt sie. »Für mich war arbeiten wichtig, aufbauen. Ich habe ja mein ganzes Leben aufgebaut. Dadurch bin ich gar nicht dazu gekommen.« Und wenn sie ehrlich ist, haben der Krieg und die vielen Fluchten eine Rolle bei ihrer Entscheidung gespielt, allein zu bleiben. »Ich habe ehrlich gesagt kein sehr großes Interesse gehabt. Das lag vielleicht an diesem Leben, mal hier, mal dort, die Gefangenschaft, dann wieder hier und dort«, sagt sie. »Das war alles nicht sehr ermunternd, eine Familie zu gründen.« Sie fragte sich nicht, ob sie wegen Fortek allein blieb. Aber sein Foto hatte sie immer dabei, sie dachte immer an ihn. »Na klar, immer wenn ich das Portemonnaie in der Hand hatte, habe ich ja sein Bild gesehen«, sagt sie. Sie stürzte sich in Studium und Arbeit. »Es war ja zukunftslos, hoffnungslos.«

Fortek zog nach Elviras Abreise mit seiner ganzen Familie noch einmal um in den Nordosten Polens, er leitete dort eine staatliche Landwirtschaft. 1960