Niu - Kathrin Werner - E-Book + Hörbuch

Niu Hörbuch

Kathrin Werner

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Beschreibung

"Ich heiße Niu. N und I und U."  Ein Neustart in New York. Die Hoffnung auf bessere Zeiten. Doch die Vergangenheit reist mit. Aber dann kommt Niu ... Carmen und Thomas sind gerade erst nach New York gezogen. Sie haben große Pläne für ihr neues gemeinsames Leben. Doch dann lernen sie unabhängig voneinander  Niu  kennen. Wie zufällig taucht sie immer wieder auf: in der U-Bahn, im Coffee Shop, an der Brooklyn Bridge.Beide verfallen schnell Nius Bann und beginnen, ihr bisheriges Leben zu hinterfragen.   Thomas versucht in seinem neuen Traumjob anzukommen und Deutschland hinter sich zu lassen. Carmen wird immer wieder von der Erinnerung an Erlebnisse in Deutschland heimgesucht, von denen Thomas nichts weiß. Werden sich Carmen und Thomas wieder annähern? Und welche Rolle spielt  Niu  dabei?  Niu erzählt mit feinem Gespür von den Wünschen und Sorgen eines jungen Paares in unserer schnelllebigen Zeit, in der sich Beziehungen, Rollenverständnisse, individuelle Freiheit, die perfekte Idee von Familie und all die unendlichen Möglichkeiten ständig neu definieren – und doch neben einer großen Sehnsucht nach Stetigkeit und Verlässlichkeit stehen.

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Zeit:7 Std. 31 min

Sprecher:Alexandra Sagurna

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Kathrin Werner

Niu

Roman

Atlantik

1.Kapitel

Körper an fremdem Körper. Auf seiner Oberlippe wächst ein Schnurrbart aus feinen Schweißperlen, sein Rücken wird feucht unter der Daunenjacke. Thomas zieht die Schulter hoch und wischt den Schweißbart in den Stoff seiner roten Jacke, es bleibt ein dunkelroter Fleck. Die Subway ruckelt in den Kurven. Menschen stehen so nahe aneinander, dass sie nicht umfallen können, und schwanken in einem gemeinsamen Rhythmus. Thomas klammert sich an der Haltestange fest.

Es ist das erste Mal, dass er allein in der New Yorker Subway fährt. Ohne C. Ohne seine Frau. Er hat sich noch nicht daran gewöhnt, sie so zu nennen: meine Frau. Der neue Ring an seinem Finger glänzt golden und ungewohnt vor dem grauen Stahl der Haltestange. Amerikaner tragen den Ehering links, Thomas jetzt auch. Er hat ihn direkt nach dem Umzug vom rechten Ringfinger an den linken Ringfinger gesteckt. Er fühlt sich roh allein in der Subway, als würde ihm ohne C. eine Schicht Haut fehlen. Alle Eindrücke prasseln auf ihn ein, dringen in ihn ein, ohne Schutz. Der Geruch. Nasse Haare, Schweiß, Mottenkugelmuff. Das Quietschen der Subway. Die Körper, die sich in jeder Kurve und bei jedem Bremsen aneinanderdrücken. Die große neue Stadt ist ein Gefühlsverstärker für ihn, fast wie Alkohol. Und wie Alkohol wirkt der Verstärker noch stärker, wenn Thomas alleine ist. Er kann kaum atmen vor Gefühl, aber er kann es nicht benennen, er ist glücklich und traurig zugleich.

Das Blut läuft langsam aus seiner Hand, die die Haltestange umklammert. Sein Jackenärmel rutscht hinab, legt sein rechtes Handgelenk und die alte Narbe daran frei. Sie ist noch immer rosafarben nach all den Jahren. In der Mitte der Narbe eine Schlucht, die sich in sein Gewebe hineingräbt, fast lila wie ein Rotweinfleck. Die Haut darüber pergamentdünn und glänzend, mit feinen Falten. Wie Seitenflüsse in einem Flussdelta quellen winzige Narbenverästelungen aus dem tiefen Narbengraben hervor. Diese Verästelungen haben wiederum winzige zackige Narbenzuflüsse, sie werden immer kleiner, immer heller, bis man nicht mehr weiß, ob das noch Narbenhaut oder schon heile Haut ist. Die Narbe zieht sich um sein gesamtes Handgelenk, er sieht sie ständig vor sich. Wenn er schreibt, wenn er sein Handy aus der Tasche zieht, wenn er Fahrrad fährt. Trotzdem erschreckt sie ihn, auch nach all den Jahren. Der Unfall, die Wogen, das schwarze Meer, die Schreie, die Gischt, das Blut, die Angst.

»Next stop, Union Square«, rauscht es durch den Lautsprecher. Thomas blickt hinab auf all die Köpfe, Mützen und Frisuren, er ist der Größte hier. Hoffentlich stinken seine Achseln nicht durch seine Jacke hindurch. Direkt unter seinem Arm klammert sich eine Frau mit brauner Perücke, dicker, schwarzer Strumpfhose und langem schwarzem Rock an die Haltestange, die Knöchel ihrer Hand treten weiß hervor. Vor ihm wankt ein Mann mit abgewetzten Nadelstreifen und Schuppen auf den Schulterpolstern im Rhythmus der Bahn. Ein alter Mann versucht im Stehen eine chinesische Zeitung zu lesen. In der hinteren Ecke des Abteils ist fast niemand, lediglich ein Obdachloser liegt auf der gelben Plastiksitzbank. Er trägt nur einen Schuh, und sein linker Fuß hängt in einer schmutzigen Socke von der Bank hinunter. Sein säuerlicher Geruch zieht zu Thomas hinüber. Je näher man ihm kommt, desto betäubender ist der Gestank. Thomas ist beim Einsteigen an ihm vorbeigegangen und hat sich so weit weg von ihm durch die Menge gedrängt, wie er nur konnte. Der Mann tut ihm leid, aber er ekelt sich auch vor ihm. Ob er merkt, dass die Menschen ihn abstoßend finden? Keiner will in seiner Nähe bleiben. Ich weiß nichts von all diesen Menschen, denkt Thomas. So viele Fremde. Zu Hause waren die Fremden auch fremd, aber er konnte sich besser vorstellen, wie sie leben. Ein fremder Rucksack drückt Thomas’ Jacke in seinen feuchten Rücken, der Schweiß läuft langsam hinab, Tropfen für Tropfen. Wo ist C. wohl gerade? Er lässt seinen Ehering gegen den Stahl klingen.

Die Subway jault und bremst abrupt. Thomas geht kurz in die Knie und spürt einen Ruck in seiner Schulter, seine feuchte Hand klammert weiter an der Haltestange. Eine Frau stolpert gegen seine Brust, ihr schwarzes Haar streicht über sein Kinn. Thomas spürt ihre Brüste durch seine Jacke hindurch. Sie strauchelt, er greift ihren Arm und hält sie fest. »I’m so sorry«, sagt sie und streicht sich die Haare hinter die Ohren. Sie ist um die dreißig, etwa so alt wie er. »Are you okay?«, fragt er. Sie nickt und blickt zu ihm hinauf mit den schwärzesten Augen, die er je gesehen hat. Auf ihrer Stirn schimmern feine Schweißperlen. Sie schwankt, als würde sie gleich ohnmächtig. »Geht schon wieder«, sagt sie, »keine Sorge.« Thomas rückt ein wenig zur Seite, damit sie sich festhalten kann. Sie steht so nah neben ihm, dass er ihren Scheitel sehen und ihr Shampoo riechen kann. Sie riecht sauber und merkwürdig vertraut. Die Bahn fährt mit einem Ruck wieder an.

Mit dem Ruck rutscht der Ärmel ihres Mantels hinab. Thomas zuckt zusammen. An ihrem schmalen Handgelenk frisst sich eine Narbe ins Gewebe, Millimeter für Millimeter identisch mit seiner. Er kennt seine Narbe genau, er hat sie jahrelang studiert wie eine Landkarte, er hat ihre Linien mit dem Kugelschreiber nachgezogen in langweiligen Vorlesungen an der Uni. Die Narbe der Frau hat die gleichen immer feineren Striemen, als habe jemand seine Narbe abgepaust und eine Schablone über ihr Handgelenk gelegt. Seine Narbe zieht sich um ihr linkes Handgelenk. Um sie herum cremeweiße, unschuldige Haut.

Thomas will etwas sagen, öffnet den Mund. »You«, flüstert er, »your …« Seine Kehle ist trocken. Er weiß nicht, was er sagen soll, und sagt darum nichts. Er will ihre Narbe berühren, lässt die Stange los und verliert die Balance. Die Frau blickt zu ihm empor mit ihren schwarzschwarzschwarzen Augen, ihr Blick wandert auf sein Handgelenk und seine Narbe. Sie muss ihre Narbe genauso gut kennen wie er seine, sie muss ihre als seine erkennen. Oder seine als ihre. Aber sie sagt nichts, ihr Gesicht bleibt unbeweglich, als würde sie durch sein Handgelenk hindurchschauen, dann wendet sie sich ab. Die Bahn bremst und fährt in die Station ein. Die Türen öffnen sich, die Frau drängt sich durch die Menge und steigt aus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Thomas verliert sie sofort aus den Augen.

Der Unfall, die Wogen, der schwarze Himmel, das Meer, die Schreie, die Gischt, das Blut, die Angst. Wie kann sie die gleiche Wunde bekommen haben wie er? »Excuse me, excuse me«, ruft er, schiebt die anderen Menschen zur Seite und drängt sich zum Ausgang und springt gerade noch durch die Schiebetür, bevor sie sich schließt. Die Frau ist so klein, zwischen all den Menschen mit ihren Mützen und dicken Winterjacken kann er sie nicht ausmachen. Plötzlich entdeckt er sie auf der Treppe nach oben. Er eilt ihr hinterher, rempelt Leute an. »Fuck you, asshole«, schreit ihn jemand an. Er hat sie schon wieder aus den Augen verloren.

Thomas hetzt in die Richtung, in der er sie zuletzt gesehen hat. Was wird er sagen, wenn er vor ihr steht? Er bleibt stehen, sieht sich um, aber die Menschenmassen drängen ihn weiter. Er läuft hinab zum anderen Bahnsteig, sieht sie nicht, läuft wieder hinauf. Er stellt sich auf die Zehenspitzen, reckt den Hals, aber sie ist weg. Er lehnt sich gegen die weiße gekachelte Wand der Subway-Station. Neben ihm trommelt ein Mann auf leere Eimer, er hat keine Arme, winzige, krumme Hände wachsen direkt aus den Schultern, die Trommelstöcke hat er unter die Achseln geklemmt. Vor ihm ein Schild: Spenden, bitte. Eine Plastikschale voller Münzen und Dollarscheine. Sein haariger, dickbäuchiger Oberkörper ist nackt. Bumm, bumm, bumm. Viertel-, Achtel-, Sechzehntelnoten. Thomas schließt kurz die Augen. Sein Herz pocht bumm, bumm, bumm.

Vielleicht hat er es sich nur eingebildet. Vielleicht war es ein Zufall. Er läuft zurück zu seinem Gleis, um den nächsten Zug in seine Richtung zu nehmen. Er wollte ja gar nicht hierher zum Union Square. Einmal noch dreht er sich um, lässt den Blick über die Köpfe gleiten – und sieht ihre schwarzen Haare auf der Treppe zum Ausgang. Sie bleibt stehen, dreht sich um, lächelt ihm über all die fremden Köpfe und Schultern zu. Dann dreht sie sich um und geht die Treppe empor. Thomas rennt los, stößt gegen den Pappaufsteller der Zeugen Jehovas. »Hey«, ruft er ihr zu. Aber er ist zu weit weg.

Als er die obersten Stufen der Treppe erreicht, ist sie schon auf der anderen Seite der Straße. Es ist Rushhour, überall gelbe Taxis, Hupen. Es nieselt. Thomas sieht sie auf der anderen Straßenseite, er sprintet ihr nach, obwohl die Fußgängerampel gerade rot geworden ist. Reifen quietschen auf dem nassen Asphalt. Thomas hastet weiter. »Hey«, ruft er wieder, aber seine Stimme versinkt im New Yorker Straßenlärm. Die kleine Frau mit der Narbe dreht sich nicht um, sie geht schnell, die Schultern hochgezogen. Es ist ein kalter Märztag, feuchte Schneereste türmen sich auf dem Bürgersteig.

Er geht immer schneller, windet sich an den Menschen vorbei, aber auch sie zieht ihr Tempo an. Ob sie ihn gesehen hat? Sie dreht sich kein einziges Mal um, ihre Schritte sind leicht, fast als würde sie den Boden nicht berühren. Thomas kommt ihr kaum näher. Sie ist noch immer gut einhundert Meter vor ihm. Sie verschwindet immer wieder in der Menschenmenge, er rennt jetzt fast. Sie windet sich zwischen den Schachspielern auf dem Union Square hindurch, die hier selbst bei Regen sitzen und für Geld gegen Touristen spielen. Thomas ist vor ein paar Tagen gegen einen angetreten und hat in einer Minute und vierundzwanzig Sekunden verloren. Eigentlich ist er ein guter Schachspieler. Der andere war besser. Heute drängelt er sich hinter ihr an ihnen vorbei. Was wird er zu ihr sagen, wenn er sie eingeholt hat?

Sie dreht ab auf die 16th Street, dann Richtung Norden auf die Fifth Avenue, sie missachtet alle roten Ampeln. Thomas keucht, einer seiner Schnürsenkel ist aufgegangen. »Hey«, ruft er noch einmal. Doch er stolpert, sein Handy fällt aus seiner Hosentasche. Er hebt es auf, blickt wieder hoch – und sieht sie nicht mehr. Thomas lehnt sich gegen einen Laternenmast, außer Atem, sein ganzer Körper ist feucht unter den Winterklamotten. Er hat sie verloren.

Traurigkeit breitet sich dunkel und pochend aus durch seine Adern, bis er sie tief und dunkel in seinem ganzen Körper spürt. Er öffnet den Reißverschluss seiner Jacke, die kühle Luft fühlt sich gut an auf seinem feuchten Pullover. Der Verkehr der Fifth Avenue rauscht an ihm vorbei. Seine Arme und Beine sind schwer. Er zieht das Telefon aus der Tasche. Keine neue Nachricht. Er hat den ganzen Tag noch nichts von C. gehört. Er schiebt das Handy wieder in die Tasche schaut auf. Und ihr direkt ins Gesicht.

Die Frau mit der Narbe steht vor ihm, ganz nah, fast so nah wie in der Subway. Sie blickt zu ihm auf mit ihren Kohleaugen. Beide schweigen, schauen einander an, dann lächelt sie. »Hey«, sagt sie. »Bist du mir gefolgt?« Thomas stottert. »Nein. Also ja, eigentlich schon. Ja. Sorry.« Sie legt die Hand auf seine Schulter, die Hand mit der Narbe. Es ist, als könne sie direkt in ihn hineinschauen, seinen Herzschlag sehen. »Ich war so schockiert, als ich deine Narbe gesehen habe«, sagt sie. »Ich wollte einfach nur noch weg.« Ihre Augen werden feucht, aber sie lächelt. Thomas lächelt zurück. »Ich dachte schon, ich hätte mir das nur eingebildet«, sagt er und schiebt seinen Ärmel hoch. Sie halten die Handgelenke aneinander. Sein breiter, sommersprossiger, haariger Arm neben ihrem schlanken, weichen Arm mit fast durchsichtiger Haut. Langsam streicht sie mit dem kleinen Finger ihrer Narbenhand über seine Narbe. Thomas’ Augen füllen sich mit Tränen, und es ist ihm nicht peinlich. Er wischt sie mit dem Ärmel der anderen Hand weg.

»Und was machen wir jetzt?«, fragt sie leise.

»Ich weiß auch nicht«, sagt er, seine Stimme zittert. »Ich würde gerne wissen, woher du deine Narbe hast.« Sie schweigt und sagt dann langsam: »Es gibt viele Gründe und keinen.«

»Das verstehe ich nicht«, antwortet Thomas.

»Manchmal habe ich das Gefühl, ich hätte sie schon immer gehabt«, sagt sie. »Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Es gibt Fotos von mir ohne Narbe, die noch gar nicht so alt sind. Aber wenn ich mich ohne Narbe ansehe, fühle ich mich nicht wie ich.«

»Ich verstehe das nicht«, sagt er wieder. Sie schüttelt den Kopf und flüstert fast. »Ich auch nicht, ich kann mich an alles erinnern. Glaube ich. Es ergibt nur keinen Sinn.«

Thomas und die kleine fremde Frau halten noch immer die Hände nebeneinander. Sie streicht wieder über seine Narbe. »Sie fühlt sich an wie meine«, sagt sie. Thomas bekommt eine Gänsehaut. »Mir ist kalt«, sagt er.

»Mir auch.« Sie schauen einander an, sie blinzeln nicht, sie halten dem Blick lange stand. Ihre Augen haben das schwärzeste Schwarz der Welt, denkt Thomas, so schwarz, dass ich sie kaum sehen kann. Er will etwas sagen, aber weiß nicht, was. »Du, ich muss los, ich habe einen Termin«, sagt sie dann mit fester Stimme und schiebt ihren Ärmel über die Narbe. Thomas will nicht, dass sie geht. »Ich weiß noch nicht einmal deinen Namen«, sagt er.

»Ich heiße Niu. N und I und U.«

»Sehen wir uns wieder?«, fragt er.

»Vielleicht«, antwortet sie und dreht sich um.

»Geh nicht, ich möchte dich wiedersehen«, ruft Thomas ihr nach. Vielleicht – das heißt nein in einer Stadt wie New York. »Warte.« Aber sie läuft davon mit ihren Federschritten und reckt noch einmal ihr Narbenhandgelenk in seine Richtung. Kein Wort zum Abschied. Nach wenigen Sekunden hat die Menge auf dem Gehweg sie verschluckt.

Thomas zieht den Reißverschluss seiner Jacke zu, seine Hände sind steif vor Kälte. Langsam geht er zurück zur Subway-Station, den gleichen Weg zurück über die 16th Street, dann den Union Square, und steigt die Treppen hinab. Unten am Gleis wartet niemand, wahrscheinlich ist gerade ein Zug abgefahren, und Thomas hat ihn verpasst. Er blickt in den dunklen, leeren Tunnel.

Seit er in New York ist, fühlt er sich so roh, so offen, neu und lebendig. Alle sagten, es werde die beste Zeit seines Lebens in der tollsten Stadt der Welt. The time of your life. The city that never sleeps. City of Dreams. City of Lights. Er wünscht sich so sehr, dass sie recht haben. Er will die Stadt einsaugen. Jeden Moment nutzen, Carpe Diem und so. Er liebt es, die Leute zu beobachten. Oder die Ratten unten bei den Gleisen der Subway, die zerlumpten, schwarzgrauen Trippelviecher, die immer genau wissen, wann die Bahn kommt. Wenn es anfängt zu rattern, verschwinden sie in ihren Löchern. Thomas starrt zu ihnen hinab. Es werden bestimmt mehr Menschen bei Subway-Kollisionen getötet als Ratten, denkt er. In manchen Abteilen hängt ein Schild, wie viele Menschen pro Jahr sterben, weil sie eine Subway erfasst. 147 im vergangenen Jahr. Man soll nicht zu nah an die Bahnsteigkante treten. Don’t be a victim. Thomas misstraut sich, wenn er an der Bahnsteigkante steht. Da ist auch dieser Drang, näher heranzutreten, immer näher. Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Er misstraut sich, sich nicht fallen zu lassen, plötzlich zu stolpern, ohne viel nachzudenken, to be a victim. Sein Blick wandert zu all den Kaugummiflecken auf dem Bahnsteig, mehr Kaugummifläche als Fläche ohne Kaugummi. Der Bahnsteig füllt sich wieder. Es ist ein ewiges Anschwellen, erst ein Mensch, dann zwei, fünf, Dutzende. Dann saugt die Bahn sie auf, das Gleis ist wieder leer. Und es beginnt wieder von vorn, Tag und Nacht. Thomas blickt von fremdem Gesicht zu fremdem Gesicht und erschrickt. Da hinten am Fuß der Treppe sieht er Niu, die zu ihm hinüberschaut. Einen Sekundenbruchteil lang sieht er ihre Augen, dann duckt sie sich und verschwindet in der Masse. Er streckt sich, schaut über die vielen Köpfe hinweg und sieht sie nicht mehr. Er muss sich geirrt haben, sie ist schließlich in die andere Richtung davongegangen. Die Bahn fährt ein, die wartende Masse setzt sich in Bewegung, Thomas schaut noch einmal an den silberfarbenen Waggons entlang, ob er sie sieht. Ist sie das dort hinten? Steigt sie in die Subway ein, drei oder vier Abteile hinter ihm? Es kann nicht sein. Die anderen Menschen hinter ihm drängen ihn durch die Tür. Er setzt sich auf einen der letzten freien Sitze. Er kennt das schon, dass er bekannte Gesichter in fremden zu sehen glaubt. Am Anfang, als er frisch verliebt war in C., sie aber noch nicht zusammen waren, hat er sie an jeder Straßenecke gesehen, hinter jedem Schaufenster oder Supermarktregal. Aber es war nie sie, auf den zweiten Blick war es immer eine andere Frau, die vielleicht genauso blond oder genauso groß war wie seine Frau, die damals noch nicht seine Frau war.

Wird er C. von seiner Begegnung erzählen? Vielleicht soll C. nichts von ihr wissen. Er hat es sich so sehr angewöhnt, sie nur C. zu nennen, dass er manchmal überlegen muss, um sich an ihren richtigen Namen zu erinnern. Ihren Namen, den sie nicht mag. Seit sie hier in New York sind, spricht er das C. amerikanisch aus. Wie sea. Nicht wie Zeh.

Als er aussteigt und die abfahrende Bahn an ihm vorbeiquietscht, kneift er die Augen zu und versucht in den Abteilen Niu zu entdecken. Aber zwischen all den Körpern erkennt er keinen, der ihrer sein könnte. Er geht die wenigen Straßen zu sich nach Hause und dreht sich immer wieder um, als könnte Niu hinter ihm gehen, aber sie ist nirgends zu sehen. Er fühlt sich beobachtet.

Er schließt die Wohnungstür auf, zwei Sicherheitsschlösser, eine Stahltür, das zweite Schloss klemmt. Man muss den Schlüssel erst anheben, dann nach rechts ruckeln, dann ganz schnell nach links. Inzwischen weiß er das. »Hey«, ruft er. Keine Antwort. Die Wohnung ist dunkel, er tastet nach dem Lichtschalter. Seine Hand hat sich noch nicht an die Höhe des Schalters gewöhnt. Sie tastet viel zu niedrig. Thomas fasst an die Steckdose, die zwei schmale Schlitze hat und nicht zwei runde Löcher wie zu Hause. Er leuchtet mit dem Handy die Wand ab, da ist der Schalter. C. liegt schon im Bett, ihre Augen bewegen sich hinter den Lidern im Schlaf. Es ist eigentlich noch viel zu früh, um schlafen zu gehen, aber er will in ihrer Nähe sein. Thomas macht schnell das Licht wieder aus, beobachtet ihr Gesicht, das im Schein des Radiowecker-Displays grün glänzt. Er zieht leise seine Klamotten aus und kriecht in Boxershorts und T-Shirt unter die warme Bettdecke. Er berührt C. nicht, bleibt auf seiner Seite des Bettes.

2.Kapitel

C. läuft schon seit drei Stunden. Den Financial District und Chinatown, Soho und das East Village hat sie letzte Woche abgearbeitet. Auch die eine Straße, die noch von Little Italy übrig ist. Dickbäuchige Kellner in weißen Hemden mit Fettrand am Kragen versuchen Touristen hineinzulocken in überteuerte Pizzerien mit fleckigen karierten Tischdecken. »’O sole mio« schallt blechern aus den Stereoanlagen in den New Yorker Winter. C. läuft einfach vorbei. Der Regen fällt kalt auf sie nieder, aber C. läuft und merkt nichts von dem Wetter, nichts von der Nässe, von der Blase am rechten Fuß, die längst aufgeplatzt ist und erst die Socke und dann den Rücken des Schuhs rot verfärbt hat. Diese Woche ist Midtown dran. Vielleicht schafft sie es bis Freitag bis zum Central Park. Sie hat noch einen Monat Zeit, bis ihr neuer Job beginnt. C. läuft mit System. Immer vom Osten bis in den Westen, dann eine Straße nördlich davon wieder von Westen nach Osten. Vom East River zum Hudson, zurück zum East River und wieder zum Hudson. Häuserblöcke, Straßenzüge, Kilometer um Kilometer. Sie ist froh, dass sie den Süden verlassen hat, wo die Straßen Namen haben statt Nummern und ihr das rechtwinklige Netz fehlte. Nördlich von der Houston Street herrscht Ordnung.

C. sieht nichts, sie riecht nichts, sie hört fast nichts entlang des Wegs. Manchmal drängt sich eine karierte Tischdecke, eine gebratene Ente im Schaufenster in Chinatown, eine Taxihupe in ihr Bewusstsein. Aber es geht ihr nicht darum zu sehen, zu riechen oder zu hören. Alles ist gleich für sie. Abends pocht das Blut in ihren Beinen, und sie erinnert sich an nichts. Sie denkt nur: First Avenue, Second Avenue, Third Avenue und ist ansonsten leer. Sie hat sich vorgenommen, alle Straßen Manhattans abzulaufen, es ist ihr Projekt, und sie mag Projekte, selbst wenn sie nicht weiß, wofür dieses neue Projekt gut ist, außer abends ihren pochenden Körper zu fühlen und matt ins Bett zu sinken. Ihre Beine sind schon stärker geworden, abends streicht sie über die strammen neuen Muskeln an den Unterschenkeln.

Sie macht Pausen bei Starbucks für Wasser und Kaffee, manchmal auch für einen Muffin und die Toilette. Grundversorgung des Körpers, die Maschine muss laufen. Es gibt an fast jeder Straßenecke eine Starbucks-Filiale. Fifth Avenue Ecke 27th Street, Fifth Ecke 32nd, Fifth Ecke 34th. Die gleichen braunen Sessel, die Pappbecher tall, grande oder venti, die Toilette hinten links, die Musik so sanft und unauffällig, dass sie C. ärgert, statt sie zu unterhalten. Sie zögert ihre Starbucks-Stopps so lange wie möglich hinaus. Sie muss mal, aber muss sie schon so dringend, oder schafft sie es, noch zwei Straßenecken weiterzulaufen bis zur nächsten Filiale? Was, wenn vorm Klo eine Schlange ist? Wenn sie zur Toilette hastet, ist es oft so eilig, dass ein paar Tropfen in ihrer Unterhose landen. Kann die Blase wirklich platzen? Füllt sich ihr Bauch dann mit Urin? Verteilt sich der Urin über die Blutbahnen im Körper? Vergiftet ihr Urin ihr Blut? Sie lernt nie dazu, denkt sie, jedes Mal macht sie sich fast in die Hose, weil sie zu stur ist, früher auf Toilette zu gehen. Weil die Toilette Zeitverschwendung ist.

Die Schlange vor der Toilette ist kurz diesmal, sie schafft es gerade noch unfallfrei. Dafür muss sie für den Kaffee lange anstehen, es ist Mittagspausenzeit am Fuß des Empire State Building, und Anzugträger und Touristen drängeln sich vor der Kasse und vor dem Klo, ein Starbucks weiter wäre es vielleicht besser gewesen. C. steht ganz ruhig auf beiden Beinen, während sie darauf wartet, bestellen zu können. Nicht aufregen über Dinge, die ich nicht ändern kann. Um sie herum Gedränge und Gerede, sie hört in sich hinein. Sie atmet langsam. Ihre Unterschenkel kribbeln vom langen Laufen.

»Next!«, ruft das Mädchen hinter der Kasse.

»Medium Latte, please«, sagt sie und hofft, dass man ihren Akzent nicht hört. Sie hätte »grande« sagen müssen, den bescheuerten Starbucks-Begriff für medium. Aber sie kann sich nicht dazu überwinden.

»What’s your name?«, fragt die Barista.

»Carmen.«

Die Frau kritzelt den Namen auf den Pappbecher, ohne aufzuschauen. C. bezahlt und wartet.

»Karen!«, ruft der Junge, der den Kaffee macht und die Pappbecher auf die Theke knallt. Noch mal: »Karen!« Lauter. »Is anybody here called Karen? Kaitlin? Katherine? Karen? Something like that? Who got a latte?«

»I think that’s you.« Eine schmale schwarzhaarige Frau zupft an C.s Ärmel. »I think that’s you, Carmen«, sagt sie. Sie muss gehört haben, wie C. die Bestellung aufgegeben hat. C. schaut sie an. Sie kommt ihr merkwürdig bekannt vor, als hätte sie sie schon mehrfach gesehen, auf der Straße vielleicht, aber nie mit ihr gesprochen. »I think that’s you«, sagt die Frau noch einmal und deutet auf den Pappbecher.

C. nimmt den Kaffee für Karen. »That’s you«, denkt sie. Interessant, wie die Amerikaner nicht That’s for you oder That’s yours sagen, sondern nur That’s you. Als stünde da ein Teil von ihr auf dem Tresen im Pappbecher. »Oh yes, that’s probably for me, thanks«, sagt sie zu der schwarzhaarigen Frau und hofft, dass sie ihren Akzent nicht wahrnimmt.

»Viele Leute haben Decknamen nur für Starbucks«, sagt die Frau. »Ich heiße Stacy bei Starbucks.«

»Gute Idee«, sagt C., lächelt. Bloß nicht zu viel lächeln. Sie will nicht reden. Sie dreht sich weg und geht zu einem der freien Stühle. Der heiße Becher brennt in ihrer kalten, steifen Hand.

Sie setzt sich ans Fenster und schaut auf die Fifth Avenue. Grauweißer Himmel. Der Schnee ist fast weg. Hier und da noch harte Haufen, bedeckt von Kniest, Staub und Steinchen, der Ausgeburt der Stadt, grau, fast schwarz. Die Wülste sehen schon nicht mehr aus wie Schnee, sie sehen aus wie Narben auf dem Asphalt, zeitlos. Sie werden nie wieder schmelzen, denkt C. Nichts wird ihnen etwas anhaben können, noch nicht einmal die Wärme des Frühlings, der irgendwann kommen wird, kommen muss. Die schwarzhaarige Frau setzt sich direkt neben sie und pustet vorsichtig in ihren Kaffeebecher.

»I like your name«, sagt sie.

Das ist der Moment, in dem C. entscheiden muss, ob sie reden will oder nicht. Sie kann einfach Thanks sagen, unverbindlich lächeln und weiter nach draußen auf die Straße starren. Sie kann aufstehen und einfach gehen, denn selbst ein Thanks kann gefährlich sein, eine Einladung zu weiteren Fragen. Oh, you have an accent. Where are you from? Die übliche Frage, der übliche Small Talk, der nichts bedeutet. Nice to meet you. Amerikaner können das, Floskeln aneinanderreihen, Freundlichkeiten in diesen Stimmen, die immer eine Tonlage höher sind als deutsche Unterhaltungen. Danach fühlt sich C. meist leerer als vorher. Nichts sagen und weiter auf die Straße starren wäre sicherer. C. sagt nichts und starrt weiter auf die Straße.

Aber die Frau lässt nicht locker. »Carmen. Die Oper«, sagt sie. »Du heißt wie die Hauptfigur der Oper.«

»Ja, meine Mutter liebt die Oper«, sagt C., es rutscht ihr heraus und überrascht sie selbst. Sie hat schon lange mit keiner Fremden mehr gesprochen. Die Frau blickt sie direkt an, sie wendet die Augen nicht ab, sie will hören, was C. sagt. Sie kommt ihr noch immer bekannt vor, aber das kann auch ein Irrtum sein, sie ist sich nicht sicher. »Ich finde das peinlich. Nach einer Oper benannt zu sein, irgendwie aus der Zeit gefallen«, antwortet C.

»Och, es ist doch ganz schön, finde ich«, sagt die Frau.

»Warte, bis du meinen zweiten und dritten Vornamen hörst. Manon. Und Eurydike. So heiße ich: Carmen Manon Eurydike.« Sie hat ihn schon lange nicht mehr gespürt, diesen alten Ärger auf ihre Mutter. Dieser Name, der so gar nicht zu ihr passt, Carmen Manon Eurydike aus Hildesheim. Peinlich. Carmen Manon Eurydike Dumeier mit ihrem Provinz-Nachnamen und dazu die Vornamen, die so viel sein wollen, die Pseudo-Kultiviertheit ihrer Mutter in Namensform. Der alte Ärger ist warm und dunkel in ihrem Bauch, er breitet sich aus. Ihr wird warm. Sie betrachtet ihren Ärger mit fast pathologischem Interesse. So fühlt sich das also an. Ein Gefühl. »Die meisten Leute nennen mich C.«, sagt C. »Einfach nur der Buchstabe.« Die Frau lacht laut und lange. Und obwohl es C. gewohnt ist und sehr hasst, wegen ihres Namens ausgelacht zu werden, stimmt sie mit ein. Es ist ein warmes Lachen, kein gemeines Lachen. Die alte Wut ist weg, und plötzlich, von einer Sekunde auf die nächste, findet sie die Namen auch lustig in ihrer Lächerlichkeit. Auf Englisch klingt Eurydike sowieso weniger albern. Sie hat ihren Drittnamen zum ersten Mal Eurydice ausgesprochen, Yuh-rid-ih-see.

Die Schwarzhaarige lächelt immer noch und schaut aus dem Fenster. Es war ein Fehler. Zu viel offenbart. Die Frau fängt an, leise zu singen. Die Arie. Habanera.

L’amour est un oiseau rebelle

Que nul ne peut apprivoiser

Sie hat eine schöne Stimme. Sie singt leise und klingt, als könnte sie viel lauter. Eine Bühnenstimme. Zu groß für die kleine Frau. C. hat noch nie etwas Schöneres gehört. Sie bekommt eine Gänsehaut.

»Eine Carmen würde auch anders aussehen als du«, sagt die Frau, als sie mit der Arie fertig ist. Sie kennt den gesamten Text auswendig, nicht nur den Refrain, den auch Leute summen können, die eine CD mit dem Titel »Die besten Arien der Opernwelt« im Regal stehen haben, so wie ihre Mutter. »Eine Carmen würde schwarze Locken umherwerfen und aus Kohleaugen feurige Blicke blitzen. Eine Carmen trägt ein knallrotes, wallendes Kleid und riesige Ohrringe. Manon und Eurydike passen irgendwie auch nicht.«

C. lacht. Ihr Lachen klingt fremd und kommt aus der Tiefe, unkontrolliert. Sie hat es doch nicht verlernt.

»Ich bin ein wenig überrascht, dass du den ganzen Text auswendig kannst. Das ist mir noch nie passiert«, sagt C. »Wie heißt du? Also ich meine, wie heißt du wirklich, anscheinend ja nicht Stacy.«

»Mein Name wird immer falsch geschrieben«, sagt die Schwarzhaarige. »Ich heiße Niu. N und I und U. Klingt wie new, wie neu, das verwirrt die Leute.« Niu zuckt mit den Schultern. »Es ist eines dieser chinesischen Wörter, die ganz viele Bedeutungen haben, je nachdem wie man es ausspricht. Ochse oder Bulle, Knopf, merkwürdig, stur, schüchtern sein, mit den Hüften schwingen. Und noch ein paar andere Sachen. So wie meine Eltern es aussprechen, heißt es einfach nur Mädchen.«

»Das ist schön«, sagt C. »Mädchenhaft.«

Niu lacht laut. Sie legt den Kopf schief dabei, ihr Haar wippt im Takt mit dem Lachen. Dann wird sie wieder ernst. »Ja, na ja. Ich habe immer gedacht, dass ich es ihnen nicht wert war, sich einen richtigen Namen für mich auszudenken. Und dass ein wenig Enttäuschung mitschwingt, dass ich nur eine Tochter bin. Jedenfalls kommt der Name mit eingebauten Schreibfehlern. Alle denken, ich heiße New.« Sie blickt auf die Straße. »Eigentlich fände ich es gar nicht so übel, wirklich New zu heißen. Ob wir andere Menschen wären, wenn wir andere Namen hätten? Wie würdest du gern heißen?«, fragt sie und wartet keine Antwort ab. »Bist du im Urlaub hier?«

»Nein, ich bin neu in der Stadt. New. Klingt wie Niu. N und I und U«, sagt C. und grinst. »Ich lebe jetzt hier. Lerne die Stadt gerade kennen.«

»New York kann man nicht kennen, Carmen, C.«, sagt Niu und schaut C. direkt in die Augen, ohne zu blinzeln. C. fühlt sich, als habe sie noch nie jemand so direkt angesehen. »Sag mal, kennen wir uns irgendwoher?«, fragt C. »Nicht dass ich wüsste«, antwortet Niu. »Mir passiert das öfter, dass Leute glauben, mich zu kennen. Vielleicht habe ich ein Allerweltsgesicht.« Dann lächelt Niu. Es ist, als würde ihr ganzer Körper lächeln. C. hat noch nie etwas Schöneres gesehen. Niu fährt sich durch die Haare, dreht eine Strähne um den Finger und fängt an, die Arie zu summen. C. summt leise mit. Beide schauen aus dem Fenster auf die Schneereste.

»Keine Ahnung, ob man New York kennen kann«, sagt C. »Ich will es wenigstens versuchen. Ich laufe die Straßen ab.«

»Welche Straßen?« Niu trägt ein Sweatshirt mit langen Ärmeln, die ausgeleierten Bündchen rutschen über ihre Handgelenke. Ihre schmalen Hände umklammern den warmen Pappbecher, auf den der Verkäufer mit grünem Filzstift »Stacy« gekritzelt hat.

»Alle Straßen«, antwortet C. »Immer von Ost nach West und West nach Ost und Ost nach West. Diese Woche ist Midtown dran. Klingt verrückt, ich weiß.«

»Ja, klingt verrückt«, sagt Niu. »Verrückt gut. Crazy in a good way.« Ihre Hand tippt leicht auf C.s Hand. Ganz kurz nur. Kaum merklich. C. starrt auf ihren Handrücken. Der Punkt auf der Hand ist der neue Mittelpunkt ihres Körpers. Wie ein winziger Wassertropfen, der auf die Haut fällt und einen kühlen Punkt zurücklässt. Nur andersherum: heiß. Sie hat noch nie etwas so Schönes gefühlt. Crazy in a good way.

 

»Wann ist denn die Upper West Side dran?«, fragt Niu.

»Nächste Woche, glaube ich, vielleicht übernächste. Wieso fragst du? Ich will erst die ganze Upper West Side und dann die Upper East Side abarbeiten«, sagt C. »Den Central Park lasse ich wahrscheinlich aus.«

»Ich wohne da. 94th Street and Columbus. Komm doch auf einen Kaffee vorbei, wenn du in meiner Straße bist.«

Sie kennt mich doch gar nicht, und ich kenne sie nicht, denkt C. »Das mache ich. Gern. Danke. Danke für die Einladung«, sagt sie. »94th Street. Vielleicht nächsten Donnerstag oder Freitag. Meinst du das wirklich ernst? Amerikaner laden ja manchmal Leute ein nur in der Hoffnung, dass die Einladung nicht wirklich angenommen wird. Hab ich zumindest gehört.«

»Ich bin nicht so«, sagt Niu und lacht. Vogelzwitscherlachen. »Gut, dass du keine Vorurteile hast.« Sie kneift ganz leicht in C.s Arm. »Ich meine das ernst, klar.« Sie tauschen Telefonnummern. Niu tippt ihren Namen und ihre Nummer selbst in C.s Handy. Statt ihres Nachnamens schreibt sie »Stacy bei Starbucks«. Es ist die zweite Nummer, die C. in ihrem neuen amerikanischen Handy abspeichert. Die erste war Thomas’ neue Nummer.

 

»Ich glaube, ich muss jetzt weiter«, sagt C. »Nice meeting you.«

»Warte, in welche Richtung gehst du?«

»Nach Westen bis zum Hudson, dann einen Block nördlich wieder Richtung Osten«, sagt C.

»Ich komme ein Stückchen mit, in die Richtung muss ich auch.«

 

Niu tritt vor C. auf die Straße. Sie ist so schmal und klein, C. könnte ihr Kinn auf ihren Kopf legen. Sie sieht den geraden, weißen Scheitel, eine helle Linie im Schwarz. Er erinnert sie an etwas, aber sie ist sich nicht sicher, an was.

»Es muss inspirierend für dich sein, all die Menschen und Dinge, an denen du vorbeiläufst«, sagt Niu. »Ich mache das auch gern, ich laufe oft auch einfach herum, die Stadt hat so eine Energie. Es gibt immer noch so viele Straßen, in denen ich noch nie war. Und durch manche bin ich schon so oft gelaufen, dass ich gar nichts mehr wahrnehme. Wenn man neu irgendwo ist, nimmt man die Dinge viel besser auf. Es muss intensiv sein für dich.«

 

»Ja«, murmelt C. Sie redet nicht gern von Energie und Inspiration, solche Worte sind ihr fremd, so ist sie nicht. Und dennoch wünscht sie sich, dass ihr Wandern intensiv und inspirierend wäre, nicht nur ein Projekt, dessen Sinn sie nicht versteht. »Ja, die Stadt ist schon toll«, sagt sie vage. Nius Bewegungen sind leicht und stark und federnd, ihre Muskeln kontrollieren ihre Schritte präzise und effizient wie bei einem Tier.