Lied über die geeignete Stelle für eine Notunterkunft - Simone Hirth - E-Book

Lied über die geeignete Stelle für eine Notunterkunft E-Book

Simone Hirth

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Beschreibung

Das Elternhaus: zertrümmert. Lebenskonzepte: abhanden gekommen. Regeln, ein toter Maulwurf und Anleitungen – das sind Dinge, an die man sich hält, wenn nichts mehr da ist. Eine junge Frau, Mitte 20, sitzt nach dem Abriss ihres Elternhauses im Schutt und versucht einen Wiederaufbau. Wie besessen räumt und schleppt sie das Vergangene in ihre Notunterkunft. Dabei entsteht nicht nur eine solide Bleibe, sondern auch ein Gegenmodell zur gesellschaftlichen Norm. Simone Hirth sorgt mit jedem Satz für Überraschungen. Sie geht an die Grenzen literarischer Möglichkeiten und trifft dort auf das Eigentliche. Zynismus verkehrt sich in Galgenhumor, die Sprache wird zum Experiment. Ein außergewöhnliches Romandebüt! "Dass es weitergeht, weiß ich, ich habe längst Adieu gesagt zu den Zweifeln. Meine Oberarme sind schon enorm. PS: Es riecht ein wenig nach Schimmel. Ich werde lüften müssen."

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www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-01055-9

Copyright © 2016 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien Alle Rechte vorbehalten Schutzumschlaggestaltung: Christine Link Unter Verwendung eines Fotos von www.detailsinn.at, weißer Hintergrund von shutterstock.com/tom4ic Lektorat: Tanja Raich Satz und typografische Gestaltung: Ekke Wolf, www.typic.at Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Lied über die geeignete Stelle für eine Notunterkunft

Für M.

Wie beneidenswertwerden Ahornblätter schön,eh’ sie untergehn.Kagami Shiko

Ich hab’s überlebt.

Es ist das Jahr 2016.

Das Haus, in dem ich bis jetzt gewohnt habe, ist mit ohrenbetäubendem Getöse in sich zusammengestürzt. Ich saß im Keller und hielt mich an einem toten Maulwurf fest. Danach hing die Abrissbirne reglos über mir. Danach war es still.

Arschbombe. Ruft ein dicker Bub in meinem Traum und springt vom Beckenrand. In dem Becken ist aber kein Wasser. Es ist bis zum Rand voll mit Staub. Ein dumpfes Geräusch.

Ich muss husten.

Mein Lieber,

ich sagte Nein zur Veränderung. Ich sagte Adieu zu den Leuten. Heute habe ich einem Schulkind, das gedankenverloren im Dreck spielte, seinen Bleistift aus dem Ranzen geraubt. Heute habe ich den 150. Backstein aus den Trümmern geklaubt. So langsam lässt es sich anfangen.

Ich weiß, dass diese Postkarte vielleicht nie ankommen wird. Sie ist nur ein Stück alter Karton, von dem ich in den Trümmern eine Menge fand. Sie entspricht nicht der Normgröße und ich habe auch gar kein Geld, eine Briefmarke zu kaufen. Aber solange ich jemandem Postkarten schreibe, habe ich das Gefühl, noch da zu sein, und solange ich regelmäßig den Keller verlasse und zum Postkasten gehe, um meine Karten einzuwerfen, gibt es einen Weg für mich in die Welt.

Nun hör endlich auf, mit dem Dreck zu spielen. Rief früher einmal eine Mutter, die ich im Park beobachtete, ihrem Kind zu.

Sie rief: Mit dir hat man nichts als Ärger und schmutzige Wäsche. Das war, als ich noch Freude daran hatte, einfach so in den Park zu gehen und unter einem Baum zu sitzen.

Die Mutter rief: Du folgst mir jetzt, aber sofort.

In der Baumkrone über mir sammelten sich damals die Zugvögel zum Abflug. Wild flatterten und kreischten sie durcheinander, immer lauter wurde ihr Kreischen. Dann verstummten sie, abrupt. Saßen von einem Moment zum anderen völlig reglos im Geäst.

Schwarz war die Baumkrone vor Vögeln.

Jetzt sitze ich im Keller und sage: Zukunftsfähigkeit. Und: Trümmer. Trümmer. Trümmer.

Jetzt müssten die Vögel längst wieder zurückgekehrt sein. Aber es ändert nichts. Zu meinem Schuster sagte ich einige Male: Ich liebe dich.

Das war, als ich noch Geld hatte, meine Schuhe in die Reparatur zu bringen, wenn etwas an ihnen kaputtgegangen war.

Früher also, bevor es zu diesem ganzen Schlamassel hier kam, sagte ich oft und zu jedem, der fragte: Nein, danke, ich will nichts mehr. Wirklich nichts von all dem will ich noch haben. Wenn eine Flut käme, ich müsste mich doch darum sorgen. Ich müsste doch all das zusammenpacken und versuchen, es zu retten. Ich bräuchte ein Boot, um es wegzuschaffen, ich müsste mir Gedanken machen, wohin damit und ob auch genügend Platz dort wäre, ob die Sicherheit tatsächlich gewährleistet wäre und was, von all dem, ich dann also wo wieder hinstellen würde an diesem Zufluchtsort. Und am Ende würde ich doch nur unendlich traurig sein über alles, was ich nicht hätte retten können. Ich will das alles nicht. Nichts mehr. Bitte keine Geschenke. Die Flut kommt.

Und ja, doch, ich habe es kommen sehen. Es kamen schließlich auch Briefe, deren Umschläge wöchentlich die Farbe wechselten. Blau, grün, gelb. Ich nahm die Briefe zur Kenntnis und nahm Kamille und Baldrianwurzel dagegen. Meine Großmutter hatte bis zu ihrem Tod schier unendliche Vorräte an getrockneten Kräutern angelegt, und ich dankte es ihr nun. Wenn es an der Tür klopfte, hielt ich den Atem an und rührte mich nicht. Ich verabschiedete mich stumm von den Dingen, die mich umgaben.

Adieu Erbstücke.

Lebt wohl.

Nun aber muss es weitergehen, und so schreibe ich mit dem Finger in den Staub zu meinen Füßen:

ANLEITUNG ZUM WIEDERAUFBAU:

1. DEN STAUB SICH LEGEN LASSEN

Ich sagte einmal zu meiner Apothekerin: Ich glaube an die allumfassende Revolution.

Ich habe nun zunehmend starken Haarausfall. (Mangelernährung)

Ich kann mir schon lange keine Vitamintabletten mehr leisten.

Ich kauere im Kellerversteck, betrachte den toten Maulwurf und zähle die Löcher in meinem Rock. (3)

Lange lausche ich dem hellen Dreiklang der 3 Ziegel, die nacheinander von dem Schutthaufen über mir herunterrutschen und dann im Hof auf das Pflaster fallen. Ein kurzes, vollkommenes Glockenspiel.

400 Millionen Kubikmeter Schutt. Fallen mir ein. Und ein Lob des Geschichtslehrers für diese korrekte Zahl. Später habe ich ihn geküsst, aber es war hoffnungslos. Mein Vater war Fleischer, und Geschichtslehrer wollen nun mal keine Fleischertöchter. Auch nicht, wenn diese dünn und zerbrechlich ausschauen. Mein Vater sagte oft zu mir: Du schaust aus, als ob du beim nächsten Windhauch auseinanderfällst. Da, iss ein Stück Blutwurst, dass hält die Knochen zusammen.

Ich habe immer gerne Blutwurst gegessen. Ich bin trotzdem nie dicker geworden. Aber ich bin eben auch nie ganz zerbrochen. Mit der Zeit aß ich mehr und mehr Blutwurst und habe dafür immer weniger gesprochen.

Wenn ich also ab jetzt mit gar niemandem mehr spräche. Denke ich.

Also nichts mehr, kein Wort.

In der Schule habe ich 2 Fremdsprachen erlernt, die zu Hause keiner verstand. Als mein Vater an einem Herzschlag starb, habe ich die Schule verlassen. Ich war alt genug. Beim Frühstück und nach Feierabend schrieb ich anfangs noch die Übersetzungen von allen möglichen Wörtern in kleine Vokabelhefte, die ich unter meiner Arbeitsschürze mit mir herumtrug. Schließlich versuchte ich, das Wort »Herzschlag« in meine 2 Fremdsprachen zu übersetzen. Es ergab in diesen Sprachen einen völlig anderen Sinn. Von da an ließ ich das Übersetzen sein und bekam überhaupt einen großen Zweifel an allen Wörtern. Meine Vokabelhefte legte ich auf den Schreibtisch meiner Mutter, wo sie schnell unter den anderen Heften und Mappen der Buchhaltung verschwanden. Als meine Mutter an ihrem Kummer starb, habe ich ein Bettlaken über die Papierstapel geworfen und nicht mehr darunter geschaut.

So nicht. Habe ich dann eines Tages gedacht. Viel später war das. Ich höre jetzt auf, dachte ich. Eines Tages hörte ich auf: Ich mache zu, sagte ich, die Fleischerin, ich schneide keine Schweine mehr auf und wickle keine Wurst mehr in Papier. Feierabend, sagte ich, ich mache für immer Feierabend und ich lasse mich von mir scheiden. Die Kosten des Verfahrens trägt meine Vergangenheit.

Nur meine blutige Schürze behielt ich an, weil ich ahnte, dass ich sie noch brauchen würde. Blut bindet Staub.

Ich werde mir auf keinen Fall umfassende Informationen über Vorsorge- oder Versicherungsbeiträge einholen, sagte ich.

Auch mein Guthaben und die Zusatzleistungen interessieren mich nicht.

Ich persönlich leiste des Weiteren gar nichts mehr, außer erst einmal ordentliche Trauerarbeit, sagte ich. Und ja, ich habe Fremdsprachenkenntnisse.

Ich wartete die Zusagen gar nicht erst ab.

Ich bewarb mich sozusagen rückwärts.

Ich aß die verderblichen Wurstwaren zuerst. Den Rest lagerte ich ein.

2. SICH DIE AUGEN REIBEN

Meine Großmutter spielte manchmal »Mensch-ärgere-dich-nicht« mit mir. Sie sagte zu dem Spielfeld, in das man seine Kegel am Ende bringen muss, aber nicht Ziel, sondern Loch. Ich stellte mir immer eine Art Erdbunker vor. Ich dachte: Es ist eigentlich eine Luftschutzübung.

Und wenn ich von nun an auch niemanden mehr küsste, weil alle im Krieg oder so sind. Denke ich jetzt.

Ich las einmal, dass Judas möglicherweise gar kein Verräter war, sondern einfach nur an ADHS erkrankt. Es gab damals noch keine Tabletten dagegen.

Ich hatte eine einzige Freundin in der Schule, die war sehr dünn und sehr groß, sogar größer als die Buben in unserer Klasse, und sie musste in jeder Pause Tabletten gegen ADHS einnehmen. Ich war die Fleischertochter. Das machte uns vorübergehend zu Freundinnen. Wir saßen in der großen Pause und im Schulbus nebeneinander und spielten meist »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Die Mutter meiner Freundin hatte gesagt, das sei gut für die Konzentration. Einmal sagte meine Freundin im Schulbus: Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot.

Ich sagte: Der Schal von dem Jungen da. Die Tasche von dem Mädchen dort. Die Nase vom Busfahrer. Meine Brotdose. Deine Haare.

Meine Freundin schüttelte bei allem den Kopf. Sie sagte: Der Notfallhammer da oben.

Es stimmte, er war rot. Ich sagte nichts mehr. Ich dachte nur noch: Notfallhammer. Was für ein Wort. Notfallhammer. Notfallhammer.

Ich konnte nichts mehr sagen. Meiner Freundin wurde es dabei schnell langweilig, sie sah mich auffordernd an, dann verachtend, dann verunsichert, dann ängstlich. Aber ich sagte auf dieser Fahrt im Schulbus nichts mehr.

Wir haben danach nicht mehr miteinander gesprochen. Sie ging mir aus dem Weg.

Wenn nicht, dann nicht. Sagt ein junger Mann zu seiner Freundin.

Die beiden haben sich hier in den Hof verkrochen, um etwas zu bereden.

Ich will eben nicht immer die Letzte sein, die von deinen Geschäftsreisen erfährt. Sagt die Freundin.

Dir kann man es echt nicht recht machen. Ich soll Geld verdienen, ich soll mehr Zeit mit dir verbringen, ich soll mehr karierte Hemden tragen, weil dir das gefällt, und dann soll ich wieder gestreifte Hemden tragen, weil dir das doch besser gefällt, ich soll das Bad gründlicher putzen, ich soll es eigentlich doch lieber dich machen lassen, ich soll auch öfter was einkaufen, aber ich soll die Bio-Sachen kaufen und nicht das ungesunde Zeug, ich soll dich öfter überraschen, ich soll aber auch immer alles vorher mit dir besprechen. Ich soll, ich soll. Naja. Schluss jetzt. Sagt der junge Mann.

Also fliegst du oder nicht? Fragt die Freundin.

Ich will jetzt nicht mehr drüber sprechen. Sagt der junge Mann.

Ich sitze hier unten und denke an die bucklige, alte Bäuerin, die ich früher immer beobachtete, wie sie täglich einen Sack Kartoffeln quer über den Marktplatz schleppte, selbst wenn dort kein Wochenmarkt war, selbst wenn dort nichts war. Gebückt ging sie, unter dem schweren Sack, und sehr langsam. Sie hatte rote Wangen und kurzes, zerzaustes, graues Haar. Sie sah niemals auf. Sie ging, trotz der Anstrengung, sehr zielstrebig. Sehr konzentriert. Und sie ging immer mitten über den Platz. Ich fragte mich oft, wohin sie wohl ging, mit ihren Kartoffeln, und manchmal wünschte ich mir, es gäbe kein Ziel, sie ginge nur so über den Marktplatz, oder gerade, weil kein Wochenmarkt war. Gerade, weil dort nichts war.

Es ist nichts, sage ich jetzt. Ich sage es ganz leise.

Ich saß einmal auf einer dicken, alten Mauer neben dem Fluss, betrachtete eine Birke, knackte Nüsse und warf die Schalen ins Wasser, dessen Pegel schon beträchtlich gestiegen war. Ich sagte: Ich mache bei diesem Zirkus nicht länger mit. Ich will auch keine Bratwurst mehr. Im Ernstfall würde ich mir mit meinem Bruder ein billiges, weit vom Fluss entferntes Zimmerchen mieten, 4 Tage lang dort mit ihm küssen und so laut lachen danach, dass die Nachbarn denken würden: Das ist sie, die Katastrophe, jetzt ist sie da. Ich hätte keine Zeit mehr, fremde Sprachen zu erlernen. Ich sagte: Flut.

Im Traum sitze ich in einem hellen, sauberen, angenehm klimatisierten Übersetzerbüro. Ich sitze vor einem Bildschirm, der mir in großen Ziffern anzeigt, welche Summe an Geld ich schon verdient habe. Mit jedem Wort, das ich übersetze, ändern sich die Ziffern und die Summe wird größer. Ich darf aber nur Wörter übersetzen, die mit Not beginnen. Notenschlüssel. Notenständer. Notiz. Notschlachtung. Notar. Notorisch. Notgroschen. Notanker. Notdurft. Notnagel. Notruf. Notwehr. Notausgang. Notwendigkeit. Dann fallen mir keine Wörter mehr ein. Mir fallen auf die Schnelle keine Wörter mehr ein. Ich beginne zu schwitzen, ich weiß, ich muss mehr Wörter übersetzen. Die Geldsumme auf dem Bildschirm beginnt zu blinken, dann ertönt ein Piepsen, ich schwitze, ich denke angestrengt nach, mir fällt aber einfach nichts ein. Das Piepsen wird lauter, ich merke, ich schwitze nicht nur, ich bekomme auch meine Menstruation, Blut fließt aus mir heraus, an meinen Beinen hinunter, vermischt sich mit dem Schweiß, sodass sich eine Lache unter meinem Bürostuhl bildet, hellrosa zuerst, dann immer dunkler, immer größer, die Geldsumme blinkt schneller, ich denke: Not – Not –, ich denke: Tampon, das Piepsen wird lauter, warum habe ich denn nie einen Tampon dabei, wenn ich einen brauche, dann fällt mir ein: Ich kann mir Tampons nicht mehr leisten, mir fällt ein: Bei meinem letzten Einkauf stellte ich sie ins Regal zurück, weil ich dachte: Nur das Allernotwendigste, und nur, wenn ich es wirklich, wirklich ganz dringend brauche. Ich denke: Not –, ich denke: Blut –, ich blute wie ein Schwein, und das Piepsen wird lauter, die Geldsumme blinkt, der Bildschirm beginnt zu qualmen, ich lege den Kopf auf den Tisch, ich kann nicht mehr denken und schließe die Augen, und es knallt. Es riecht nach verbranntem Kunststoff. Ich merke zuletzt, wie jemand ein Bettlaken über mich wirft. Es ist mein Geschichtslehrer, ich erkenne es an der Stimme, denn durch das Bettlaken höre ich gedämpft, wie er sagt: Notre-Dame. Sie hätte doch einfach Notre-Dame übersetzen können. Oder schwanger werden. Ganz einfach. Dann bräuchte sie auch keine Tampons.

Ein gelber Umschlag also schließlich. Ich weiß schon nicht mehr, wie lange es wirklich her ist, dass er kam. An welchem Punkt genau ich mich befand, als er da war. Ob das Einkaufen von alltäglichen Dingen noch Routine war oder schon ein Spießrutenlauf. Ich weiß nur noch, der Umschlag war so gelb, dass ich ihn im Briefkasten ließ. Es erschien mir absolut unmöglich, ihn herauszuholen und zu öffnen.

Ich erinnere mich an den Weg zur Beratung, immer am Fluss entlang, der immer in die entgegengesetzte Richtung floss. Ich erinnere mich an die Frage: Beruf?

An den Micky-Maus-Wecker auf dem Beraterinnenschreibtisch.

An meine schnelle Antwort: Fleischerin.

An die schrille, kleine Stimme in meinem Magen: Lüge.

Ich erinnere mich nicht mehr, was die Beraterin danach noch gesagt hat.

Ich erinnere mich dann nur noch an den Rückweg von der Beratung. Ich kam am Flussufer an einer Sitzbank vorbei, auf der ein Mädchen mit seiner Mutter saß.

Das Mädchen sagte: Ich will aber, dass alles so bleibt, wie es ist.

Die Mutter sagte: Ich will, ich will, der Willi ist aber gestorben.

Am liebsten hätte ich das Mädchen auf der Stelle adoptiert.

Ich dachte aber: Aber. Aber.

Manchmal bete ich, obwohl ich nicht getauft bin, nie in die Kirche gehe und die Geschichten aus dem Religionsunterricht nie richtig verstanden habe. Den Religionsunterricht besuchte ich auch nur, weil er auf dem Stundenplan stand und es gar kein Thema war, ob ich ihn besuchen wollte oder nicht. Es war wie mit Mathematik: Ich hatte das Gefühl, es könnte interessant sein, es könnte mehr dahinter stecken, aber mir fehlte das logische Denken. Ich kam einfach nicht dahinter, was es war. Ich mochte die Kirche in der Nähe unseres Hauses, weil ihre Turmglocke regelmäßig und sehr zuverlässig jede Viertelstunde schlug. Ich mochte die Kirche genauso gern wie die Feuerwehrwache, deren Sirene regelmäßig und zuverlässig jeden Samstag zu Mittag den Probealarm ausrief. Das beruhigte mich, aber ich konnte nie erklären, weshalb.

Nun bete ich also: Ich danke Gott, oder wem immer, der sich die Schlüsselblumen und das Sumpf-Vergissmeinnicht ausgedacht hat.

Bombardierung, schreien die Buben, die jetzt oben auf dem Trümmerhaufen herumtoben, und bewerfen die kichernden Mädchen mit Kastanien.

Wer als Letztes beim Kaugummiautomaten ist, ist ein Vollidiot, schreien die Mädchen und laufen los.

Ich gähne und strecke mich, so gut es hier unten geht. Bald, sage ich zu dem toten Maulwurf, bald.

Mein Lieber,

ich brauche keine Physiotherapie. Ich packe an, ich trainiere mich, es muss zu schaffen sein. Dazwischen schlafe ich viel auf dem leeren Kartoffelsack in meinem Kellerversteck, setze alles auf diesen überlangen, gewissenlosen Schlaf. Ich träume ernst und habe ein wenig hoffnungslose Sehnsucht nach Dir, was mir genügend Antrieb ist. Schwieriger wird es nur zunehmend, die guten Backsteine zu finden. Die ganzen, die nicht zerbrochen sind.

PS: Heute träumte ich sogar, man könne Backsteine essen. Ich biss in einen hinein, und das Beste war: Es half.

Als ich mit ein paar meiner letzten Geldmünzen zum Bäcker ging, um ein Brot zu kaufen, fragte mich die Verkäuferin: Darf es sonst noch was sein, ein Getränk vielleicht oder ein Muffin?

Ich überlegte kurz, warum ich beim Bäcker ein Getränk kaufen sollte und weshalb es Muffin hieß anstatt Küchlein oder ein Stück Gugelhupf.

Da ich mir nichts davon leisten konnte, sagte ich: Nur ein Hausbrot bitte, das ist alles.

Als ich das Hausbrot einige Tage später aufgegessen hatte, blieb mir nur noch eine alte Packung Zwieback, die ich im hintersten Winkel eines Kastens fand. Ich aß jeden Tag genüsslich und langsam eine Scheibe davon und dabei dachte ich daran, wie meine Großmutter einmal erzählt hatte, dass sie meinem Großvater per Feldpost ein kleines Paket voll Zwieback geschickt habe, das Einzige, was es zu verschicken noch gab.

Sie hatte aber nie erfahren, ob das Paket wirklich angekommen war. Ich stellte mir nun bei jeder Scheibe Zwieback, die ich feierlich aus der Packung nahm, vor, ich nähme sie aus dem Paket meiner Großmutter. Wenn ich alle Scheiben gegessen habe, dann kommt darunter vielleicht eine Feldpostkarte zum Vorschein, auf der steht:

Mein Schätzle,

ich hoffe, es geht Dir gut und wir sehen uns bald wieder. Vom Zwieback wirst Du nicht fett, aber Du verhungerst auch nicht. Und mehr darf man im Moment wohl nicht hoffen.

Es kam dann natürlich keine Postkarte hervor, sondern eine tote Lebensmittelmotte. Ich hielt mich schließlich an die Einweckgläser und lutschte hin und wieder ein paar Nudeln oder einen Löffel voll trockenen Grieß.

PPS: Wenn ich das hier überlebe, dann werde ich die Berufsfrage vielleicht endlich klären und einen Ratgeber schreiben. Hier eine Sammlung an möglichen Titeln:

Der Krisenherd

Bitte die Wildvögel ausschließlich im Winter zu füttern.

Darf’s ein bisschen Teer sein?

Trennkost für Dummies

Nur ein Stück Mäusekot bitte, das ist alles.

Oder einfach:

Das ist alles.

Eine vergilbte Zeitungsseite in der Ecke meines Kellerverstecks:

Mercedes ging in Flammen auf

Promi-Damen sprechen über ihre Vagina

Attentat auf Sushi-Bar

Erben und Schenken wird teurer

Ein Mann torkelt in den Hof, steuert auf den Trümmerhaufen zu, lässt sich plump auf eine geeignete Stelle fallen, bleibt reglos, in sich zusammengesunken dort sitzen. Ich klettere aus meinem Kellerversteck hinauf und setze mich eine Weile zu ihm. Ich sage: Wir könnten »Ich sehe was, was du nicht siehst« spielen.