Die Kröte - Simone Hirth - E-Book

Die Kröte E-Book

Simone Hirth

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Beschreibung

Der Frosch ist zur Kröte geworden. Die Kröte ist aufdringlich. Und mit der Kröte ist nicht zu spaßen. Milena ist klug, selbstsicher, aufgeklärt, verantwortungsbewusst, mutig und voller Ideale. Dennoch lässt sie die Kröte in einem Moment der Schwäche in ihr Leben. Und ahnt sofort: Das war ein fataler Fehler. Denn die Kröte hat niemals Pause. Sie ist vorlaut, untergriffig und mitunter übergriffig. Sie bringt alles durcheinander und rüttelt an allem, was einmal stabil und sicher schien. Die Kröte frisst am liebsten Maßstäbe. Sie dealt mit Psychopharmaka und Fake News. Sie ist nicht gekommen, um zu helfen. Sondern um zu stören, zu spalten, zu dekonstruieren und zu polarisieren. Und das Schlimmste ist: Die Kröte verschwindet nicht mehr. Der Kröte ist nicht zu entkommen. Oder doch?

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Seitenzahl: 194

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Simone Hirth

DIE KRÖTE

Roman

and my words

Bright birds in the sky, consoling, consoling

– Sylvia Plath

vom Fühlen kann man warm werden, vom Gehorchen verrückt.

– Christine Lavant

In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön. Aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich wunderte, so oft sie ihr ins Gesicht schien.

Und das ist nämlich ein Blödsinn. Die Sonne wundert sich über gar nichts. Sie brennt blindlings und gnadenlos auf uns herunter. Sie fragt nicht nach Schönheit. Wenn man nicht aufpasst, verursacht sie Krebs.

Ich hatte bereits einen Sonnenbrand im Gesicht, als ich zum ersten Mal auf die Kröte traf.

Du willst jetzt hier nicht ernsthaft ein Märchen erzählen, oder? Du traust dich was, in deiner Lage!

Ich habe nicht vor, ein Märchen zu erzählen. Auch wenn es sich immer wieder aufdrängt. Ich werde ihm widerstehen. Ich mache bei diesem Märchen nicht mit. Ich werde jetzt die Geschichte von der Kröte erzählen. Ja genau, die Geschichte von dir!

Und zwar in meinen Worten. Mit den Wörtern, die mir noch bleiben. Sie sind meine letzte Chance. Aber sie sind eine große Chance. Daran glaube ich.

Das wird Doktor Grimm aber nicht gefallen.

Wer ist Doktor Grimm?

Hast du die Vorladung als Beschuldigte im Fall König nicht richtig gelesen? Doktor Grimm ist der Vorsitzende Richter. Du befindest dich mitten in einem Strafverfahren. Ist dir das klar?

Du solltest dir besser einen Verteidiger nehmen, anstatt dich in Geschichten zu verlieren. Oder eine Verteidigerin.

Ich weiß sehr wohl, in welcher Lage ich mich befinde. Ich weiß sehr wohl, wie die Dinge stehen. Aber niemand wird mich verteidigen können, wenn ich nicht vorher diese Geschichte erzähle. Schon gar nicht ich mich selbst. Deshalb sitze ich nun hier und nehme sie auf. Mein Telefon liegt vor mir. Die Sprachaufnahme läuft. Doktor Grimm und alle anderen werden sich anhören können, was ich zu erzählen habe.

Bist du sicher, dass die das hören wollen?

Nein, natürlich nicht. Ich bin bei überhaupt nichts mehr sicher.

Haha, das nenne ich mal eine ehrliche Antwort. Mutig auch! Ist dir klar, was auf dem Spiel steht?

Ja. Alles. Aber ich habe immer an ehrliche Antworten geglaubt. Jedenfalls bis zu diesem Verfahren.

Och je, siehst du dich etwa als reines Opfer? Mir kommen die Tränen.

Nein. Ich sehe mich nicht als Opfer. Sonst hätte ich wohl längst aufgegeben. Sonst wäre ich neben dir längst verstummt. Ich gebe nicht auf. Ich verstumme nicht. Ich werde jetzt verdammt noch mal die Geschichte über dich erzählen. Von Anfang an.

Dann tu das doch. Erzähl ihnen die Geschichte von deiner »Kröte«. Wenn du glaubst, dass dir das irgendjemand abnimmt. Wenn du denkst, dass dich dann noch irgendjemand für zurechnungsfähig hält, bitte schön! Ich lausche gespannt. Schieß los!

Interessant, dass du von Schießen sprichst, wo ich doch von Erzählen gesprochen habe.

Mach dich nur lustig. Du wirst schon sehen, was du davon hast.

EINLEITUNG

Also von vorn:

In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat –

Nein. Stopp. Das ist nicht mein Anfang. So beginnt meine Geschichte nicht.

Die alten Zeiten, wann soll das gewesen sein? Wann, bitte, soll das Wünschen jemals geholfen haben?

Der Wahlkampf hat begonnen.

Sei jetzt still! Es geht hier ausnahmsweise nicht um irgendwelche Wahlen. Obwohl es dem König, dem ich die Kröte –

Also dem Typ, der mich angezeigt hat und wegen dem ich überhaupt in dieser Lage bin, dem geht es vor allem um Wahlen. Vielmehr um seinen Wahlsieg. Ums Gewinnen. Der Mann ist schließlich Politiker. Und es ist wohl kein Geheimnis, dass Politiker Wahlen gewinnen wollen. Und dass sie dafür mitunter einiges tun. Dass sie dafür vor allem einiges erzählen. Dass sie dafür Wörter benutzen. Sich Wörter zu eigen machen, sie gefügig machen und in eine Form pressen. Und dann streuen sie diese angeeigneten, gefügig gemachten, in Form gepressten Wörter wie Tierfutter aus. Gezielt. Dorthin, wo Futterknappheit herrscht. Wo es sonst nur sehr wenig oder gar nichts zu fressen gibt. Und dort werden diese Wörter gierig aufgeklaubt und gefressen. Weil niemand auf Dauer hungrig leben kann. Weil der Hungertod nah ist.

Der Hungertod ist immer ganz nah. Und der Wahnsinn, der auch.

Entspann dich! Wir trinken noch einen! So jung kommen wir nicht mehr zusammen. Das Leben ist ernst genug. Was wir für einen Spaß haben könnten, sag ich dir.

Ich möchte auf keinen Fall Wörter wie Futter verstreuen. Die Wörter gehören mir nicht. Ich werde mir nicht anmaßen, sie besitzen zu wollen, sie zu verbiegen, sie in eine Form zu pressen. Die Wörter sind größer als ich und ich schaue in Demut zu ihnen auf. Ich bin froh, dass ich sie habe. Dass sie mich tragen. Ich werde alles dafür tun, dass sie mir erhalten bleiben.

Und helfen dir deine Wörter, wenn du nachts wachliegst und dich in Sorgen wälzt? Versuch es doch lieber mit Rohypnol.

Die Wörter sind für mich da. Und sie bringen mich weiter. Sie helfen mir, meiner Stimme, meiner Geschichte eine hauchdünne Kontur zu geben. Eine Substanz. Keine zu dichte, keine, die jemals fertig ist. Es bleiben Luftlöcher. Es bleibt Bewegung, Durchzug. Alles wackelt, schwingt, tanzt, taumelt. Alles kann jederzeit verweht oder fortgetragen werden. Alles ist und bleibt zart.

Auf diese Weise ist ganz sicher kein Wahlkampf zu gewinnen. Vielleicht ist damit überhaupt nichts zu gewinnen.

Richtig! Also komm endlich zum Punkt!

Es geht mir hier nicht um Gewinn oder Verlust. Das hilft mir nicht mehr, seit die Kröte da ist. Die Kröte kennt ganz andere Kategorien. Kategorien, die sich nicht mehr so einfach benennen lassen. Alles in dieser Geschichte ist nur einen Wimpernschlag von der Auslöschung entfernt.

Auslöschung. Jetzt übertreibst du aber! Ich tu doch gar nichts.

Allein, die Kröte hat keine Wimpern. Ihre Augen brauchen keinen Schutz, denn sie haben längst alles gesehen und alles durchschaut. Die Kröte kennt keine Furcht vor der Auslöschung. Das macht sie mir überlegen. Noch.

Denn ich sehe, wie gesagt, eine Chance, der Kröte beizukommen. Ich sehe die Chance, dass die Wörter mir dabei helfen, wenn ich nur achtsam genug mit ihnen bin. Und mutig genug, auf sie zu vertrauen. Die Wörter sein zu lassen, was sie sind und was sie alles sein können. Mich ihnen in aller Sanftheit zu ergeben und diese Geschichte aus ihnen werden zu lassen, die jetzt

hier

gerade

beginnt.

Ich befinde mich mitten in der Einleitung. Die Wörter sind da. Deutlich hörbar. Und sie werden dem Gequake und Geraune und Gewisper der Kröte standhalten.

Und meinem Schmatzen? Halten deine Wörter auch meinem Schmatzen stand? Reich mir doch noch ein paar von deinen Maßstäbchen. Die knabbere ich so gern, während ich Serien schaue.

Dies ist und bleibt meine Einleitung. Mein Fundament für alles, was im Hauptteil kommt. Ein Fundament, das bedeutet: mit dem zu beginnen, was gewiss ist.

Gewiss ist mein Name.

Ich finde Namen wichtig. Namen sind eindeutig. Namen sind Fakten. Auf Namen ist Verlass.

Mein Name ist Milena.

So viel weiß ich sicher.

Meine Eltern haben mich Milena genannt. Das heißt, eigentlich hat meine Mutter mir den Namen ohne die Zustimmung und in Abwesenheit meines Vaters gegeben. Also allein. Da fangen die Unsicherheiten leider schon an. Aber ich will mich ihnen stellen.

Ein wackliges Fundament, meine Liebe, ein sehr wackliges.

Ich werde ein wenig ausholen müssen. Ich möchte vom Hintergrund erzählen, den es zu meinem Namen gibt. Ich möchte ihn damit doppelt haltbar machen. Damit zumindest der Name, mit dem ich von Beginn an gelebt habe und der mich durch diese ganze Geschichte hindurch bis jetzt verlässlich getragen hat, nicht auch noch ins Wanken gerät, während so gut wie alles andere in meinem Leben wackelt, haltlos geworden oder bereits zu Bruch gegangen ist.

Pommerland ist abgebrannt.

Meine Mutter allein also hat mir den Namen Milena gegeben. Meine Mutter hat sehr vieles allein gemacht und allein entschieden. Soweit ich mich erinnern kann, ist ihr das gut gelungen und stellte kein Problem für sie oder für mich dar. Im Gegenteil. Meine Mutter sagte einmal: »Was ich anfangs gewartet habe auf diesen Mann! Irgendwann habe ich kapiert: Das Warten bringt nichts. Da habe ich zu warten aufgehört und weitergemacht.«

Was soll das Geplänkel von deiner Mutter? Wer will das wissen?

Meine Mutter sagte: »Er hat mir dich in den Bauch gesetzt und einen Haufen Flöhe ins Ohr und einen Haufen Flausen in den Kopf. Dich habe ich behalten. Die Flöhe und die Flausen will ich bis heute wieder loswerden. Es ist besser ohne ihn. Auf jemanden zu warten, der nicht kommt, das frisst eine auf.«

Ich bin doch da. Ich wäre gerne noch viel mehr für dich da. Aber du lässt mich ja nicht.

Als ich den Bauch meiner Mutter verließ und auf diese Welt kam, war mein Vater nicht anwesend. Meine Mutter sagte: »Ich weiß nicht einmal, wo er war.«

Da war aber eine Krankenschwester. Oder eine Ärztin. Meine Mutter wusste auch das nicht mehr genau, denn sie war mehr damit beschäftigt, mich winziges, mit Blut und Schleim verschmiertes Bündel in den Armen zu halten und zu realisieren, dass ich mich nun also nicht mehr in ihrem Bauch befand, sondern echt geworden war. Real. Atmend. Angreifbar. Brüllend.

Die Krankenschwester oder die Ärztin wedelte mit einem Formular und mit einem Namensschild. Beides sollte ausgefüllt werden. Letzteres sollte umgehend an dem Babybettchen angebracht werden, das, noch bevor überhaupt mein Kopf in Sicht, bereits in den Kreißsaal gerollt worden war. Vermutlich sollte das Ausfüllen der Papiere so schnell gehen, um eine formelle Ordnung herzustellen und Verwechslungen vorzubeugen. Was ja begrüßenswert ist. Es gibt, wie ich nun weiß, ohnehin schon genügend Unklarheiten und Chaos hier draußen. Das Chaos beherrscht uns. Rundum.

Tsunami-Warnung nach Vulkanausbruch in Indonesien.

Ich bin nicht in Indonesien. Ich bin hier. Und hier bin ich zwei Zeilen lang sicher:

»Von vielen, vielen Steinen sind unsre Füße so wund.

Einer heilt. Mit dem wollen wir springen«*

Neurexan oder Zaffranax?

Und ich bin hier: Meine Mutter hatte nun mal wenig Zeit und wenig sogenannte Muße, sich einen Namen für mich auszudenken. Und nein, sie hatte sich in den Wochen und Monaten zuvor, in denen ich langsam in ihr wuchs und sie von innen heraus aufwölbte, keinen Namen ausgedacht. Sie hatte in dieser Zeit überhaupt so wenig wie möglich gedacht, erzählte sie mir später. Sie hatte gedacht, wenn sie so wenig wie möglich dächte, dann würde die Angst kleiner. Die Angst vor den Tatsachen. Die Angst vor all dem, was kommen würde.

Meine Mutter hatte also, während sie mich in ihrem Bauch trug, wenn überhaupt etwas, dann nur so viel gedacht: Wie schaffe ich den nächsten Schritt. Wie schaffe ich es heute bis zum Abend. Und wie schaffe ich es morgen früh, wieder aufzustehen.

Später sagte meine Mutter einmal zu mir: »Da war kein Funken Vorfreude auf das Kind. Ich habe kein bisschen Glück über diesen Zustand empfunden. Ich war einfach nur müde. Und zu einer Abtreibung fehlten mir der Mut und die Kraft.«

Deine Mutter sitzt im Wald und verkauft Stöcke.

Meine Mutter war immer ehrlich und direkt zu mir. Dafür bin ich ihr heute, glaube ich, am dankbarsten. Ich wusste immer, woran ich bin. Ich habe nie daran gezweifelt, dass sie mich trotz allem liebt.

Hättest du aber wohl sollen.

Dich habe ich nicht gefragt.

In der Eile und aus der Überforderung heraus hat meine Mutter mich also Milena genannt. Mein Vater soll später, als er dann auftauchte – meine Mutter wusste nicht mehr, war es nach Stunden, war es nach Tagen –, gesagt haben: »Was soll das für ein Name sein. Wir sind doch nicht im Ostblock.«

Jetzt frage ich mich, ob ich das mit dem Ostblock überhaupt noch so sagen darf. Ob es korrekt ist. Oder verboten. Oder wie genau der Ostblock nun zu nennen wäre, damit es in Ordnung ist. Länder der ehemaligen Sowjetunion? Osteuropa? Wie ist es richtig?

Warum hältst du dich mit solchen Lappalien auf? Europa. Europa ist ein einziger Witz.

Ich glaube an Europa. Und meine Mutter hat jedenfalls Ostblock gesagt. »Das hat dein Vater gesagt!«, sagte sie. »Und dann hat er dich hochgenommen, in seine nach Zigarettenrauch und Hasch stinkende Jacke gewickelt und mit in die Kneipe genommen, um dich herumzuzeigen. Hochgehalten hat er dich. ›Meine Tochter!‹, hat er gerufen. Und die Männer haben durch die Zähne gepfiffen und anerkennend geraunzt. Der Mann hinter dem Tresen hat eine Runde Schnaps ausgeschenkt. Da hat dein Vater mir, die ich ihm barfüßig und im Morgenmantel hinterhergetapst war, dich wieder in die Arme gedrückt und sich an den Tresen gesetzt und gesagt: ›Auf meine Milena. Sagen wir doch einfach Lena zu ihr‹.«

Meine Mutter hat mich immer Milena genannt. Wenn mein Vater, die wenigen Male, die ich ihn sah, mich Lena nannte, wusste ich im ersten Moment nie, wen er meinte. Ich blickte mich instinktiv um, als müsste da noch eine Person sein. Natürlich war da nie eine. Lena gab es nicht. Sie war nur mein Schatten. Und mein Vater fragte diesen Schatten jedes einzelne Mal zwinkernd: »Na, Lena, wie stehen die Aktien?«

Und der Schatten schwieg.

Apropos Aktien: Kopenhagen – Verheerender Brand in historischer Börse.

Mein Name also, Milena, war mir immer das Vertrauteste, das ich hatte. Ein Fixpunkt. Die tragende Wand in mir. Eine Selbstverständlichkeit. Vielleicht die einzige. Denke ich jetzt.

Hast du schon gehört? In Brüssel hat sich einer in die Luft gesprengt. Mitten auf dem Wochenmarkt.

Denn später einmal, ich muss ungefähr dreizehn oder vierzehn gewesen sein, erfuhr ich noch etwas über meinen Namen. Es war an einem Samstagvormittag, das weiß ich noch genau. Meine Mutter und ich staubten wie jeden Samstagvormittag gemeinsam das Bücherregal ab. Da erzählte sie mir unvermittelt, ohne das Staubtuch ruhen zu lassen: »Ich habe in diesem Moment, in dem ich der Krankenschwester oder der Ärztin einen Namen für dich nennen sollte, eigentlich einen anderen Namen sagen wollen.«

In unserem Bücherregal standen vor allem Kochbücher. Davon jedoch sehr viele. Nach Ländern geordnet. Daneben noch die veraltete Ausgabe eines Lexikons in dreißig Bänden, das meinem Vater gehörte. Er hatte es dagelassen, als er endgültig ging bzw. war er ja nicht gegangen, sondern einfach nicht mehr gekommen. Und hatte seine dreißig Lexikonbände nicht mehr abgeholt.

Dein Vater hat das anders erzählt.

Ich –

Ich –

Ich kann es nur so erzählen, wie ich es gehört habe und wie ich es erinnere.

Ich weiß noch genau: Ich wischte gerade über den Buchrücken von Band 21, während meine Mutter bei der Küche Spaniens zu Gange war, als sie sagte: »Ich stand damals total neben mir. Hab mich versprochen. Wollte eigentlich einen anderen Namen sagen.«

Mir fiel das Staubtuch aus der Hand. Ich sah meine Mutter an. Sie wischte weiter. Und sagte, nurmehr wie zu sich selbst, leise und schnell: »Malina.«

»Was?«, fragte ich.

Sie wiederholte den Namen nicht. Wischte weiter. Nuschelte: »Der hat mir auf der Zunge gelegen. Ich hab mal ein Buch –«

Meine Mutter zögerte, hielt, vielleicht nur eine Millisekunde, aber doch unübersehbar inne. Wischte weiter. Nuschelte: »Hätte mir auch gefallen. Aber dann ist mir eben Milena rausgerutscht. Auch okay, oder nicht?«

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich war nicht sicher, ob das nun eine wichtige Information gewesen war, die sie mir soeben übermittelt hatte. Ich war, wie gesagt, dreizehn oder vierzehn. Ich weiß mein ungefähres Alter zu diesem Zeitpunkt nur deshalb, weil dieser Samstagvormittag bereits in die Zeit fiel, in der ich es nicht mehr selbstverständlich und schön fand, mit meiner Mutter am Samstagvormittag die Wohnung zu putzen. Es hatte eine lange Zeit gegeben, in der mir diese Samstagvormittage mit meiner Mutter hell und warm und ungemein wichtig gewesen waren. Und dann kam eine Zeit, da wurden sie mir lästig und mühselig und öde. Da wünschte ich mich am Samstagvormittag in mein Zimmer, die Wand anstarrend. In die Fußgängerzone, herumstreunend. In den Park, im Gras liegend und die Verästelungen der Bäume und Sträucher ringsum betrachtend. Nichts davon ließ meine Mutter zu. Sie bestand darauf, dass ich am Samstagvormittag mit ihr putzte. Bis ich auszog.

Ab einem gewissen Punkt, einem gewissen Alter, nämlich mit ungefähr dreizehn oder vierzehn, hasste ich sie dafür.

Heute bin ich meiner Mutter auch für die vehement eingeforderten Samstagvormittage dankbar. Ich kann es ihr nur leider nicht mehr –

Deine Mutter hat sich umgebracht, stimmt's? Pulsadern, hab ich recht? Sie hat sich einfach aus dem Staub gemacht. Du denkst: aus Herzschmerz, Weltschmerz, Verzweiflung? Alles Bullshit! Kinkerlitzchen! Sperenzchen!

Feige war sie. Lebensunfähig und faul. Sie hätte die Samstage wohl anders mit dir verbringen können, als dich zur Putzhilfe zu machen, oder?

Wie auch immer. Als meine Mutter mir erzählte, mein Name sei eigentlich ein Versehen gewesen, da war ich noch nicht in dem Alter, in dem ich mir darüber tiefgehender Gedanken gemacht hätte. Ich war in einem Alter, in dem ich grundsätzlich alles, was meine Mutter sagte, nervig und blöd und verachtenswert fand. So empfand ich auch bei dieser Information erst einmal eine stille, kleine, unerklärbare Wut in mir, die mich damals jedoch nicht nachhaltig erschütterte, die nichts in mir aus den Angeln hob, mich nicht dazu brachte, weiter nachzubohren oder gar laut aufzubegehren.

Ich nahm die Information hin. Ich speicherte auch den anderen Namen irgendwo in meinem Gedächtnis ab. Und dann vergaß ich das Ganze vorerst wieder.

Malina, Malina –

Ich weiß heute, dass Malina Himbeere bedeutet. Das finde ich schön.

Und sonst, sag doch! Du weißt doch, dass das Buch »Malina« von dieser labilen Dichterin, noch so ein lebensunfähiges Frauenzimmer, geschrieben wurde. Und dass darin am Ende auch –

Ja. Ja doch. Ich habe mittlerweile auch das Buch gelesen, das »Malina« heißt. Und ich weiß, dass darin –

Meine Mutter besaß dieses Buch nicht. Vielleicht hat sie es besessen und es ist ihr, wie auch immer, abhandengekommen. Ich habe mit meiner Mutter nie über das Buch gesprochen, weil ich es selbst erst in die Finger bekam, also sie schon –

Ich wünschte, ich hätte es früher gelesen, dann –

Meine Mutter besaß, wie gesagt, nur Kochbücher. Und beherbergte die Lexikonbände meines Vaters.

Meine Mutter hat eigentlich niemals spanische Gerichte gekocht. Sie hat, wenn ich so darüber nachdenke, überhaupt niemals Gerichte aus den Kochbüchern gekocht. Jedenfalls habe ich sie nie auch nur in einem einzigen blättern sehen. Das fällt mir erst jetzt ein.

Hoits jetzt Bauer, de Mülch wiad sauer.

Okay. Beeilung jetzt. Bevor ich mich doch noch verliere.

Wichtig ist jetzt

die Einleitung.

Das ist noch immer die Einleitung.

Die Einleitung dauert schon viel zu lang. Du verzettelst dich, Prinzessin.

Ich bin keine Prinzessin.

Ich weiß.

Wichtig für die Einleitung ist:

Ich heiße Milena. Wie es dazu kam, habe ich erzählt.

Ich bin sechsunddreißig Jahre alt.

Ich bin geboren in Wien und lebe dort.

2. und 3. entnehme ich meiner Geburtsurkunde und meinem Meldezettel. Urkunden und Meldezettel lügen nicht.

Das denkst auch nur du.

Das muss ich denken. Das muss ich glauben. Das muss jetzt bitte so sein.

4. Ich habe eine Tochter.

5. Meine Tochter heißt Lotte.

6. Meine Tochter ist fünf Jahre alt und besucht einen städtischen Kindergarten.

4. bis 6. weiß ich sicher. Ich bin die Mutter dieses Kindes. Mütter wissen all das.

Ach, sag nur! Was Mütter nicht alles wissen!

Ich habe dieses Kind auf die Welt gebracht. Ich habe es seither jeden einzelnen Tag gesehen. Ich bringe es jeden Morgen in den Kindergarten und hole es jeden Nachmittag wieder dort ab. Ich weiß ganz sicher am allermeisten über dieses Kind.

Und der Vater?

Das ist eine andere Geschichte.

7. Ich war von Beruf Volksschullehrerin. Ich habe diesen Beruf aufgegeben.

8. Ich habe ein Studium der Rechtswissenschaften begonnen. Ich habe dieses Studium aufgegeben.

Ganz schön wankelmütig.

9. Ich arbeite jetzt als Rezeptionistin in einem Hotel.

Du bist fett geworden. Schau dich doch an.

10. Ich konsumiere keinen Alkohol und keine Drogen. Ich rauche nicht.

11. Ich habe bisher einfach nur versucht, ein besonnenes, ehrliches Leben zu führen und mein Kind, so gut und friedlich es in dieser Welt eben noch geht, großzuziehen.

LUFTALARM!

Weißt du eigentlich, wie gut es dir hier geht?

12. Seit die Kröte da ist, gelingt mir das vorne und hinten nicht mehr.

Ein Psychiater würde jetzt sagen: Ich nehme sehr viel Unsicherheit wahr. Zerstreutheit. Und auch Wut.

Natürlich bin ich unsicher. Natürlich bin ich zerstreut. Natürlich bin ich wütend.

Bist du vielleicht wütend auf deinen Vater? Vielleicht auch auf deine Mutter? Die Umstände deiner Zeugung und Geburt und deine gesamte Kindheit scheinen ja nicht leicht gewesen zu sein.

Bist du jetzt wirklich mein Psychiater, oder was? Ich bin nicht wütend auf meinen Vater. Ich kann nicht wütend sein auf jemanden, der nicht da war. Den ich kaum kenne. Den ich nicht vermisst habe. Ich bin auch nicht wütend auf meine Mutter.

Und wie geht's dir damit, dass deine Mutter gesagt hat, dass sie keine Freude empfand, als sie mit dir schwanger war? Dass sie nur deswegen keinen Abbruch vorgenommen hat, weil sie nicht einmal dafür Ressourcen hatte?

Ich sagte doch: Meine Mutter ist nicht das Problem. Ob du es glaubst oder nicht. Sie hat mich geliebt. Das weiß ich. Das habe ich gespürt.

Also wäre das Problem doch eher bei deinem Vater zu suchen?

Du machst mich wahnsinnig! Nein! Das Problem ist, wie gesagt, auch nicht mein Vater. Das Problem bist du!

Du, Kröte!

Bist du dir sicher, dass du dich hier nicht verrennst? Dass du nicht nur eine Ausrede suchst, um dich deinen eigentlichen Problemen nicht stellen zu müssen? Vielleicht gibt es mich gar nicht. Doktor Grimm wird sich schwertun, es für etwas anderes als ein Märchen zu halten, was du da verzapfst.

Ach, lass mich weitererzählen. Und ja: Es wäre mir tatsächlich sogar lieber, ich könnte hier sitzen und Märchen erzählen. Mich davontragen lassen. Mich darin verlieren. An das gute Ende glauben. Es wäre viel einfacher. Aber die Sache ist zu kompliziert, um ein Märchen zu sein. Und du, Kröte, bist in Wahrheit zu gefährlich, um mir nur als Ausrede zu dienen. Also werde ich dich jetzt weiter beschreiben. Damit du mir nicht entwischst.

HAUPTTEIL

Kapitel 1

In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön. Aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich wunderte, so oft sie ihr ins Gesicht schien.

Und das ist nämlich ein Blödsinn. Die Sonne wundert sich über gar nichts. Sie brennt blindlings und gnadenlos auf uns herunter. Sie fragt nicht nach Schönheit. Sie kann zerstörerisch sein.

Ich hatte also bereits einen Sonnenbrand im Gesicht, als ich zum ersten Mal auf die Kröte traf.

Und ich möchte anmerken: Daran war die Kröte nicht schuld, sondern natürlich ich selbst. Man kann sich gegen Sonnenbrand schützen. Doch wer denkt daran, nach einem langen Winter, an einem ersten hellen Tag. Wenn das Gesicht nur für Augenblicke von der Sonne gewärmt wird. Wenn, die Augen geschlossen, einmal nichts als nur diese Wärme zu spüren ist. Für ein paar Momente wenigstens das, was, wenn ich mich richtig erinnere, Genuss genannt wird. Oder Leichtigkeit.

Ich hatte an Sonnencreme schlicht nicht gedacht. Und dass die Sonne schon so stark sein könnte, um diese Jahreszeit. Und was, in Wirklichkeit, alles daran hängt, warum das so ist, die Erdatmosphäre, der CO2-Ausstoß, der Treibhauseffekt, die fossilen Brennstoffe, wem sie gehören, zu welchem Preis die – und so weiter und so fort.