Linke Daten, Rechte Daten - Tin Fischer - E-Book

Linke Daten, Rechte Daten E-Book

Tin Fischer

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Beschreibung

Warum wir nur sehen, was wir sehen wollen – und was das für die Wahrheit heißt  Sind Ausländer die kriminellste Gruppe in Deutschland oder Männer? Explodieren die Krisen auf der Welt oder war es früher noch schlimmer? Sind die Deutschen reich oder ist die Mehrheit nicht vielmehr unterprivilegiert? In diesem ebenso erhellenden wie unterhaltsamen Buch zeigt Datenjournalist Tin Fischer, dass man längst keine Statistik mehr fälschen muss, um die öffentliche Meinung nach den eigenen Überzeugungen zu beeinflussen. Anhand vieler verblüffender Beispiele zeigt er, wie völlig unterschiedlich sich die gleichen Daten interpretieren lassen, je nachdem, ob man als Betrachter politisch rechts oder links steht. Ob Migration, soziale Gerechtigkeit oder Umweltthemen: Was bedeutet es für den Einzelnen, für die Gesellschaft, die Medien und die Politik, wenn die Wahrheit immer nur im Auge des Betrachters liegt? In einer zunehmend unübersichtlichen Welt werden sie immer wichtiger: Statistiken sind das Mittel der Wahl, um die Wirklichkeit scheinbar unverfälscht abzubilden. Dieses verblüffende Buch zeigt, warum wir in Statistiken aber immer nur das sehen, was wir sehen wollen – und andere etwas völlig anderes darin erkennen.

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Tin Fischer

Linke Daten, rechte Daten

Warum wir nur das sehen, was wir sehen wollen

Hoffmann und Campe

Einleitung

Teil 1Gesundheit

Geld oder Lebenserwartung!

Beginnen wir mit einer guten Nachricht: Es geht der Menschheit so gut wie noch nie! Immer mehr Menschen gehören zur globalen Mittelschicht. Aber auch den Ärmsten geht es immerhin ein bisschen besser. Immer weniger Menschen leiden unter Hunger und extremer Armut. Immer mehr Menschen haben Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die Kindersterblichkeit nimmt immer weiter ab, Kinderarbeit wird immer weniger. Seuchen wie die Pocken sind ausgerottet. HIV kriegen wir langsam in den Griff. Es sterben immer weniger Menschen bei Verkehrsunfällen. Ja sogar Krieg fordert immer weniger Todesopfer.

Zoomt man aus all diesen Entwicklungen heraus, sieht man die vielleicht wichtigste Statistik der Welt, weil sie ein Gradmesser dafür ist, wie es den Menschen geht: die ständig steigende Lebenserwartung. Nicht nur im Westen steigt sie, nicht nur in China, überall auf der Welt. COVID-19 verursacht zwar gerade einen Einbruch, wie es ihn historisch immer mal wieder gab, der große Trend aber ist eindeutig. Es geht aufwärts. (Abb. 3)

Lange wurden Zahlen wie diese kaum beachtet. Sie standen nur in schwer zugänglichen Datenbanken und Berichten der Vereinten Nationen. Lediglich Experten hatten Zugang dazu, und die Öffentlichkeit interessierte sich ohnehin kaum dafür. Doch dann, 2006, hielt ein schwedischer Professor für Internationale Gesundheit, Hans Rosling, einen TED-Talk. Bei der Vortragsreihe (die Abkürzung steht für »Technology, Entertainment, Design«) präsentieren smarte Leute verblüffende »Ideen, die verbreitet werden sollten«. Der schon etwas ältere Rosling war mit seinem Karohemd und dem braunen Wollpulli ein ungewöhnlicher Gast. Und auch was er entwickelt hatte, war weder eine neuartige Künstliche Intelligenz noch eine geniale soziologische Idee, wie man sie sonst bei TED-Talks erwartet, sondern eine mausgraue Software mit einem Namen, der eher nach einem Beruhigungsmittel klang: Trendalyzer. Man konnte mit ihr all die drögen UN-Zahlen in bunten Flächen visualisieren und animieren.

Doch es war die Art, wie Rosling diese Zahlen präsentierte, die aus dem Vortrag einen viralen YouTube-Hit machte, als es das Wort dafür noch nicht mal gab. Der Schwede rannte vor seiner Leinwand hin und her und kommentierte aufgeregt wie ein Sportreporter die sich bewegenden Grafiken. Wie die Kindersterblichkeit dank steigender Pro-Kopf-Einkommen überall auf der Welt immer weiter sinke und sinke und wie die sogenannten Entwicklungsländer längst den Anschluss an die Industrienationen gefunden hätten. Nur wüsste das niemand! Die Daten lagen ja bislang versteckt in den Archiven. Frage man selbst die klügsten und gebildetsten Menschen, erzählte Rosling aufgeregt, würden sie positive Entwicklungen wie diese immer völlig falsch einschätzen. Sie hätten ein viel zu pessimistisches Bild von der Welt. Er scherzte, dass selbst seine »schwedischen Top-Studenten statistisch signifikant weniger über die Welt wissen« als Schimpansen, die einfach nur raten. Der Vortrag erhielt den Titel »The best stats you’ve ever seen« – die besten Statistiken, die du je gesehen hast.

So wie Rosling hatte noch keiner über Statistik gesprochen. Schon gar nicht über Daten der UN. Und erst recht nicht über Daten wie die zur weltweiten Kindersterblichkeit. In gewisser Weise war Rosling ein Datenjournalist, bevor es uns Datenjournalisten überhaupt gab. Der Erste, der trockene Zahlen ausgrub und eine Geschichte damit erzählte. Und so eine ganz neue Art entwickelte, die Welt zu sehen.

Aber dann passierte etwas Sonderbares. Der Professor mit dem Wollpulli und dem rudimentären Computerprogramm, der anscheinend nur die nackten Fakten präsentierte, erhielt über die Jahre eine unerwartete Gefolgschaft: Marktliberale. Hatte das »inspirierende Denken« seines TED-Talks noch BMW gesponsert, schien man nun vor allem im Silicon Valley von Roslings Diagrammen angetan. Kein geringeres Unternehmen als Google erwarb seine Software, um diese Zahlen – und ihre gute Botschaft – noch effektiver in die Welt hinauszutragen, als es Rosling in seinen Vorträgen bereits tat. Bill Gates wurde Roslings zweitprominentester Fan (hinter Barack Obama), pries dessen Buch als eines der wichtigsten, das er je gelesen habe, und als »unverzichtbaren Führer für ein klares Denken über die Welt«. Die Gates Foundation, so wie auch die IKEA-Stiftung, unterstützt bis heute Roslings Organisation Gapminder, die »niederschmetternde Ignoranz« mit einer »faktenbasierten Weltsicht« bekämpfen will, etwa indem sie Unterrichtsmaterial für Schulen bereitstellt.[10]

Auch in liberalen und konservativen Medien wurden Roslings Diagramme beliebt. Süffisant nannte einmal die FAZ die Botschaft, dass die Welt immer besser werde, eine »zutiefst erschütternde These«. Miesepetrige Linke kann man mit den Diagrammen jedenfalls sehr gut ärgern. Es sei ja nicht einfach eine Meinung, die Rosling vertritt, sondern es sei die »Empirie der Fakten, die für den Optimismus spricht«, hieß es einmal in der Welt. Dabei ist es nicht nur die Richtung der Entwicklungen, die Wirtschaftsliberale an Roslings Grafiken angesprochen haben dürfte, sondern auch das, was sie antrieb. Das Zauberwort heißt in Roslings Statistiken nämlich oft: Wirtschaftswachstum. Je höher das Pro-Kopf-Einkommen in einem Land, desto höher ist in der Regel auch die Lebenserwartung (Abb. 3). Und die Kurve der Lebenserwartung etwa steigt nach Jahrtausenden Menschheitsgeschichte just dann an, als die Industrialisierung und der Kapitalismus begannen und der angelsächsische Westen mit seinen Demokratien die Führung der Welt übernahm.

Diese Sicht ist weit verbreitet. »Jedes Mal, wenn in einem weiteren Land die Industrielle Revolution einsetzte, wurden Mittel für Investitionen frei und verbesserte sich die Organisationsstruktur der Gesellschaft. Und die Lebenserwartung stieg«, schreibt etwa der Geriater Rudi Westendorp von der Universität Kopenhagen, der Lebenserwartungen und Alterungsprozesse erforscht.[11] Der Prozess begann in Großbritannien im 19. Jahrhundert und setzte sich Land für Land fort.

So gesehen erzählt die steigende Lebenserwartungskurve, dass, wenn man den Menschen nur machen lässt und ihm die Möglichkeit gibt, sich frei zu entfalten, er immer neue Ideen finden und verbreiten wird, um das Leben zu verbessern. So wie einst James Watt, der schottische Erfinder, der mit seiner Weiterentwicklung der Dampfmaschine zu so etwas wie dem Wegbereiter der Industriellen Revolution wurde. Selbst als Sohn einfacher Eltern gelang es ihm, eine Maschine zu entwickeln, die manche reich machen sollte und zugleich unzählige Menschen von mühsamer Handarbeit entlastete.

Und noch etwas machten Roslings Grafiken deutlich: Lebenserwartung ist kein Nullsummenspiel. Sie muss nicht in einem Land sinken, um in einem anderen zu steigen. Zwar sind die Unterschiede zwischen den Lebenserwartungen groß. Aber der Trend ist für alle gleich.

Rosling war kein liberaler Provokateur, aber er stichelte gerne gegen »Journalisten und politische Aktivisten«, die mit ihrem Pessimismus ein viel zu negatives Bild der Welt verbreiten und damit den Menschen die Hoffnung rauben würden. Schaute man dagegen auf die Fakten – das Wort war zentral in Roslings Botschaft –, sähe man vieles anders.

 

Es gibt nur ein Problem mit dieser Erzählung: Sie ist nicht so einfach, wie Rosling und seine Anhänger uns glauben lassen. Folgen wir der Kurve und schauen einmal etwas tiefer, was die Lebenserwartung drückte und steigerte, wird das Bild komplizierter – und weniger wirtschaftsfreundlich.

Den ersten Widerspruch sieht man bereits, wenn man einen etwas differenzierteren Blick auf die Kurve wirft. Wo genau die Industrialisierung und der Kapitalismus beginnen, ist eine Frage der Definition. James Watt entwickelte seine Dampfmaschinen bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Maschinen begannen, das Leben leichter zu machen. Der Effekt auf die Lebenserwartung (man sieht es auf der weltweiten Kurve genauso, wie man es auf einer nationalen Kurve sehen würde): Null. Nichts.

Das eigentliche Wirtschaftswachstum infolge der Industrialisierung setzte erst Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Und der Effekt auf die Lebenserwartung war wieder: Null.

Würden wir die Kurve der Lebenserwartung nicht nur nach Ländern, sondern auch nach Regionen unterteilen, könnten wir noch etwas anderes sehen. In englischen Städten, wo die Industrialisierung als Erstes die größten Auswirkungen hatte und die Wirtschaft am stärksten wuchs, passierte mit der Lebenserwartung sogar das Gegenteil. Sie sank. Und würden wir die Kurven nach Ländern unterteilen, fiele auf, dass die Lebenserwartung hauptsächlich in Europa und Nordamerika stieg. Der Kolonialismus – fester Bestandteil der Industrialisierung und des frühen Kapitalismus – drückte in Teilen von Afrika, Indien und Südamerika die Lebenserwartung teilweise sogar unter dreißig Jahre.[12]

Diese Erkenntnis ist nicht neu. »Tatsächlich war in fast jedem historischen Fall der erste und direkteste Effekt von schnellem Wirtschaftswachstum eine negative Auswirkung auf die öffentliche Gesundheit«, schrieb bereits vor zwanzig Jahren der Historiker Simon Szreter von der University of Cambridge.[13] Szreter antwortete schon damals auf die provokante These des Medizinhistorikers Thomas McKeown, dass es das Wirtschaftswachstum und nicht die Medizin gewesen sei, die zur Steigerung der Lebenserwartung führte (nur in einem Punkt sollte McKeown recht behalten, aber sie wird Marktliberale nicht erfreuen, dazu gleich mehr).[14] Wenn sich etwas von Land zu Land wiederholte, wann immer die Industrialisierung einsetzte und die Menschen vom Land in die Stadt zogen, um in den Fabriken zu arbeiten, dann eine sinkende Lebenserwartung.[15]

Vor allem für Kinder waren die plötzlich boomenden Städte tödlich. Cholera, eine in Europa damals neuartige Durchfallerkrankung, ausgelöst durch eine bakterielle Infektion im Dünndarm, war eine dieser neuen Gefahren. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden europäische Städte immer wieder von Cholerapandemien heimgesucht, zuletzt Hamburg in den 1880er Jahren. Wie die Krankheit übertragen wurde, war unklar. Erst durch eine neue Form der Geodatenanalyse kam der Londoner Mediziner John Snow 1854 der Choleraübertragung auf die Spur. Er ermittelte, wo genau in der Stadt die Fälle auftraten, übertrug sie auf eine Karte und glich sie mit den Standorten der Pumpen verschiedner Wasserunternehmen ab. Trinkwasser- und Abwassersysteme waren damals nicht voneinander getrennt. Snows Karte des Viertels zwischen Oxford Street und Regent Street mitsamt der verzeichneten Punkte der Cholerafälle, die sich geisterhaft um eine bestimmte Wasserpumpe in der Broad Street scharten, gilt heute als Beginn der modernen Epidemiologie.[16] Den Beweis der Übertragung durch das Wasser lieferte später Robert Koch.

Snows Arbeit rückte etwas in den Fokus, das ganz wesentlich zur Steigerung der Lebenserwartung beitragen sollte: Hygiene. Doch die war teuer und ohne kurzfristigen Ertrag. »Aktivisten für ein öffentliches Gesundheitswesen hatten entdeckt, dass die Gesundheit verbessert werden konnte, indem man Abwasser von Trinkwasser trennte«, schreibt der populäre marxistische Autor Jason Hickel, wahrscheinlich der prominenteste und lauteste linke Kritiker von Roslings Diagrammen. »Aber ein Fortschritt in diese Richtung wurde durch die kapitalistische Klasse behindert statt befördert.« Immobilien- und Fabrikbesitzer hätten sich dem Bau neuer Anlagen widersetzt und sich geweigert, die Steuern zu zahlen, um die Arbeit zu erledigen.

Endlich Nichtraucherin

Wer mit seinem Verhalten für andere das Risiko zu erkranken erhöht, kann in seiner Freiheit eingeschränkt werden. Er oder sie darf zum Beispiel nicht mehr fliegen oder in ein Restaurant. Auch wenn diese Körperverletzung lediglich eine erhöhte Wahrscheinlichkeit ist, verletzt sie das Recht auf körperliche Unversehrtheit der anderen.

Nach zwei Jahren Pandemie sind solche Überlegungen normal geworden in der politischen Diskussion. Sie sind Teil der Frage, welche Rechte Menschen ohne COVID-19-Impfung haben sollen, weil die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemand anderem schaden, höher ist als bei Geimpften und weil sie das Gesundheitssystem im Schnitt stärker belasten. Doch diese Corona-Diskussionen, wie viel eigenes Risiko man selbst eingehen können soll und wie sehr man dabei andere gefährden darf, sind nicht so neu, wie sie scheinen. Es gab sie schon einmal: beim Rauchen, einer Art Pandemie, die sich in Zeitlupe vor uns abspielt.

Rauchen kann Lungenkrebs, Herz-Kreislauf- und diverse andere Erkrankungen verursachen. Es muss nicht passieren, aber das Risiko ist enorm. Das Lungenkrebsrisiko beispielsweise ist für einen Raucher über zwanzigmal höher im Vergleich zu einem Nichtraucher. Lungenkrebs ist heute eine der häufigsten Krebsarten, und Rauchen verursacht 85 Prozent seiner Todesfälle.[53] Aber auch Passivrauchen ist schädlich. Mit einer rauchenden Person zusammenzuleben oder zusammenzuarbeiten erhöht das Lungenkrebsrisiko beispielsweise um 20 bis 30 Prozent.[54] Obwohl immer weniger Menschen rauchen, ist das Problem noch lange nicht aus der Welt. Rund 127000 Menschen starben 2018 in Deutschland an den Folgen des Rauchens, das waren über 13 Prozent aller Todesfälle.[55]

Die Kurven der Zigarettenverkäufe und der Lungenkrebs-Inzidenzen gehören zu den eindrücklichsten der Epidemiologie (Abb. 5). Es sind dicke Rauchwolken, die für immer über dem 20. Jahrhundert hängen werden. Und sie stehen für grundsätzliche Konflikte unserer Zeit: Wissenschaft vs. Wirtschaft, Gesundheit vs. Genuss, Gruppe vs. Individuum.

Ein liberaler Blick auf diese Kurven sieht hier womöglich eine Frage der Eigenverantwortung. Dass das Leben nun mal gefährlich ist und es an jedem Einzelnen ist zu entscheiden, welcher Genuss einem welches Risiko wert ist. Ob wir Skifahren gehen oder Alkohol trinken, Fleisch essen oder Auto fahren, das geht den Staat alles nichts an, und er sollte es weder verbieten noch besteuern. »Meine Lunge gehört mir!«, brachte es 2007 ein Meinungsartikel bei der Deutschen Welle gegen das Rauchverbot auf den Punkt.[56]

Ein wirtschaftskritischer Blick auf die Kurven sieht das Werk einer großen Manipulation. Dass Rauchen Lungenkrebs verursacht, belegten solide Studien bereits in den fünfziger Jahren, manche sogar noch früher. Aber eine ruchlose Tabakindustrie versuchte mit perfiden Marketingtricks und gekaufter Pseudowissenschaft, die Öffentlichkeit zu verwirren und gesetzliche Einschränkungen jahrzehntelang zu verzögern. So wie im satirischen Filmklassiker Thank You for Smoking beschrieben, in dem schmierige Lobbyisten Zweifel an wissenschaftlichen Erkenntnissen streuen, um das Geschäft der Tabakindustrie in Gang zu halten.

Ein grüner Blick sieht in diesen Kurven eine große Parallele zur Klimadebatte: Immer wieder werden in Bezug auf die Energiewende Vergleiche zur Diskussion um Zigaretten gezogen. »Jahrzehnte bevor die Energiewirtschaft versuchte, die Klimadebatte zu unterwandern, benutzten Zigarettenhersteller die gleichen Techniken, um die Verbindungen zwischen Rauchen und Lungenkrebs infrage zu stellen«, war etwa bei BBC News zu lesen.[57]

»Zweifel ist unser Produkt«, hieß es 1969 in einem berühmt-berüchtigten Dokument eines Tabakherstellers. Wie eine »neue Marke« sollte der Zweifel verkauft werden. Und das war der Tabakindustrie einiges wert: Mehr als 300 Millionen Dollar investierte sie in pseudowissenschaftliche Forschung, die Kontroversen simulieren sollte, wo längst medizinische Gewissheit herrschte.[58] Warnungen auf Zigarettenpackungen, Werbeverbote, Tabaksteuern und Rauchverbote wurden so um Jahre und Jahrzehnte hinausgeschoben.

Die Kurven erzählen aber noch eine andere, weniger offensichtliche Geschichte. Eine, bei der am Ende nicht mehr klar ist, wer links, wer liberal, wer wirtschaftskritisch und wer wirtschaftsnah ist. Es ist aber auch eine faszinierende Geschichte, die zeigt, wie Epidemiologie und Statistik unser Leben verändert haben.

Zigaretten waren ein Sinnbild für den Aufbruch und die Wirtschaftswunderjahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Lange hatten sie als Laster von sozialen Außenseitern gegolten. Nun symbolisierten sie Hollywoodglamour. In James Deans Mund hing die Zigarette immer so lässig, als gälte für sie keine Schwerkraft. In Deutschland hatte das eine doppelte Anziehung: Hitler war ein glühender Nichtraucher (beziehungsweise Ex-Raucher), der Rauchen als »Rassengift« verdammt hatte.[59] Als nach dem Zweiten Weltkrieg britische und US-amerikanische Gesundheitsbehörden beunruhigt feststellten, dass immer mehr Menschen an Lungenkrebs starben (siehe Abb. 5, die Zigarettenkonsum und Lungenkrebs-Inzidenzen in den USA zeigt, wo es einfacher ist, lange Zeitreihen nachzuzeichnen als im historisch fragmentierten Deutschland), verdächtigte kaum jemand das Rauchen. Es war einfach zu normal. In den USA rauchten 1955 mehr als die Hälfte der Männer und ein Viertel der Frauen.[60] Außerdem war es bislang vor allem die von Hitler finanzierte Forschung, die insistiert hatte, dass Rauchen Lungenkrebs verursachte. Sie galt als Nazi-Propaganda.

Mit allen möglichen Erklärungen fuhren die Experten auf, zum Beispiel: Weil die Fallzahlen vor allem in den Städten stiegen, könnte die Ursache die Luftverschmutzung sein. Die Vermutung war nicht abseitig, wir sprechen immerhin von einer Zeit, in der man zuweilen das Auto stehen lassen musste, weil man den Straßenrand nicht mehr sah. Oder war es die Sonne beziehungsweise der Mangel daran? Also der Nebel? Oder Röntgenstrahlen? Oder einfach die Grippe? Gegen das Rauchen sprach, dass Zigaretten oft nur die Pfeifen ersetzten; der Tabakkonsum hatte im Schnitt nur wenig zugenommen. Dass Zigaretten viel gefährlicher sein sollten, schien um 1950 wenig plausibel.[61]

Selbst die beiden britischen Medizinstatistiker Richard Doll und Bradford Hill von der London School of Hygiene and Tropical Medicine, die der schleichenden Lungenkrebsepidemie auf den Grund gehen sollten, waren Raucher. Hill und Doll machten also das, was aus heutiger Sicht naheliegend ist: Sie befragten Krebspatienten in Krankenhäusern nach ihren Lebensgewohnheiten. Solche Fall-Kontroll-Studien waren noch selten, und dass die Befragung überhaupt einen medizinischen Nutzen haben könnte, daran gab es Zweifel.