Lion Feuchtwanger - Reinhold Jaretzky - E-Book

Lion Feuchtwanger E-Book

Reinhold Jaretzky

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Beschreibung

Lion Feuchtwanger (1884 – 1958) ist der unangefochtene Meister des modernen historischen Romans, mit "Jud Süß" schrieb er einen Klassiker der Weltliteratur. Der in München geborene, aus einer deutsch-jüdischen Familie stammende Schriftsteller musste 1933 Deutschland verlassen und fand in den USA Zuflucht und ein neues Publikum. Der solide Erzähler, von Bertolt Brecht als einer seiner "wenigen Lehrmeister" bewundert, schuf mit seinen Romanen über Josephus Flavius, Francisco Goya, Jean-Jacques Rousseau und Benjamin Franklin ein kulturgeschichtliches Panoptikum, dessen historischer Scharfsinn und literarischer Reiz bis heute anhält.

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Reinhold Jaretzky

Lion Feuchtwanger

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Über dieses Buch

Lion Feuchtwanger (1884–1958) ist der unangefochtene Meister des modernen historischen Romans, mit «Jud Süß» schrieb er einen Klassiker der Weltliteratur. Der in München geborene, aus einer deutsch-jüdischen Familie stammende Schriftsteller musste 1933 Deutschland verlassen und fand in den USA Zuflucht und ein neues Publikum. Der solide Erzähler, von Bertolt Brecht als einer seiner «wenigen Lehrmeister» bewundert, schuf mit seinen Romanen über Josephus Flavius, Francisco Goya, Jean-Jacques Rousseau und Benjamin Franklin ein kulturgeschichtliches Panoptikum, dessen historischer Scharfsinn und literarischer Reiz bis heute anhält.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Über Reinhold Jaretzky

Reinhold Jaretzky, geb. 1952, Dr. phil., studierte Germanistik und Sozialwissenschaften in Marburg und Hamburg. Von 1985 bis 1990 DAAD-Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Rom «La Sapienza». Buchveröffentlichungen u.a.: Bertolt Brecht. Der Jasager und der Neinsager, Frankfurt a.M. 1991; «Interimsästhetik». Franz Mehrings früher Versuch einer sozialgeschichtlichen Literaturbetrachtung, Frankfurt a.M. 1991. Für «rowohlts monographien» schrieb er den Band über Bertolt Brecht (2006). Als Journalist arbeitet er seit 1990 für die TV-Kulturmagazine «aspekte», «titel, thesen, temperamente» und «Kulturzeit». Er ist Autor zahlreicher Dokumentarfilme, u.a. über Friedrich Hölderlin, Friedrich Nietzsche, Kurt Masur, Richard Strauss, Umberto Eco, Alexander Kluge.

Ein Dichter ohne Mythos

Der Schriftsteller L.F. konnte in der Stunde bis zu 7 Seiten Schreibmaschine schreiben, bis zu 30 Zeilen schriftstellern und bis zu 4 Zeilen dichten.[1] Lion Feuchtwanger ist ein Schriftsteller ohne Mythos, er betreibt Schreiben als Beruf, mit großem Erfolg. Er ist ein moderner Literaturproduzent mit einem perfekt ausgestatteten Büro, Thomas Mann zufolge «die dienlichste, bestorganisierte literarische Werkstatt, die mir je vorgekommen ist»[2]. Da gibt es «die abwechslungsreichen Schreibtische, einer um im Liegen zu schreiben, ein anderer um sitzend zu schreiben, ein dritter zum Stehen, und die prächtigen Schreibutensilien, die verschiedenen Schreibmaschinen, die Batterie von Federn, Bleistiften, Radiergummis, die erlesene Qualität des Papiers»[3].

Für ihn ist Schreiben planmäßig organisierte Arbeit, nach einem festgelegten Tagesablauf, mit einer dienstbereiten Sekretärin zur Seite und einer Bibliothek von 25000 Bänden im Rücken. Ebenso wichtig wie seine dichterische Phantasie ist ihm dabei eine hochentwickelte Schreibtechnologie: Er diktiert seine Bücher. «Er diktiert sie bereits in embryonalem Zustand, die ersten Gedanken und Erwägungen darüber, die Skizzen der Charaktere, die Alternativen der Handlungsführung, die er prüft, zwischen denen er schwankt, – es ist eine Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte, ein kreativer Monolog, halb Werk schon, halb noch Sinnen darüber, was da stenographisch niedergelegt wird, und all das umgibt ihn, wenn es zum Letzten kommt, verschiedene Fassungen der Erzählung schwarz auf weiß – auf bunt vielmehr; denn sie sind auf blauem, grünem, braunem, rotem Papier geschrieben und auch noch numeriert, die sukzessiven Stadien anzeigend, die das Werk diktatweise durchlaufen hat, und die alle von ihrem Besten hergeben müssen, nun, da es endgültig in Form gebracht wird.»[4]

Er versteht sich auf das Handwerk der Literatur. So entsteht ein umfangreiches Œuvre von Romanen, Dramen, Essays, er wird weltberühmt. Fröhlich arbeitet er bis zum Schluss – an der amerikanischen Westküste in der Nähe der Traumfabrik Hollywood, der letzten Station seines Exils. Die Freunde sind tot oder in die deutsche Heimat zurückgekehrt. Ihm bleiben als Gesprächspartner seine Bücher und seine Romanhelden, er lebt mit Goya, Rousseau und Raquel, der Jüdin von Toledo. Er denkt sich zurück in die vergangenen Jahrhunderte, wie er es immer getan hat. Er erfindet Geschichte, wahrheitsgemäß – ein Aufklärer und geschulter Philologe. An Ideen fehlt es ihm nicht: Ich ersticke geradezu in den Stoffen, die ich noch schreiben möchte. Es sind nicht vierzehn, wie ich oft zu behaupten pflege, es sind hundertvierzig, und durchschnittlich erfordert ein Buch zwei Jahre strenger Arbeit.[5] Er stirbt 1958, während der Arbeit über ein Thema, das er zu seinem Thema gemacht hatte: die historische Dichtung. Hier erreicht der gewissenhafte Romanschreiber sein selbstgesetztes Ziel nicht mehr.

Elternhaus, Schule, Universität: «Ein verzweifelt enger Rahmen»

Eine wohlhabende Fabrikantenfamilie, ein besseres Wohnviertel der Provinzhauptstadt München, eine Zeit, die in der Geschichte als die goldenen Jahre der Sicherheit verzeichnet ist, ein junges Elternpaar, das ihrem ersten Zögling entgegensieht – das sind die Gegebenheiten seiner Geburt am 7. Juli 1884. Den jungen Lion Feuchtwanger erwartet eine Atmosphäre bürgerlicher Geordnetheit und Kultiviertheit und dazu die Enge eines religiösen Familienlebens. Ich stamme aus einer jüdisch-orthodoxen Familie, die seit Geschlechtern in München und seit sehr alter Zeit in Bayern angesessen war.[6]

Der Name Feuchtwanger ist jüdisch, und hinter ihm steht Geschichte: Ein Pogrom hatte die jüdischen Bewohner des mittelfränkischen Städtchens Feuchtwangen im Jahre 1555 vertrieben, sie ließen sich daraufhin im süddeutschen Raum unter dem Namen «Feuchtwanger» nieder und taten sich notgedrungen in jenen Berufen hervor, die ihnen als Juden offenstanden: als Kaufleute und Gelehrte. Eine Statistik von 1950, die sechs Generationen des Feuchtwanger-Clans zurückverfolgt, findet unter den 1395 Familienmitgliedern als häufigsten Beruf den des Fabrikanten und des Kaufmanns, es folgen mit vierzig Prozent die akademischen Berufe, einen Industriearbeiter gibt es nicht.

In dieser Tradition wächst er auf. Eine Margarinefabrik sichert die Existenz der Familie. Der Großvater Elkan hatte sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts am Rande Münchens gegründet, schnell kamen Niederlassungen in Rumänien, Holland und sogar Ägypten hinzu. Sein Vater Sigmund, zunächst Geschäftsführer der Kairoer Niederlassung, ist ein gewissenhafter Kaufmann, jedoch ohne Leidenschaft, ohne das Pathos kapitalistischer Geschäftigkeit. Über Geld und Gewinn werden keine großen Worte gemacht. Die Bilanzen sind stabil, der Wohlstand ist gesichert, so findet sich Zeit für die schönen Dinge. Sigmund Feuchtwanger ist ein gebildeter Mann, ein ausgezeichneter Kenner der jüdischen Kultur und Geschichte, belesen in zeitgenössischer Literatur, ein bedeutender Sammler althebräischer Werke. In der Wohnung gibt es eine Lithographie, die Lessing, Lavater und Moses Mendelssohn beim Schachspiel zeigt. Der Vater nimmt sie wiederholt zum Anlass, den Kindern die Ringparabel aus Lessings «Nathan» zu erzählen. Die geistige Atmosphäre des Elternhauses, die Achtung vor der Bildung, der tägliche Umgang mit der reich ausgestatteten Bibliothek bereiten die literarische Neigung des Lion Feuchtwanger vor, und es wird kein Bruch sein, wenn er sich später von seiner kaufmännischen Herkunft abwendet. In diesem Vorhaben hat er die Unterstützung seines Vaters, und zwei seiner Brüder werden später ebenfalls auf literarischem Gebiet tätig sein.

Er wächst auf als Ältester unter neun Geschwistern, körperlich schwach und klein gegenüber den hochgewachsenen Familienmitgliedern. Das familiäre Klima ist kühl und distanziert. Die Geschwister mögen einander nicht, der Vater hält sich fern vom familiären Zusammensein, die Mutter, eine strenge, engherzige Frau von kleinstädtischer Herkunft, wacht pedantisch über die häusliche Ordnung. Über allem liegt das Reglement der Orthodoxie. Als er sechs Jahre alt ist, beginnen die schulischen Pflichten: Er besucht die Volksschule in Sankt Anna, anschließend das Münchner Wilhelm-Gymnasium, eine Anstalt von konservativem Geist: Ich wurde humanistisch erzogen, lernte lateinische und griechische Syntax, auch viele Zahlen aus der antiken Geschichte. Es war eine pedantische, nüchterne Ausbildung, ohne Zusammenhang mit dem realen Leben, ohne Sport, konservativ, patriotisch. Man lernte Mathematik und Verslehre nach der gleichen Methode, man lernte nach strengen Gesetzen deutsche, lateinische und griechische Verse schreiben.[7] Ironisch ergänzt er später: Es wurde im Laufe meines Unterrichts der Name Plato 14203 mal, der Name Friedrich der Große 22641 mal, der Name Karl Marx keinmal genannt.[8] So akademisch und reaktionär der Lehrkanon, so verbindlich die moralischen Tabus. Die Ausbildung in jenem Gymnasium, das man bis zum 19. Lebensjahr besuchte, war sehr prüde. Die Klassiker wurden in vorsorglich gereinigten Ausgaben gelesen. Alles, was mit Sexus zusammenhing, wurde ängstlich herausgeschnitten und vermieden. Es herrschte Disziplin, Würde, gipserne Antike, Heuchelei.[9] Er ist ein aufmerksamer, intelligenter Schüler. Bereitwillig erfüllt er die strengen Forderungen, manches wird ihm später von Nutzen sein. Die deutschen Aufsätze mußten nach genauen, aus der Antike übernommenen Regeln geschrieben werden; eh man den ganzen Stoff zusammengetragen hatte, durfte man nicht mit seiner Anordnung beginnen, und mit der Formulierung nicht, bevor man die Anordnung bis ins kleinste festgelegt hatte. Gefördert wurde die Freude am genauen Ausdruck und am genauen Wort und wir lernten einen lateinischen oder griechischen Satz an einem deutschen messen. Was ich dieser Schule verdanke, war die rechte Wertung und Würdigung des Methodischen, der gründlichen Planung bei jeder geistigen Arbeit.[10] Er liebt die humanistischen Fächer, vor allem das Sprachliche interessierte mich[11]. Mit Ehrgeiz bemüht er sich um formale Meisterschaft[12], er schreibt deutsche und lateinische Verse, fließend übersetzt er alte Sprachen, Französisch und Italienisch. Hier kann er sich Achtung verschaffen. Seine deutschen Aufsätze werden gelobt, und wenn für Schulfestlichkeiten Verse oder kleine Spiele zu schreiben waren, wandten sie sich an mich1[13]. Als Dreizehnjähriger schreibt er aus Anlass des 80. Geburtstags des Prinzregenten von Bayern sein erstes Stück: Ich hatte eine leichte Hand, und es geriet ein schönes, allegorisches Spiel … Es gefiel allen ausnehmend, die Zeitungen berichteten darüber ernsthaft und anerkennend, und der Rektor des Gymnasiums überreichte mir im Auftrag des Regenten eine Auszeichnung, eine Krawattennadel oder so etwas. Auch erschien das Spiel in einer Zeitschrift und ich bekam ein richtiges Honorar.[14]

Der schulische Erfolg ist für ihn eine heilsame Zuflucht vor einem Alltag, der ihn psychisch und körperlich belastet. Denn sein Leben ist dem rigiden Kodex der Orthodoxie unterworfen. Meine Eltern hielten darauf, daß ich die umständlichen, mühevollen Riten rabbinischen Judentums, die auf Schritt und Tritt ins tägliche Leben eingreifen, minutiös befolgte. Die strenge Einhaltung der Speisegesetze und der Sabbatgesetze, die vielen langen, täglich zu verrichtenden Gebete, der sehr häufige Synagogenbesuch, die zahllosen umständlichen Gebräuche spannten das Leben in einen verzweifelt engen Rahmen. Auch mußte ich unter Leitung eines Privatlehrers täglich mindestens eine Stunde dem Studium der hebräischen Bibel und des aramäischen Talmuds widmen. Da die Anforderungen des Gymnasiums streng und hoch und da meine Eltern für mich ehrgeizig waren, hatte ich es nicht leicht.[15] Sein Alltag beginnt mit der täglichen Bibelstunde um fünf Uhr. Er ist überarbeitet und häufig erschöpft. In der Schule ist er der Hebräer unter Katholiken. Man belächelt und verspottet ihn, wenn er mit den Sigmen der Orthodoxie auf seine Klassenkameraden trifft, wenn ihm am Sabbat das christliche Hausmädchen die Bücher nachträgt. Er ist innerlich zerrissen: Gründlich verschieden von den andern sieht er sich und vermisst bei ihnen die Vertrautheit mit allem, was jüdische Theologie[16] angeht.

Aber er ist auch keineswegs ein gläubiger Jude, der sich in seinem doktrinären Elternhaus heimisch fühlen könnte. Schon von meinem zehnten Lebensjahr tauchten mir Zweifel auf, ob es Sinn habe, jene Riten zu befolgen, die das Leben so ungeheuer erschwerten und mich zum Gespött meiner Mitschüler machten.[17] Doch sein Vater hat für diese Zweifel wenig Verständnis. Sein strenges Festhalten an den Bräuchen und sein unerbittliches Verlangen, daß auch ich sie befolgte, führte zu ständigen Zwistigkeiten.[18] Er registriert die Gebrochenheiten und Lebenslügen, zu denen der religiöse Lebensanspruch einen bayrischen Kapitalisten zwingt. Als Heuchelei muss ihm erscheinen, dass der Vater, um den Sabbat von Arbeit freizuhalten, den Betrieb von Freitagabend bis Montagfrüh formell an seinen Buchhalter verkauft. Die Feuchtwangers sind neben ihrer Orthodoxie vor allem Bayern. Wir sprachen zu Hause unser Deutsch mit dem gleichen breiten, kräftigen bayrischen Akzent wie alle andern.[19] Man trinkt Bier, und man denkt politisch konservativ. Ein naher Verwandter, der der Sozialdemokratie angehört, gilt als weltfremder Idealist, ein anderer, der pazifistisch denkt, als «Waschlappen». Am Ende seiner Schulzeit verbindet Lion kaum noch etwas mit dem Geist des Elternhauses. Seine Abwendung von der verordneten Religiosität ist jedoch keine Abwendung von der jüdischen Kultur. Es ist untertrieben, wenn er schreibt: Das frühe Studium des fremdartigen Lebens, das sich in der Bibel und im Talmud entfaltet, gab mir Verständnis für viele Lebensäußerungen, die mir sonst unverständlich geblieben wären.[20] Ohne die jüdische Thematik ist Feuchtwangers Literatur nicht denkbar. Er wird sein Leben lang an einer jüdischen Identität festhalten.

Ein Schritt in die Unabhängigkeit ist der Antritt des Universitätsstudiums. Um die Quellen des «orthodoxen» Lebens los zu sein, lehnte ich, sowie ich die Universität bezog, die Monatsrente ab, die mein wohlhabender Vater mir anbot, und zog es vor, mir meinen Lebensunterhalt durch Stundengeben und dergleichen zu verdienen.[21] Um Lebensunterhalt im eigentlichen Sinne handelt es sich allerdings nicht, denn er wohnt weiterhin im Elternhaus, er nimmt an den täglichen Mahlzeiten der Familie teil. Ich studierte nicht ohne Leidenschaft deutsche Philologie und Geschichte und befaßte mich mit einer gewissen Verbissenheit mit bibelkritischen Studien, schon um jene Orthodoxie völlig aus meinem Blute herauszuspülen.[22] Das Studium ist konservativ. Nicht das leiseste hört man von den gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingtheiten der Literatur. Sehr gründlich dafür lernte man Quellenkritik, Methodologie und Sprach- und Stilkunde.[23] Am Abschluss seines Studiums steht eine literaturkritische Dissertation über Heines «Rabbi von Bacharach». Sein Münchner Ordinarius Franz Muncker rät ihm zur Habilitation. Ja, er erklärte hinter meinem Rücken meinem Vater, daß ich als Hochschullehrer die denkbar besten Aussichten hätte – natürlich nur unter der Voraussetzung, daß ich mich taufen ließe. Ich lachte schallend über diese Anregung, nahm es hin, daß ich es als Jude höchstens zum außerordentlichen Professor bringen konnte und machte mich auf Munckers Betreiben und auf die dringlichen Bitten meines Vaters an die Ausarbeitung einer Habilitationsschrift … Bald aber nahm die Aussicht, jede Woche zu bestimmten Stunden bestimmte Vorträge halten zu müssen, mir jede Lust.[24] Er gibt das Habilitationsvorhaben auf, verlässt das Elternhaus und vertraut sich einem «freien» Leben an: Flüchtige Tätigkeiten wie Nachhilfestunden und journalistische Gelegenheitsarbeiten, darunter Theaterkritiken für die «Münchener Schauspielpremiere» sichern ihm ein Auskommen für den nächsten Tag. In diesen Jahren ging es mir wirtschaftlich sehr schlecht, ich habe viel gehungert und war häufig auch ohne Wohnung.[25] Er ist auf der Suche nach einem Leben, das seiner literarischen Neigung entspricht. Die bayrische Residenz München hält dafür Angebote bereit. Allerdings macht Feuchtwanger ihr in einem Rückblick diese Qualität streitig: Es war nicht viel echt an dieser Stadt, eigentlich nur die Umgebung, die schönen staatlichen Bilder- und Büchersammlungen, der Karneval und wahrscheinlich auch, aber davon verstehe ich nichts, das Bier. Die Stadt hielt damals noch viel auf ihre Tradition als Kunststadt. Es war aber nicht weit her mit dieser Kunst. Vielmehr war sie eine akademische, wichtig-macherische, spießbürgerliche Institution, von einer zähen, dumpfigen und geistig nicht gut gelüfteten Bevölkerung im wesentlichen aus Gründen des Fremdenverkehrs beibehalten.[26] Immerhin ist München noch das geistig-kulturelle Zentrum des Deutschen Reiches und bietet dem jungen Feuchtwanger die Voraussetzungen für eine literarische Karriere.

Bohemien in Schwabing

Das Klima ist vergleichsweise liberal, Schriftsteller wie Heinrich Mann, Wedekind, Mühsam haben sich hier niedergelassen. Und es gibt die Schwabinger Boheme, die das künstlerische Leben der Stadt bestimmt. Sie bietet den Söhnen des Bürgertums Fluchtmöglichkeiten aus der Welt der väterlichen Wohlanständigkeit. Sie ist modern und antibürgerlich, sie setzt sich hochmütig über moralische Prüderien hinweg: In der Weltanschauung, in der Literatur, auf der Bühne jener Jahre waren alle Sexualfragen überbetont. Alle Geschehnisse der Welt wurden auf die Frau bezogen, in einem sehr feindseligen Sinn etwa von Strindberg, pathetisch und doktrinär von Wedekind, leicht sentimental von den Wienern, von Schnitzler und vom jüngeren Hofmannsthal, die es geradezu aussprachen: Liebe, Komödie und Tod seien Sinn und Inhalt des Lebens.[27] Feuchtwanger findet schnell Zugang zur ästhetischen Lebensstimmung dieser Zeit. Er liest die Dramen Wedekinds, Oscar Wildes «Salome», Heinrich Manns «Herzogin von Assy» («Die Göttinnen»). In der Musik herrschte Richard Strauss, auf der Szene triumphierte bunt, sinnlich und sehr gekonnt der Darstellungsstil Max Reinhardts. Und allgemein anerkannt war als künstlerisches Grundprinzip, daß es nicht auf das Was, sondern selbstverständlich nur auf das Wie der Darstellung ankomme.[28]

Es ist nicht nur die Kunst selbst, die ihn anzieht, es ist ebenso die Aura eines aus bürgerlichen Zwängen freigesetzten Künstlerdaseins, die Schwabinger Lebenskultur mit ihrer Unbeschwertheit, ihrem spöttischen Witz, ihrer Arroganz. Feuchtwanger lebt sich in diese Kultur hinein, er verkehrt mit Schauspielern, Regisseuren und Literaten. In jenen Jahren, sehr früh, lernte ich einige Schriftsteller kennen, die ich überaus hoch achtete, Wedekind vor allem und Heinrich Mann, und ich kam ihnen nahe. Vieles dessen, was sie lebten und schrieben, leuchtete mir ein, aber es war auch ersprießlich, mit ihnen zu streiten.[29] Er schreibt literarhistorische Abhandlungen vornehmlich für das gebildete und liberale Publikum der «Vossischen» und der «Frankfurter Zeitung».

Feuchtwanger führt das Leben eines Bohemiens, jedoch nicht im ursprünglichen Sinne einer verächtlichen Abgrenzung vom offiziellen Kunstbetrieb, im Gegenteil: Er teilt nicht die Skepsis gegenüber dem literarischen Markt, lediglich empfängt ihn die literarische Öffentlichkeit noch nicht als Schriftsteller, wiewohl er sich darum bemüht. Er versucht es mit Prosa und Dramen. Ich machte viele literarische Experimente und suchte die mir gemäße Form zu finden. Ich schwankte hin und her zwischen realistischer Darstellung der Gegenwart und romantisch übersteigerter Schilderung der Vergangenheit. Die sprachliche Meisterschaft Hofmannsthals, Stefan Georges, Rilkes beeindruckte mich, auf der anderen Seite die realistische Psychologie Zolas, Schnitzlers und Ibsens.[30] Einige seiner Stücke werden aufgeführt, sie fallen allerdings mit Recht[31] durch. Zuerst ist er jedoch Theaterkritiker. Er gewinnt schnell einen Namen, er ist verwickelt in öffentlich ausgetragene Intrigen. Und es zieht ihn hin zu risikoreichen Unternehmungen. Er steht dem literarischen Verein «Phöbus» vor. Unter seinem Einfluss entscheidet man sich für die Stücke umstrittener Autoren. Wedekind, Strindberg, auch Hauptmanns «Pippa» gelangen hier zur Uraufführung. Er liebt provozierende, moderne Entscheidungen: Die alteingesessenen Münchner Schriftsteller und Rezensenten erklärten meine Tätigkeit für die Frechheit eines Jungen, der noch nicht trocken hinter den Ohren sei. Ich gewann manche Freunde und viele Feinde.[32]

Ein anderes Unternehmen ist die Herausgabe einer Halbmonatsschrift mit dem Namen «Spiegel», überaus artistisch und recht geschmäcklerisch[33]. Die erste Nummer erscheint 1908, und zu ihren Mitarbeitern gehören so bedeutende Literaten wie Max Halbe, Thomas Mann, Hermann Bahr, Jakob Wassermann. Die «Blätter für Literatur, Musik und Bühne», so der Untertitel, streben eine Vereinigung von diskursiver und intuitiver Kunstbetrachtung an, es sollen zwei Lichtquellen sich einen, die Strahlen wissenschaftlich-forschender, rein verstandesmäßiger Kritik und die Strahlen künstlerisch-impressionistischen, intuitiven Erkennens.[34] Zwar wird das Blatt noch im selben Jahr eingestellt, doch findet Feuchtwangers Tätigkeitsdrang schnell andere Aufgaben. Siegfried Jacobsohns «Schaubühne» verpflichtet ihn als ihren Münchner Bühnenkritiker. Er unterstützt das Theater Max Reinhardts, er porträtiert Schauspieler und liefert scharf zersetzende Angriffe gegen die Kultstätten reaktionärer Heimatkunst wie die Oberammergauer Festspiele. Er ist streitbar und unnachsichtig. Ich schrieb … ziemlich viele Rezensionen in jenen Jahren. In einem reichlich brillanten, fechterischen Stil, ziemlich bösartig. Ich habe manchem Manne wehgetan damals; denn ich wußte viel, ich war in den Ästhetiken mancher Epochen gut beschlagen, ich konnte, wenn ich wollte, recht scharf treffen.[35]

Er ist der Ästhetik seiner Zeit verpflichtet. Die ästhetisierende Lebensbetrachtung des Fin de Siècle hat auf den literarisch interessierten Bürgersohn, der um seine materielle Existenz wenig fürchten muss, nachhaltig gewirkt. Ihn interessiert nur das Wie der Kunst und: Ob jemand faulenden Käse schildert oder die schöne Helena, gilt gleich, wenn seine Schilderung nur Kunst ist.[36] Im Übrigen möchte der später engagierte Literat die Kunst weitab von aller Politik[37] wissen. Ein programmatisches Bekenntnis seiner literarästhetischen Überzeugung legt er 1908 in dem Aufsatz Zur Psychologie der Bühnenreform ab. Er teilt dort die Literatur des 19. Jahrhunderts recht schematisch in zwei Richtungen: in eine moderne kritizistische und in eine harmonisierend-idealistische, der seine ganze Abneigung gilt: sie liebt das Einfache, in sich Geschlossene, Gemüt- und Sinnvolle, das «Gesunde», und sie haßt das Zwiespältige, das Komplizierte, das «Kranke». Sie spricht gern und voll Überzeugung von höherer Einheit, von Totalität, Simplizität. Gefühl ist ihr alles. Sie sinniert und spintisiert gern: aber mit Kritik will sie sich nicht abgeben. Sie spricht häufiger von Herzen als von Hirn und immer mit Überzeugtheit. Sie liebt das Holzschnittartige, Dürerhafte, das Süße und das Derbe, das Herzhaftige und das Sinnige. Sie liebt große erhebende Symbole, die mehr zum Gemüt als zum Verstand sprechen. Sie liebt das Gutbürgerliche, den Sonntag, den Bratenrock, das Handwerk, das Feierliche, das Gravitätische, das Stille, das Ernste. Sie liebt alte ehrbare Trinkstuben, sonnige, versonnene Frühlingsmorgen, ehrenwerte Jünglinge und tugendhafte Jungfrauen, erfreuliche knusprige Gänsebraten, dann Märchen und Schnurren, das Vaterland, altnordische Mythen, die Natur – breite, langsame Flüsse vor allem und Mittelgebirg –, die Kinder und die lautere Wahrheit. Die Welt, die Schiller’s «Glocke» und seinen «Spaziergang» umspannt, ist ihre Welt, und was darüber hinausgeht, möchte sie am liebsten leugnen.[38] Sowenig er diese idealistische Traditionslinie schätzt, so sehr bekennt er sich zu einer kritizistischen und psychologisierenden Gegenrichtung. Diese andere Richtung liebt die Weltstadt, das rege, tosende Leben, das Moderne und Modernste. Den Komfort, die Verweichlichung, die tausenderlei Raffinements entwickelter Kultur. Das Nachtleben, die Eleganz, müde, intellektuelle Krawatten und erklügelte Geschlechtskitzel. Sie hat keine Pietät vor dem Schweiß ehrenfester Arbeit, ja, sie erdreistet sich, ihn als unästhetisch zu empfinden. Sie interessiert sich für den Menschen. Mehr als für die Natur und alle Metaphysik. Sie seziert die Empfindung und kritisiert selbst im Pathos und im Sentiment. Sie steht dem Volkstümlich-Naiven sehr fern und ist im Wesen esoterisch. Sie hält große Stücke auf eingehende Analyse. Sie ist im Innersten zwiespältig und ist sich wohl bewußt, daß sie zwei oder gar drei und vier Seelen hat: so klingt selbst ihr echtestes Pathos und ihr echtester Gefühlsausbruch leicht gewollt und ironisch.[39] Es sind die Attribute des Wiener Impressionismus und der Neuromantik, der Literatur Hofmannsthals, Schnitzlers, Rilkes, Georges, die Feuchtwanger hier engagiert vorträgt.

Nicht nur als Kritiker, auch als Verfasser von Dramen und Prosa ist er dieser Richtung verpflichtet. Unter dem Einfluß Oscar Wildes und der deutschen Neuromantik entstanden meine ersten Dramen, die mir einigen Erfolg einbrachten.[40] Feuchtwanger schreibt seit dem achtzehnten Lebensjahr. Er experimentiert, er imitiert. Die literarische Kritik nimmt wenig Notiz von seinen Ergebnissen. Schroff weist man ihn als Familienblattbegabung zurück. Er selbst will später von seinen literarischen Anfängen nicht viel wissen. Der gebildete und scharfsinnige Kritiker gibt seinen hohen Anspruch auf, wenn er in die Haut des Schriftstellers schlüpft. Er schreibt süßlich, an der Grenze zum Kitsch. Sein frühes Werk bezeugt seinen Drang zum Schreiben, es fehlt ihm jedoch der erlebte Konflikt, das innere Motiv. Die frühen erzählerischen und dramatischen Versuche kreisen um moderne philosophische Themen, um Fragen ästhetischer Lebenshaltung und Ethik. Geschmeichelt mag der an Eleganz und Form interessierte junge Feuchtwanger Nietzsches Appell an das Geschmacksurteil der ästhetisch Gebildeten gelesen haben. Aber Feuchtwanger ist auch Moralist genug, um der amoralischen Sentenz seine Zustimmung zu verweigern.

Die Ethik seiner jüdischen Erziehung und die Ideale des Humanismus – er zitiert Goethes Brüderlichkeitspathos gegen Nietzsches Eliteideal – reizen ihn zur Auseinandersetzung. Mit dem romantisierenden Titel Die Einsamen. Zwei Skizzen veröffentlicht er 1903 die erste Prosa. Die eine Geschichte erzählt die Biographie eines im Wahnsinn endenden genialen Irrlehrers, eine maskierte Nietzsche-Karriere: Von Wagner kam er auf Goethe, von Goethe auf Spinoza, von Spinoza auf den Egoismus, vom Egoismus auf die Moral, von der Moral auf Darwin, von Darwin auf die gesellschaftliche Ordnung – ein toller Wirbeltanz von genialen und wahnsinnigen Ideen.[41] Gleich in diesem ersten Prosastück findet sich ein Motiv, das sich in Feuchtwangers Werk stets wiederholt: der Aufstieg des Intellektuellen bzw. Künstlers zu Berühmtheit und Reichtum, ein «Kleine Leute»-Traum, den der Autor mit Erfolg ausleben wird und den er hier mit schülerhaftem Witz erzählt. Zwischen 1904 und 1905 entstehen sechs kleine Dramen, die ihren Stoff der altjüdischen Geschichte entnehmen. Zwei Einakter des zwanzigjährigen Autors, die neuromantische Tendenzen auf die Spitze trieben[42], werden noch im selben Jahr aufgeführt, sie erleben einen bösen Mißerfolg[43] und lassen ihn seine Ästhetik überdenken: Seitdem habe ich mich von der Neuromantik mehr und mehr abgewandt.[44] Zu einem gemäßigten Naturalismus[45] bekennt sich deshalb sein frühes Stück Der Fetisch, das zwei Jahre später erscheint. Die Welt eines esoterischen Künstlerdaseins wird darin moralisch verworfen. Theaterleute, Kritiker, Schriftsteller leben um eine Nietzsche-Büste herum in Selbstbespiegelung und Todessehnsucht. Das Einfache und Uninteressante ist hier nicht gefragt, in ästhetischer Gefälligkeit verschließt man sich vor dem wirklichen Leben: In meiner Ästhetik habe ich mir eine feste Burg gebaut, in der ich sicher bin vor jedem theoretischen und praktischen Zweifel[46], sagt einer der Bohemiens. Die menschlichen Opfer, die diese Existenz fordert, bleiben unberücksichtigt. Dass dieser radikale Ästhetizismus, dieser Gott, dem Du Dein Leben weihst, ein Moloch sein könnte, und die ganze sogenannte Weltanschauung nichts weiter als schlechte Schminke für den alltäglichsten, plattesten Egoismus[47], lässt Feuchtwanger dieser leichtfertigen Existenz entgegenhalten. Trotz dieser unverblümten Kritik bleibt allerdings noch Raum für eine stillschweigende Faszination durch die gefährliche Höhenluft der Ästheten. Zum Vorschein kommt ein Milieu, in das sich der Autor gerade mit Leidenschaft hineinzuleben beginnt. Seine gebrochene Sympathie endet mit seinem häufig zitierten moralischen Gebot: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu[48] – ein Satz, den er von den «Ich-Fanatikern» seines Dramas wiederum als Ethik für die deutsche Hausfrau[49] verhöhnen lässt.

Das Leben der Schwabinger Boheme ist ebenfalls Thema des ersten 1910 entstandenen Romans Der tönerne Gott