Lisa und das magische Schwert - Ellie Engel - E-Book

Lisa und das magische Schwert E-Book

Ellie Engel

4,8

Beschreibung

Eines Abends erzählte Lisa ihrer Tochter Maxima eine Gutenachtgeschichte. Diese belächelte die Fantasie ihrer Mutter und machte sich mit ihrem Vater über Lisas Harzsagen mit Hexen, Riesen, Zwergen und sprechenden Wesen lustig. Keiner der drei konnte auch nur ahnen, wie nah sie mit dieser Geschichte der Wahrheit waren. Zeitgleich begaben sich nämlich die Zwerge Sinith und Brokk auf einen ungewissen Weg über den Hexenstieg, um die Herrscherin Nympfjet zu finden. Diesen Weg lässt die böse Oberhexe Fedora Astarte vom Wurmberg aber nicht mehr aus den Augen, denn sie vermutet, dass die Zwerge etwas Kostbares mit sich führen und das will sie unbedingt haben. Gewissenlos streckt die Hexe ihre eisige Hand nach den Zwergen aus und nicht nur nach ihnen. Plötzlich findet sich die ganze Familie Lindner in einer Geschichte wieder, die unglaublich ist.

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Eine böse Hexe kennt keine Gnade …

„Vor vielen, vielen Jahren gab es in Thale eine Zwergenstadt namens Lähis. Unter Einheimischen wurde diese Stadt auch Zwergenrode genannt. Das hörte sich aber nicht so verträumt an, wie es in der Heimat der kleinen Wichtel wirklich war. Und so änderten die Zwerge den Stadtnamen und tauften den Ort auf Lähis. Diese Stadt stand in Mitteltor. Mitteltor deshalb, weil sich dieses Gebiet genau im Herzen des Harzes befand. Den Eingang zu dieser Zwergenwelt bildeten vier aus allen Himmelsrichtungen begehbare Tore, die in einem großen und sehr alten Mammutbaum versteckt waren. Bewacht wurden die Tore von vier Zwergen. Das Tor zum Süden bewachte Dienmidu. Der Zwerg Ziemelu schaute nach Norden, zum Westen sah Rietumi. Und den Osten beobachtete Austrimi.

Wer von diesen Zwergen durch die Tore hereingelassen wurde, durfte die überwältigende Schönheit des Waldes, in dem sich die Stadt verbarg, erleben. Er würde nie auch nur einen feinen Windhauch an seiner Wange spüren, weil alles friedlich ist. Kein Lärm, kein Gebrüll, kein Streit – weder in der Natur noch unter dem Volk, das die Stadt bewohnte.

Diese Stadt wurde persönlich von den Göttern beschützt. Denn die Zwerge in jener Stadt im Bodetal stellten die Schwerter und Schilde aus dem Eisen her, welches sie in ihren Bergen Tag und Nacht aus den Felsen schlugen. Es handelte sich um ein besonderes Metall, voller Zauber und Magie, und damit kein anderer dieses Edelmetall fand, legten die Götter eine Tarnkappe über diese Stadt, die sie vor Feinden und Dieben schützte. Gekühlt wurde das heiße, glühende Eisen mit dem Wasser aus dem Mittelteich, der in der Nähe der Schmiede lag. Außerdem besaß das Wasser Heilkräfte. Jeder Zwerg, der sich bei seiner Arbeit verletzte, legte sich in den Teich und seine Wunden, egal wie schwer sie waren, schlossen sich umgehend.

Die Zwerge lebten im Einklang miteinander. Denn es waren liebevolle und höfliche Zwerge, die in dieser Stadt wohnten und die keinen Schaden nehmen sollten. Auch wenn man den Zwergen manchmal nachsagt, dass sie hinterhältig und sehr gemein sein können, traf das auf die Zwerge in Thale nicht zu. Ganz im Gegenteil. Wenn sie um Hilfe gebeten wurden, dann waren sie auch nach harter Arbeit nie zu müde dazu …“

Abrupt wurde die Sage unterbrochen. Maxima schlug die Hände vor den Kopf und lachte sich kaputt. „Oh Mama, wer das glaubt, ’ne! Der ist echt noch ein Baby.“ Lisa schmunzelte. Sie konnte sich nur zu gut erinnern, dass sie es ihren Eltern mit Sagen und Mythen um den Harz ebenso nicht einfach gemacht hatte.

Lisas Tochter sprang ruckartig aus ihren aufgeschüttelten Kissen und hüpfte mit einem imaginären Schwert im Bett auf und ab. „Da, ihr Wichte, nehmt den Stoß und kämpft tapfer um euer Leben und Hab und Gut.“ Blitzschnell sprang sie auf die andere Seite ihres Bettes. „Aha, da kommen noch mehr aus dem Zwergenland. Auf ihren Zwergenponys trotzen sie todesmutig dem Feind. Hier bin ich …“ Mit einem Hechtsprung machte sie einen Satz mitten in Lisas altes Kinderzimmer und forderte die kleine Hexe, die viele Jahre leise im Fenster hin und her schaukelte, auf, sich zu ergeben. Lisa beobachtete vom Bett aus das Schauspiel, das ihre Tochter wieder putzmunter werden ließ.

„Erzähl weiter, Mami“, forderte sie auf.

„Ich glaube, Mia, für heute hast du genug mit den Zwergen gekämpft. Ab ins Bett, du kleine Hupfdohle.“ Lisa kürzte gern den Namen ab. Sehr früh zeigte sich, dass Maxima für das wilde Kind einfach zu lang ist.

„Oh menno, immer wenn es spannend wird.“ Sie sprang wieder zurück auf ihr Bett und ließ sich auf ihre Matratze fallen, die das Mädchen noch etwas auf und ab wippte. „Mama“, drängte Mia. „Nur noch ein klitzekleines bisschen.“ Erwartungsvoll klimperte sie mit ihren Wimpern und setzte eine weinerliche Miene auf. Sie wusste ganz genau, wenn sie solch einen Schmollmund zog, konnte ihre Mutter eh nicht lange zu ihrem Nein stehen. Und so war es auch.

„Okay, du Nervensäge. Dann wird aber geschlafen!“ Lisa war überrumpelt. Sie atmete tief durch und erzählte dann leise weiter. „In dieser Stadt wohnten zwei Zwerge, der eine hieß Brokk und der andere Sinith. Und diese beiden mussten sich auf den Weg machen, um die Herrscherin vom Klobenberg zu suchen, weil der König aus dem Zyklopenwald in großer Gefahr schwebte. Denn der König nahm einst einer kleinen liebevollen Hexe ein Versprechen ab, das jetzt eingelöst werden musste.“

Maxima grinste breit. „Wie doof ist das denn? Warum muss ein König im Märchen immer Versprechungen machen? Entweder verschenkt der seine Tochter oder Haus und Hof. Und wenn er nicht gestorben ist, dann verschenkt er heute noch.“ Mia hielt nichts mehr unter ihrer Bettdecke. Hellwach tobte sie darauf herum. „Ich kann ja die Geschichte weitererzählen. Dann hat die nicht so ein blödes Ende.“

Augenrollend gab Lisa ihrer Tochter ein Zeichen, schnellstens wieder unter ihrer Bettdecke zu verschwinden. „Hier wird nichts mehr weitererzählt. Hier wird jetzt geschlafen.“ Mit einem sanften Stoß ihrer Mutter ließ sich Maxima in ihre Kissen fallen. „Kannst ja davon träumen, wenn du unbedingt ein Ende haben willst“, riet ihr Lisa verschmitzt. „Vielleicht erscheinen dir noch Riesen und böse Hexen!“

„Na toll, da haste mich jetzt aber auf eine Idee gebracht. Oh menno, jetzt kann ich vor Aufregung gar nicht mehr schlafen!“ Maxima kräuselte ihr Näschen, wie es ihre Mutter immer getan hatte, wenn sie etwas ausheckte. „Ich kann ja die Geschichte mal nach meinen Vorstellungen weiterspinnen!“

Aber so weit kam es nicht. In dem Moment, als sie ansetzen wollte, drückte ihr Vater leise die Zimmertür auf und lugte grinsend in den Raum. „Na, sind meine kleinen Märchentanten mit den bösen Harzwesen für heute noch nicht fertig?“

„Papa.“ Maxima war mit einem knappen Anlauf auf die Arme ihres Vaters gesprungen und küsste sein Gesicht wild von einer Seite auf die andere.

„Nein, Schatz. Es ist heute wieder mal sehr schwierig, unsere Tochter mit deinen fantasielosen Genen zu überzeugen.“

Angestiftet von seinem Schalk suchte er den Blick seiner Tochter, die hinter dem Rücken ihrer Mutter bereits eine lustige Fratze zeigte.

„Mama wollte mir aber auch wieder eine Geschichte auftischen. Unglaublich. Von Zwergen, die in Thale Götterwaffen schmieden.“ Sie prustete vor Lachen lauthals los, dabei verleierte sie dermaßen ihre Augen, dass ihr Vater sofort lachen musste. „Oder hast du schon mal Zwerge gesehen, außer solchen, die aus Holz geschnitzt am Wanderweg stehen?“ Im Nu befanden sich Vater und Tochter wieder in ihrem Element. Sie machten sich gerne über Lisas Harzgeschichten lustig. Keiner der beiden glaubte an die Mythen, die man sich in ihrer Heimat erzählte. Teufel, Hexen, Riesen und Zwerge – das waren Hirngespinste, Ammenmärchen der Urbewohner des Harzes. Mehr nicht!

Mit Maxima, die wie ein kleines Äffchen an ihm hing, ging er zu Lisa und gab ihr einen Kuss. „Guten Abend, Schatz. Wie ich sehe, hast du unsere fantasiereiche Tochter anders inspiriert als zum Schlafen.“

„Ach, ihr beiden wieder. Lasst doch den Harz einfach mal auf euch wirken.“ Lisa versuchte, ihre Liebsten wie immer zu überzeugen. Doch je mehr sie sich verteidigte und ihre geliebte Heimat in Schutz nahm, desto mehr wurde sie von Ehemann und Tochter auf die Schippe genommen.

„Komm, Papa, lass mal wirken!“ Maxima presste ihre flachen Hände aneinander, äffte eine Meditation nach, räusperte dabei ihre Kehle frei und brummte ein tiefes „Oooohhhmmmmmm“. Alle im Zimmer mussten jetzt lachen.

„Ihr seid so blöd!“, warf Lisa wenig beleidigt ein und drängte ihren Mann aus Mias Zimmer. „So, Schlafenszeit. Licht aus und Feierabend. Heute ärgert mich niemand mehr.“ Als Lisa Mia noch einmal lieb zuzwinkerte, blieb ihr ein amüsiertes Blinzeln zwischen den beiden nicht verborgen. „Ihr könnt es nicht lassen, oder?“ Tief verletzt darüber, dass sie von ihren eigenen Familienmitgliedern offenkundig für verrückt erklärt wurde, fügte sie zickig hinzu: „Macht nur weiter so, wir werden sehen, wer zuletzt lacht.“ Mit diesen Worten löschte Lisa das Licht und brachte damit alle konsequent zur Ruhe.

Zur gleichen Zeit rief Zwergenkönig Brutas III. seine edelsten und mutigsten Lichtritter unter dem Mammutbaum zu sich. Mit sorgenvoller Miene stand er seinen tapfersten Kriegern gegenüber, dicht hinter ihm der einäugige Erbe des Königreiches der Zyklopen.

Brutas konnte man leicht übersehen, würde er nicht einen langen bis auf den Boden reichenden weißen Bart und das wasserblaue Mäntelchen, das vor dem braunen Umhang des Thronerben hervorstach, tragen. „Die Zeiten haben sich geändert, liebe Freunde.“ Brutas’ Gesicht war starr wie eine Maske, als er die Zwerge ansprach. „Mein Ruf beinhaltet keine guten Nachrichten. Wir stehen vor einem Krieg, der alle anderen Kriege in den Schatten stellen wird.“

Die beiden kräftigen Lichtritter schauten auf ihren König. Mit der rechten Faust klopften sie sich gegen ihre Brust, um anzuzeigen, dass sie seine Anordnungen, egal was er für sie bereithielt, furchtlos ausführen würden!

Brutas verstand die Geste und sprach weiter. „Ihr beide seid nicht umsonst ausgewählt worden. Der weiße Magier hat nächtelang orakelt, bis wir ganz genau wussten, dass wahrhaftig nur ihr zwei meine besten Männer seid!“

Der Ältere der beiden Lichtritter kniete nieder. „Euer Majestät, ich verstehe nicht ganz. Wozu der weiße Magier? Waren unsere Taten der Treue nicht genug Zeugnis?“

Der Zwergenkönig blickte in freundliche Augen und schluckte schwer. „Wir waren gezwungen, den Magier zu befragen!“ Man konnte ihm ansehen, dass ihm das, was er wusste und den Zwergen mitteilen musste, schwer zu schaffen machte. „Wir brauchen Männer, die rechtschaffen, treu und edelmütig sind und ein unbekümmertes Herz haben.“

Die Zwerge stupsten sich an und fühlten sich durch das Lob des Königs geehrt.

Brutas wurde unruhig. Nervös knetete er seine Hände. Er räusperte sich, ehe er die beiden offen aufklärte. „Bevor wir euch losschicken, wollten wir einen kleinen Einblick in die Zukunft haben. Denn es ist kein Auftrag als Friedensbotschafter. Ganz im Gegenteil! Er birgt hinterhältige Gefahren für euch.“ Um den fragenden Blicken seiner Lichtritter auszuweichen, sah Brutas auf seine Schuhspitzen. „Die Würfel sind dann eindeutig noch einmal auf euch beide gefallen. Auf meine mutigsten Männer in Lähis.“ Der Zwergenkönig ging auf sie zu und klopfte jedem Einzelnen anerkennend auf die Schulter. „Wenn ihr über den Hexenstieg geht, begleiten euch nur euer Vertrauen zueinander, eure Scharfsinnigkeit und eure Freundschaft. Niemand sonst.“

Als sie hörten, dass sie über den Hexenstieg geschickt werden sollen, stockte ihnen der Atem. Noch niemals war jemand aus Lähis über diesen gefürchteten Weg gegangen. „Ihr seid vollkommen sicher, dass wir wirklich die Einzigen aus Lähis sind, die zu diesem Weg berufen sind?“

Brutas nickte ernst. Jegliche Bedenken wurden damit für Sinith und Brokk ausgelöscht. „Es gibt an der Weissagung keinen Zweifel. Ihr beide müsst euch ganz allein auf einen ungewissen Weg machen.“

Sinith und Brokk sprangen sich gegen die Brust und meinten kraftvoll: „So sei es. Die Götter werden uns leiten!“

Erleichtert sah Brutas den beiden zu, wie sie sich gegenseitig an ihre aufgeblähte Brust sprangen. Dieser Sprung ist schon von jeher ein Zeichen des ungeteilten Kampfgeistes gewesen. „Gut“, meinte Brutas. „Dann werde ich euch nun den Grund nennen, warum und wofür ihr losgeschickt werdet.“

Der König ging einige Schritte auf und ab. Sinith und Brokk sahen ihm uneingeschränkt dabei zu. Seine schlagartig gebückte Haltung beunruhigte die Lichtritter. Plötzlich ahnten sie Furchtbares. „Euer Majestät?“, sagte Brokk und weckte den König damit aus seinen Gedanken.

Sofort streckte Brutas seinen Rücken. Es half ja nichts. Seine Lichtritter müssen erfahren, mit wem sie es zu tun bekommen. „Ich muss euch hinausschicken, um die Herrscherin vom Klobenberg zu finden und diese umgehend darüber zu informieren, dass das Schwert der Weisheit in großer Gefahr ist und wir dringender denn je ihre Hilfe benötigen.“

Brutas stockte mitten im Satz. Seine Worte steckten ihm förmlich im Hals fest. Sordolax griff ein. Dankbar schaute der Zwergenkönig den großen Prinzen an. Er hätte jetzt nicht gewusst, wie er seinen Kriegern berichten sollte, ohne dass ihnen angst und bange wurde.

Dem Riesen fiel es genauso schwer wie Brutas. Die Zwerge waren von jeher immer treue und gern gesehene Gesellen in dem berüchtigten Zauberwald. Der zukünftige König der Einäugigen ging weit in die Knie, um den beiden direkt ins Gesicht sehen zu können.

„Brokk.“ Er nickte dem Zwerg freundlich zu und drehte seinen Kopf dem anderen kleinen Mann entgegen. „Sinith! Wir hatten viele Jahre im Wald unsere Ruhe und unseren Frieden, nachdem die böse Brunnen-Walpurga vom Klobenberg durch ihre Nichte ihr Leben verlor. Doch im Laufe der Jahre wurde die Sage über ein magisches Schwert immer lauter. Zuerst schafften wir es noch, dieses Geschwätz als Märchen hinzustellen, aber eine sehr eifrige und intrigante Hexe schaffte es, einem meiner Männer mit einem hinterlistigen Zauber die Zunge zu lösen. Dumm war nur, dass sie etwas erfahren hat, was nicht der Tatsache entspricht. Seit dieser Zeit belagert sie unseren Wald. Die Heerscharen bitterböser Hexen um sie herum werden immer größer und brutaler. Viele Freunde habe ich schon außerhalb des Waldes verloren.“

Sordolax versank in sich und sah viele grausame Bilder. Todesschreie hallten in seinem Kopf und ließen ihn ungehemmt frösteln. „Dank einer bösen sowie guten Hexe liegt der einzige und wirkliche Schutz innerhalb des Dickichts. Kein Schattenweib kommt dort jemals lebendig wieder heraus.“

Er machte eine kurze Pause und hielt sich sein Vorrecht als Thronerbe vor Augen. Sein Vater überlieferte ihm schon sehr früh die wahre Geschichte des Zauberwaldes, denn eines Tages sollte er einmal König sein und seine Aufgaben und Gesetze, vor allem aber den Trumpf in Zeiten bitterer Not besonders gut kennen.

„Aber wenn das so ist, also wenn der Wald vor den Hexen sicher ist, dann verstehe ich jetzt die ganze Aufregung nicht!“ Brokk hatte sich leicht verneigt, um dem Königssohn trotz des Einwurfes seinen Respekt zu zollen.

Der nahm es dem kleinen Zwerg nicht übel. Hier ging es erst einmal nur um die Zwerge, denen eine Bürde auferlegt werden muss, deren Schweregrad nicht zu ermessen ist. Sordolax schnappte schwer nach Luft. „Selbst wir sind dem Fluch unterlegen. Wir können den Wald nicht verlassen. Eingesperrt wie Tiere in einem Käfig leben wir in unserem eigenen Wald. Ich konnte hierher fliehen, weil ich von meinem Vater den letzten Rest eines Zauberpulvers bekam, das mir die Möglichkeit schaffte, zu euch zu kommen und um Hilfe zu bitten.“

Sinith und Brokk waren erschüttert. „Stimmt“, sagte Brokk. „Wir haben uns immer gefragt, wieso die Zwerge den Kontakt aufrechterhielten und von den Riesen nie einer zu Besuch kam.“

Sinith nickte. „Ja, jetzt wird uns einiges klar! Welche Hexe hat euch denn verflucht?“

Sordolax’ trauriger und verstohlener Blick schweifte weit in die Vergangenheit. „Den todbringenden Fluch hat die alte Oberhexe Walpurga vom Klobenberg vor vielen Jahren zur Bestrafung ihrer eigenen Hexen ausgesprochen. Die Hexen fürchteten die Umgebung und den Fluch, der nur den Tod nach sich ziehen würde. Mit dem Wald sind wir Riesen genauso verflucht worden. Sobald eine verstoßene Hexe in unseren Wald kam, mussten wir sie, ob wir wollten oder nicht, wie eine Ameise zertreten. So war sich Walpurga ihres ungeteilten Gehorsams sicher, denn die Hexen fürchten diese Bestrafung!“

Die beiden Ritter schwiegen und harrten der Worte des künftigen Zyklopenkönigs. Sie verstanden immer noch nicht ganz, was König Brutas und der große Prinz von ihnen wollten. Da sie merkten, dass Sordolax mit seiner Geschichte noch nicht zu Ende war, zwangen sie sich, still zu sein und abzuwarten.

„Nur eine konnten wir aus dem Wald entrinnen lassen! Das hat sich herumgesprochen und nun versuchen die Hexen, unseren Wald auszukundschaften, um etwas Wertvolles in Besitz zu nehmen, was sie im Wald vermuten.“

Brokk konnte nicht mehr an sich halten und unterbrach ein weiteres Mal die Rede. „Ja, aber …!“ Demütig verneigte er sich, um ihm damit zu zeigen, dass er auch diesmal nicht vorlaut erscheinen wollte. „Wir helfen ja gerne. Aber wir sind Wichte, klein an Statur. Auch wenn wir kraftvoll unser Eisen bergen, sind wir nicht in der Lage, weder gegen eine noch gegen zwanzig böse Hexen einen Krieg zu führen.“ Er dachte kurz nach und führte weiter aus: „Vielleicht sind es ja auch Hunderte, die Zahl der Schattenweiber kann keiner genau nennen!“

„Ja, genau!“, warf Sinith treuherzig ein und trampelte unruhig auf seinen kurzen Beinen. „Wir sind klein.“

Sordolax lächelte leicht. „Ich weiß, meine kleinen Freunde. Ich weiß, dass wir euch einer großen Gefahr aussetzen müssen.“ Erschöpft schloss er sein Auge, das als einziges Mahnzeichen noch auf die böse grausame Hand der Oberhexe Walpurga hinwies. „Aber wenn ich das nicht täte, wären mein Volk, euer Zuhause und der ganze Harz für immer und ewig verloren. Ihr müsst die Herrscherin vom Klobenwald finden und mit ihr das Schwert der Weisheit. Ansonsten sehe ich für uns in den Zauberwäldern keine Zukunft mehr.“

Sordolax blickte ernst zu Boden, als die schwere Eichentür der Halle des friedlichen Geistes aufgedrückt wurde, in der sie sich versammelt hatten.

Diese Halle war etwas Besonderes. Liebevoll wurde sie von den Zwergen Rahu genannt, was Friede bedeutete. In diesem besonderen Raum fand die Sonne ein Zuhause, behaupteten die Zwerge. Die Halle Rahu war lichtdurchflutet, man konnte über die ganze Zwergenstadt ein Auge haben. Mittendrin stand eine große Tafel, an der sich alle Könige aus fernen Ländern zusammensetzten und sich berieten. Jeder König, der sie betrat, war beeindruckt von diesem leuchtenden Raum. Wenn die Sonne schien, erstrahlte die Halle, als wäre sie aus purem Gold. Denn egal welche Sonne wanderte, die morgige oder die im Mittagslauf, oder die roten untergehenden Sonnenstrahlen, alle wurden in dieser Halle von wunderbaren zigtausend Jahre alten Bernsteinen, die die Zwerge mühsam in den Bergen gehauen hatten, eingefangen und widergespiegelt! Rahu war, wie die Zwerge sie bezeichneten, mit den Tränen des Harzes liebevoll verziert.

Und weil die Sonne dort wohnte, hatten böse Gedanken und Handlungen keinen Zutritt. Ja, in dieser Halle konnte man sich vor Feinden verstecken, weil sie für böse Herzen unsichtbar war. Aus vergangenen Kriegen bildeten die Tränen des Waldes irgendwann einmal dieses Zimmer. Und weil die Götter der Edelsteine sehr dankbar waren für die uneingeschränkte Treue der Zwerge, legten sie auf Rahu einen besonderen Segen!

Nur wer die Zwergenstadt mit reinem Herzen besuchen will, wird diese Halle sehen. Und so konnte Rahu im Falle eines Krieges der unsichtbare Schutzpanzer für alle Bewohner der Stadt Lähis sein.

Immer weiter öffnete sich die Tür und ein freundlicher Zwerg mit einem Mäntelchen der Sonne gleich spähte herein. „Die Wildschweine Gunduar und Mimur sind gesattelt.“

Brutas machte eine Geste, die zeigen sollte, dass sie noch nicht so weit waren. Der Zwerg an der Tür verstand, verneigte sich und zog die Tür wieder geräuschlos ins Schloss.

„Die Wildschweine sind gesattelt? Aber wir haben noch so viele Fragen!“ Brokk wurde sichtlich nervös, auch wenn er zu einem der tapfersten Lichtkrieger aus Lähis gehörte. Die Kämpfe, die sie mit Zauberwesen ausgefochten hatten, konnte man lange nicht mit denen der Hexen vergleichen. Hexen wollten sie nicht zum Gegner. Weder sie noch ihre hinterlistige Art, nie gab es einen fairen Ausgang. Nie würden sie eine Niederlage akzeptieren, sofern so was überhaupt passierte! Hexen würden erst einen Krieg beenden, wenn nichts mehr an Zauberwesen erinnert.

„Auf welche Hexe müssen wir denn auf unserer Reise achten? Wie heißt sie?“ Brokk fürchtete sich gerade vor dem unangenehmen Gefühl in seinem Bauch. Mit gestrafftem Rücken signalisierte er dem König Heldentum, Furchtlosigkeit und Unerschrockenheit gegenüber dem Namen, welchen er auch immer gleich hören würde. Aber innerlich sah es ganz anders aus.

Sordolax räusperte sich. „Ihr dürft nie laut ihren Namen nennen. Sie hat euch bereits gehört, ehe ihr ein zweites Mal zwinkert. Auch ein leises Flüstern bringt nichts. Sie hat das Gehör eines Wolfes – und sie ist flink, wendig und geschickt wie einer! Mit dem Nennen ihres Namens erspäht sie Feinde und rottet diese aus, bevor sie auch nur eine Chance haben, mit ihr zu kämpfen. Sie hat denjenigen schon getötet, bevor die letzte Silbe ihres Namens ausgesprochen wurde.“

Wenn die beiden bis jetzt dachten, schlimmer kann es nicht mehr kommen, waren sie nun vom Gegenteil überzeugt.

Denn Sordolax’ Worte klangen mehr als warnend. Umsichtig legte er den Zwergen einen klitzekleinen Zettel, der zwischen den groben Fingern des Riesen gar nicht auffiel, vor die Füße. Auf dem Zettelchen stand in winzigen Buchstaben ein Name geschrieben: Fedora-Astarte vom Wurmberg.

Den kleinen Männern stockte der Atem. Die gesunde Röte ihrer Wangen wich nun dem Kreideweiß der Sorge. Die Boshaftigkeit dieser Hexe hallte die letzten Jahre weit in andere Länder. Sogar das Nichts wollte sich mit dieser Hexe nicht anlegen.

Wie angewurzelt standen sie mitten in der großen Halle und suchten nach einem Grund, diesen Weg nicht antreten zu müssen. Sinith sammelte sich als Erster. Er hatte genug gehört und gesehen und war auf keinen Fall lebensmüde. „Ja dann. Ich glaube, das müsst ihr ohne mich machen. Ich bin klein und mein Herz ist rein …!“ Prompt drehte er sich auf dem Absatz um und wollte schnell das Weite suchen.

Doch Sordolax war schneller. Mit spitzen Fingern griff er ihn an seinem Ledergürtel und hängte ihn zappelnd in die Luft. „Sinith. Du brauchst nichts zu fürchten. Ihr geht nicht ohne Schutzpatrone.“

Er forderte den Zwergenkönig auf, ein Tuch auf dem Tisch zu entfernen, das Gegenstände freilegte, die vorher mit bloßem Auge nicht zu sehen waren. Noch nicht ganz überzeugt, beäugten die Wichtel die Sachen auf dem klobigen Holztisch.

Plötzlich wurden das Netz der Unsichtbarkeit und das Horn der Taubheit für alle sichtbar. Mit aufgerissenen Augen begutachteten die Lichtkrieger ihre Waffen. Die beiden trauten ihren Augen nicht. Es waren die Waffen, die man nur aus den Wiegenmärchen der Zwerge kannte. Zauberwaffen, die der Zyklopenkönig angeblich von der Herrscherin vom Klobenberg bekam, weil er ihr das Leben schenkte. Mit offenen Mündern bestaunten sie die Zauberwaffen, die ihnen zur Verfügung gestellt wurden.

„Die Märchensagen sind wahr?“, stotterte Sinith und ging ehrfürchtig auf den Tisch zu. Nun doch unternehmungslustig nahm er jedes einzelne Teil nacheinander in die Hände. Er staunte nicht schlecht, dass seine Hände vollständig verschwanden, als er das Netz hielt. Auch Brokks Auflehnung gegen die böse Hexe vom Wurmberg löste sich in Wohlgefallen auf.

Erleichtert darüber, dass Mut und Tapferkeit wieder zu den Zwergen zurückkamen, betonte Sordolax stolz: „Ja, es sind die Geschenke von Nympfjet an meinen Vater.“ Liebevoll strich er über die ausgebreiteten Zauberwaffen.

Eine Weile schon begutachteten die Lichtritter ihre Schutzpatrone, als dem Prinzen auffiel, dass Brokk noch etwas Bestimmtes unter den Dingen suchte. Immer wieder hob er das Netz an, um das, was er scheinbar vermisste, zu finden.

Brokk drehte sich nach erfolgloser Suche stirnrunzelnd zu Sordolax und blickte ihm fest in sein Auge. Mutmaßend öffnete er seine kleine Hand mit der Innenfläche nach oben. „Dann … dann hast du noch etwas für uns“, sagte er feierlich und zwinkerte Sinith zu. Der Zwerg, nun überzeugt, freute sich mittlerweile auf ein Abenteuer, das mit solchen unterstützenden Gaben nur gut ausgehen konnte. Zweifel und Unentschlossenheit schienen vergessen. Er strotzte regelrecht vor Eifer, die Herrscherin vom Klobenberg zu suchen und ihr eine Botschaft der Treue zu übermitteln. Mit überschlagender Stimme forderte er Sordolax ein weiteres Mal auf: „Dir ist sicherlich entgangen, uns noch etwas zu geben, oder?“

Der Prinz nickte schmunzelnd und zog aus einem Lederbeutel ein langes spitzes Etwas heraus. Andächtige Stille herrschte in der Halle des Friedens. Bis ein Wispern, das wie ein schallender Donner klang, alle in die Gegenwart zurückholte. „Ich glaub das jetzt nicht“, kam es überrascht von Sinith, als er erkannte, was aus dem Beutel gezogen wurde.

„Der Zahn der Treue!“, flüsterte Brokk triumphierend und stupste Sinith mit dem Ellenbogen in die Seite.

Der Thronerbe des Zyklopenwaldes legte fast zärtlich den Zahn in Brokks Hand, der die Fläche fast ausfüllte.

„Ihr wisst, was der Zahn bedeutet?“ Der Prinz klang verunsichert.

„Ja natürlich!“, entrüsteten sich beide über die unnötige Frage. „Welcher Zwerg kennt nicht die Geschichte des Versprechens, welches sich die kleine Hexe Nympfjet und der Zyklopenkönig gaben“, erläuterte Sinith.

Sordolax und der Zwergenkönig sahen sich an. Besorgt ruhte ein einzelnes Auge auf dem Zwergenkönig. Der schüttelte wiederum kaum merklich seinen Kopf. Damit wollte er dem Prinzen sagen, dass die Männer nicht die ganze Wahrheit über den Zahn der Treue wussten. Nur das, was man sich hier in Lähis darüber schon viele Jahre erzählte: Wenn der Zyklopenkönig in Gefahr ist, soll dieser Zahn der Klobenberg-Herrscherin gebracht werden, damit sie zu Hilfe eilen konnte. Mehr wusste keiner.

Sinith und Brokk sahen sich unternehmungslustig an. Sie glucksten und kicherten. „Hast du noch Schiss?“, fragte Brokk Sinith, der von einem Beinchen auf das andere hüpfte.

„Schiss?“ Sinith fühlte sich ertappt und wurde rot. „Das kenne ich nicht!“, schwächte er ab. Seine Stärke demonstrierend packte Sinith seinen Freund an den Schultern. „Jetzt, wo ich weiß, dass unsere Mütter uns keine erfundenen Märchen aufgetischt haben, sondern alles wahrhaftig ist, mache ich mich umso stolzer auf den Weg, der Herrscherin vom Klobenberg den Zahn zu übergeben.“

Geschwind, um keine weitere Zeit zu vergeuden, steckten sie die Schutzschilde in ihre Taschen und malten sich die Zukunft mit der kleinen Hexe aus.

„Oh Mann, ich glaub das alles nicht! Die schöne Nympfjet gibt es wirklich.“

Verliebt in eine Hexe, die noch niemand wirklich gesehen hatte, schmiedeten sie Hochzeitspläne.

„Ich werde sie zuerst fragen, ob sie meine Frau werden will.“ Sinith straffte sich und wollte vor Brokk einen Kopf größer wirken.

„Nein, ich! Ich bin drei Tage älter als du.“ Brokk besann sich auf sein Ältestenrecht. „Ich wollte sie schon heiraten, da lag ich noch in den Zwergenwindeln …!“

„Ach nee. Wenn du nur drei Tage älter bist, in welchen Windeln lag ich dann, als ich Nympfjet heiraten wollte? In denen eines Greises?“

Fast schon zickig wie kleine Mädchen wollten sie sich bei Nympfjet gegenseitig ausstechen.

Bei dem Geplänkel der beiden entspannte sich der Zwergenkönig etwas. Ihm war es recht, dass seine Lichtritter etwas gefunden hatten, womit sie sich von dem gefährlichen Auftrag ablenken konnten. Sei es auch nur, um die Gunst zu erringen, die in jedem Fall etwas zu groß für beide ist …

Sordolax stellte sich zufrieden auf. „Dann müsst ihr euch nun sputen. Und achtet darauf, dass der Zahn nicht zu Schaden kommt. Sonst war euer ganzer Weg umsonst!“ Kurz darauf wurden die tapferen Lichtkrieger verabschiedet. Als Sinith und Brokk die Brücke unter dem Mammutbaum passierten, wurden Brutas’ Schultern wieder schwerer. Voller Sorge blickte er ihnen nach, als sie auf ihren Wildschweinen davonstürmten.

„Lass deine Augen nicht trübe werden, mein kleiner Freund“, tröstete Sordolax. „Es ist gut so, dass sie nicht wissen, wie wichtig der Zahn der Treue ist. Es sind manchmal belanglose Gegenstände, die man eher am Herzen aufbewahrt und darauf achtet. Bei Sachen von höchstem Wert ist es manchmal die Sorgsamkeit, die böses Unheil herbeiruft!“

Lisa stand in ihrer alten Küche mit einer Tasse heißem Tee in der Hand und blickte nachdenklich zu der uralten Bluteiche im Vorgarten.

Sie wusste nicht genau, sollte sie den Baum hassen oder von Herzen lieben. Ihre Empfindungen für den ollen Baum waren tief in ihr gespalten. Oft hatte sie das Verlangen, diesen Baum aus dem Garten zu entwurzeln und kurz und klein zu hacken – und dann wieder zu hegen und zu pflegen und sich über die Erhabenheit seiner Krone zu erfreuen. Die unterschiedlichen Gefühle, die sie für den borkigen Baum hegte, erschreckten sie von Tag zu Tag mehr. Es ist doch nur ein Baum mit dicken, stark verschlungenen Wurzeln tief in der Erde. Mehr nicht, oder? Lisa seufzte unbemerkt. Sie sah wie hypnotisiert auf die wuchtigen Äste, die sich mit ihren saftigen und prall gefüllten Blättern im leichten Wind fast tänzelnd hin und her wiegten. Sollte das vielleicht eine Antwort auf ihre Bedenken sein? Wollte ihr die alte Eiche damit sagen, dass sie sich um den Baum keine Sorgen machen muss? Allein um ihre Nerven zu beruhigen, würde sie das gerne glauben. Aber das Für und Wider hielt sich exakt die Waage. Natürlich war sie wunderschön anzusehen. Blutrote Blätter umgaben ihr Haupt. Der dicke, borkige, tief rillige Stamm war felsenfest mit der Erde verbunden. Standhaft, dominant und geheimnisvoll überdachte er stolz den Garten. Doch bei Lisa weckte dieser fest verankerte Baum das ungute Gefühl, dass dieser ein schreckliches Geheimnis in sich trägt. Vielleicht war das alles albern und irgendwelchen Hirngespinsten entsprungen, die ihr auf diesem Wege unruhige Gefühle einreden wollten. Sie wohnte schließlich schon dreißig Jahre neben dieser alten Eiche, die wie sie mit dem Harzer Land verwurzelt war. Aber trotzdem wirkte der Baum auf sie, als könnte er unschöne Geschichten erzählen. Seine Geheimniskrämerei und sein dennoch protziger Stolz ließen ihr schon Ewigkeiten eine Gänsehaut rauf und runter huschen. Plötzlich wurde sie aus ihren nagenden Zweifeln gerissen. Hä? Was war das denn? Sie öffnete die Terrassentür, die von der Küche in den Garten führte, als es hinter der Garage zum zweiten Mal polterte.

„Ppsstt, nicht so laut, Papa“, hörte sie Mia ihren Vater ermahnen.

Lisa schmunzelte und schüttelte ihren Kopf. „Diese Gauner hecken doch schon wieder etwas aus“, stellte sie amüsiert fest. Langsam ging Lisa in die Hocke, um die beiden zu beobachten. Wie Einbrecher liefen sie auf Zehenspitzen über den Rasen und suchten für irgendetwas ein kuscheliges Plätzchen. Was machen die da?, fragte sich Lisa neugierig.

„Hier, Mia“, rief Maximas Papa. „Den einen stellen wir hierhin.“ Maxima rannte gebückt zu ihrem Vater und kicherte.

„Ja, der Platz ist toll. Und der andere, wo soll der denn hin?“

„Da, unter die Tanne am Jägerzaun. Und vergiss nur nicht, ihm sein Namensschild umzuhängen.“ Er beobachtete seine Tochter, die wie ein Wiesel unter die stacheligen Nadeln kroch und einen bunten Zwerg unter piksenden Ästen platzierte. „Wie heißen die Vögel noch mal?“

„Sinith und Brokk!“ Maxima kugelte sich vor Vergnügen. Auf das Gesicht ihrer Mutter war sie ungemein gespannt. Auf allen vieren kam sie unter der Tanne hervor und pulte sich die abgefallenen Nadeln aus den Handflächen. „Vögel. Das sollte Mama mal hören, die würde uns gleich wieder ermahnen, dass man Harzwesen nicht beleidigt!“ Mit erhobenem Zeigefinger und verstellter Stimme äffte sie die Strenge ihrer Mutter nach. „Unter den Wesen des Harzes, Mia, gibt es feinfühlige, hilfsbereite und freundliche. Aber auch welche, die dir schaden können. Also sei auf der Hut und geh mit der Natur liebevoll und dankbar um. So bist du dir der Hilfe von Elfen und Waldgeistern sicher!“

Maximas Papa schüttelte verständnislos den Kopf. „Dass deine Mutter dich noch nicht ermuntert hat, die alte Eiche jeden Morgen zu umarmen, wundert mich gerade etwas!“ Etwas nüchterner und nachdenklicher fügte er hinzu: „Ich glaube, die hat als Kind ein Trauma erlebt und verarbeitet das in ihren Gruselmärchen!“

Lisa stand belustigt hinter der Außenmauer der Garage und verfolgte das bunte Treiben. „Aha, ich leide demzufolge an einem Trauma und einer Kindheitspsychose?“, wisperte Lisa. „Diese Ganoven, so sieht das also aus, wenn sich meine Familie hinter meinem Rücken lustig macht. Na wartet, das gibt eine Retourkutsche. Von wegen Trauma!“ Geräuschlos löste sich Lisa aus ihrem Versteck und betrat von vorn wieder das Haus. Schnell rannte sie in die Küche und tat äußerst beschäftigt, als die beiden ihr auf dem Fuße folgten.

„Na, ihr zwei, wie war euer Tag?“, begrüßte Lisa ihre Bühnenlumpensammler. Am liebsten hätte sie beide an den Ohren gezogen und gesagt: Na, ihr ausgekochten Schweinebacken. Ich weiß ganz genau, was ihr Neunmalklugen als Überraschung in den Garten gestellt habt! Mit gekräuselten Lippen wartete Lisa auf eine Reaktion, eine Spur schlechten Gewissens wäre auch nicht schlecht. Aber sie benahmen sich ausgebuffter als Doktor Jekyll und Mister Hyde.

„Och, war nix Besonderes!“, schwindelte Maxima und pellte sich eine Banane auf.

„Wo wart ihr so lange? Gab es was Interessantes, was euch beide aufgehalten hat?“ Lisa verpackte ihre Fragen in frauliche List. Dabei behielt sie ihre Verräter fest im Auge.

„Nö“, antwortete ihr Mann abwinkend und wühlte im Obstkorb nach Obst, das er eh nicht essen wollte, nur um seiner Lisa auszuweichen.

Sie haute ihm etwas zu kräftig auf die Finger und erntete einen überraschten Blick. Mist, dachte sie, jetzt verrate ich mich bald selbst. Sie setzte ein breites Lächeln auf und hätte ihm zu gerne mitgeteilt: Im Obst wühlen nur gestörte und traumatisierte Kinder, die früher gezwungen wurden, Obst zu essen. Sie tätschelte ihm etwas liebevoller die Wange, lächelte und sprach erst einmal gar nichts. Sie wollte sich ja nicht verraten. Das Gleiche dachten wohl auch ihre ausgekochten Schauspieler, die keine Miene verzogen. Nicht einmal einen verräterischen Blickkontakt führten sie zueinander. Lisa schüttelte unmerklich den Kopf und sagte zu sich: „Ich habe tatsächlich Hinterhältige im Haus.“

„Hast du gerade was gesagt?“, fragte ihr Mann und sah in einen leeren Kochtopf.

„Nö“, log Lisa. „Dass ich euch gefragt habe, ob ihr mir etwas Schönes mitgebracht habt, ist schon drei Minuten her!“

„Ach Mama, was sollen wir dir schon kaufen. Du hast doch alles!“

Lisas Mann bestätigte das mit einem Fingerzeig. „Genau! Es wird immer schwieriger, dir etwas zu schenken.“

Beleidigt kräuselte Lisa die Stirn. „Heißt das, dass ich jetzt überhaupt keine Geschenke mehr bekomme?“

Das oberflächliche Gerede hätte jetzt Stunden gefüllt. Lisa hatte vorerst genug von der Geheimniskrämerei und von ihren Mutter-in-den-Rücken-Fallenden. Sie drehte sich grinsend von den beiden ab, um sich später nett von ihnen hinters Licht führen zu lassen. „Ich mach schon einmal Abendessen. Geht erst mal Händewaschen. In einer halben Stunde bin ich so weit.“ Lisa drängte sie förmlich, die Küche zu verlassen. Die zwei sollten aus ihrem Sichtkreis verschwinden. Ihr durchtriebenen Schlitzohren, dachte sie heimtückisch. Wie ihr mir, so ich euch. Leicht schob sie ihren Mann aus der Küche. „Mia, du auch. Ich kann euch jetzt nicht gebrauchen.“

„Oh, Mama kann uns nicht gebrauchen“, buhte Mia und forderte ihren Vater zum Fangenspielen auf, indem sie ihm einen ordentlichen Klaps auf den Rücken verpasste.

„Warte Fräulein“, rief er. „Das zahle ich dir heim.“

„Ich bin Erster!“, schrie sie zurück und stürzte die Treppe rauf.

Ihr Vater versuchte ihren langen Pferdeschwanz zu packen, griff aber ins Leere. „Gleich habe ich dich, du kleines Biest“, rief er und polterte hinterher.

Lisa lauschte den beiden nach, sie musste ganz sicher sein, dass sie im Badezimmer beschäftigt waren, ehe sie deren Schandtaten auf den Grund gehen konnte. Leise stellte sie sich auf die unterste Stufe und horchte. In der ersten Etage ging es laut her. Das veranstaltete Rambazamba wäre auch eine Stufe tiefer nicht zu überhören gewesen.

Aber vorsichtig ist der Elefant im Porzellanladen. Prima, dachte sie. Die zwei werden mit weiteren Dummheiten erst einmal eine Weile beschäftigt sein!

Hände reibend ging sie von der Treppe weg und lief durch die Küche in den Garten. Sie brauchte draußen nicht lange suchen. Schnell fand sie, was ihre beiden Banausen im Garten versteckt hatten. Unter den großen Fichten, die das Grundstück abschlossen, stachen ihr zwei rote Zipfelmützen sofort ins Auge. „Die Schlaumeier machen sich tatsächlich über meine Zwergengeschichte lustig“, flüsterte sie grimmig. „Mal gucken, ob ich euch ebenso eins auswischen kann!“ Lächelnd huschte sie über den Rasen und krabbelte unter die Tannen. Nacheinander zog sie die Gartenzwerge aus den pikenden Nadeln. Ach Gott, sind die süß, dachte sie. Als ihr Blick auf die Namensschilder der Zwerge fiel, wurde ihr ganz warm ums Herz. Insgeheim freute sie sich darüber, dass die Namen Sinith und Brokk an diese Porzellanfiguren weitergegeben wurden. Mit einem zaghaften Blick ins Küchenfenster wollte sie sich beeilen.

„Was mach ich nur mit euch?“, sagte sie verschmitzt und drehte sich im Kreis. „Zurückstellen wäre kein großer Spaß für mich.“ Mit den Zwergen im Arm und einem Finger über ihren Lippen überlegte sie, wie sie es ihren beiden Sagenlustigmachern heimzahlen konnte. Plötzlich kam ihr die Idee, die Zwerge einfach woanders hinzustellen. Diese Idee fand sie sogar richtig klasse. Bildlich sah sie schon ihre verdatterten Gesichter vor sich, wenn die Zwerge nicht mehr an Ort und Stelle standen, wo sie abgestellt wurden.

„Mal sehen, was die beiden dazu sagen, wenn ihr plötzlich Wanderzwerge geworden seid.“ Lisa hätte sich kringelig lachen können, verkniff es sich aber. Eilig, bevor sie dabei erwischt wird, fand sie für Sinith einen schönen Platz unter dem Holunderbusch und Brokk bekam den am Gartenteich. „So ist es gut“, sprach sie zu sich und freute sich neckisch auf den Verlauf des Abends. Zufrieden mit ihrer Rache lief Lisa in die Küche zurück. So als wäre nie etwas gewesen, stellte sie sich an ihren Herd und kochte eine leckere Henkersmahlzeit für ihre Verschwörer!

Ein Rumsen und Poltern zeigte Lisa an, dass sich ihre beiden Banausen gut gelaunt hinter ihr an den Tisch setzten und nach Essen schrien. Jeweils den anderen genau beobachtend, ließen sie sich das Abendbrot schmecken.

Irgendwann unterbrach Lisas Ehemann das Schweigen und gegenseitige Belauern. „Schatz, was hältst du davon, wenn wir uns nach dem Abendbrot im Garten ein bisschen den Wind um die Nase wehen lassen?“ Verschwörerisch suchte er Maximas Blick.

Lisa war nicht überrascht über die Abgebrühtheit, sie so plump nach draußen zu locken! Mit verschlagenem Blick machte sie einen Gegenvorschlag. „Ja, aber nur, wenn ich euch eine Sage erzählen darf!“

Maxima verdrehte die Augen und signalisierte: Ey, so war das aber nicht abgesprochen!

Er grinste über beide Ohren bei dem Gedanken, dass seine Frau die Erste und Einzige war, die man wegen Sagen und Mythen eines Tages verhaften würde. „Schatz, wir lieben dich wirklich, aber kannst du heute nicht einmal eine Pause machen?“

„Nein!“, sagte Lisa bestimmt. „Ich habe die Zwergengeschichte noch nicht zu Ende erzählt.“ Sie räumte schnell die Teller vom Tisch, damit sie sich durch ihr verschmitztes Lächeln um die Mundwinkel nicht verriet. Nebenbei vernahm sie ein leises Seufzen gepaart mit einem verzweifelten Stöhnen ihrer Tochter, das ihr mütterliches Mitleid wecken sollte. Aber sie blieb hart in ihrem von Lügen und Intrigen schmerzhaft getroffenen Mutterherz. Und freute sich auf zwei ganz dümmliche Gesichter unter dem funkelnden Sternenhimmel …

Wenig später, nachdem der Abwasch gemeinsam erledigt wurde, gingen alle drei geschlossen in den Garten und genossen wie Theaterkünstler die gesunde und klare Abendluft. Und den natürlich noch nie gesehenen mit Sternen übersäten Abendhimmel! Sie taten so, als würden sie das alles zum ersten Mal erleben. Sie liefen im Garten von einer Ecke in die andere, wie bei einem Schaufensterbummel in der Stadt! Streckten ihre Köpfe wieder gegen den Himmel und jauchzten ein schmachtendes lang gezogenes Ooohhh! Sie befühlten die Blätter der Bäume und strichen über den bereits mit Tau benetzten Rasen. Und das alles, als wäre es wirklich das erste Mal. Wenn man sie so beobachtete, könnte man ihnen tatsächlich abnehmen, dass sie von einer anderen Welt stammen und noch niemals die Erde in ihrer wunderbaren Pracht gesehen haben.

Bis Lisa durch die Weite des Gartens lugte und unter der Tanne in der Nähe des alten Schuppens rote Zipfelmützen erblickte. „Seid mal ruhig“, forderte sie ihre kleine Familie auf. „Hört ihr das auch?“

Maxima tat neugierig. „Nee, was denn?“

„Zwergensprache. Wenn ihr jetzt ganz leise seid, dann könnt ihr sie bestimmt hören. Vielleicht sogar sehen!“ Auf Zehenspitzen schlich Lisa über den Rasen, bis sie einen glucksenden Freudenschrei von sich gab. „Tatsache, guckt mal, dahinten sind Zwerge. Jetzt nicht hektisch werden, sonst erschrecken sie sich.“ Lisa hatte richtig Spaß daran, diesen beiden Krötenköpfen eins auszuwischen. Übertrieben rücksichtsvoll ging sie auf die Zwerge zu. Hinter ihrem Rücken blieb ihr das aufgeregte Tuscheln nicht verborgen.

„Hast du die Vögel noch woanders hingestellt?“, flüsterte Maximas Vater überrascht. Verwirrt schüttelte Mia ihren Kopf.

„Wann denn, Papa? Wir sind zusammen ins Haus. Hast du das vergessen?“ Wie angewurzelt blieben sie stehen und grübelten über ihre Wahrnehmung.

„Die Vögel können sich doch nicht von allein durch den Garten getragen haben!“

„Sag nicht immer Vögel, das sind Zwerge, Papa, Zwerge!“, betonte sie genervt. Maximas Abenteuerlust, ihrer Mutter Streiche zu spielen, wich einer gewissen Ehrfurcht.

Inzwischen war Lisa bei den Zwergen angekommen und rief. „Oh, seht mal, die haben sogar Namensschilder umhängen. Brokk und Sinith. Wie die sich wohl hierher verlaufen haben. Ausgerechnet in unseren Garten! Die müssen bestimmt noch weiter und legen hier nur eine Pause ein. Wollen wir ihnen einen Korb mit Lebensmitteln mitgeben?“, fragte Lisa hinterhältig.

Doch die beiden reagierten gar nicht darauf. Die standen wie angewurzelt an Ort und Stelle und schienen in ein Streitgespräch verwickelt. „Ich habe die Zwerge nicht angefasst, Papa“, wiederholte Mia energisch.

„Ja, ich auch nicht, mir ist das jetzt hier einfach zu dumm“, warf Herr Lindner gnatzig ein. „Ich geh in mein Arbeitszimmer, da brauch ich mir über Wanderzwerge keine Gedanken machen.“ Leicht angesäuert drehte er sich um und stolzierte ins Haus.

„Weißt du, was Zwerge am liebsten essen …?“ Mit großen Schritten und den Porzellanwaren auf dem Arm machte sich Lisa wieder auf den Rückweg zu ihrer vom Vater im Stich gelassenen Tochter.

„Nein, Mama. Oh menno! Ich will das auch gar nicht wissen. Ich hatte heute genug Budenzauber um mich herum. Ich habe die Nase gestrichen voll von dem Zwergenmist. Ich geh ins Bett. Gute Nacht.“ Genervt rollte sie ihre Augen und ließ ihre Mutter mit ihrer Frage nach dem Lieblingsessen der Zwerge einfach zurück.

Lisa lächelte und warf einen Arm nach oben. „Wir haben gewonnen, meine kleinen Freunde!“, stellte sie stolz fest. Mit einem liebevollen Blick auf die Zwerge gab sie sich dann selbst die Antwort zu dem Lieblingsessen der Zwerge. „Brot. Köstlich durchgebackener Sauerteig mit einer guten Handvoll grobem Salz!“ Schmusend legte sie die Zwerge gegen ihre Wangen und sagte: „Gell, so schnell steht man allein da. Da wollte man mich veräppeln und jetzt ist man selbst verkohlt worden – und aufs Tiefste beleidigt. Tja, meine lieben Zwerge, wenn ich euch einen Rat geben darf, dann den: Machen zwei das Gleiche, ist es noch lange nicht dasselbe …“

Brokk und Sinith waren nun schon vier Vollmonde unterwegs. Die Nächte wurden langsam kälter. Das Laub regnete in Regenbogenfarben von den Bäumen. Dadurch hatten es die Zwerge einfacher, sich bei drohender Gefahr zu verstecken.

Ihr Weg verlief ruhig, aber behäbig. Mühsam lenkten sie ihre Wildschweine um Steinbrocken herum, die ihnen im Weg lagen. Ihr Auftrag führte sie durch das Bodetal, das aus wuchtigen dunklen Schieferbrocken bestand. Links und rechts ragten sie gigantisch in die Höhe und schüchterten sie ein.

Sinith und Brokk waren seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen. Nach einem anstrengenden Tag kamen sie endlich am Fuße des Hexenstieges an und der Hunger meldete sich. Bei dem Gedanken an ihr leckeres Brot, ein kräftigendes Malzbrot aus Sauerteig und grobem Salz, auch Maize genannt, lief ihnen das Wasser im Mund zusammen. Schnell sattelten sie ihre Wildschweine ab, suchten umliegendes Feuerholz zusammen, stapelten es aufeinander und zündeten es an. Als der Platz wenig später im warmen Feuerlicht erstrahlte und die beiden in wohlige Wärme einwickelte, machten sie es sich, so gut es ging, gemütlich.

Sinith streckte seine Beinchen aus und sah Brokk zu, wie er die Maize in gleichmäßige Stücke brach. „Meinst du nicht, dass es Zeit wird, unsere Pausen unter dem Schutz des Netzes zu machen?“ Unsicher lagen seine Augen auf dem Hexenstieg, der am Hang des Berges gespenstisch wie eine Schlange nach oben verlief. „Wir kommen dem Hexenberg immer näher und mit jedem Schritt werde ich unruhiger!“

Brokk steckte sein Brot auf einen Stock und legte ihn zum Rösten in die Flammen. Seine Fäuste in die Hüften gestützt, blickte er in den Schatten werfenden Wald, aus dem Uhus und Eulen mit großen Augen die Nacht beobachteten. „Hmm“, brummte er und drehte sich seinem knusprigen Brot wieder zu, bevor es zu Kohle wurde.

Dabei löste sich aus Brokks Brustpanzer der Zahn der Treue, der an einem Band befestigt war und nun silbrig glänzend am Hals hing. Mit dem Schaukeln des Zahnes machte sich in Sinith ein komisches Gefühl breit. „Wir sollten ohne das Netz über uns keinen Schritt mehr machen.“

Brokk schaute umher und ließ die Ruhe auf sich wirken. „Ich glaube, wir haben Zeit. Die Hexen sind noch nicht in der Nähe!“

„Ich weiß nicht. Ich traue dem Frieden nicht.“ Sinith teilte nur ungern seine Ansicht. Irgendwas fühlte sich hier und an diesem Abend anders an. Seine Gedanken verunsicherten ihn und ließen ihn das Kommende fürchten. Er fuhr erschrocken zusammen, als eine Eule durch etwas aufgescheucht wurde und die schwarze Dunkelheit mit ihrem Schrei weckte. Nein, er war nicht derselben Meinung wie sein bester Freund. Ihm saß ein ungutes Gefühl im Nacken. „Ich möchte nicht länger als nötig hier bleiben, der Platz strahlt Böses aus“, sagte Sinith und legte sich auf die Seite, um ein klein wenig zu schlafen.

Lange lag er da und konnte kein Auge zumachen. Immer wieder blinzelte er zum dunklen Wald. Plötzlich gruselte es ihn. Da war doch was? Zwischen den Bäumen löste sich ein Schatten. Aufgeschreckt setzte er sich hin und starrte eine Weile gegen den Wald. Ach, dachte Sinith, meine eigenen Gespenster spielen mir was vor. Mit diesen Gedanken wurde er vom Schlaf übermannt und fiel in unruhige, wirre Träume.

Mal sah er sich in Lähis mit seinen Freunden am Stammtisch sitzen oder auch mit Mimur über weite Felder reiten. Er fühlte sich wohl und sicher, denn Sinith befand sich in seiner Heimat. Bis ihn ein dunkler Schatten verfolgte. Immer schneller kam er auf den kleinen Zwerg zu, der panisch auf der Stelle lief und nicht vorwärtskam. Er wollte schreien, doch aus seinem Mund kam kein Laut. Immer hysterischer schrie er, doch keiner konnte seine Hilferufe hören. Der dunkle Schatten verschlang hungrig jeden einzelnen Schrei. Andere Zwerge liefen an ihm vorbei, die ihn nicht zu sehen schienen. Keiner nahm Notiz von dem Zwerg. Der Schatten hatte Sinith unmittelbar eingeholt und umkreiste ihn. Alles um ihn herum lag in einem tiefen Schwarz. Er bemühte sich, etwas Angenehmes für seine Augen zu finden. Aber der Schatten hatte alles zugedeckt. Nur tiefe schwarze Dunkelheit herrschte. Wohin er sich auch drehte und wendete, es gab nichts Schönes mehr. Er wusste nicht, wie lange es dauerte, bis dieses Nichts, dieses dunkle Etwas blasser wurde. Sinith dachte schon, dass es verschwindet und ihn in Ruhe lässt, doch es teilte sich nur und wurde in zwei Hälften vom Erdboden aufgesogen.

Plötzlich konnte sich Sinith selber erkennen. Er sah sich am Feuer liegen. Eine Frau in einem zerfetzten schwarzen Kleid schwebte über ihm und nahm ihm die Luft zum Atmen. Der Zwerg fing an zu frieren. Mit der Kälte kamen die Schatten aus der Erde zurückgekrochen und flüsterten fremdländische Formeln. Sinith fürchtete sich vor dieser Sprache. Sie klang unheimlich und böse. Langsam schlängelten sie sich unter die schwebende Hexe und rieben sich an ihr. In ihren Augen leuchtete ein Feuer: „Excipite anima eius“, befahl sie und die Schatten suchten sich durch den geöffneten Mund des Zwerges den Weg zu seiner Seele. Ohne Unterlass kroch das Dunkle tief in sein Innerstes und brachte eisige Kälte in sein warmes Blut. Sinith konnte seine Augen nicht von dem Feuer in ihren Augen abwenden. Wie gefesselt hielt er ihrem zwingenden Blick stand. Ihre pechschwarzen Haare und ihr Kleid flatterten aufgrund der enormen Magie, die sie umgab und mit der sie sich waagerecht über Sinith hielt. Sie stimmte summend ein Lied an. Trotz der aufsteigenden Dunkelheit um und in Sinith sagte etwas in ihm, dass er ihr ruhig vertrauen konnte. Es zwang ihn förmlich, das Gute in der dunklen Frau zu sehen! Der Lichtritter war nicht mehr fähig, sich zu wehren. Er wollte nicht mehr um sein Leben schreien. Warum auch? Es fühlte sich doch so wundervoll an, was sie mit ihm tat. Die schwarze Frau schwebte schweigend über Sinith. Er lockerte sich und ließ es zu. Sie lächelte gewinnend und sang mit bezaubernder Stimme einen Vers:

„Kleiner Mann,

ich weiß, dass du meinen Namen nennen kannst,

löse deine Zunge und schicke mir durch deinen Munde

den süßen Klang des Namens, den ich ersehn,

um dir dein Leben zu nehmen.

Sprich meinen Namen, laut und schrill,

du weißt doch, dass ich deine Seele will!“

Der kleine Lichtritter fühlte sich betört von dem lüsternen Klang der Frauenstimme. Es hörte sich lieblich und weich an. Warum sollte er nicht ihren Namen nennen? Seine Zunge wollte sich gerade gehorsam lösen, als er ein panisches Schreien von ganz weit her vernahm …

„Sinith. Sinith, wach auf. Wach sofort auf.“ Mit weinerlichem Ton schüttelte Brokk seinen Freund rabiat aus dessen fesselnden Träumen. „Sinith, bitte, bitte, komm zurück!“

Sinith fühlte sich gestört. Es war doch gerade alles so angenehm, er fühlte sich getragen und empor gehoben, ja schwerelos sogar. Er wollte dem Rufen nicht folgen. Aber das Schreien wurde zum Kreischen und widerwillig gab die Leichtigkeit, die von ihm Besitz ergriffen hatte, wieder den Platz in seinem Körper frei!

Mit flatternden Lidern war er wieder in der Gegenwart angekommen. Benommen nahm er die Umrisse seines Kameraden wahr, der völlig aufgelöst neben ihm hockte. Es dauerte eine kleine Weile, bis ihm bewusst