Rabrax vom Lilarabenstein - Ellie Engel - E-Book

Rabrax vom Lilarabenstein E-Book

Ellie Engel

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Beschreibung

Ein Rabenpärchen fand im schönen Harz in einer verwilderten Burgruine ein neues Zuhause. Als sie gemeinsam nach einem Nestnamen suchten, leuchtete ein Stein in der untergehenden Sonne lila auf und gab dem Ort etwas Mystisches … sie sahen es als ein gutes Zeichen und entschieden sich für den Namen „Lilarabenstein“. Nicht lange danach, kündigte sich Nachwuchs im Rabennest an. Ganz behutsam nahm Papa Rabe das Ei zwischen zwei Federspitzen und hielt es gegen das Licht. „Dein Name wird ‚Rabrax vom Lilarabenstein‘ sein“, flüsterte er seinem kleinen Rabenjungen zu. Die Rabeneltern waren stolz auf Rabrax, merkten aber, dass ihr Sohn anders war als sie, alleine schon durch seine außergewöhnlichen lilafarbenen Augen und die fehlende Fähigkeit zu fliegen. Durch einen unglücklichen Flugversuch lernt Rabrax die Hexe Rabia kennen. Sie ahnt, dass Rabrax etwas Geheimnisvolles umgibt und wird neugierig. Ist Er vielleicht der schon lange erwartete Zaubermeister? Um das herauszufinden, schickt sie ihn in die Zauberschule. Damit beginnen seine Abenteuer, aber auch eine lehrreiche Zeit bei der Hexe. Ist er der berufene Zaubermeister? Schafft er seine Zauberprüfungen? Und was sagt am Ende der Feuerkessel?

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Inhaltsverzeichnis

Der Nestbau

Flugübungen

Nicht mehr nur zu Besuch

Rabrax’ erster Tag in der Zauberschule

Der böse Blick

Die goldene Nadel

Die Kiste mit den schwarz-magischen Weisheiten

Der Stab der Weisheit

Bleib, wie du bist

Der Besuch in der Vollmondnacht

Rabrax hat Bauchweh

Der Eulenspiegelvirus

Die Menschen im Tal

Freitag, der 13

Rabrax’ Notfallplan

Die Natur hat viele Mittel

Der Hecketalerfluch

Am Lilarabenstein

Die Schutzzauber

Der Feuerkessel

Der Nestbau

Mitten im schönen Harzwald stand eine Burgruine. Sie befand sich abseits von jeglichen Wanderwegen. Kein Spaziergänger traute sich in das Dickicht, um in der Ruine herumzustöbern. Denn die kaputte Burg war mit wild wucherndem Knöterich, spitzem Weißdorn und mit wilden Rosen umwachsen. Das Gestrüpp war so eng miteinander verflochten, sodass der Weg nur mit einem speziellen Schneidewerkzeug wieder freigelegt werden konnte. Aber wer sollte sich mitten im Wald schon die Mühe machen, nur um sich ein paar Steine anzusehen? Niemand.

Und weil es eben ein stilles, unbewohntes Plätzchen war, siedelte sich zufällig ein Rabenpärchen an.

Sie kamen von weit hergeflogen und ihre Flügel waren sehr matt und müde. Eigentlich wollten die beiden nur eine kurze Rast einlegen und ihre Flügel verschnaufen lassen, als das Rabenmännchen erkannte, auf welch traumhaftem Grund und Boden sie sich niedergelassen hatten.

„Genau hier sollten wir unser Nest bauen.“ Das Rabenmännchen nickte zufrieden, als er mit seiner Frau auf einem großen flachen Stein stand und den tollen Ausblick begutachtete. Stolz, einen guten Platz für sich und seine zukünftige Familie gefunden zu haben, legte er einen seiner Flügel um seine Frau und klackerte zufrieden mit seinem langen schwarzen Schnabel.

„Wir sollten unserer Neststätte einen Namen geben“, erwähnte die Rabenfrau ganz gerührt und blickte in die weite Ferne. Der Rabe gab ihr recht und flog auf die höchste Stelle der alten Burg. Ergriffen blickte er in alle Himmelsrichtungen. So weit sein Auge reichte, sah er Frieden und herrliche Natur. Zufrieden mit dem, was er sah, blickte er zu seiner Frau herunter, die am Rand der Ruine hockte und auf ihn wartete.

Überaus glücklich winkte er ihr zu und wollte wieder zu ihr zurück fliegen, als urplötzlich der Stein, auf dem sich seine Frau befand, lila aufflammte. Ob in diesem Moment die untergehende Sonne einen Schabernack spielte oder ob es ein Zeichen aus dem Universum war, das konnte der Rabe nicht einschätzen. Er sah nur, dass der Stein und seine geliebte Frau plötzlich in einem wunderschönen Lila-Licht standen.

Es war so schön anzusehen, dass ihm dabei schwindelig wurde. Somit beschloss er, das Lichtzeichen als Namenserkennung zu nehmen. Stolz flog er wieder zu seiner Frau und präsentierte ihr hoheitsvoll den Nestnamen.

„Wir werden unserem Zuhause den Namen Lilarabenstein geben.“

Frau Rabe klatschte begeistert ihre Flügel zusammen und stimmte seinem Entscheid zu.

Und so wurde die Burgruine zu dem Nest Lilarabenstein.

Das Pärchen siedelte sich an diesem schönen Platz fest an und fühlte sich sofort in der alten Ruine so richtig wohl. Fleißig holten sie abwechselnd Äste und Lehm und alles, was man zum Nestbau gebrauchen konnte, heran. Sie turtelten und liebkosten sich so lange, bis Frau Rabe eines Tages geheimnisvoll ihren Flügel zur Seite schob und ein winziges, schneeweißes Ei hervor blitzte.

Ihr Rabenmann staunte nicht schlecht und vergaß vor Rührung seinen Schnabel zu schließen. Am meisten freute sich aber sein Herz. Es schlug und klopfte so heftig, als wollte es vor Aufregung in seiner Brust Purzelbäume schlagen.

„Ich werde Vater?“, fragte er sprachlos.

Die Rabenfrau nickte vielversprechend und stupste ihn behutsam zum Ei.

Vorsichtig streichelte der Rabe über das Ei, um es dann zwischen seine spitzen Federn zu legen. Ergriffen bewunderte er den winzigen, noch in einer Schale kauernden Zuwachs seiner Familie.

Ganz behutsam hielt er dann das Ei zwischen seinen Federspitzen gegen die Sonne. So konnte er schattenhaft das kleine Vögelchen erkennen, wie es zusammengerollt hinter der Eierschale schlummerte und an einer Daumenfeder lutschte.

„Dein Name wird Rabrax vom Lilarabenstein sein“, flüsterte er seinem Nachwuchs zu. „Und du wirst große Abenteuer erleben.“

Als hätte der kleine Rabe hinter der Schale gehört, was ihm sein Vater prophezeite, zuckte das Ei, als wolle es jetzt schon mit den vielversprechenden Abenteuern beginnen.

Bevor das zappelige Ei aber vor lauter Freude zu Schaden kommen konnte, legte es der werdende Papa wieder liebevoll unter die wärmenden Federn der werdenden Mutter.

Flugübungen

Es war schon einige Zeit vergangen und der Rabe Rabrax war aus der Nestwärme herausgewachsen und konnte mit seinen ersten Flugübungen beginnen.

Er tat sich dabei aber nicht leicht. Nach einigen misslungenen Probeflügen kam er zu der Erkenntnis, dass er zum Fliegen nicht wirklich Talent besaß.

Der kleine Rabe hatte insgeheim für sich selbst schon das Fliegen aufgegeben. Für ihn stand fest, dass er durch sein kleines Leben wie ein Frosch hüpfen würde. Aber niemals fliegen.

Doch sein Vater war von der Idee besessen, seinem Sohn alles über das Fliegen beizubringen. Er gab nicht auf. Immer wieder warf er ihn hoch in die Luft und rief belehrend: „Schwing deine Flügel, Junge.“

Leider war der alte Rabe nach jeder erfolglosen Lehrstunde selbst so sehr enttäuscht, dass ihm vor lauter Kummer bald weiße Federn wuchsen.

Rabrax fühlte das und wollte seinen Vater nicht weiter enttäuschen. Es tat ihm im Herzen weh, mit ansehen zu müssen, dass er seine ganze Rabenfamilie blamierte.

Und so probierte er immer weiter.

Denn, wenn ihn nicht alles täuschte, war er doch von Geburt an ein Vogel, also sollte ihm das Fliegen – verflixt noch mal – doch in die Wiege gelegt worden sein!

Rabrax hielt sich ganz genau an die Anleitungen seines Vaters.

Jede einzelne Flugtechnik versuchte er angestrengt nachzuahmen. Alles, was Papa Rabe ihm zuvor gezeigt und erklärt hatte, wollte er besonders gut machen und wendete alle Praktiken auf einmal an. Das musste ja schiefgehen.

Seine Eltern, die keine Flugstunde von ihm verpassten, schauten dabei zu und schlugen erschrocken die Flügel vor ihre Augen, um nicht weiter mit ansehen zu müssen, wie ihr Sohn im Himmel mehr kullerte und Sturzflüge veranstaltete, als zu fliegen.

Der kleine Rabe sah nämlich dabei überhaupt nicht elegant aus. Nein, gar nicht wie man es gewohnt war bei seinen Eltern oder anderen Vögeln. Seine Artgenossen glitten regelrecht königlich durch das Hellblau des Himmels – lautlos und schwerelos schwebten sie mit dem Wind unter ihren Flügeln.

Rabrax sah eher aus, als wollte er schwimmen. Es waren unkontrollierte Turnübungen, aber keine eleganten und leisen Flüge.

Seine Eltern, die das alles beobachteten, schüttelten nur noch hilflos die Köpfe und streckten erschrocken bei jedem „Aua!“, „Ahhh!“, „Hilfe!“ und „Oh nein!“ die gefederten schwarzen Hälse, wenn er verkorkst auf den Boden knallte.

„Warum schafft er es nicht zu fliegen?“, fragte Mutter Rabe besorgt. Selbst Vater Rabe, der sonst auf alles eine Antwort parat hatte, stand bei seinem eigenen Sohn vor einem unlösbaren Rätsel.

Nachdem bei dem kleinen Raben mal wieder alle Flugversuche misslungen waren und wirklich alles schief gelaufen war, was schieflaufen konnte, trat er mit hängenden Schultern seinen Heimweg an.

Rabrax war über sich mehr als enttäuscht und das zeigte er mit einer zusammengesackten Körpersprache deutlich an.

Niedergeschlagen kam der kleine Rabe wiederum zu der Feststellung, dass das Fliegen nicht seine Leidenschaft sein konnte und wohl auch niemals sein wird.

Keinesfalls konnte das Fliegen seine alltägliche Art sein, um sich fortzubewegen. Seine Stärke musste in etwas ganz anderem liegen. Nur in was?

Als er so in sich gekehrt von Felsen zu Felsen hüpfte, kam ein Schwarm wilder junger Krähen an ihm vorbeigeflogen und machte sich über ihn und seine Kullerflüge lustig!

Die kichernden Krähen waren alle in Rabrax’ Alter, also zwei Monate. Sie nahmen sich heraus, sich über Rabrax und seine lächerlichen Flugübungen zu amüsieren und Späße zu machen.

Sie fühlten sich vollkommen im Recht. Denn sie konnten ja fliegen.

„Vielleicht wärst du besser in deinem Ei geblieben, dann würdest du dich nicht so lächerlich machen“, krähten sie laut durcheinander und ärgerten den traurigen kleinen Raben.

„Du hast deine Flügel zum Fliegen. Man schwingt diese und hält sich damit nicht die Augen zu“, sagte eine Krähe und äffte ihn auch gleich nach.

„Kräh, krähhh, kräh“, lachten sie böse, klopften sich gegenseitig die Federn ab und flogen weiter.

„Rabe Rabrax Kullerroll“, scherzten sie noch laut krächzend, ehe sie, wie eine schwarze Schlange, aus dem Sichtfeld des blauen Himmels verschwanden.

„Rabe Rabrax Kullerroll. Ich glaub’s ja nicht!“, brüskierte er sich, nachdem keine der frechen Krähen mehr zu sehen war, und drohte ihnen mit einer geballten Schwinge hinterher.

„Pööh. Das wollen wir doch mal sehen. Ich werde es euch beweisen. Ich schaffe das und dann zeige ich euch, wer der weltbeste Flieger am Himmel sein wird.“

Eigentlich wollte er zurück nach Hause hüpfen, um sich zu verkriechen. Doch das dumme Gelächter der schwarzen Vögel hatte seinen Ehrgeiz geweckt.

Etwas überzeugter von sich und seinem Können, sprang er energischer über klitzekleine Felssprünge zu einem noch höheren Startstein, um von dort aus seine Flugrunde zu beginnen.

Doch als er oben angekommen war, verließ ihn sofort wieder der Mut. Denn was er sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Der Blick ins Weite ging gerade noch, aber der nach unten war kein angenehmer. Als er so in die Tiefe sah, schwankte er und ihm wurde übel. Jetzt bildete er sich schlagartig ein, zu wissen, warum er nicht fliegen konnte.

Das gab dem Ganzen eine neue Sichtweise. Er hatte nie in Betracht gezogen, dass er ja Höhenangst haben könnte!

Ach herrje, er konnte gar nicht hinunterschauen, ohne dass es ihm schwindelig im Kopf wurde und sich unter ihm alles drehte. Das war jetzt mehr als schleierhaft. Ein Vogel mit Höhenangst, gab’s denn so was …? Nein. Er hatte eben nur eine tolle Ausrede für dumme Nachfragen gefunden, warum er nicht fliegt.

Umso näher er dem Abhang kam, umso mehr drehte es sich in seinem Kopf.

Was sollte er jetzt machen? Umkehren und darauf warten, dass man ihn wieder auslacht? Nee, dafür war er zu stolz.

Nun war er schon mal oben. Also, dachte sich der kleine Rabe, Augen zu und durch.

Im Geiste ging er die einzelnen Schritte durch: Anlauf nehmen, Flügel ausspannen und laufen und hopp …

Der kleine Rabe sprang und hielt sich wie immer mit seinen Flügeln die Augen zu.

Das tat er schon aus Reflex, um ja nicht mit ansehen zu müssen, wie tief es wirklich nach unten ging.

Unglaublich sah das aus. Kein Vergleich zu dem, wie das eigentliche Fliegen eines Vogels auszusehen hatte.

Rabrax flog nicht wie ein Vogel. Nein, er stürzte ab wie ein plumper Stein.

„Schwing deine Flügel“, schrie jemand ganz aufgeregt.

„Hörst du, du musst schwingen.“

Von wem auch immer dieser gut gemeinte Rat kam, es war zu spät.

Mit einem fürchterlichen Krachen landete der Rabe Rabrax plötzlich auf einem grün-braunen Berg mit gelben Augen.

Da lag er nun auf etwas, was ihn fassungslos anstarrte.

„Was guckst’n so?“, fragte er frech und krabbelte von dem dicken lehmigen Hügel wieder runter.

„Ähm“, räusperte sich der angebliche Berg völlig überrumpelt. „Ich glaube, das ist mein Recht. Ich werde schließlich nicht jeden Tag von einem untalentierten nicht fliegenden Raben mitsamt meinem Stuhl umgeworfen.“

Der braune Berg schien äußerst gelassen über den kleinen Zwischenfall in seiner Mittagspause und blickte freundlich, aber verwundert zu dem Raben auf, der ihn als Landebahn benutzte hatte.

Verwirrt blickte der Rabe um sich. Die Gegend war ihm völlig unbekannt. Dieses Mal musste er weit von seinem Nest abgekommen sein. Seufzend sah er sich insgeheim schon den langen Heimweg nach Hause hüpfen.

Selbstvergessen schaute und grübelte der kleine Rabe über seine Umgebung nach, als der Berg, auf dem er immer noch saß, sich unruhig räusperte.

„Darf ich aufstehen?“, fragte er höflich den kleinen Raben, der überhaupt keine Anstalten machte, von ihm herunterzugehen.

Der kleine Rabe sah ihn überrascht an.

„Wenn du erlaubst, würde ich mich gerne wieder auf meine zwei Beine stellen! Ich mag nicht so gerne faul auf dem Rücken liegen und jemandem dabei zusehen, wie dieser die Landschaft bewundert.“

Rabrax wurde sofort klar, dass nur er mit dem Jemand gemeint sein konnte.

„Hab dich mal nicht so“, erwiderte der abgestürzte kleine Rabe cool und rieb sich nebenher seinen Flügel, stieg aber ohne weiteres Murren von dem Hügel herab.

Vorwitzig sah er sich noch mal die Gegend genauer an, in der er zuvor gelandet war. Ganz schön gefährlich hier, dachte sich der kleine Rabe.

Oh jeee! Tatsächlich war es dort spitz, da eckig. Überall Stellen, an denen er sich hätte richtig wehtun können.

Schnell erkannte er, dass der Berg ihm eine tolle Möglichkeit geboten hatte, unbesorgt zu landen, ohne größeren Schaden zu nehmen.

Kleinlaut bedankte er sich bei dem Berg.

„Danke für das Auffangen.“ Eigentlich hatte der kleine Rabe es nur gut gemeint, als er sich bei dem augenscheinlichen Berg bedankte, der sofort brummig lospolterte.

„Für das Auffangen?“ Der vermeintliche Berg traute seinen Ohren nicht. Fassungslos tadelte er den kleinen Raben.

„Du hast nicht einmal gesehen, wo du dich befindest.“

Der kleine Rabe schrumpfte in sich zusammen. Er befand sich in einer sehr verzwickten Lage. Peinlicher konnte es nun für ihn nicht mehr werden.

Nicht ganz ohne Verständnis für den abgestürzten Winzling sagte er durchaus mitfühlend: „Du hast dir die Augen zugehalten, Junge. Mann, du bist ein Vogel. Keiner müsste dich auffangen!“

Betroffen musterte der kleine Rabe den sprechenden Berg, der im Nu auf das Doppelte in die Höhe gewachsen war. Der Kleine seufzte laut und schaute verlegen zur Seite, denn der große Berg sprach genau das aus, was Rabrax schon lange wusste. Die gelben Augen blickten jetzt väterlich auf den kleinen Vogel herab.

„Woran hapert es? Hast du keine Flügel mitbekommen?“

Der kleine Rabe versuchte sich um eine Antwort zu drücken und schabte lieber mit seiner Kralle über das Holz der Terrassendielen.

Verschämt blickte er an dem Berg vorbei und verfolgte mit seinen Augen eine Raupe auf dem Geländer.

Puh, der konnte wirklich viele unangenehme Fragen auf einmal stellen. Rabrax brachte zu seiner Verteidigung immer noch kein Wort heraus und betrachtete einfach stumm und verlegen weiter das Umfeld.

Vor allem aber, weil er selber keine Antwort darauf wusste. Er war eben kein Flieger, sondern eher ein Faller …

Er hielt es dann doch für das Beste, schnell vom grausigen Thema Fliegen abzulenken und überlegte sich rasch ein, zwei Fragen, die er dem Berg stellen konnte. Oder sollte er ihm einfach sagen, dass er Höhenangst hatte? Er musterte den Berg von oben bis unten und kam dann zu dem Entschluss, seine neue Ausrede für sich zu behalten. Die einzige Möglichkeit, um das lästige Fliegen schnell beiseite zu kriegen, war also wirklich nur das Ablenken.

„Wohnst du hier?“, fragte Rabrax neugierig.

„Ja, ich wohne hier“, bestätigte er mit einem Augenzwinkern. Nun wurde es allerhöchste Zeit, sich dem kleinen neugierigen Vogel einmal vorzustellen. „Ich bin Winzent, ein Erdkobold.“

Ups, dachte sich Rabrax und verzog keine Miene. Jetzt nur nicht grinsen, sonst fällt es auf, dass ich ihn für etwas ganz anderes gehalten habe, befahl sich der kleine Rabe.

Schweigend standen sie sich nun gegenüber.

Ganz ruhig wartete der braune Kobold auf eine Reaktion vom kleinen Raben. Er hätte jetzt erwartet, dass er nachfragt, was ein Kobold ist, aber der kleine Rabe sagte gar nichts. Denn der wartete genauso darauf, dass der nette Kobold etwas sagte.

Und so starrten sich beide fragend an und warteten gegenseitig darauf, dass einer anfing zu sprechen. Es war schon fast peinlich, als die beiden sich so stumm abschätzten.

„Ich …“, sagten beide plötzlich wie aus einem Mund und lächelten sich schelmisch an.

„Du zuerst“, sagte Rabrax und ließ dem Kobold höflich den Vortritt. Der räusperte sich und stellte sich zuerst mit einer Frage vor:

„Hast du schon mal einen Kobold kennengelernt?“

Der kleine Rabe schüttelte den Kopf und überlegte fiebernd, ob ihm vielleicht seine Eltern irgendwann einmal etwas von einem Kobold erzählt hatten. Aber umso länger er überlegte, umso mehr musste er die Frage verneinen.

„Gut“, meinte der Kobold und suchte nach passenden Worten, um dem Raben zu erklären, was ein Kobold überhaupt für ein Wesen ist.

Rabrax freute sich, denn eine persönliche Lebensgeschichte von einem Kobold zu hören, erlebte man nicht alle Tage.

Um besser hören zu können, hüpfte er auf einen bemoosten Baumstumpf, während der freundliche Kobold seinen Schaukelstuhl wieder aufrichtete und sich nachsinnend hineinsetzte. Der Stuhl knackste unter seinem Gewicht laut. Es war bald so, als müsste der alte Holzstuhl den netten Kobold dabei unterstützen, in seinen verborgenen Erinnerungen zu kramen.

Mit einem Lächeln faltete er die Hände über seinem üppigen Bauch und begann seine Geschichte zu erzählen:

„Vor vielen Jahren war ich mal ein munterer Hausgeist. Jung und voller Lebenslust nistete ich mich bei einem Schneidermeister ein. Kobolde sind normalerweise Hausgeister, musst du wissen. Ich bin eine besondere Ausnahme unter ihnen“, betonte er nicht ganz ohne Stolz.

„Mein Hauptspaß bestand darin, ihn zu ärgern. Aber nie böse! Es stellte sich nämlich heraus, dass er ein ganz besonderer Mensch war. Es dauerte einige Jahre, bis ich mich ihm zu erkennen gab. Mein wahres Gesicht hatte ich ihm, glaube ich, erst nach sechzig Jahren gezeigt. Bis zu diesem Zeitpunkt stellte er mir jeden Tag, obwohl ich ihm ständig Streiche gespielt hatte, eine Tasse lauwarme Milch hin. Er wusste nämlich ganz genau, dass er einen Kobold zur Untermiete hatte. Wir freundeten uns an und ich half ihm fleißig bei seinen Näharbeiten. Wir scherzten, spielten und redeten viel. Um uns herum sind die Jahre nur so zerronnen. All seine Bekannten und Verwandten waren schon längst verstorben. Nur er war noch am Leben. Du musst wissen, solange man einen Kobold unter dem Dach hat, geht es einem gut. Man hat weder finanzielle Sorgen, noch wird man krank oder stirbt. Alsbald war er des Lebens müde und wollte sterben. Er war auch schon sehr alt, 126 Jahre.“

„Hundertsechsundzwanzig Jahre.“ Der kleine Rabe konnte die Zahl gar nicht begreifen. Für ihn war das mehr als ein beachtliches Alter, wenn man bedenkt, dass er selbst vor zwei Monaten erst aus dem Ei geschlüpft war.

Der Kobold ahnte seine Gedanken, lächelte und erzählte seine Geschichte dem aufmerksamen Raben weiter:

„Eines Tages hatte er mich dann gebeten, sein Haus zu verlassen und woanders hinzugehen. Denn solange ich unter seinem Dach wohnte, konnte er nicht sterben. Ich durfte mir aussuchen, wo ich gerne leben wollte. Wir sind dann in den Wald gegangen und ich habe diesen alten Berg-Ahorn gefunden. Seitdem wohne ich hier unter diesem Baum und mein bester Freund und lieber Mensch konnte endlich sterben!“

Wie gefesselt hing der kleine Rabe an den dicken Lippen des Koboldes. Das freute Winzent ungemein, wie er da mit offenem Schnabel saß und offensichtlich vergessen hatte, dass er gerade vom Himmel gefallen war.

Um den Kleinen aus seinem Tagtraum zu holen, setzte er plötzlich einen strengeren Ton an:

„Und vorhin las ich einen überaus spannenden Artikel, bevor du da mittendrin gelandet bist.“

„Ach so“, sagte der Rabe verwundert, um überhaupt etwas zu sagen. Den Rest dachte er lieber wieder still und heimlich: Lesen kann er auch … hm. Danach sieht er jetzt nun mal gar nicht aus!

„Ja, oder meinst du, ich sitze den lieben langen Tag auf meiner Terrasse und warte auf Raben, die vom Himmel fallen?“

„Wer weiß“, meinte der kleine Rabe frech und erwähnte lieber nicht, was er in Wahrheit die ganze Zeit über den Kobold gedacht hatte.

Aber egal. Mit einem Blick auf die untergehende Sonne stellte er erschrocken fest, dass sie den halben Tag verquatscht hatten und es schon spät war.

Seine Eltern machten sich bestimmt schon große Sorgen um seinen Verbleib.

Der kleine Rabe wollte den Kobold mit seiner netten Gastfreundschaft nicht länger strapazieren und sich umgehend auf den Heimweg machen.

Da platzte ein plötzliches „Ach herrje“ aus dem Kobold heraus, dem soeben eine merkwürdige Stellung eines Flügels aufgefallen war.

„Du bist verletzt!“, rief er aus und zeigte entsetzt auf Rabrax’ Schwinge.

„Wie, wo?“, wunderte sich der Rabe.

Verletzt? Das kann nicht sein, das hätte ich allemal gemerkt. Er begutachtete trotzdem misstrauisch seine Flügel und alles andere an ihm. Nach sorgsamen Untersuchungen stellte er achselzuckend nichts Besonderes fest.

„Ach schau, nichts passiert!“ Mit einem verharmlosenden Abwinken beruhigte er den besorgten Kobold.

„Guck, alles gut …“

Während er übermütig dem Erdkobold zeigen wollte, dass alles mit ihm in Ordnung war und er den Raben schneller wieder los war, als er gucken konnte, reagierte der linke Flügel nicht, sondern klappte nur schlaff nach unten.

„Ooohhh“, stöhnte er erschrocken auf, als er seinen Flügel so bewegungslos an sich herunterhängen sah.

„Bin wohl doch verletzt!“ Mit diesem plötzlichen Schreck stürzte er in eine tiefe Bewusstlosigkeit.

Bevor jedoch der kleine Rabe auf den Boden plumpsen konnte und sich womöglich dabei den Kopf aufgeschlagen hätte, fing der freundliche Kobold ihn mit seinen groben Händen auf.

„Na, du bist mir vielleicht ein Rabenheld“, brummte der Kobold und nahm ihn stirnrunzelnd mit in seine warme Erdstube. Dort legte er ihn auf eine flauschige Decke und überlegte, was er mit dem kleinen Vogel machen sollte.

Doch wie gerufen, standen plötzlich die Waldgeister Fennel und Hazel neben ihm und sahen neugierig auf den schlummernden Raben und feixten sich eins.

„Das ist der vom Himmel Gefallene“, wisperten sie sich leise ins Ohr. „Komische Vögel gibt es, oder was meinst du?“ Die Waldgeister Fennel und Hazel waren von Natur aus zwei Schelme. Sie nutzten jede Gelegenheit, um daraus einen Spaß zu machen.

„Hört auf, euch über ihn lustig zu machen“, warnte der Kobold seine Freunde. „Alles auf Erden hat einen Grund. Man muss ihn nur herausfinden.“

Mit diesen Worten schickte er die beiden Waldgeister umgehend los, die Blocksberg-Hexe zu holen. So schnell wie möglich musste die Hexe Rabia Bescheid wissen, dass bei dem Kobold jemand liegt, der ganz dringend ihre Hilfe benötigte.

Blitzschnell drehten sich die beiden auf dem Absatz um und brausten wie der Sausewind davon, um die Hexe zu holen.

Winzent war sich nämlich zunehmend sicher, wenn jemand den Raben wieder auf die richtige Spur brachte, dann war es die Hexe Rabia.

Er brauchte nicht lange auf die zuverlässige Hexe warten. Minuten vielleicht, länger nicht, als in dem unterirdischen Baumreich ein starker Wirbel aufkam und die Hexe mit ihrem Reisegewitterkoffer mitten im Zimmer stand. Der Koffer war für sie ein sehr wichtiges Mitbringsel! Ohne diesen würde die Hexe niemals irgendwohin reisen. Denn in dem war alle Medizin, die die Natur hergab, in kleine Flaschen und Näpfe gefüllt.

„Was hast du denn für einen Patienten für mich?“, fragte sie mit einem Augenzwinkern. „Fennel und Hazel haben sich köstlich über ihn amüsiert. Ich habe die beiden vor lauter Gekicher überhaupt nicht verstehen können!“

Der Kobold begrüßte die treue Hexe und zeigte auf den ohnmächtigen Vogel.

„Aha, lateinisch Corvus und im deutschen Rabe genannt.“

Mit geübten Griffen untersuchte sie den Raben und stellte schnell fest, dass er seinen linken Flügel gebrochen hatte.

„Wie konnte das passieren?“, fragte sie den assistierenden Kobold.

„Abgestürzt.“ Wie die Waldgeister zuvor, verpackte auch er ein breites Grinsen in eine knappe Antwort.

„Ach so!“ Erstaunt sah die Hexe zum Kobold. „Ein Rabe, der ein eigenes Sternbild am Himmel besitzt, hat keinen Bezug zum Fliegen? Das ist sehr merkwürdig …

„Hm“, brummte der Kobold und schaute etwas ernster auf den schlafenden Vogel.

„Er hat ein Geheimnis, Rabia.“ Der Kobold weckte bei der Hexe die Neugier.

„So, ehrlich? Was für ein Geheimnis?“

„Seine Augenfarbe. Sie ist anders, Rabia. Sie ist leuchtend lila.“

Die Hexe legte ihre Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. Ein Rabe, der nicht fliegt und so eine ausgefallene Augenfarbe hat, hm? Das war wirklich seltsam.

Rabia grübelte eine Weile über ihren kleinen Patienten