Living for Future - Corentin de Chatelperron - E-Book + Hörbuch

Living for Future E-Book und Hörbuch

Corentin de Chatelperron

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Beschreibung

Nachhaltigkeit mit Zukunft: Wie man wirklich umweltbewusst leben kann Zwei Hühner, eine Ente und ein paar Pflanzen: Viel mehr hat Corentin de Chatelperron nicht im Gepäck, als er für vier Monate auf eine schwimmende Bambusplattform in Thailand zieht. Sein Ziel: Mit kreativen Low-Tech-Lösungen eine eigene Biosphäre schaffen und als Selbstversorger leben. Völlig autonom, ohne Supermärkte, Konservennahrung oder fließendes Wasser. In seinem Buch »Living for Future« lässt der Franzose seine Leser an dem außergewöhnlichen Experiment teilhaben. In Tagebuchform erzählt er von den Problemen, vor die ihn das kurzzeitige Leben als Aussteiger stellte, und gibt Einblicke in die Planung und die ungeahnten Herausforderungen eines solchen Projekts. • Zwei Hühner, eine Ente und ein eigenes Ökosystem: Ein Selbstversuch für ein autonomes, nachhaltiges Leben • Alternative Lebensformen kennenlernen: Einblicke in die Planung des Projekts und das Leben auf der Plattform • Low-Tech statt Hightech: Ideen für ein nachhaltiges Leben im Einklang mit der Natur • Selbstversorger werden: Erfahrungen, Inspiration und kreative Lösungsansätze für Interessierte Spannender Erfahrungsbericht: Das ist mit Low-Tech und Naturverbundenheit möglich! Als Ingenieur ist Corentin de Chatelperron immer auf der Suche nach »grünen Lösungen« für die Herausforderungen unserer Zeit. Er baute ein Boot, das komplett aus Jute bestand, und stellte in seinem ersten Buch »Sailing for Future« Ideen und konkrete Projekte für ein autarkes Leben auf See vor. Auch bei seinem neuen Experiment setzt er auf Ideen, mit denen sich unsere Bedürfnisse auf einfache und ökologische Weise decken lassen. Ein faszinierendes Buch für Selbstversorger, Abenteurer und Idealisten, das zeigt, wie viel Nachhaltigkeit realisierbar ist!

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Seitenzahl: 273

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Zeit:5 Std. 35 min

Sprecher:Jan Sören Meyer

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CORENTIN DE CHATELPERRON

LIVINGFOR FUTURE

WIE ICH MIT LOW-TECH MEINEEIGENE BIOSPHÄRE SCHUF

AUS DEM FRANZÖSISCHEN VONCAROLIN FARBMACHER, CHRIS KEUTMANN-WOHLTHATUND CLAIRE SCHMARTZ

Ich vermute, dass es eine Süßwasserkrise geben könnte; also baue ich meinen Entsalzer auf. Mittels der Sonnenenergie wird er Meerwasser in Süßwasser umwandeln. Falls es nicht ausreichend regnet, wird das lebenswichtig sein.

Meine Biosphäre braucht täglich über 20 Liter Wasser. Bekommt sie weniger, führt das zu einer Katastrophe für das gesamte Ökosystem. Jeder Regen ist ein Geschenk des Himmels. Die Tropfen fallen auf die Überdachung, fließen in die Wasserrinnen, und ich kann meine Wasserbehälter auffüllen.

INHALT

1AUF ZUM MARS

2VORBEREITUNGEN

3ALLEIN – MIT DEN ANDEREN

4MATRIX ÜBERNIMMT DIE MACHT

5MISSION UNTER KONTROLLE

6CONDITIO ANIMALIS

7CONDITIO HUMANA

8DAS ÖKOSYSTEM DREHT DURCH

9DAS ÖKOSYSTEM BIN ICH

EPILOG

Das Überdachungsgerüst überspannt 40 der insgesamt 70 Quadratmeter meiner Bambusplattform. Es macht es möglich, Regenwasser aufzufangen, und bietet den Kultur- und Anzuchtgefäßen Schatten. Diese Plattform, die im Zentrum einer thailändischen Bucht dümpelt, wird während der nächsten vier Monate mein Zuhause sein. Rund um sie herum ist der Blick auf die Felsspitzen des Naturschutzgebietes überwältigend.

1

AUF ZUM MARS

BUCHT VON KOH CHONG LAT TAI NOVEMBER 2017

WIR SITZEN IM SCHNEIDERSITZ AUF ALTEN HOLZDIELEN UND NATT DISKUTIERT AUF THAI MIT DEN DREI FISCHERN. SO KANN ICH UNSERE UMGEBUNG BETRACHTEN, DER ATMOSPHÄRE DES ORTES NACHSPÜREN. ICH HABE NUR WENIGE MINUTEN, UM MICH ZU VERGEWISSERN, OB DIES DER RICHTIGE FLECK IST.

Ein feiner Regen fällt auf das Wasser. Der Horizont ist durch den Nebel wie ausradiert. Überall um uns herum erheben sich hoch aufragende Felsriesen – von oben bis unten mit dichter dunkelgrüner Vegetation bedeckt. Die Landschaft liegt wie in undurchdringlicher Feuchtigkeit erstarrt; sie erstickt alle Geräusche, überdeckt die Gerüche, hält die Zeit an. Wenn ein Schwarm Flugsaurier zwischen zwei Gipfeln aufstiege, würde es niemanden wundern.

Wir befinden uns auf einer schwimmenden Plattform; davon sind ca. ein Dutzend weitere in der Bucht verankert. Wie diese besteht auch unsere aus allem, was die Gegend hergibt: aus unterschiedlichsten Planken, Treibholz, verrosteten Nägeln, Bambus, durchlöcherten Blechen und ramponierten Tauen. Alles zusammen bildet ein rechteckiges Floß von etwa 70 Quadratmetern. Dank einiger Styroporblöcke, die unter ihm angebracht sind, schwebt das Floß ein gutes Stück über dem Wasser, Seine Mitte ziert eine windschiefe Hütte. Gelebte Postapokalypse. Man wähnt sich in einem Film, in dem die Menschen sich mit den Trümmern einer versunkenen Zivilisation behelfen müssen.

Einer der Fischer sitzt in der Hängematte und rollt seinen Tabak in ein Blatt. Die anderen beiden sitzen vor uns. Sie servieren Kaffee in abgeschnittenen Plastikflaschen. Ihre Bewegungen sind langsam, ihre Stimmen ruhig und bedächtig, als ob das Leben in Zeitlupe abliefe. Mit dem Einlaufen in diese Bucht sind wir in eine andere Raumzeit eingetreten.

Ich tippe Natt auf die Schulter, um zu erfahren, was sie erzählen.

»Das sind hier Algenfarmen. Die Fischer wohnen nicht hier, sondern kommen ab und zu zur Algenernte. Manche züchten hier auch Fische«, erklärt er mir.

Er weist mit dem Daumen zu den anderen Plattformen. Dort gibt es keinen Holzboden, nur ein Bambusgitter mit viereckigen Lücken. In jeder Lücke steckt ein Netz, das Algen oder Fische enthalten sollte.

Ich stelle die Frage, die mir auf der Seele brennt: »Haben sie eine ungenutzte Plattform?«

Natt gibt die Frage auf Thai weiter. Ich studiere ihre Gesichter in dem Versuch, ihre Antwort abzulesen. Einer der beiden zögert nicht lange, was eher nichts Gutes verheißt. Argh! Ein gerade in meinem Kopf errichtetes Gedankengebäude bricht in sich zusammen. An diesem Morgen waren wir mit Natt im Boot in dieser hinreißend schönen Bucht weit hinausgefahren. Wir sahen innerhalb weniger Sekunden diesen Archipel aus Plattformen, die auf dem Wasser dümpelten. Dieses Bild hatte sich in meinen Kopf festgesetzt. Wir waren auf dem Weg zu einer Standortbestimmung auf Koh Ka Rot, einer Insel, die ich per Satellitenbild geortet hatte. Auf dem Weg dorthin musste mein Gehirn das Bild unbedingt analysieren – ohne dass ich es darum gebeten hatte und ohne mich vorzuwarnen. Bis zu dem Moment, wo wir mit nackten Füßen auf dem Sand von Koh Ka Rot standen und damit beschäftigt waren, die gigantische Steilklippe zu erforschen, die uns überragte. Ich sagte zu Natt:

»BER MUSS MIR MEINE ENTTÄUSCHUNG ANGEMERKT HABEN. UND ES WAR GENAU IN DIESEM AUGENBLICK, ALS MEIN GEHIRN MIR SEINE IDEE UNTERBREITETE: UND WENN DAS FLECKCHEN, DAS ICH SUCHE, KEINE INSEL IST, SONDERN EINE DIESER SCHWIMMENDEN PLATTFORMEN? ABER NATÜRLICH!«

»Auf den Satellitenbildern hätte ich mir nie vorstellen können, dass die Klippe so hoch ist.«

»Wenn du dich langweilst, kannst du Klettertouren machen!«

»Das Problem ist, dass sie am Vormittag mindestens vier Stunden lang einen Schatten wirft.«

Er muss mir meine Enttäuschung angemerkt haben. Und es war genau in diesem Augenblick, als mein Gehirn mir seine Idee unterbreitete: Und wenn das Fleckchen, das ich suche, keine Insel ist, sondern eine dieser schwimmenden Plattformen? Aber natürlich! Ich ließ die Liste meiner Anforderungen an den idealen Ort für mein Experiment Revue passieren. Alles passte. Eine schwimmende Plattform wäre perfekt. Keine Stunde später gingen wir in dieser Bucht an Land.

Der Fischer, der mit seiner Zigarette in der Hängematte schaukelte, sagte etwas. Der andere riss die Augen auf, als ob er sagen wollte: »Na klar, stimmt ja!« Er sagte etwas zu Natt, und sie setzten das Gespräch fort. Es ist nervtötend, wenn man nichts versteht. Nach einigen Minuten, in denen ich mich zusammenriss, tippte ich Natt wieder auf die Schulter. »Also, Natt, ist denn nun eine frei?«

»Sie haben eine, die nicht mehr gebraucht wird. Sie meinen, du kannst dich darauf einrichten, so lange du willst. Sie sind von deiner Idee angetan.«

Innerlich berste ich vor Ungeduld. Wir werden sie uns anschauen! Wir springen ins Boot und legen an dieser Wahnsinnsplattform an. Es ist lediglich ein Gitter aus Ästen, das auf Styroporblöcken montiert ist. Sparsamer könnte es kaum sein. Wie ein Seiltänzer balanciere ich auf einem der Äste. Ein rostiger Nagel ritzt mir den Fuß auf. Ein paar Tropfen Blut quellen hervor. Ich bleibe stehen. Ist das der richtige Ort? Der Nieselregen benetzt meine Haut und bildet kleine Bäche auf meiner Regenjacke. Die Berggipfel der Insel sind vom Nebel verhüllt und scheinen unergründlich. Nichts ist einladend oder deutet auf ein warmes Willkommen hin; alles ist kalt und feucht. Dennoch bin ich im tiefsten Inneren überwältigt. Es ist entschieden. Hier werde ich 120 Tage verbringen.

DIE GOLD OF BENGAL

NATTS WAGEN SAUST AUF DER STRASSE DURCH REIHEN VON ÖLPALMEN DAHIN. ES WIRD DUNKEL. WIR SIND AUF DER RÜCKFAHRT. ICH BIN IN GEDANKEN VERSUNKEN. NUR WENIGE MINUTEN HABE ICH DIESE PLATTFORM GESEHEN, ABER DAS HAT GEREICHT. ICH WAR VON DIESEM ORT WIE MAGNETISIERT. ICH WEISS, DASS DAS DIE RICHTIGE ENTSCHEIDUNG IST. WEGGABELUNG 8632 DES LEBENS. UND ICH HABE BESCHLOSSEN, IHR ZU FOLGEN. SCHAUEN WIR, WOHIN SIE MICH FÜHRT.

Natt wirft mir einen Blick zu und fragt: »Was hältst du davon?«

Ich sage mit breitem Lächeln: »Ich denke, wir können aufhören zu suchen!«

Wieder herrscht Stille im Wagen. Am Fenster defilieren die Palmen vorbei, genau wie in meinem Kopf die letzten Jahre. Ich sehe mich wieder vor etwa vier Jahren an Bord der GOLD OF BENGAL, meinem kleinen Segelboot mit dem Flair eines Piratenschiffs. Ich steuerte es ganz allein durch die unbewohnten Archipele im Golf von Bengalen. Nun, nicht ganz allein. Neben mir am Ruder hing ein kleiner Hühnerstall mit meinen treuen Mannschaftsmitgliedern Weißhenne und Rothenne. Auf der Brücke trugen zwei Bambusrohre das große Dreieckssegel, und vorn durchschnitt der Vordersteven in Form eines zum Himmel gebogenen Horns den Ozean.

Ich war für eine Reise von sechs Monaten an Bord gegangen – angetrieben durch eine Mission und einen Traum. Die Mission: Das Boot testen, das das Ergebnis von zwei Jahren Arbeit in Bangladesch war. Es ging dabei hauptsächlich um ein innovatives Material auf Jutebasis. Ich wollte seine Festigkeit durch diese große Prüfung in der Natur testen, bevor ich es weiterentwickelte. Mein Traum: autonom mit simplen Systemen zu leben. Meine Nahrung, mein Wasser und meine Energieversorgung an Bord selbst zu produzieren. Ich hatte einen manuellen Entsalzer zur Süßwassererzeugung, einen Holzsparofen und einen Solarofen zum Kochen an Bord, vorn ein Gewächshaus für Kartoffeln und Gemüse, einen kleinen Zitronenbaum gegen die Vitamin-C-Mangelkrankheit Skorbut sowie zwei Hühner für die Eier. Sechs Monate wollte ich außerhalb jeder Zivilisation verbringen – ein Leben wie Robinson Crusoe. Mein großes Ziel war, mit mehr Nahrung zurückzukommen, als ich mitgenommen hatte!

Ich hatte mich mit großer Begeisterung in dieses Abenteuer gestürzt, trotz der heiklen Bedingungen, die ich freiwillig auf mich nahm. Was mich genau anzog, kann ich nicht vollständig erklären. Ohne Zweifel ging es um meine Vorstellung von Freiheit und Glück – mit einem Minimum mitten in großen Naturräumen zu leben. Vielleicht wird jedes Kind mit dieser Begeisterung geboren, sich ins Abenteuer zu stürzen, sich Hütten zu bauen, zu erforschen, zu entdecken, zu staunen, und wenn man größer wird, legt sich das bei den einen und bei anderen bleibt es lebendig. Bei mir hält es sich zäh. Ich gehöre zu denen, die bei Unbequemlichkeit aufblühen und in der Bequemlichkeit verweichlichen.

Unbequemlichkeiten und Abenteuer sollten nicht ausbleiben. Die ersten Etappen waren aus dem Reich der Mythen. Eine burmesische Insel mit geheimnisvollen und heimlich erscheinenden Booten. Und dann der düstere Vulkan, der sich draußen weit vor den Andamanen aus dem Wasser erhebt. Eine echte Insel für Schatzsucher, umgeben von Korallen und vielfarbigen Fischen. Und dann Tilanchang! Diese Bucht im Nikobaren-Archipel mit ihrem großartigen Eingangsportal, das von majestätischen Steilfelsen bewacht wird! Die Ankunft war denkwürdig. Eine leichte Brise trieb mein kleines Segelboot sanft auf einen jungfräulichen Strand ohne jede menschliche Spur zu; ein zartes Sandband trennte die Spiegelfläche des Ozeans von einem Gebirgskamm, der über und über mit Bäumen, Schlingpflanzen, Moosen, Blättern und Blumen bedeckt war. Zug um Zug erforschte ich diese unberührten Refugien des Planeten, die so wild und reich an pflanzlichem und tierischem Leben waren. Ich entdeckte mit Schrecken und Staunen, was der Planet so machte, wenn man nicht dabei war.

Aber parallel zu diesen magischen Augenblicken fiel mein gesamter Plan des autonomen Lebens in sich zusammen.

Die Blätter der Kartoffeln fielen ab, bevor sie in der Hitze starben. Die Hühner legten keine Eier, zweifellos war es zu viel für sie, dass ihr Stall über dem Ozean hing. Im Lauf der Wochen hatten sich meine Nahrungsvorräte erschöpft. Termiten attackierten meinen Bambusmast. Er brach schließlich bei einem Windstoß am Fuß der Felsen vor der Nordspitze von Sumatra.

Mir wurde bewusst, dass ich zwar Ingenieur war, aber allein und ohne Zugang zu den nötigen Kenntnissen nicht viel zuwege brachte. Mir fehlte eine ganze Menge Know-how. Es hatte Generationen und Jahrhunderte der Versuche und Irrtümer gebraucht, um herauszufinden, wie man Kartoffeln oder Bohnen zum Wachsen bringt, und ich würde das nicht in ein paar Monaten neu erfinden. Mein Wissen, wie man eine Quadratwurzel zieht, trug nichts dazu bei, die Wurzeln meiner Gurken sprießen zu lassen. Es war frustrierend, sich bewusst zu werden, dass alle Kenntnisse, die mir fehlten und die der Genialität von Menschen entsprangen, irgendwo vorhanden waren, ich aber keinen Zugang dazu hatte!

Als die sechs Monate vorbei waren, kehrte ich jedenfalls nicht, wie erhofft, mit mehr Nahrung zurück, als ich auf die Reise mitgenommen hatte.

Aber ich kam mit etwas viel Besserem wieder: einer Idee. Ideen muss man misstrauen. Sie liegen quasi in der Luft und warten auf ein Opfer. Wenn eine Idee auf einen herabstürzt, kann sie sich in den tiefsten Bereichen des Gehirns einnisten und die Führung über das eigene Leben übernehmen. Sie ergreift Besitz von einem. Zunächst noch zurückhaltend, gibt sie Anregungen, dann wird sie deutlicher, besitzergreifender, bestimmender, allgegenwärtig. Sie ist nun mein erster Gedanke beim Aufwachen. Sie ist es auch, die mich für vier Monate an diese Plattform bindet. Und sie ist der Ausgangspunkt für die Geschichte, die ich nun erzählen werde.

Von Ideen wie dieser, die in der Luft liegen, gibt es sicher gute und schlechte. Ich hatte Glück, mir war eine gute zugeflogen. Glaube ich jedenfalls …

»ICH SEHE MICH WIEDER VOR ETWA VIER JAHREN AN BORD DER GOLD OF BENGAL, MEINEM KLEINEN SEGELBOOT MIT DEM FLAIR EINES PIRATENSCHIFFS. ICH STEUERTE ES GANZ ALLEIN DURCH DIE UNBEWOHNTEN ARCHIPELE IM GOLF VON BENGALEN. NUN, NICHT GANZ ALLEIN. NEBEN MIR AM RUDER HING EIN KLEINER HÜHNERSTALL MIT MEINEN TREUEN MANNSCHAFTSMITGLIEDERN WEISSHENNE UND ROTHENNE.«

DIE NOMADE DES MERS UND DIE IDEE DER BIOSPHÄRE

UNSERE ROUTE FÜHRT ENTLANG DER KÜSTE IM SÜDOSTEN VON PHUKET. BEI DER ANKUNFT ERKENNT MAN IM LETZTEN TAGESLICHT IN DER FERNE DIE RIESIGE BUDDHASTATUE, DIE ÜBER DER BUCHT VON CHALONG AUFRAGT. ARMER BUDDHA, VON SEINEM HÜGEL AUS ÜBERBLICKT ER STRASSEN VOLLER HOSTESSENBARS. DAS ENTSPRICHT WOHL NICHT GANZ DER LEHRE BUDDHAS.

Am schlimmsten geht es aber hinter seinem Rücken zu. Der Badeort Patong ist quasi der Urtyp menschlicher Ausschweifungen. Eine Zone, die für die Vernunft verloren ist und von der Begierde überwältigt wurde. Ein altes Schlachtfeld, auf dem Buddha viel Schweiß gelassen hat. Dasselbe Schlachtfeld, auf dem sich schon viele Weise, Denker und generell alle geschlagen haben, die sich die Zeit nahmen, über Gut und Böse nachzudenken, darüber, was der Mensch tun sollte und was nicht, ganz unabhängig von der Religion, der philosophischen Strömung oder der Epoche, die sie erlebt haben. Wenn es einen gemeinsamen Nenner für sie gibt, dann, dass man sich dort nicht hinbegibt. Nicht nach Patong! Wie um Buddha zu quälen, wurde er dort oben auf der Spitze des Hügels platziert, der das perfekte Sinnbild dessen überragt, was man nicht werden sollte. Wenn er nicht im Beton erstarrt wäre, hätte er mit lautem Protestschrei seinen Hügel schon vor langer Zeit verlassen.

Wir parken, und ich springe aus dem Wagen.

»Danke, Natt.« Nächste Etappe: Bambus für den Boden der Plattform bestellen. Nach meiner Berechnung brauche ich 150 Stangen à 7 Meter.

»Kein Problem, ich weiß schon, wen ich fragen muss. Die liegen schon bereit, bevor du da bist.«

»ICH EILE DEN STEILEN ABHANG HINUNTER, DER ZU DEM KLEINEN STRAND DER BUCHT VON AO YON FÜHRT. MEINE FÜSSE DRÜCKEN SICH IN DEN NOCH WARMEN SAND. VOR MIR, VIELLEICHT 50 METER VOM UFER ENTFERNT, WIEGT SICH EINE DUNKLE SILHOUETTE SANFT IN DER DÜNUNG.«

Natt verabschiedet sich mit einem Handzeichen und fährt wieder an.

Natt ist Thai und etwa 30 Jahre alt. Ich bin ihm hier vor einigen Monaten bei den Arbeiten für einen Dokumentarfilm zur Zucht essbarer Insekten begegnet. Er ist mit der Gegend bestens vertraut und spricht sehr gut Englisch. Er bietet seine Dienste den Produzenten ausländischer Filme an. Unsere gemeinsame Leidenschaft für die Natur hat uns einander nähergebracht – und als ich ihm von meinem Projekt erzählte, bot er mir an, mir dabei zu helfen.

Ich eile den steilen Abhang hinunter, der zu dem kleinen Strand der Bucht von Ao Yon führt. Meine Füße drücken sich in den noch warmen Sand. Vor mir, vielleicht 50 Meter vom Ufer entfernt, wiegt sich eine dunkle Silhouette sanft in der Dünung.

Die NOMADE DES MERS ist ein Katamaran. Nach meiner Rückkehr von dem Abenteuer an Bord der GOLD OF BENGAL mit dieser hartnäckigen und in meinem Kopf fest verankerten Idee habe ich mit ein paar Freunden eine Gesellschaft aufgebaut. Wir fanden Partner, sodass wir diesen alten Freizeitsegler kaufen konnten. Sein Heimathafen wurde Concarneau, ein Ort in der Bretagne, wo wir ihn zu einem echten schwimmenden Labor umbauten. Anfang 2016 lichteten wir dann den Anker zu einer Weltumseglung auf der Suche nach »Low-Tech-Innovationen«. Dabei handelt es sich um Technologien und handwerkliche Kenntnisse, die nützlich sind, da sie grundlegende Bedürfnisse erfüllen, wobei sie gleichzeitig jedoch auch für jedermann zugänglich und nachhaltig sind. Ein Windrad, das mit im Senegal recycelten Druckermotoren arbeitete, eine Methode zum Gemüseanbau mit sehr wenig Wasser von den Kapverden, ein System zur Erzeugung von Gas und Dünger aus organischen Abfällen in Brasilien … An jeder Station trafen wir Unternehmer, NGO-Vertreter, Studenten, Frauen und Männer, die einen verrückten Einfallsreichtum an den Tag legen, um ein lokales Problem zu lösen. Jede Station kam einem begeisternden Eintauchen in ein neues Universum gleich. Überall entdeckten wir pfiffige Ideen der Improvisationskunst, der Wiederverwertung, der Umwidmung von Gegenständen und der Trick-17-Strategie, um Zugang zu Wasser, Energie oder Nahrung zu erhalten. Es scheint, also ob es auf der Welt jeden Tag zu genialen Erfindungen kommt, damit aus weniger mehr entstehen kann. Aber diese Perlen bleiben oft auf lokaler Ebene stecken und unerkannt, auch wenn sie manchmal Millionen von Menschen dienen könnten. Hier kommen wir ins Spiel: Wir prüfen jede dieser Innovationen; dann dokumentieren wir sie in Form von Anleitungen und Videos, die wir kostenlos über das Internet oder das Fernsehen bereitstellen, damit andere sich inspirieren lassen und sie nachbauen können. Unser Ziel: die Verbreitung von Kenntnissen zu beschleunigen, die Zugang zu gesunden und nachhaltigen Lebensweisen verschaffen. Seit Beginn unserer Tour haben wir in elf Ländern Halt gemacht und etwa 40 Low-Tech-Lösungen studiert. Ich weiß, dass noch Dutzende andere existieren, die vielversprechend sind. Und ich bin überzeugt, dass sie zu kennen die Welt verändern könnte.

Das Paddleboard liegt am Strand, und ich setze es ins Wasser, kauere mich darauf und paddele in Richtung des Bootes. Ein Boot, das im Hafen bleibt, ist immer noch ein Boot. Aber Boote, die wie die NOMADE DES MERS die unendlichen Weiten der Ozeane hinter sich gebracht, Stürmen getrotzt, sich durch Sturzwellen gekämpft haben, mit Delfinen und Walen geschwommen sind, Boote, die in weltvergessenen Buchten geankert, Tausende Sonnenaufgänge gesehen, Zeitzonen und Sternbilder hinter sich gelassen haben und Herberge für eine Mannschaft inmitten der blauen Unermesslichkeit gewesen sind, solche heben sich aus der Welt der bloßen Gegenstände hervor. Denn wenn Menschen Vertrauen in einen Gegenstand bis zu dem Punkt haben, an dem ihr Leben von ihm abhängt, oder wenn sie mit ihm extreme Erfahrungen teilen, dann hat der Gegenstand das Recht, zur Welt der Lebenden zu gehören. Das Recht der eigenen Geschichte und Persönlichkeit, der Gefühle und Launen. Man nimmt Rücksicht und hat Respekt. Und so erging es der NOMADE DES MERS. Sie ist lieb, aber sie fordert auch viel Zuneigung.

An Bord ist Licht. Karel und Thomas, meine beiden derzeitigen Crewmitglieder, sollten gerade ein Tüftelprojekt beendet haben. Ich verstaue das Paddleboard hinten am Backbordrumpf des Katamarans und klettere die zwei Stufen zum Cockpit hoch. Sie befinden sich mitten in einer Debatte über den Holzsparofen, den wir während unserer vorigen Station in Indien studiert haben.

»Hallo Leute! Was gibt’s Neues seit heute Morgen?«, frage ich.

»Wir sind immer noch bei dem Pyrolysekocher: Wir müssen Vergleichstests machen, um die Abmessungen des Belüftungsgitters gut dokumentieren zu können. Bei zu viel Luft verliert er an Leistung und braucht zu viel Holz; bekommt er zu wenig Luft, besteht die Gefahr, dass er ausgeht und dass er qualmt. Und bei dir? Was hat diese Insel gebracht?«

»Geht so«, antworte ich. »Es gibt auf der Insel eine gigantische Steilküste, die ich im Satellitenbild nicht erkennen konnte. Aber ich habe etwas viel Besseres gefunden. Eine Schwimmplattform mitten in einer Bucht in einem Naturschutzgebiet. Die ist ideal, um meine Low-Tech-Biosphäre zu testen!«

Ich verschwinde in unserem Wohnbereich, steige die drei Stufen zum Steuerbordrumpf herab, bewege mich durch den Gang und hieve mich in meine Kabine. Sie ist fast so groß wie eine – liegende – Telefonzelle. Wenn ich nicht schlafe, kann ich im Schneidersitz darin hocken und ein Tischchen herabklappen. Ich öffne mein Heft und beeile mich, die ersten Pläne für die Plattform zu Papier zu bringen.

Zwischenstopps in 11 Ländern für Tests, Messungen und zur Verbreitung unserer Low-Tech-Innovationen.

Es war an einem Vormittag vor einem Jahr während unserer Madagaskar-Etappe, als ich in dieser Kabine anfing, das Projekt der Low-Tech-Biosphäre zu entwickeln. Wir hatten am einzigen Kai von Toliara im Süden von Madagaskar festgemacht. Diese faszinierende Region leidet immer mehr unter Trockenheit. Und mit der Trockenheit gewinnen Armut und Unterernährung an Boden. Wir machten hier Station, um die Spirulinazucht zu studieren.

Diese Mikroalgen sind leicht zu erzeugen und genügsam; sie ermöglichen den Kampf gegen Mangelernährung. An dem Morgen überflog ich einen Artikel eines wissenschaftlichen Fachmagazins. Ich glaube, dass die Lektüre dieses Artikels die Idee, die in meinem Kopf festgemacht hatte, freigesetzt hat. Zäh wie sie war, konnte ich sie nicht immer zufriedenstellen. Ich hatte zwar mein Leben seit drei Jahren vollkommen in ihren Dienst gestellt; sie aber wollte, dass ich darüber hinausging. An diesem Vormittag übernahm sie das Kommando. Es war die Geburtsstunde der »Low-Tech-Biosphäre«. Noch wenige Jahre zuvor sagten mir diese drei Worte überhaupt nichts. Jetzt drehte sich mein ganzes Leben um sie.

Zu dem Zeitpunkt bin ich 33 Jahre alt, Ingenieur, Bretone und habe einige Jahre in Bangladesch gelebt, bevor ich mich in das Expeditionsabenteuer NOMADE DES MERS stürzte. Auf das Leben in Bangladesch, einem der ärmsten Länder der Welt, Textilfabrik des gesamten Planeten und ganz oben auf der Liste der von der Klimaerwärmung betroffenen Regionen, folgte diese Weltreise der Low-Tech-Lösungen, die sich gleichzeitig als Welttournee unserer Erdbewirtschaftungsfehler herausstellte und mich zum Zeugen für die negativen Konsequenzen unseres Lebensstils machte. Meine Vorstellung von der Welt wurde erschüttert. Es waren die Jahre, in denen die Wissenschaftler Alarm schlugen angesichts von Problemen, die nicht gleich sichtbar waren: das massive Artensterben und die Zerstörung von Ökosystemen im kleinen wie im großen Maßstab.

Aber diese Reisen machen es mir auch möglich, Zeuge einer völlig anderen Vision unseres Planeten zu sein: seiner tiefgründenden Schönheit, der Wunder der Natur, des Granitfelsens über Rio de Janeiro, der grandiosen Sonnenuntergänge über dem Dschungel von Sumatra bis zu den minimalistischen Sonnenaufgängen inmitten des Ozeans, von den Walen mit ihren Sprühfontänen draußen im Meer vor Brasilien bis zu den Schulen von Delfinen, die im Roten Meer mit dem Schiffsbug spielen, von den wilden Buchten der Inseln im Golf von Bengalen bis zu den Sternennächten, durch die die Sternschnuppen ziehen.

Alles quillt über mit den Bildern, die vor der Küste einer Region dieser Welt in meinem Kopf herumschwirren, die durch ihre Naturwunder und ihr menschliches Elend die zwei Lesarten für die Lage unseres Planeten veranschaulichen, die ich an diesem Vormittag beim Aufblättern eines Wissenschaftsjournals vorfinde, das ein Crewmitglied in seinem Gepäck hat. Dabei stolpere ich über einen Artikel über »Space X«, das Programm des Milliardärs Elon Musk zur Besiedlung des Mars.

Durch ein computergeneriertes Bild wurde eine Simulation der Besiedlung des Roten Planeten vorgestellt. Es war eine futuristische Stadt zu sehen. In dem Artikel hieß es: Um einen so weit entfernten Planeten zu besiedeln, könne man in einer Rakete nicht ausreichend Proviant aufnehmen. Dieser müsse vor Ort autonom erzeugt werden. Die einzige Lösung: ein geschlossenes Ökosystem schaffen, d. h. ein »CELSS« (Closed Ecological Life Support System) – eine Kombination von Technologien und Lebewesen für die Produktion von Sauerstoff, Nahrung und der Energie, die für das Leben in einer so lebensfeindlichen Zone nötig ist. Dazu wurden verschiedene Experimente auf der Erde durchgeführt. Das bekannteste ist ohne Zweifel »Biosphäre 2« in den Vereinigten Staaten (»Biosphäre 2«, weil man die Gesamtheit der Ökosysteme der Erde als die »Biosphäre« bezeichnet). Es handelte sich dabei um eine Art Gewächshaus, das völlig von der Außenwelt abgeschnitten war und ein komplexes Ökosystem beherbergte, welches einem Team von Wissenschaftlern alles liefern sollte, was sie zum Leben benötigten. Ziel war herauszufinden, ob es möglich ist, sich auf einem anderen Planeten einzurichten. Ich finde diese Erfahrung fesselnd. Welche Kombination von Technologien und Lebewesen erfüllt die Mindestanforderungen, die ein Ökosystem für den Menschen lebbar machen? Die Wissenschaftler hatten sich in ihrer Glaskuppel eingeschlossen. Aber nach ein paar Monaten bemerkte man bei den lichtdurchlässigen Innenwänden, dass die Testpersonen sich immer langsamer bewegten. Ihnen fehlte Sauerstoff! Daraufhin wurde das Experiment abgebrochen. Ein zweiter Versuch wurde gestartet, aber es gab viel Streit und Uneinigkeit unter den Besatzungsmitgliedern – und so wurde auch dieser Versuch abgebrochen. Man war offensichtlich noch nicht bereit für die Besiedlung eines anderen Planeten.

Kurz gesagt – das Projekt von Elon Musk war sehr ehrgeizig. Es erforderte Dutzende Jahre, Milliarden von Dollar und Tausende der bestqualifizierten Gehirne der Welt.

Angesichts dieser Daten – und zweifellos ein wenig auch der Hitze der madagassischen Wüste geschuldet – prallten meine Neuronen aufeinander und setzten Tausende von Fragen frei:

Warum auf den Mars – diesen eisigen Wüstenplaneten (mit einer Durchschnittstemperatur von –63 °C), so fern und ohne Luft zum Atmen? Warum dorthin, wenn man einen so schönen Planeten hat, auf dem so viele Probleme zu lösen sind? Was suchen wir Menschen? Sind unsere neuartigen Technologien auf ein Ziel ausgerichtet?

Ist unser Fortschritt zielgerichtet? Was das Projekt von Elon Musk angeht, so erscheint es mir nicht zielgerichtet zu sein – weder auf unser Wohlbefinden noch auf das des Planeten. Der Mars ist nur eine idealistische Versuchung, Tabula rasa zu machen; Mars, das ist das »Control Z« unserer Zivilisation, die Illusion, dass man auf einem weißen Blatt neu anfangen und es besser machen kann.

Wie kann man daran denken, einen anderen Planeten zu bewirtschaften, wenn der Umgang mit dem eigenen so schlecht ist?

Warum sollte man so viel Hirn und Geld in Zwecke stecken, die so weit von unseren Vordringlichkeiten entfernt sind?

Und stellen sich andere Leser dieses Artikels dieselben Fragen wie ich?

Sorgenvoll schlüpfte ich in die Turnschuhe und brach zu einem Lauf an der Küste von Toliara auf – wenn ich Sorgen habe, dann laufe ich immer. Zunächst entlang des großen Deichs, dann auf dem Strand bis zu einem Mangrovenarm, der sich ins Land drückt. Der Weg mündet in Salzgärten – Dutzende rechteckiger, mit Erde umrandeter Wasserbecken. Hier arbeiten die Madagassen; ihre Haut ist von der Sonne schwarz gefärbt, sie bildet den vollkommenen Kontrast zum gleißenden Weiß des Salzes. Als ich die Salzgärten mit großen Schritten durchquert hatte, kam ich bei den Sanddünen an. In wenigen Minuten war ich mitten in einer echten Wüste. Ein Glutofen.

Während ich lief, dachte ich wieder an diesen Artikel und versuchte herauszufinden, was mich so erschüttert hatte.

Der Teil meines Gehirns, der für Optimismus und Vertrauen in die Zukunft zuständig war, hatte wohl einen bösen Stich erhalten. Ich war beleidigt – weil man diesen fesselnden Versuch unternimmt und so viel Energie investiert für einen so öden Planeten. Seit Jahren versuche ich, mit meiner Gesellschaft Überzeugungsarbeit zu leisten, dass wir besser und gesünder leben und dabei die Erde respektieren können. Und gleichzeitig schmeißen Milliardäre das Geld quasi aus dem Fenster unseres Planeten.

Deshalb bin ich beleidigt. Und fühle mich betrogen. Ein paar Dünen weiter taucht wieder der Ozean auf. Der weiche, heiße Sand hat dem harten, feuchten Sand des Strandes Platz gemacht. Ich lege einen Schritt zu und folge der bewegten Linie der Brandung.

Ich hatte eine Ahnung, dass man mit all den Low-Tech-Innovationen, die wir erfasst haben und die zuvor nie zusammengestellt worden waren, geniale Kombinationen finden könnte, die ein gutes Leben bei guter Gesundheit selbst in den lebensfeindlichsten Winkeln der Erde erlauben würden. Ich hatte eine Ahnung, dass das, was mit »Space X« auf dem Mars geplant war, auch auf der Erde als Low-Tech-Version möglich war, sodass jeder darauf Zugriff haben konnte.

Ich hatte also diese Ahnung.

Aber eine Ahnung zu haben, reichte mir nicht.

Ich musste es machen.

Die Idee hatte wieder zugeschlagen.

Zurück in meiner kleinen Kabine, schrieb ich mit großen Buchstaben auf mein Logbuch: »Die Low-Tech-Biosphäre«. Auch ich würde eine Biosphäre schaffen, und zwar nicht, um den Mars zu besiedeln, sondern um an jedem beliebigen Ort der Erde mit einem Minimum an Ressourcen leben zu können: ein Ökosystem zur Erzeugung von Wasser, Energie und der benötigten Nahrung in einem wüstenartigen Umfeld.

Ich hielt meine Herausforderung in großen Zügen auf Papier fest: vier Monate allein leben, abgeschnitten von der Welt, in einer lebensfeindlichen Zone, als Selbstversorger, dank einer Auswahl von 30 Low-Tech-Lösungen.

Das wollte ich nicht tun, um die ganze Welt zu überzeugen. Nein, Elon Musk wird überdies vermutlich nie von meiner Low-Tech-Biosphäre hören. Daher ist es unwahrscheinlich, dass er seine Pläne ändern und dieses Geld und die vielen Hirne nobleren Zielen zuwenden wird.

Nein, ich möchte mich zu gern selbst überzeugen, mich überzeugen, dass ich auf dem richtigen Weg bin, dass alles, was ich seit Jahren tue, plausibel und sinnvoll ist. Dass ich an einem Fortschritt mitwirke, der auf unser Wohlergehen und das unseres Planeten ausgerichtet ist. Ich will mich selbst überzeugen, damit ich mit voller Kraft fortsetzen kann, was ich begonnen habe.

Und wenn ich mich selbst nicht überzeugen kann, nun gut … dann bewerbe ich mich für die Besiedlung des Mars!

Das ist der Beginn des Experiments: Alles Material wird aus dem Boot entladen. Meine Teammitglieder brechen auf, und ich werde für alles einen Platz finden müssen. Ich frage mich, wie weit wohl meine Planung und die Wirklichkeit auseinanderklaffen werden. Werde ich diese Herausforderung bestehen?

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VORBEREITUNGEN

TAG -70 AO YON

ES IST SCHWIERIGER ALS GEDACHT. ICH VERSTEHE, WARUM ELON SICH MIT SO VIELEN WISSENSCHAFTLERN UMGIBT. MEIN COMPUTER HOCKT AUF DEM KLEINEN ROTEN TISCH IM COCKPIT. DRAUSSEN IST HERRLICHSTES WETTER. EIN FRISCH GETRAUTES PAAR FOTOGRAFIERT SICH AN DEM STRAND, DER EINER POSTKARTENIDYLLE GLEICHT. WEITER RECHTS AUF DEN FELSEN SCHIESSEN JUNGE MÄDCHEN SELFIES.

Ich gebe »Nahrungsquelle mit Mangan« im Internet ein. Schon reihen sich die Artikel aneinander. Ich entdecke eine Liste von Nahrungsmitteln mit hohem Mangangehalt. Zwei davon erregen meine Aufmerksamkeit: Eines davon ist Minze. Ich weiß, dass sie einfach zu ziehen ist und sich rasch vermehrt. Ich glaube, dass sie sich durch Wurzelausläufer fortpflanzt. Ich habe sie bereits in einigen Thai-Gerichten gesehen, und daher sollte sie in diesem Klima gut gedeihen. Wikipedia klärt mich auf, dass Minze gut für die Verdauung ist und als Stimulanz gilt. Mehr muss ich nicht wissen: Minze wird eine der Pflanzen meiner Biosphäre sein. Willkommen an Bord! Ich komme mir vor wie Noah, der seine Einladungsliste zur Füllung seiner Arche erstellt, bevor die Sintflut kommt.

Noch ein paar Klicks und ich erhalte die Liste aller Nährstoffe, die in Minze enthalten sind. Ich füge sie in meine Tabelle »Ernährung in der Biosphäre« ein. Die linke Spalte gibt die Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr wieder, d. h. die Nährstoffe, die mein Körper braucht, und die anderen Spalten zeigen die Zusammensetzung der Nahrungsmittel an, die ich während meines Experiments erzeugen und essen will. Ziel ist es, den Cocktail an Nahrungsmitteln zu finden, der meinen Bedürfnissen am besten entspricht. Ich gehe die Tabelle durch. Wie viel Minze müsste ich täglich essen? 100 Gramm würden 45 % meines Manganbedarfs decken. 100 Gramm – das erscheint mir unglaublich viel. Glücklicherweise kann ich auch auf andere Manganquellen zählen. Allerdings ist die Minze auch ein kostbarer Vitamin-B9-Lieferant. Wozu braucht man überhaupt Mangan? Also eine weitere Recherche. »Dieser Nährstoff ermöglicht die Aufnahme von Fetten und Kohlenhydraten.« Praktisch. Er spielt auch eine Rolle bei der Regulierung des Blutzuckerspiegels, bei der Erneuerung des Knochengewebes und einer ganzen Reihe anderer Dinge, die mir sehr nützlich erschienen.

Ich starre auf die Tabelle – nachdenklich. Die Welt der Ernährung ist komplex, und ich verstehe nicht viel davon. Alles, was ich verstehe ist, dass wir viele Spurenelemente brauchen, um die Funktion unseres Körpers sicherzustellen. 13 Vitamine und 22 Mineralstoffen, neben den Kohlenhydraten, Fettstoffen und Eiweißen. Ich denke zurück an die gute alte Zeit der Nudeln mit geriebenem Käse meiner Studententage. Da hätte man nicht viele Kästchen meiner Tabelle abhaken können. Es lässt sich sicher eine Weile davon leben, aber es ist mehr ein Überleben. Ein Mangel an Vitamin C kann zu Skorbut führen; Eiweißmangel zu Kwashiorkor, Vitamin-B3-Mangel zu Pellagra, Eisenmangel zu Blutarmut … Ich habe das Gefühl, von Tausenden von Krankheiten bedroht zu sein. Ich will aber, dass meine Biosphäre ein Leben bei guter Gesundheit und nicht nur ein Überleben ermöglicht.

Ich schaue zum Strand. Das junge Paar ist gegangen, um seine Flitterwochen fortzusetzen. Die jungen Mädchen haben ihre Selfie-Sitzung beendet und sonnen sich am Strand. Sie tanken Vitamin D (das Vitamin, das dank der Sonnenstrahlung gebildet wird).

Ich habe ganze Tage damit verbracht, herauszufinden, welche Nahrungsmittel ich in der Biosphäre erzeugen soll. Ich habe Unmengen an wissenschaftlichen Berichten über Raumfahrten und geschlossene Ökosysteme, über Ackerbau und Ernährung gelesen. Um den maximalen Wirkungsgrad zu erzielen, muss ich darauf achten, dass die Abfälle des einen Systems zu den Ressourcen eines anderen werden.

Mein Urin wird somit zu Dünger für die angebauten Pflanzen und zur Nahrung für die Spirulinakulturen recycelt. Organische Abfälle aus diesen Kulturen werden den Hühnern serviert und für die Aufzucht von Grillen genutzt. Der Kot der Hühner und die von den Grillen und mir produzierten Exkremente werden ein Zusatz für den Pflanzendünger sein. Pilze werden auf Holzabfällen wachsen. Und ich werde Grillen, Eier, Pflanzen, Pilze und Spirulina essen.

Nach meinen Berechnungen werde ich nicht alles auf der Plattform erzeugen können. Ich muss mich damit abfinden, dass totale Selbstversorgung nicht möglich ist. Ich wähle also die Betriebsmittel aus – also die Elemente, die ich einführen muss. Nach meinen Recherchen sind die glücklichen Auserwählten Mais, Öl und Erdnüsse. Ausgewählt habe ich sie aufgrund ihres Nährwertes, ihres niedrigen Preises, ihrer leichten Verfügbarkeit und weil sie sich lange halten. Diese Betriebsmittel kosten mich im Durchschnitt 0,85 € am Tag.