Löffelweise Hoffnung - Caleb Smith - E-Book

Löffelweise Hoffnung E-Book

Caleb Smith

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Beschreibung

Im Alter von acht Jahren entdeckt Caleb Smith seine Liebe zu Kaninchen und erkennt in ihnen Potenzial für mehr: Sie machen Freude und können trösten. Wenig später ruft er ein Programm ins Leben, um auch anderen durch seine Tiere Trost, Wärme und neue Hoffnung zu schenken. Caleb rettet ausgesetzte Kaninchen, beginnt eine Zucht seltener Rassen und verleiht seine hoppelnden Freunde an Familien als "Haustiere auf Probe". Schließlich gelingt es ihm, eine kleine Insel zu kaufen, auf der sich seine Kaninchen frei bewegen können und für den Einsatz als "Therapie- und Trosttiere" geschult werden: Peacebunny Island. Dieses Buch erzählt die außergewöhnliche und warmherzige Geschichte eines jungen Mannes, der uns daran erinnert, dass Liebe, Hoffnung und Freundlichkeit stärker sind als die Dunkelheit in dieser Welt.

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Über den Autor

Caleb Smith folgte bereits im Alter von acht Jahren seinem Traum: ausgesetzte Kaninchen zu retten und Therapietiere aus ihnen zu machen. Heute ist er Unternehmer und Eigentümer einer besonderen Insel im Mississippi: Peacebunny Island. Dort trainiert er seine Kaninchen mit einem großen Ziel: Sie sollen Menschen in allen Lebenssituationen helfen und ihnen Freundlichkeit und Mitgefühl vermitteln.

Für alle, die zu meiner Familie gehören. Mit und ohne Fell.

ANMERKUNG DES AUTORS

Die Geschichte ist genau so passiert, wie ich sie hier erzähle. Sie handelt davon, wie ich als kleiner Junge ein Kaninchen-Start-up-Unternehmen gründete und bald darauf von einer eigenen Insel träumte, auf der ich Kaninchen züchten könnte, die keiner mehr haben will und deren Rassen vom Aussterben bedroht sind. Gleichzeitig wollte ich geeignete Tiere therapeutisch einsetzen, um mit ihnen Menschen in Krisen emotional zu stabilisieren. Die liebenswürdigen Tiere sollen traurigen Kindern und Erwachsenen „hugs, hope and hoppiness“ bringen – also Umarmungen, neue Hoffnung und Freude, während man sie streicheln und ihnen beim Hoppeln zusehen kann. Die Kuschelzeiten mit den geduldigen Kaninchen lassen die Menschen zur Ruhe kommen. Neue Hoffnung kann aufkeimen, und schmerzhafte Erfahrungen treten eine Zeit lang in den Hintergrund. Das war mein Traum: Meine Kaninchen sollten die Welt mit „hugs, hope and hoppiness“ ein bisschen freundlicher machen. Aber ehe ich tatsächlich anfing, bei Google Earth nach einer geeigneten Insel zu suchen, musste noch viel passieren.

Zunächst wurde ich zum Beschützer einer wachsenden Kolonie von Kaninchen. Mit einigen Tieren verband mich eine enge Freundschaft, andere brachten mir vieles bei. Ich gab Hunderte von Kursen über Kaninchenhaltung und baute ein System von Patenfamilien auf, die eine Zeit lang eines meiner Kaninchen ausleihen wollten. Außerdem begann ich, mit den Kaninchen zusammen zu Menschen zu gehen, die unter Einsamkeit, Traumata und Trauer litten. Mit einem Kaninchen im Schoß, das sich weich und warm anschmiegte, trat für sie das Leid eine Zeit lang in den Hintergrund und stattdessen wurde Liebe fühlbar.

Ich habe durch meine Kaninchen viel über uns Menschen gelernt. Ich konnte beobachten, wie wir miteinander umgehen und was wir besser machen können. Immer wieder werde ich Zeuge, wie meine flauschigen Freunde es schaffen, das Gute in den Menschen anzusprechen. Den kleinen Fellknäueln gelingt es, unsere Welt ein bisschen menschlicher zu machen und manches Menschenleben zu verändern. Allen voran mein eigenes.

Nun besitze ich diese Insel, die ich Peacebunny Island genannt habe. Eine Insel für Kaninchen, die Frieden in die Welt bringen. Dorthin kann ich mich zurückziehen, wenn mir alles zu viel wird oder wenn ich ungestört mit meiner Familie, meinen Freunden und meinen Kaninchen zusammen sein will. Peacebunny Island ist der Ort, an dem wir Gott bitten, unsere Herzen zur Ruhe kommen zu lassen, während wir geduldig warten, bis er unsere ganz großen Fragen beantworten wird.

Jeder hat seine eigene Peacebunny-Insel. Für viele existiert dieser Ort, an dem Frieden herrscht, nur im Kopf oder im Herzen. Oft genügt das auch. Mit meinem Buch möchte ich alle Lesenden ermutigen, ihren eigenen Ort der Ruhe zu suchen und immer wieder dorthin zurückzukehren – so wie auch ich das tue.

Caleb Smith

INHALT

TEIL EINS

Peacebunnys – die Kaninchen des Friedens

KAPITEL EINS

Die Geschäftsfelder meines Unternehmens

Eine zerknitterte Dollarnote

Ich bin da-ha!

Wir umarmen uns und dann spielen wir weiter

Snickers

Eine letzte Umarmung

Ich vermisse dich so sehr

KAPITEL ZWEI

Der Kuchen von Hirsch-Oma

Du kannst auf mich zählen, Chef

Wie sucht man einen Freund aus?

Ich möchte Kaninchen retten

3,6 Kilo zum Kuscheln

Paxton Peacebunny

Wir machen Party

KAPITEL DREI

Geschenke für Kaninchen

Siehe Punkt zwei

Von der Weisheit anderer profitieren

Heiliger Boden

Helfen, indem man einfach da ist

Trost

Hallo, ich bin’s, Caleb

KAPITEL VIER

Ein bisschen Privatsphäre, bitte!

Heavenfluff – Himmelsflocke

Können Kaninchen träumen?

Taffy und Oreo

KAPITEL FÜNF

Paxton, der Frauenheld

Kein Kommentar

Verspielt wie Kinder

Kann ich mir Ihre Farm ausleihen?

Bunny Boy

KAPITEL SECHS

Was hast du gegen meine Frisur?

Die Geschichte von den Seesternen

Whatchamacallit

Tator Tot und Fudge – Kartoffelbällchen und Karamellcreme

Unternehmerische Erfolge

Der Forbes-Kongress für Unter-30-Jährige

TEIL ZWEI

Peacebunny Island – eine Insel für Kaninchen, die den Menschen Frieden bringen

KAPITEL SIEBEN

Ich brauche eine Insel

Hastings

Wonderfluff

KAPITEL ACHT

Von oben betrachtet

Tagesthema

Feier des Lebens

Kaninchenspucke

Nicht persönlich gemeint?

Neue Hoffnung keimt auf

KAPITEL NEUN

Halt mal kurz an!

„Farm Lady juhuu!“

Snickers hätte das geliebt

Das Team

Nicht gewonnen, aber reich geworden

Der Traum vom Hausboot

Blue Moon

Des Rätsels Lösung

KAPITEL ZEHN

Wieder unterwegs

Leinen los

Float-Plan

MinneSNOWda – In Minnesota schneit es immer

Die Spannung steigt

Eine Unterwasser-Insel

Das X darf nicht fehlen

KAPITEL ELF

Funkkontakt

Aye, aye, Kapitän

Wir legen ab

Amen

Wahre Freunde

Flussaufwärts unterwegs

Endspurt zur Peacebunny-Insel

KAPITEL ZWÖLF

Ein großer Schritt für uns

Dad mag nur Kaninchen

Gib die Hoffnung nicht auf

Montagmorgen

NACHWORT / SCHLUSSBEMERKUNGEN

Es war ein langer Weg

Es sieht zauberhaft aus

Hope, Hugs und Hoppiness – Hoffnung, Umarmungen und Freude

DANK

BILDTEIL

TEIL EINS

Peacebunnys – die Kaninchen des Friedens

KAPITEL EINS

Die Geschäftsfelder meines Unternehmens

Würden Sie gerne wissen, was ich als Elfjähriger auf der Bühne einer Bar in Philadelphia im Bundesstaat Pennsylvania zu suchen hatte, fast 1200 Kilometer von meiner Heimatstadt Minneapolis im Bundesstaat Minnesota entfernt? Wollen Sie vielleicht auch wissen, wo meine Eltern an diesem Abend waren? Ist es eventuell auch interessant für Sie, was und warum ich abends in dieser Kneipe gesungen habe?

Die Antwort auf die letzte Frage zuerst: Ich schmetterte den Refrain von „Don’t Stop Believin“ von der Band „Journey“, ein Lied, das ich in unserem Eishockeystadion zu Hause gelernt hatte. Dort war ich mehr oder weniger aufgewachsen, hatte unendlich viele Spiele gesehen und immer die Lieder mitgesungen, mit denen die Halle beschallt und die Stimmung angeheizt wurde.

Da mir das Lied so vertraut war, sang ich an jenem Abend, als ich in der Kneipe saß, aus vollem Hals und zur Erheiterung der anderen Gäste mit, bis plötzlich der Gitarrist der Band auf mich zeigte und mich auf die Bühne winkte. Ich sah mich kurz um. Meinte er vielleicht eine Person neben oder hinter mir? Anscheinend nicht. Im nächsten Augenblick stand ich schon neben ihm und sang ins Mikrofon. Was für eine geniale Situation!

Wenn ich jetzt noch ergänze, dass ich mich mit meinen elf Jahren gerade auf einer Kneipentour befand, wird die Geschichte nicht besser. Aber dieser Abend gehörte zu einem Kongress für Jungunternehmer, der von der Wirtschaftszeitung Forbes Magazin gesponsert wurde und in der zweitgrößten Stadt der amerikanischen Ostküste stattfand. Der Kneipenabend sollte dazu dienen, Kontakte zu knüpfen und sich zu vernetzen. Das Alter der Kongressteilnehmer war zwar auf höchstens dreißig Jahre festgelegt worden, aber keiner der Veranstalter hatte damit gerechnet, dass auch ein Fünftklässler unter den Jungunternehmern sein würde. Doch bevor jetzt jemand das Jugendamt einschaltet – ich war nicht allein dort! Meine Mutter und mein Onkel Kris, ein besonders großer Mann, flankierten mich, während mein Vater zu Hause geblieben war, um zu arbeiten und sich um meine Kaninchen zu kümmern.

Und ich hatte auch noch einen ganz besonderen Reisebegleiter dabei: ein Angorakaninchen mit auffallend langem, lockigen, seidigen Fell in verschiedenen Grau- und Schwarztönen. Ich hatte es nach einem unserer leckeren amerikanischen Schokoriegel benannt: „Whatchamacallit“. Eigentlich bedeutet das Wort so etwas ähnliches wie „Dingsbums“, aber meistens kürze ich es ab und sage einfach nur „Whatchi“ zu meinem Kaninchen. Whatchi durfte zum Jungunternehmer-Kongress mitkommen, weil wir Freunde und Geschäftspartner waren – und es auch immer noch sind. Als Kaninchen-Unternehmer hatte ich damals schon eine ganze Menge vorzuweisen. Ich züchtete seltene historische Kaninchenrassen, organisierte Osterveranstaltungen und besuchte Kindergeburtstage. Dazu hatte ich ein MINT-basiertes Konzept für Schulen und Bibliotheken entwickelt, das den Kindern im Umgang mit den Kaninchen die naturwissenschaftlichen Fächer nahebringen sollte. Außerdem war ein Kaninchen-Paten-Programm entstanden, dem sich damals schon fast dreihundert Familien angeschlossen hatten. Es waren Familien mit autistischen Kindern, mit schwerkranken Kindern oder Kindern in anderen belastenden Situationen, die zu den kuschligen Häschen leichter Zugang fanden als zu den Zweibeinern in ihrer Welt. Ursprünglich hatten meine Eltern und ich einfach nur nach einem lieben Freund für mich gesucht, weil ich keine Geschwister habe. Nun war daraus ein Unternehmen mit verschiedenen Abteilungen geworden, das meine ganze Familie, viele meiner Freunde und eine ganze Reihe weiterer Kaninchenliebhaber und Freiwilliger auf Trab hielt.

Ich will ja nicht behaupten, dass Kaninchen klüger sind als wir Menschen. Aber emotional sind sie uns manchmal ein bisschen überlegen: Sie können nämlich besser zuhören und sind viel geduldiger als wir.

Der Jungunternehmer-Kongress fand genau zu dem Zeitpunkt statt, als mir bewusst geworden war, dass ich zumindest einen Teil meiner Bestimmung entdeckt hatte. Eine meiner Lebensaufgaben würde sein, mich um niedliche Pelztiere zu kümmern, die Trost spenden, Freude wecken und eine Menge Blödsinn aushecken können. Dabei unterschied ich mich von den anderen Kongressteilnehmern auch darin, dass mir mein „Firmenkapital“ letztlich nicht gehört. Meine Kaninchen sind Gottes Geschöpfe, und ich helfe dem Schöpfer nur, sie gut zu versorgen.

Meine Aufgaben als Start-up-Unternehmer hielten mich zwar auf Trab, aber ich hatte immer noch Zeit, einfach Kind zu sein. Das war mir auch wichtig, ich wollte meine Kindheit schließlich nicht verpassen. In unserer Nachbarschaft wohnten viele Gleichaltrige, mit denen ich spielen konnte. Ich baute Burgen in meinem Zimmer, ging zur Schule, zum Baseball, in die Kirche und zu den Pfadfindern. Als ich in der vierten Klasse war, sagte der Chef unserer Bankfiliale: „Im Moment leitet dieser Junge eine Kaninchen-Firma. Ich bin wirklich gespannt, was er nach dem Studium tun wird.“ Aber berufliche Ziele interessierten mich damals kaum. Wichtiger war mir meine Karriere in der Little League, der amerikanischen Baseball- und Softball-Liga für Kinder und Jugendliche. Hier galt es, mir eine Spielernummer für mein Trikot auszusuchen. Außerdem hatte ich die Grundschule abgeschlossen und würde nun in die Mittelschule kommen, für die ich meine Fächer und Kurse wählen musste. Auch bei den Pfadfindern stand ein Wechsel bevor. Ich würde von den Cub Scouts, der Gruppe der Fünf- bis Zehnjährigen, zu den elf- bis achtzehnjährigen Boy Scouts aufsteigen und fragte mich, welches Abzeichen ich mir dort als Erstes verdienen würde.

Auch wenn ich mit meinem Kaninchen-Projekt manchmal wie ein Erwachsener wirkte, ich war vor allem ein Kind, das gerne mit seinen Kaninchen spielte und sie überallhin mitnehmen wollte. Mit ihnen zusammen machte einfach alles mehr Spaß.

Das war auch bei meiner Kneipentour in Philadelphia so. Als ich unter begeistertem Applaus von der Bühne ging, wartete das Kaninchen Whatchi an meinem Platz auf mich. Mit seinem langen, lockigen Fell zog es alle Aufmerksamkeit auf sich. Während ich ihn auf den Arm hatte, umringten uns die Leute mit gezückten Handys und filmten und fotografierten begeistert. Dann zog die Gruppe der Kongressteilnehmer weiter zur nächsten Kneipe und Whatchi, meine Mutter, Onkel Kris und ich waren erneut mittendrin, getragen von einer Welle der Bewunderung.

Für Whatchi hatte ich einen Leiterwagen dabei, den ich hinter mir herzog. Die Gruppe war in Partylaune, die Stimmung hätte nicht besser sein können, und mir kam es so vor, als würden sie Whatchi und mir zu Ehren durch die Straßen ziehen. Mein Kaninchen dachte das offensichtlich auch, so selbstbewusst und stolz thronte er auf seinem kleinen Wagen. In der nächsten Kneipe machte uns jemand aus der Gruppe mit einer kleinen Frau bekannt, die mich an meine Oma erinnerte. Sie lud mich ein, zu ihr auf die Terrasse des Lokals zu kommen, also übergab ich Whatchi meinem Onkel und folgte ihr.

„Dein Kaninchen ist wunderschön“, sagte sie.

„Danke.“ Ich lächelte.

„Kannst du mir ein bisschen etwas über Kaninchen erzählen?“, bat sie.

Zuerst verstand ich die Frau kaum, weil sie so einen starken deutschen Akzent hatte. Sie sprach irgendwie abgehackt, klang dabei aber sehr liebenswürdig. Viele Leute waren uns auf die Terrasse gefolgt und drängten sich nun um uns. Manche hatten wieder ihre Handys eingeschaltet, um unsere Unterhaltung aufzunehmen, dazu drang der Lärm von der Straße zu uns – die äußeren Umstände waren also wirklich kein gutes Setting, um einen Basis-Vortrag über Kaninchen zu halten. Doch ich tat mein Bestes und sagte das, was ich immer sage, wenn man meine Kaninchen und mich zu Kindergeburtstagen, Freizeiten und anderen Ereignissen einlädt. Dazu gehört der Satz, dass Säugetiere, deren Augen seitlich am Kopf stehen, Pflanzenfresser sind, während Tiere, die andere Tiere jagen und fressen, ihre Augen vorne im Kopf haben.

An der Stelle lächelte die alte Dame: „Sehr gut, sprich weiter!“

„Die Augen der Kaninchen befinden sich seitlich am Kopf, deshalb sollte man niemals von vorne auf sie zukommen“, fuhr ich fort. „Es ist auch wichtig, dass man sich behutsam nähert und sie nicht gleich mit seiner Zuneigung erdrückt – nicht so wie manche Verwandte es mit uns gemacht haben, als wir noch klein waren, die uns zu heftig gedrückt und geküsst haben.“

Die Leute nickten und kicherten. Viele erinnerten sich vermutlich an diese Erfahrung aus ihrer Kindheit.

„Angorakaninchen sind etwas ganz Besonderes“, sagte ich und zeigte in die Richtung, wo mein Onkel mit Whatchi saß. Er hörte das und hob das Kaninchen hoch in die Luft. „Man muss sie drei- bis vier Mal im Jahr scheren, weil ihr Fell extrem schnell wächst, etwa zwei bis drei Zentimeter pro Monat. Die Haare können zu hochwertiger Wolle gesponnen werden, die besonders weich ist und gut wärmt.“

In meinem Rucksack hatte ich einen großen Beutel mit verschiedenen Angorawolle-Mustern, den ich jetzt herausholte und der Frau zeigte. Die Leute, die unseren Tisch umringten, wollten alles ganz genau sehen, also ließ ich den Beutel herumgehen. Alle staunten. Als die Muster wieder bei mir landeten, dachte ich, unser Gespräch wäre zu Ende, aber da fragte mich die Frau nach dem Fortpflanzungsverhalten der Kaninchen. Unser Publikum grinste breit, manche warfen sich vielsagende Blicke zu. Sie amüsierten sich sichtlich über diese Frage.

Fanden die Leute das Thema lustig? Oder peinlich? Klar, ich kannte die Witze über die Vermehrung der Karnickel auch, aber für mich waren diese Fragen ganz normal, sie wurden fast immer gestellt. Ruhig und sachlich erklärte ich, was ich dazu wusste und für wichtig hielt. Die Frau wirkte belustigt, während ich kindlich ernsthaft weitersprach. Dann begann ihr Gesicht zu zucken und schließlich fing sie an zu kichern. Da prusteten die Umstehenden los. Das Gelächter wurde so laut, dass ich nicht mehr weiterreden konnte. Ich wollte mich nicht blamieren und lachte deshalb auch ein bisschen mit, aber ich verstand nicht wirklich, was am Fortpflanzungszyklus eines Kaninchens so ungemein lustig war.

Endlich beugte sich eine Umstehende zu mir herunter und flüsterte mir zu, dass ich gerade mit Dr. Ruth Westheimer sprach. Ratlos sah ich zu meiner Mutter. Ich hatte den Namen noch nie gehört.

Auf der Heimfahrt am Ende dieses Abends erfuhr ich dann, dass ich einer weltberühmten deutsch-amerikanischen Soziologin, Feministin, Sexualforscherin und Sexualtherapeutin das Sexualleben von Kaninchen erklärt hatte!

Eine zerknitterte Dollarnote

Der Kongress dauerte vier Tage und ich besuchte verschiedene Vorträge und Diskussionsgruppen. Eigentlich wollte ich herausfinden, ob mein Geschäftsmodell irgendwelche Zukunftschancen hätte und ob es einen Markt für Angorawolle gab. Deshalb hatte ich mich zu den auf Mode fokussierten „Art & Style“ Veranstaltungen angemeldet. Kunst und Mode schienen meinem Anliegen irgendwie noch näherzukommen als die meisten anderen Themengruppen, die sich mit Risikokapitalfinanzierung innovativer Unternehmensideen, Unterhaltungselektronik, Medien oder Computerspielen beschäftigten.

Angorawolle wird zur Herstellung hochwertiger Mützen, Handschuhe, Schals und Pullover verwendet, auch für besonders warme und schweißabsorbierende Bettwäsche und Unterwäsche. Ich hatte über die Textilfaser, die aus den Haaren der Angorakaninchen gewonnen wird, alles gelesen, was ich nur finden konnte. Aber in der Modewelt kannte ich mich trotzdem nicht aus. Ich wusste nur, dass viele Textilunternehmen die Angoraprodukte aus ihrem Sortiment genommen hatten, seit in einem Film ausländische Pelztierfarmen angeprangert worden waren, weil dort lebendigen Tieren zur Gewinnung der Angorawolle qualvoll die Haare ausgerissen wurden. Dabei war das gar nicht nötig; man konnte die Tiere liebevoll und sanft scheren, ohne ihnen wehzutun – so wie ich das auch tat. Als ich dann einen Ausschnitt dieses Films sah, der die Misshandlung der vor Schmerzen schreienden Kaninchen zeigte, ertrug ich das keine drei Minuten. Mir wurde furchtbar schlecht, und ich verlor an diesem Tag meinen kindlichen Glauben an das Gute in der Welt.

Eigenartig war, dass die qualvolle Angora-Gewinnung just zu diesem Zeitpunkt in die Schlagzeilen geriet, als ich meine ersten paar Angorakaninchen aufnahm. Ich dachte damals überhaupt nicht über ihr Fell nach, sondern ich holte die Tiere zu mir nach Hause, weil ihre Besitzer sie nicht mehr haben wollten. Natürlich war es gut, dass Tierfarmen, in denen diese grausamen Praktiken üblich waren, von der Textilindustrie boykottiert wurden und daraufhin weltweit schließen mussten. Doch während ich den Kongress besuchte und in den verschiedenen Veranstaltungen saß, fragte ich mich, ob die Aktivisten, die sich so erfolgreich für das Wohl der Tiere einsetzten, sich nicht auch noch mehr für die Lebenssituation der Arbeiterinnen und Arbeiter in ausländischen Textilfabriken starkmachen könnten?

Das wollte ich mir merken. An der Art, wie wir mit anderen Menschen und mit Tieren umgehen, kann man unser Wesen erkennen, und auf lange Sicht ist das, was in unserem Herzen ist, entscheidender als das, was auf unserem Bankkonto ist.

Die dreihundert Visitenkarten, die ich zu Hause selbst ausgedruckt hatte, waren schnell verteilt und die Zahl der Kärtchen, die ich von anderen Kongressbesuchern bekam, lag deutlich darüber. Ich hatte die Anziehungskraft von Whatchamacallit unterschätzt, der zufrieden und interessiert in seinem Wagen hockte, sich mit den Vorderpfoten elegant auf den Rand der Kiste stützte und jeden Blick freundlich erwiderte.

Whatchi schien genau zuzuhören, wenn ich den Leuten von der Farm erzählte, die sein Zuhause war. Dort lebten die Kaninchen in kleinen Gruppen zusammen, wurden von mir, meiner Familie und meinen Freunden liebevoll versorgt, und in der warmen Jahreszeit konnten sie auf einer geschützten Wiese herumhoppeln. Viele Leute waren von Whatchi fasziniert, weil er unglaublich süß aussah. Es machte mir Freude, immer wieder zu beobachten, wie die Leute ihn zuerst bewundernd anschauten, ihn dann sanft streichelten, etwas über sein weiches Fall sagten und schließlich versuchten, ihn zu beschreiben.

„Seine Löffel sehen aus wie Engelsflügel!“

„Ich finde, er sieht aus wie ein winziger Ewok!“

„Oder wie eine Kreuzung aus einem Lhasaterrier, einem Malteser, einem Puli und einem Shih Tzu!“

Die Ewoks kannte ich aus Star Wars, aber dass die anderen komplizierten Worte Hunderassen bezeichneten, wusste ich damals noch nicht.

Einmal kam eine schick gekleidete Frau auf Whatchi zu, begann ihn zu streicheln, kam ihm dabei mit ihrem Gesicht ganz nahe und redete mit einer seltsam hohen Stimme auf ihn ein, als wäre er ein Baby.

„Oh, du bist ja süß, wie du hier sitzt, wie ein kleiner Welpe siehst du aus“, sagte sie. „Ich könnte dir den ganzen Tag Küsschen geben. Ja, das könnte ich. Doch, doch, wirklich!“

Als sie sich dann aufrichtete und mir ihre Visitenkarte überreichte, klang sie wieder wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau.

„Dieses Fell ist ganz außergewöhnlich“, stellte sie fest. „Ich könnte davon ungefähr zehn Tonnen jährlich abnehmen. Wie viel Angorawolle produzierst du im Jahr?“

Nachdenklich schaute ich mein Fünf-Kilo-Angoraknäuel mit seiner schwarzen Nase und den fast vollständig zugewachsenen Augen an. An den Ohren hingen lockige, graue Haarbüschel und die vier Beine waren unter dem flauschigen Fell gar nicht zu sehen. Jetzt war Kopfrechnen angesagt. Pro Kaninchen konnte ich in einem Jahr etwa siebenhundert Gramm Haare erwarten.

„Ich habe sechs Angorakaninchen“, sagte ich. „Sie geben zusammen pro Jahr etwas mehr als vier Kilo Angorawolle.“

„Bitte denk an mich, falls sich die Menge erhöht“, sagte sie. „Wirklich, junger Mann, ich bin sehr interessiert, die Qualität ist fantastisch.“

Wir gaben uns die Hand und lachten. Angebot und Nachfrage lagen doch noch sehr weit auseinander! Während sie schon weitergegangen war, überlegte ich: Wie viele Patenfamilien und welche Farmfläche würde man brauchen, um so viele Angorakaninchen menschenwürdig unterzubringen?

Es war Zeit, weiterzugehen; der nächste Vortrag, den ich besuchen wollte, fing gleich an. Eilig hängte ich mir den Rucksack übers Jackett, nahm den Griff von Whatchis Wagen und ging aus der Halle ins Freie zum nächsten Veranstaltungsort. Da traf uns ein Windstoß und bewegte Whatchis Fell, was unglaublich schön aussah.

Auf dem Weg zum nächsten Gebäude kamen wir an einem Mann vorbei, der einen verbeulten Einkaufswagen schob, in dem er sein ganzes Hab und Gut zu transportieren schien. Als er mein Kaninchen mit seinem im Wind wehenden Fell sah, blieb er stehen und bat mich, kurz zu warten. Ob er mein Kaninchen anschauen dürfte? Das passierte mir oft, wenn ich mit einem Kaninchen unterwegs war. Die Passanten wollten das Tier streicheln oder Fotos von uns machen. Grundsätzlich war das für mich kein Problem, außer wenn sie es ungefragt taten. Doch dieser Mann, der sich schwer auf seinen Wagen stützte, war ungewöhnlich höflich und behandelte mich mit höchstem Respekt, gar nicht wie ein Kind.

Trotzdem hätte ich fast abgelehnt, denn ich hatte eine weite Reise zurückgelegt, um an diesem Kongress teilzunehmen, und wollte nichts verpassen. Aber zum Glück entschied ich mich dann doch für diese Begegnung und gegen meine nächsten Pläne. Ich versuche immer, mich so gut es geht durchs Leben führen zu lassen – ein Lebensstil, der schwer in Worte zu fassen ist, aber oft funktioniert. Manche sprechen von Intuition oder auch von einem Glauben an die Vorhersehung. Das kann man nicht erklären, aber man kann es spüren. Jedenfalls wurde ich in den nächsten Minuten Zeuge einer ganz besonderen Begegnung. Der Mann bückte sich tief hinunter, bis er auf Augenhöhe mit Whatchamacallit war. Dann neigte er seinen Kopf zur Seite und wartete ganz ruhig, wie Whatchi auf ihn reagieren würde. Eine Weile sahen sich die beiden nur an. Vorsichtig fragte der Mann das Kaninchen dann, ob es mit seinem Besuch einverstanden wäre. Erst als Whatchi sich dem Mann zuwandte und zu der Seite seiner Kiste kam, vor der dieser Mann stand, streckte er die Hand aus, um das Kaninchen zu streicheln. Obwohl die Menschen um uns herum eilig in alle Richtungen strebten, schien für uns die Zeit stillzustehen.

Der Mann setzte sich auf eine Parkbank in der Nähe und ich zog Whatchis Wagen auch dorthin. Nun begannen sich die beiden in aller Ruhe zu unterhalten und ich entfernte mich etwas, um nicht zu stören.

Vielleicht ging es diesem Mann nicht um irgendein Kaninchen, sondern er fühlte sich ganz konkret zu Whatchamacallit hingezogen? Die beiden schienen wirklich die gleiche Wellenlänge zu haben. Whatchi hatte grundsätzlich immer eine Engelsgeduld, auch wenn jemand besonders lange sein Fell streicheln wollte. Aber auf diesen Fremden reagierte er besonders zutraulich und die Zuneigung schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Ich hatte das Gefühl, meine Reise nach Philadelphia war nötig, damit diese beiden sich begegnen konnten. Sie verstanden sich auf eine besondere Weise.

Erst später, als ich wieder an diese Szene dachte, kam mir der Gedanke, dass beide in der Vergangenheit wohl traumatische Erfahrungen gemacht hatten. Whatchis Mutter und drei weitere Angorakaninchen lebten früher im Norden Minnesotas, wo eines Tages ihr Stall brannte. Als das Feuer schon wieder unter Kontrolle war, starben alle vier an den Folgen der Rauchvergiftung. Doch kurz vor seinem Tod brachte eines der vier Kaninchen noch Junge zur Welt, einen kleinen Wurf, zu dem auch Whatchi gehörte.

Whatchi war kleiner als seine Geschwister und unterschied sich sowohl im Aussehen als auch in seiner Persönlichkeit von den anderen. Ich hatte damals das Gefühl, dass er wirklich trauerte, als seine Mutter starb. Bis dahin hatte ich noch nie ein trauriges Kaninchen gesehen, aber in seinem Fall schien es wirklich so: Er aß wenig, verlor an Gewicht, starrte meist reglos vor sich hin und hatte kein Interesse daran, mit den anderen zu spielen. Erst nach einiger Zeit änderte sich das und er nahm allmählich Kontakt zu mir auf. Man sagt ja, dass Hunde und andere Haustiere Gefühle haben und viele Dinge spüren können. Ich glaube, dass das auch für Kaninchen gilt; auf jeden Fall aber für Whatchi. Wer weiß, vielleicht hatte ihn diese Erfahrung am Anfang seines Lebens besonders einfühlsam gemacht.

Ich kann nicht genau sagen, wie lange der Mann und Whatchi ihre stumme Zwiesprache hielten, ich hatte absichtlich nicht auf die Zeit geachtet. Doch dann nickte der Mann mir zu und winkte mich zu sich. Als ich ihm gegenüberstand, erhob er sich, kramte in seiner Hosentasche und zog einen zerknitterten Dollarschein heraus, den er mir kommentarlos entgegenstreckte. Ich hatte auf seinem Wagen aber ein Schild gesehen, das er wohl aufstellte, wenn er zum Betteln auf der Straße saß, deshalb wollte ich kein Geld von ihm annehmen.

„Danke für Ihre Zeit“, sagte ich, „das ist schon Geschenk genug.“

Er schüttelte den Kopf und drückte mir den Schein fest in die Hand.

„Junger Mann, dieser Dollar ist nicht für dich“, sagte er. „Er ist für meinen Freund hier, der in den fünfzehn Minuten gerade mehr für mich getan hat als irgendein Mensch in den letzten Jahren. Verstehst du das?“

Unsere Blicke trafen sich und ich nickte. Ja, das verstand ich.

Ich bin da-ha!

Nach dem Kongress ging mein Leben wie gewohnt weiter, es gab allerhand Kaninchen-Termine, geschäftliche Verpflichtungen, Aufgaben im Haushalt und natürlich den Abschluss meiner Grundschulzeit.

Ich kann das nicht wirklich beurteilen, aber ich glaube schon, dass ich relativ gute Bedingungen für eine glückliche Kindheit hatte. Meine Eltern stammen aus dem Mittleren Westen der USA, sind fleißige und bodenständige Leute, haben sich auf dem College ineinander verliebt und trainierten zehn Jahre lang unsere lokale Hockey-Jugendmannschaft. Es ist also nicht verwunderlich, dass ich ein großer Hockeyfan bin, auch wenn ich selbst nie gespielt habe. Aber ich war immer gern beim Training dabei und fand die Spiele spannend. Wenn meine Eltern auf der Suche nach neuen Spielern quer durchs Land und sogar bis nach Italien reisten, durfte ich mitkommen. 2010 nahmen wir mit unserer Mannschaft sogar als Friedensbotschafter an den Olympischen Spielen in Vancouver teil – und ich verlor dort meinen ersten Zahn.

Ich war noch so klein, dass die Mannschaft mich wie ihr Maskottchen behandelte, und für mich waren die Spieler wie große Brüder. Im Stadion verkaufte ich in den Pausen mit meiner Oma gemeinsam Produkte mit dem Aufdruck unseres Teams, und ich sang begeistert die Musik der Achtzigerjahre mit, die aus den Lautsprechern dröhnte. Wer einmal richtig mitreißende Musik hören will, dem kann ich ein Hockeyspiel nur empfehlen!

Noah Bachmann war schon immer mein allerbester Freund. Seine Familie wohnt in dem Haus auf der anderen Straßenseite, genau gegenüber von uns. Kurz nachdem er als Baby zum ersten Mal in dieses Haus getragen wurde, begannen wir, zusammen zu spielen. Ich bin zwar eineinhalb Jahre älter als er, aber er hatte kürzlich einen heftigen Wachstumsschub und hat mich tatsächlich überholt. (Ich fürchte, ich werde ihn auch nicht mehr einholen.) Ich liege vom Alter her zwischen Noah und seinem Bruder Markus, der fünf Jahre älter ist als ich. Markus kam mit gesundheitlichen Problemen zur Welt, sodass er von seiner Entwicklung her immer gut zu uns passte, und ich schätze ihn ebenfalls als einen meiner allerbesten Freunde. Und Heather gibt es auch noch, die große Schwester der beiden Jungs. Ich war so oft bei ihnen zum Essen, dass der Stuhl, den die Familie bei den Mahlzeiten immer für mich an den Tisch stellte, manchmal gar nicht mehr weggeräumt wurde.

Unsere Eltern haben sich im Gottesdienst zum ersten Mal gesehen, die Freundschaft zwischen ihnen entstand dann allerdings freitagabends beim Softball. Die Bachmanns waren vor uns in die Straße gezogen und hatten sich das Haus mit der frei stehenden Garage ausgesucht, auf deren Wand später das Längenwachstum aller Kinder aus der Nachbarschaft festgehalten wurde. Meine Eltern zogen kurz nach ihrer Hochzeit als zweite Familie in die Straße. Damals standen noch vier Häuser zum Verkauf und sie nahmen das blaue, weil meine Mutter die mächtige alte Ulme im Vorgarten so schön fand. Noahs Mutter sorgte dann dafür, dass auch die restlichen Häuser von netten jungen Familien bezogen wurden.

Meine Mutter und Noahs Mutter versprachen sich gegenseitig, nicht von hier wegzuziehen, bis alle Kinder die Highschool absolviert hatten – außer in einem Notfall und auch nur dann, wenn die eine Familie der anderen ausdrücklich den Umzug erlaubte oder wenn beide Familien gemeinsam an einen neuen Ort ziehen würden. Am Tag nachdem meine Eltern den Kaufvertrag für das Haus unterschrieben hatten, traf ein Blitz die Ulme im Vorgarten. Zum Glück wurde das Haus nicht beschädigt. Trotzdem war das natürlich ein Schreck und eine Enttäuschung, aber später sagten meine Eltern: „Man kann immer einen neuen Baum pflanzen, aber gute Freunde lassen sich nicht ersetzen.“

Verschiedene andere Ulmen rechts und links der Straße wuchsen zu wertvollen Schattenspendern heran, ebenso wie der Ahornbaum, den meine Eltern genau an dem Tag in unseren Vorgarten pflanzten, als sie mich von der Entbindungsklinik nach Hause brachten. Deshalb nannten wir ihn unseren „Festtagsbaum“. Bald waren die Häuser auf beiden Straßenseiten von Familien mit kleinen Kindern bewohnt, auffallend viele davon waren Jungs. So hatte ich eine große Auswahl an Freunden. Rechts von uns wohnten Alexander und Diego. Ihr Vater war Mexikaner und kämpfte mit den Formalitäten für seine Aufenthaltserlaubnis. Im nächsten Haus lebten ein paar Jahre lang Jamaal und sein Bruder Qiandre, links von uns wohnten Evangel und Bishop, die aber ein paar Jahre älter waren als ich. Neben Bachmanns gab es eine Familie mit drei Jungs, die mein Vater immer liebevoll „die Rabauken“ nannte, weil sie mithilfe übereinandergestapelter Mülltonnen aufs Dach ihres Hauses geklettert waren, um Schwerkraft-Experimente zu machen.

Die Vorgärten unserer Häuserreihen waren grasbewachsen und es gab keine Abtrennungen zwischen den Grundstücken, aber die Gärten hinter den Häusern waren von Maschendrahtzaun eingefasst, der über einen Meter hoch war. Dort sah man ständig Kinder hin- und herklettern, wenn wieder ein Ball auf der anderen Seite des Zauns gelandet war.

Aber meistens spielten wir vor den Häusern, wo die Basketballkörbe in den Einfahrten standen. Viel Verkehr gab es dort zum Glück nicht. Fast immer, wenn ich aus dem Haus kam, wurde auf unserer Straße gerade irgendetwas gespielt.

Als ich die Straße noch nicht allein überqueren durfte, brauchte ich immer jemanden, der mich abholte und zu den anderen brachte, wenn die gerade auf der anderen Straßenseite spielten. Ich trug kleine blaue Turnschuhe, die bei jedem Schritt blinkten und auf die ich sehr stolz war. Wenn ich in unserer offenen Haustür stand, rief ich den anderen unüberhörbar zu: „Bin da-ha! Lasst ihr mich mitspielen?“

Wir umarmen uns und dann spielen wir weiter

Unsere Straße ist ein wunderbarer Ort, um Kind zu sein. Bis heute. Aber wie überall, wo Kinder zusammen spielen, gibt es auch manchmal Streit. Wir waren mal besser, mal schlechter gelaunt, genau wie die Erwachsenen auch. Ein Kind wurde wütend und schoss den Ball absichtlich in Nachbars Garten. Oder man wurde von der Schaukel geschubst oder grundlos geärgert. Wir waren Kinder, und manchmal waren wir gemein zu- oder richtig böse aufeinander. Als es einmal besonders schlimm war, erklärte ich den anderen, wie wir in meiner Familie mit Streit umgingen, und von da an galten diese Regeln auch unter uns Kindern.

Wenn jemand weinen musste oder wenn einem Kind wehgetan wurde, dann hörten alle auf zu spielen und redeten miteinander, bis irgendwann der entscheidende Satz fiel: „Es tut mir leid. Verzeihst du mir?“ Danach umarmten sich alle Beteiligten und das Spiel konnte weitergehen. Während wir heranwuchsen, wurde dieses Ritual immer wieder angepasst, aber das Prinzip war klar und half uns, unsere Konflikte zu lösen und auch am Tag nach einem Streit wieder zusammen spielen zu können. Dieses kleine Ritual ging uns in Fleisch und Blut über: Wenn jemand schrie oder weinte, unterbrachen wir unser Spiel, redeten miteinander, entschuldigten und umarmten uns, und erst dann spielten alle wieder weiter. Ich weiß, das klingt fast ein bisschen zu schön, um wahr zu sein, aber wir hatten alle verstanden, dass es wichtiger war, zusammen spielen zu können, als bei einem Streit recht zu behalten. Entstand irgendwo ein Konflikt, dann dauerte es nicht lange, bis jemand rief: „Komm schon! Sag, dass es dir leidtut, dann umarmt ihr euch und dann können wir weiterspielen.“

Snickers

Irgendwann fand ich heraus, dass unsere schöne Regel in der Tierwelt nicht funktionierte. Seit bei uns ein Kaninchen eingezogen war, beschwerte sich die Frau, die im Haus hinter uns wohnte, dass unser Kaninchen ihre Hunde ärgerte. Da sie das behauptete, nahm ich an, dass es auch so war. Andererseits konnte ich mir das kaum vorstellen. Die Hunde auf dem angrenzenden Grundstück wogen mindestens sieben oder acht Kilo, während unser Kaninchen nach dem Baden, wenn es nass war, allenfalls drei Kilo wog. Vielleicht hielt sich das Kaninchen für eine Katze und unterhielt eine entsprechend schlechte Beziehung zu den Hunden?

Das Erstaunlichste an dem Kaninchen war, dass es überhaupt zu uns gekommen war. Es war das erste Mal, dass ich ein ernst zu nehmendes Langzeit-Haustier besaß, und es gab viel zu lernen. Die Liebe zu den Tieren habe ich wohl von meinem Großvater mütterlicherseits übernommen, den ich Traktor-Opa nannte. Seine Vorfahren waren alle Farmer gewesen; nur er verließ die elterliche Landwirtschaft und arbeitete in der Großstadt. Doch als Rentner kaufte er von entfernten Verwandten einen Teil des Landes zurück. Wir besuchten Oma und ihn mehrmals im Jahr. Ich liebte es, wenn ich mit ihm auf dem riesigen Traktor fahren durfte. Manchmal ließ er mich auch auf seine Schultern klettern, um an die allergrößten Brombeeren zu kommen. Oder wir gingen zusammen in die alte Schmiede, die einst seinem Großvater gehört hatte.

Wenn Opa davon erzählte, wie unsere Vorfahren früher in der Landwirtschaft gearbeitet hatten, hörte ich mit glühenden Wangen zu. Ich konnte förmlich spüren, dass das die Geschichte meiner Familie war. Seine Anekdoten von den Tieren und Haustieren aus seiner Kindheit waren superlustig, vor allem seine feste Überzeugung, dass Kühe und Pferde in Ställe gehörten (ebenso wie Kaninchen!), während Katzen draußen leben und ihr Futter selbst fangen sollten. Hunde hielt er grundsätzlich für zu groß und zu dreckig, um sie ins Haus zu lassen. Nur bei extrem kaltem Wetter konnte er sich da eine Ausnahme vorstellen.

„Ein Haustier ist immer ein Luxus, vor allem, wenn man auch noch eine Familie satt kriegen muss“, erklärte er. „Besonders wenn die Zeiten nicht so gut sind.“

Meine Mutter stimmte ihm meistens zu, außer wenn es um die Haustiere ging. Das sah sie nicht so eng wie Opa. Aber sie hatte einen Mann geheiratet, der in vielerlei Hinsicht wie ihr Vater war. Das sagte sie oft und betonte, dass sie das positiv meine. Allerdings bezog sich das auch auf die feste Überzeugung, dass Tiere nicht ins Haus gehören. Mein Dad hatte nichts gegen Tiere – solange sie auf den Grundstücken anderer Leute lebten.

Nur Goldfische schienen da eine Ausnahme zu bilden. Ich war fünf Jahre alt, als mehrere Exemplare in mein Zimmer einzogen. Meine ersten drei Goldfische nannten wir Flaggada 1, Flaggada 2 und Flaggada 3. Der vierte Goldfisch kam am 14. Februar dazu und hatte rote Pünktchen. Ihn nannte ich Valentine. Die Fische waren nicht anspruchsvoll und machten auch den Nachbarn keine Mühe, die sich um unser Haus kümmerten, wenn wir mit dem Hockeyteam unterwegs waren. Das Aquarium hatten wir von Noahs Schwester Heather bekommen und es stand neben meiner Nachttischlampe. Die Fische drehten zufrieden ihre Kreise darin, und manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie mich neugierig beobachteten, wenn ich etwas aus Lego baute oder mit meiner Schlumpf-Sammlung spielte. Die wurde übrigens immer größer, weil Opa mir von jeder seiner Geschäftsreisen eine neue Figur mitbrachte.

Aber nach ein paar Monaten verlor einer nach dem anderen die Lust am Schwimmen und ließ sich lieber an der Wasseroberfläche treiben.

Zunächst verstand ich nicht, was da passiert war.

Also sprachen meine Eltern mit mir über den Tod und das Leben danach. Wir beteten kurz, dankten den Goldfischen für alles und dann spülten wir die Verstorbenen die Toilette hinunter. Anschließend zog ich meine Sportschuhe an und ging raus zu Noah, der gerade mit Malkreide eine mehrspurige Straße anlegte, auf der alle unsere Matchbox-Autos direkt in seine Garage fahren konnten.

Ich war zwar nie einsam, aber da ich keine Geschwister habe, fehlte mir trotzdem ein Gefährte, der nur zu mir gehörte. Also beschloss ich mit sieben Jahren, dass ich ein Kaninchen in unserem Haus haben wollte. Ich hatte auch kurz über eine Katze oder einen Hund nachgedacht, aber die hätten irgendwie nicht zu uns gepasst. Andere typische Haustiere wie Hamster, Vögel oder Reptilien zog ich überhaupt nicht in Betracht. Ich wollte immer nur ein Kaninchen, und wenn ich aus heutiger Sicht darüber nachdenke, dann war das wohl einfach meine Bestimmung.

Irgendwie schaffte Mom es schließlich, meinen Vater zu überzeugen. Meistens gab Dad schneller nach, wenn ich etwas wollte, aber in diesem Fall hatte er Bedenken, dass mein Interesse an dem Tier schnell vorbei sein könnte. Dieser Einwand war natürlich berechtigt. Aber ich argumentierte damit, dass meine Mutter als Kind ein kleines weißes Kaninchen namens Clover besaß. An dieses Tierchen gab es nur gute Erinnerungen, und meine Mutter hatte viele niedliche Fotos von ihm. Das ließ mich hoffen, dass meine Eltern mir meinen Wunsch erfüllen würden.

Etliche Tage vergingen, ohne dass das Thema erwähnt wurde. Ich wollte auch nichts falsch machen und sie nicht mit Fragen nerven. Also wartete ich ab und hoffte insgeheim, dass meine vorbildliche Zurückhaltung ihnen positiv auffallen würde – so respektvoll und verantwortungsvoll, wie ich mich verhielt. Gleichzeitig überlegte ich die ganze Zeit, wie ich ihnen signalisieren könnte, dass dieses Kaninchen mein allergrößter Herzenswunsch war. Ob sie wussten, dass sie die besten Eltern auf der Welt wären, wenn sie mir erlauben würden, einen kuschligen kleinen Freund bei uns aufzunehmen?

Das Warten war schrecklich. Aber endlich gab es Grund zur Hoffnung, als meine Mutter sich an den Computer setzte, im Internet nach Kaninchen schaute und mich zu sich rief. Ich versuchte, mich noch nicht zu freuen, aber es war klar: Wenn wir jetzt ein passendes Tier finden würden, dann könnte es tatsächlich sein, dass ich es bekomme. Ich stand hinter ihrem Stuhl und schaute ihr über die Schulter. Wir sahen uns bei verschiedenen Tierheimen um und scrollten durch private Anzeigen. Eine halbe Stunde später entdeckten wir ein braun-weißes Kaninchen, das mit den Worten „älter, freundlich, gut erzogen“ beschrieben wurde.

Wir grinsten, als hätten wir das große Los gezogen, strahlten einander an und sagten beide: „Das ist es.“

Dann runzelte meine Mutter die Stirn.

„Was bedeutet es wohl, wenn ein Kaninchen gut erzogen ist?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber ein gut erzogenes Kaninchen wäre das coolste Haustier aller Zeiten.“

Die Besitzer des Kaninchens wohnten fast eine Autostunde von uns entfernt. Also packte ich Snacks, Getränke und eine Beschäftigung ins Auto, wie ich es mir von den vielen Fahrten zu Sportveranstaltungen und Familienausflügen angewöhnt hatte. So hatte ich wenigstens etwas zu tun, während ich wartete, dass es endlich losging. Seit wir mit den Kaninchenbesitzern Kontakt aufgenommen hatten, konnte ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Endlich waren wir unterwegs. Ich hampelte nervös auf der Rückbank herum und sang zu Dads CDs von der Band Tenth Avenue North.

„Sag mal, Caleb, wie alt bist du jetzt?“, fragte er plötzlich und klang so, als würde gleich eine Standpauke folgen.

„Das weißt du doch“, erwiderte ich.

„Komm schon, wie alt bist du?“, wiederholte er.

„Fast acht“, sagte ich schließlich und verdrehte die Augen ein bisschen.

„Wenn Kaninchen älter als zehn Jahre werden können, weißt du, was das bedeutet? Es könnte sein, dass es immer noch bei uns ist, wenn du schon den Führerschein hast.“

Unsere Blicke begegneten sich im Rückspiegel und ich schüttelte den Kopf.

„Fühlt sich an wie Lichtjahre entfernt.“

Auch die Highschool gehörte für mein Gefühl eher noch zu einem anderen Sonnensystem. Das Einzige, was ich für diese ferne Zukunft schon geplant hatte, war, am Ende der Highschool bei den Pfadfindern zur Gruppe der Eagle Scouts zu gehören.

„Vielleicht wird das Kaninchen, das wir heute holen, mit uns zusammen deinen Führerschein feiern“, grinste Mom.

Aber erst einmal mussten wir die Besitzer finden. Wir waren in der richtigen Gegend, aber da es schon ziemlich dunkel war und es keine Straßenbeleuchtung gab, waren die Hausnummern nicht zu erkennen. Dad fuhr eine ganze Weile die gleichen Straßen auf und ab und sagte immer wieder: „Das muss hier irgendwo sein.“

Meine Mutter wollte bei den Leuten anrufen und sich den Weg erklären lassen, aber wir hatten die Telefonnummer zu Hause vergessen. Mittlerweile pochte mein Herz so laut, dass ich überzeugt war: Wir müssen gar nicht mehr klopfen, wenn wir erst einmal vor der Haustür stehen!

Endlich bogen wir in die richtige Einfahrt. Am Haus brannte ein Licht, aber die Fenster waren abgedunkelt, als ob niemand zu Hause wäre. Vielleicht hatten die Leute vergessen, dass wir kommen wollten, um das Kaninchen anzuschauen?

Meine Eltern flüsterten. Es war schon ein bisschen ungewöhnlich, nach Einbruch der Dunkelheit bei fremden Leuten in den Hof zu fahren, um ein Haustier zu besichtigen, das sie eigentlich gar nicht haben wollten. Mom meinte, so würde sie nicht einmal ein Sofa kaufen.

Da ging die Tür auf und ein älterer Herr bat uns herein. Im nächsten Moment begegnete ich Snickers, dem Kaninchen, das der Mann nach seinem Lieblings-Schokoriegel benannt hatte. Ich fand den Namen ziemlich lustig, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen.

Snickers war ein braun-weißes Holländer-Kaninchen, eine weitverbreitete Rasse, die an ihrer typischen Zeichnung leicht zu erkennen ist (und deren Name übrigens nichts mit den Niederlanden zu tun hat). Vom Maul ausgehend, an den Augen vorbei bis zur Stirn sind diese Kaninchen weiß. Zwischen den Ohren endet der weiße Fleck. Auch der Schulterbereich, die Vorderläufe und die Pfoten der Hinterläufe sind weiß, während Löffel, Hinterkopf, die Umgebung der Augen und die Backen dunkel sind, ebenso wie der Rumpf und die Hinterläufe. Genau so sah auch dieses Kaninchen aus, zu dem meine Mutter und ich uns jetzt im Schneidersitz auf den Boden setzten. Mein Vater lehnte an der Wand und beobachtete uns. Im nächsten Moment stupste Snickers mit seiner Nase mein Bein an und machte es sich dann in meinem Schoß bequem. Mit seiner warmen, rauen Zunge leckte er in aller Ruhe meinen Handrücken ab. Dabei betrachtete er mit seinen großen Augen, die von langen Wimpern betont wurden, forschend mein Gesicht. Es sah so aus, als hätte Snickers mich schon erwählt, bevor ich mich für ihn entscheiden konnte.

Weitere Worte waren nicht mehr nötig. Ich stand auf, ging zur Tasche meiner Mutter, wo die fünfzehn Dollar waren, die wir als Kaufpreis vereinbart hatten. Damit ging ich zu dem Mann und schüttelte ihm freundlich die Hand.

„Danke, dass Sie sich bisher um mein Kaninchen gekümmert haben“, strahlte ich. Von diesem Augenblick an waren Snickers und ich die weltbesten Freunde. Wir wurden unzertrennlich.

Die Leute, die uns Snickers verkauften, hatten auch Katzen und Hunde, wollten nun aber alle Tiere abgeben, bis auf die Katzen. Von allen anderen Tieren hätten sie jetzt einfach genug, erklärte der Mann. Der Tonfall, in dem er das sagte, klang so unwirsch, dass mir die Tiere leidtaten, die noch in dieser Familie leben mussten, aber nicht mehr gewollt waren. In der Anzeige hatten wir gelesen, dass den Käufern des Kaninchens alles überlassen würde, was für die erste Zeit nötig wäre. Deshalb hatte ich damit gerechnet, dass wir eine geeignete Transportbox und genug Futter für ein paar Tage bekommen würden. Aber alles, was der Vorbesitzer mir gab, war ein winziger Katzenkorb. Als er mir dann „alles Gute“ wünschte, verstand ich, dass das alles war, was er „für die erste Zeit“ für nötig hielt.

Deshalb erzähle ich manchmal, dass Snickers nichts mitbrachte außer seinem großen, offenen Herzen. Aber mehr war auch nicht notwendig.

Kaum standen wir wieder in unserer Einfahrt, nahm ich Snickers aus dem Katzenkorb. Auf der Schwelle setzte ich ihn ab und bat ihn herein. „Tritt ein, Kumpel!“ Ich freute mich darauf, ihm unser Haus zu zeigen.

Zuerst gingen wir ins Wohnzimmer. Mit ausgebreiteten Armen drehte ich mich einmal um mich selbst. „Hier sind wir abends immer“, erklärte ich. „Du kannst dann auch ein Stück von meiner Decke haben, wenn wir auf dem Sofa sitzen.“

Dann ging ich in mein Zimmer. Neugierig hoppelte er hinter mir her. „Hier ist mein neues Hochbett. Daran kannst du immer erkennen, dass du in meinem Zimmer bist. Meine Eltern haben so etwas nicht. Du kannst mich hier immer besuchen, außer wenn ich schlafe. Aber zum Schlafen bekommst du eh deinen eigenen Bereich.“

Wir gingen wieder in den Flur und von da vors Arbeitszimmer. „Dieser Raum ist für dich tabu. Meine Eltern haben ihn nicht kaninchensicher gemacht. Wenn du hier irgendetwas anknabberst, dann wird das richtig Stunk geben. Und wenn du Ärger kriegst, trifft das auch mich. Also lass es lieber! Geh einfach gar nicht rein, ok?“

Ich war überzeugt, er hatte mich verstanden. In der Tür des Arbeitszimmers hatten wir das Kindergitter befestigt, das mich früher draußen hielt. Snickers stellte sich auf die Hinterbeine und versuchte, so viel wie möglich von dem verbotenen Zimmer zu sehen.

„Junge, im Ernst, lass es einfach, ok?!“

Ich schloss die Tür und er entdeckte sich in einem langen Spiegel. Er dachte wohl, ein zweites Kaninchen gesehen zu haben. Dann drehte er sich um, hoppelte los und durchquerte den Flur bis zur nächsten offenen Tür. Neugierig streckte er seinen Kopf hinein.

„Das ist unser Bad“, erklärte ich. „Ja, manchmal rennen wir auch so wie du gerade, wenn wir hier reinmüssen, weil wir …“ Wie sollte ich das einem Kaninchen erklären? Da fiel mir wieder ein, dass seine vorigen Besitzer sagten, er sei mit Katzen zusammen aufgewachsen und hätte gelernt, das Katzenklo zu benutzen. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Kann das sein, bei einem Kaninchen?

„Na ja, also auf jeden Fall haben wir hier diese Kiste für dich hingestellt … ich denke, du weißt, wofür die ist?“

Schon bald stellte sich heraus, dass Snickers tatsächlich sehr genau wusste, wofür die Kiste war.

Er war absolut stubenrein. Deshalb erlaubten mir meine Eltern auch, in meinem Zimmer mit ihm zu spielen. Wir konnten uns auf ihn verlassen, dass er nicht auf meinen Teppich oder in mein Bett machte. Bald war es ganz normal, dass er sich tagsüber frei im Haus bewegte. Er war sehr gesellig, was er wohl kaum von den Katzen gelernt haben konnte. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte man ihn als „personenorientiert“ beschreiben können. Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen und mit allen Anwesenden Kontakt aufzunehmen. Wenn ich spielte, saß er neben mir und beobachtete mich. Las ich ein Buch, schob er sich unter meine Beine. Dachte ich mir eine Szene mit meinen Schlümpfen oder anderen Figuren aus, dann setzte er sich mitten hinein und war Teil der Geschichte.

Er war auch voller Interesse an den anderen Kindern in unserer Straße.

„Willkommen in deinem neuen Zuhause, Snickers“, strahlte Noah. Wir saßen unter unserem Festtagsbaum und ich machte mein Kaninchen mit meinen Freunden bekannt.

„Was für ein cooler Name für ein Kaninchen“, freute sich Qiandre. So begeistert hatte ich ihn schon lange nicht mehr gesehen. Seit er in die Mittelschule ging, war er irgendwie nicht mehr so emotional wie wir anderen. Aber jetzt rannten alle Jungs los und überboten sich darin, Löwenzahn, Grasbüschel und Klee zu pflücken. Snickers ging es wirklich gut! Er war das erste Kaninchen, mit dem meine Freunde in Berührung kamen, und alle versuchten herauszufinden, was er mochte und was man mit ihm machen konnte. Mir fiel auf, dass sie die gleichen Fragen hatten wie ich. Es war ein bisschen so, als würden wir ein naturwissenschaftliches Projekt durchführen und dabei jede Menge Beobachtungen und Entdeckungen machen und Erfahrungen sammeln.

Aber Snickers war ein cleveres Kerlchen. Er schien uns zeigen zu wollen, dass auch er uns erforschte; er war ebenso neugierig auf uns wie wir auf ihn. Wenn wir im Garten hinter dem Haus spielten, setzte er sich seitlich neben die Schaukel, damit er nicht getroffen wurde, wenn ein Kind von der Schaukel absprang. Bald wusste er auch, wo er am besten sitzen konnte, wenn wir im Garten Kickball spielten, die beliebte Kinder-Variante von Baseball. Gab es eine Spielunterbrechung, weil der Ball wieder einmal von einem Nachbargrundstück geholt werden musste, dann nutzte ich die Zeit, um Snickers Rücken zu kraulen. Wenn wir zwischendurch mal ein Eis-Sandwich aßen, gab ich ihm etwas davon ab. Schließlich war er mein Freund.

Bald darauf erlaubten meine Eltern mir, für Snickers einen Spielplatz im Garten hinter dem Haus anzulegen. Während meine Freunde und ich draußen herumtobten, sollte er auch einen schönen Bereich für sich haben, wo er sich entspannen oder beschäftigen konnte. Mit dem für ihn so typischen Interesse beobachtete er jeden meiner Griffe, er sah jedem Nagel hinterher, den ich in das Sperrholz schlug. Mein Plan war, ihm in dem lilafarbenen Fliederstrauch eine kleine Burg zu bauen. Als die Wände standen, spannte ich eine Decke darüber und zack: Snickers sprang hinein und liebte es. Ich durfte mit meinen Spielzeugautos um ihn herumfahren und ihn mit meinen Spielfiguren umzingeln, seine Burg angreifen und erobern. Er war für alles zu haben.

Abends, wenn die anderen Kinder wieder zu Hause waren, malte ich Bilder von Snickers. Er war meine Muse und mein Model. Wenn die Nächte warm waren, schliefen wir zusammen im Garten in einem kleinen Zelt, das ich ein Jahr davor gewonnen hatte – als zweiten Preis beim Bingo-Spiel zum Schuljahresanfang. Jedes Mal, wenn Snickers und ich es uns in diesem Zelt gemütlich machten, fragte ich mich, wieso damals das Kind, das den ersten Preis gewonnen und damit freie Auswahl hatte, nicht das Zelt, sondern eine gelbe Sponge-Bob-Figur genommen hatte. Das Zelt war so unendlich viel besser!

Snickers war in allerkürzester Zeit zu einem festen Mitglied unserer Familie geworden. Ob ich zum Spielen rausgehen wollte, morgens aufstand oder mich nach einem Nickerchen unter dem Fliederbusch aufrichtete – ich musste nur sagen: „Komm, wir gehen“ – und schon war er auf den Beinen, oft sogar auf den Hinterbeinen. Erwartungsvoll sah er mich mit seinen strahlenden Augen an, bereit, überall mit mir hinzugehen. Dieses Kaninchen war nicht nur gut erzogen. Es war unglaublich.

Doch später in diesem Sommer bemerkte ich, wie Snickers sich veränderte, er war langsamer, wirkte weniger begeistert. Wenn ich jetzt sagte: „Komm, wir gehen“, dann zögerte er, als müsste er erst einmal darüber nachdenken. Er sah mich immer noch mit diesen großen Augen an, aber das Leuchten war matter geworden. Was wollte er mir sagen?

Eine letzte Umarmung