Lola - Régine Deforges - E-Book

Lola E-Book

Régine Deforges

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

«Ich habe mir immer sehnlichst gewünscht, in einem nächtlichen Wald einer schönen nackten Frau zu begegnen ...» schrieb der französische Dichter André Breton. Überraschende Begegnungen, wenn auch nicht im nächtlichen Wald, sondern in den Straßen und unter den Dächern von Paris, haben die Leserinnen und Leser vor sich, die bereit sind, die Autorin dieser gewagten und raffinierten erotischen Variationen auf ihren Streifzügen durch die weiblichste aller Städte zu begleiten. In Saint-Germain-des-Prés und auf dem Montmartre, im XIV. Arrondissement oder im Beichtstuhl in der Kirche Saint-Sulpice erleben wir sie: Lola und Lise, Lydie und Ludovine – dreizehn Pariserinnen, Frauen unterschiedlichen Alters und verschiedener Schichten, die unversehens in den Sog ihrer erotischen Phantasien geraten sind und sich in den Strudel sexueller Abenteuer stürzen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 211

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Régine Deforges

Lola

Erotische Variationen

Aus dem Französischen von Laureen Carnevale

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Ich habe mir immer sehnlichst gewünscht, in einem nächtlichen Wald einer schönen nackten Frau zu begegnen ...» schrieb der französische Dichter André Breton.

Überraschende Begegnungen, wenn auch nicht im nächtlichen Wald, sondern in den Straßen und unter den Dächern von Paris, haben die Leserinnen und Leser vor sich, die bereit sind, die Autorin dieser gewagten und raffinierten erotischen Variationen auf ihren Streifzügen durch die weiblichste aller Städte zu begleiten. In Saint-Germain-des-Prés und auf dem Montmartre, im XIV. Arrondissement oder im Beichtstuhl in der Kirche Saint-Sulpice erleben wir sie: Lola und Lise, Lydie und Ludovine – dreizehn Pariserinnen, Frauen unterschiedlichen Alters und verschiedener Schichten, die unversehens in den Sog ihrer erotischen Phantasien geraten sind und sich in den Strudel sexueller Abenteuer stürzen.

Über Régine Deforges

Régine Deforges begann als Journalistin in Paris, bevor sie mit ihren Büchern «Zärtliches Tagebuch» und «Der schwarze Milan» als Autorin erotischer Romane Aufsehen erregte.

Inhaltsübersicht

«Mein Leser, Heuchler ...VorbemerkungLola oder Das kleine Mädchen mit den schwarzen Strümpfen in Saint-Germain-des-PrésLili oder Beim TanzteeLéone oder Das BahnhofsrestaurantLucette oder Das schöne Milchmädchen aus der Rue MouffetardLaura oder Die Baustelle in der Rue de ChazellesLise oder Eine Winternacht auf dem MontmartreLucienne oder Die Verliebte in der Verot-Dodat-PassageLouise oder Das Viertel um die Rue de JavelLudovine oder Der Beichtstuhl in der Kirche Saint-SulpiceLucie oder Die Toreinfahrt an der Place DauphineLydie oder Das kleine Haus im 14. ArrondissementDer Bericht von JeanFortsetzung von Jeans BerichtFortsetzung von Jeans BerichtLéopoldine oder Die TaxifahrerinLaurence oder Der schwarze Musiker aus der Rue Saint-Denis

«Mein Leser, Heuchler du – mein Bruder, meinesgleichen!»

 

Baudelaire

Vorbemerkung

In was für eine Falle bin ich da geraten, als ich mir damals sagte: «Auch ich könnte gut solche Geschichten schreiben, die Ihnen gefallen …»[*] Gewiß, mir war klar, daß es schwierig ist, sehr schwierig sogar, erotische Bücher zu schreiben, jedenfalls solche, wie ich sie gern mag. Ich bin fest davon überzeugt (aber da spricht vielleicht nur die Verlegerin aus mir), daß jeder Schriftsteller wenigstens einmal einen erotischen Roman schreiben sollte. Er erfährt dabei eine ganze Menge über sich selbst und über seine Arbeit. Es ist verrückt, was ich alles über mich herausgefunden habe, als ich diese kleinen Geschichten hier schrieb.

Wie alle Leute habe ich zwei oder drei geheime Wunschträume, an denen ich hänge, die ich für mich behalte und in Gedanken pflege wie einen verschwiegenen Garten. Ich liebe es, ihnen in Büchern zu begegnen oder sie mir abends vor dem Einschlafen bildlich vorzustellen. Aber sie richtig ausleben … das ist etwas ganz anderes. Sie als Geschichten niederzuschreiben, hieße, den Wunschträumen Leben zu geben, sie in die Wirklichkeit zu versetzen. Und als mich ein befreundeter Verleger eines Tages aufforderte, selbst einmal ein solches Buch zu schreiben, dachte ich: Ja, warum eigentlich nicht.

Die ersten zwei oder drei Geschichten bereiteten mir keine sonderlichen Schwierigkeiten. Aber irgendwie war ich bei der Beschreibung gewisser Szenen zu weit gegangen und hatte mich, zu meiner eigenen Überraschung, von der Derbheit der Worte und Situationen mitreißen lassen. Ich schrieb ‹schweinisch› wie andere ‹preziös› schreiben. Das Schreiben war zwar ganz aufregend, aber es las sich fürchterlich. Diese ewigen derben Worte – das war nicht mein Stil. In den Büchern anderer Schriftsteller mag ich so etwas, aber bei mir? Ich wußte einfach nicht, wie ich damit umgehen sollte. Nun, so habe ich noch einmal von vorn angefangen und versucht, mich zu beherrschen. Zumindest habe ich es versucht. Selbstzensur, meinen Sie? Nein! Es ist die ganz normale Arbeit des Schriftstellers, sich an die beste Form heranzutasten, die er seinem Stoff für angemessen hält. Ob es mir gelungen ist? Ich bin nicht sicher. Aber das Schreiben dieser Geschichten hat mir ein sinnliches Vergnügen bereitet. Oft bin ich ganz verwirrt gewesen von den Abenteuern, die meinen Heldinnen widerfuhren, und manchmal habe ich sie beneidet. Mit ihrer Hilfe habe ich von neuem entdeckt, daß Paris die weibliche Stadt schlechthin ist, mit der Place Dauphine als ihrem Geschlecht; daß zwischen der Stadt und den Frauen eine offenkundige Komplicenschaft besteht; daß nirgendwo sonst auf der Welt eine Frau ihre Sexualität so ausleben kann, wie es ihr am meisten liegt: offen oder heimlich, unschuldig oder pervers.

Die Ufer der Seine werden noch lange den Liebespaaren Schutz gewähren, die an den Böschungen träumen, sich liebkosen und sich auch von den Lichtern der Seine-Dampfer nicht stören lassen, die manchmal über den mehr oder weniger nackten Körper eines jungen Mädchens hinwegstreifen: «Ich habe mir immer sehnlichst gewünscht, in einem nächtlichen Wald einer schönen nackten Frau zu begegnen …» Ich glaube, André Breton wäre zufrieden mit dieser den Armen der Nacht entrissenen Schönheit.

Régine Deforges

Lola oder Das kleine Mädchen mit den schwarzen Strümpfen in Saint-Germain-des-Prés

Dort, im Verborgenen, erahnte ich,

Daß du deine Strümpfe auszogst.

 

P.-J. Toulet

Mit dem ersten Flugzeug aus London ist Lola heute morgen angekommen. Unverzüglich läßt sie sich in das alte Hotel in der Rue Jacob fahren, das sie besonders gern mag, das Hôtel d’Angleterre. Sie packt ihre Koffer aus, hängt ihre Kleider in den Schrank und macht sich auf den Weg durch das Intellektuellenviertel von Paris. Wo sonst gibt es mehr Bücherläden, Antiquariate und Galerien auf einem Fleck als im sechsten Arrondissement? Vielleicht im fünften. Über die Tag und Nacht lärmende Rue des Saints-Pères gelangt sie an die Quais. Für die Bouquinisten ist es noch zu früh. Aber das macht nichts. Schließlich ist sie jetzt für ein paar Tage in Paris, und es ist herrliches Wetter. Der milde Morgen an diesem späten Oktobertag lädt zu einem gemächlichen Bummel ein. Die Luft ist gerade so frisch, daß ein Spaziergang noch angenehm ist. Sie lehnt sich an die Brüstung des Pont du Carrousel. Wie schön ist diese Stadt! Welche Harmonie zwischen den Farben des Himmels, der Steine und des Wassers! Es kommt ihr so vor, als stünde die Zeit still. Zu welch vollkommener Schönheit hat doch die Hand des Menschen diese Landschaft gestaltet! Sie weiß nur zu gut, wie zerbrechlich all das ist und daß es nur einer unsinnigen Entscheidung bedarf, um ein Stadtbild für immer zu zerstören. Doch trotz so mancher Fehlentscheidung der Stadtväter weiß Paris sich zu wehren. Trotz vereinzelter Kahlschläge und Wunden bewahrt es für seine Verehrer immer noch den Charme, den soundso viele Dichter besungen haben. Über die Banalität ihrer tiefschürfenden Überlegungen muß Lola lächeln, als sie den ehemaligen Bahnhof Gare d’Orsay betritt, in dem heute ein Auktionshaus untergebracht ist. Die vier Ausstellungssäle, die täglich fürs Publikum geöffnet sind, beherbergen märchenhafte Schmetterlingssammlungen, Handzeichnungen des 17. und 18. Jahrhunderts, Porzellane und chinesische Lackarbeiten, die Bibliothek eines Büchernarren, ein paar herrliche Ölgemälde aus dem beginnenden 19. Jahrhundert. Heute sind es die Zeichnungen, für die sich Lola besonders interessiert. Im Auftrag eines vermögenden englischen Sammlers ist sie nach Paris gereist. Morgen nachmittag soll die Versteigerung stattfinden.

Sie macht sich wieder auf den Weg und schlendert den Boulevard Saint-Germain entlang. Vor dem Café de Flore verlangsamt sie ihren Schritt, betritt die Buchhandlung La Hune und blättert in ein paar Architekturzeitschriften. Sie geht einige Schritte weiter und setzt sich auf die Terrasse des Café Deux Magots, gleich gegenüber der Kirche Saint-Germain-des-Prés. Sie bestellt einen Kaffee und überläßt sich ganz ihrem genüßlichen Wohlbehagen an diesem späten herbstlichen Vormittag.

Es ist noch nicht viel los auf der Terrasse, der kleine Platz liegt ruhig da. Doch plötzlich belebt er sich. Lola schaut auf die Turmuhr: zwanzig vor zwölf. Schulschluß in der Rue Saint-Benoit! Die Schule trägt den Namen von Jacques Prévert. In kleinen Grüppchen kommen die Kinder vorbei, sie machen ihre Scherze und rempeln mit den Schultaschen, glücklich über die wiedergewonnene Freiheit. Ihr Blick fällt auf zwei Teenager, die sich lebhaft unterhalten. Die eine sieht aus wie alle etwa zwölfjährigen Mädchen: Jeans, viel zu großes T-Shirt, Wuschelkopf. Aber die andere … Die andere? … Die Verkörperung aller geheimen Träume! Ihre Mutter muß engelhaft unschuldig oder teuflisch pervers sein. Wie kann man ein Mädchen nur so anziehen! Als wollte man absichtlich alle Männer in Verwirrung stürzen, die über den Fotografien von Irina Ionescos Tochter träumen und seit Nabokov und Louis Malles Pretty Baby bei sich denken: nun ja … diese süßen kleinen Mädchen … warum eigentlich nicht?

Hinter ihrem Rücken spürt Lola eine Bewegung. Gleich darauf fällt eine Untertasse zu Boden und rollt, ohne zu zerbrechen, bis zu ihren Füßen. Sie hebt sie auf und reicht sie dem Mann, der hinter ihr aufgestanden ist. Er bedankt sich und setzt sich wieder an seinen Tisch. Sie hört, wie er eine Zeitung aufschlägt. Dann richtet sie ihren Blick wieder auf die beiden Mädchen. Sie sind immer noch da und schwatzen angeregt miteinander. Aufmerksam betrachtet Lola den kleinen ‹geheimen Traum›. Mit ihrem geflochtenen blonden Haar, das auf dem Kopf aufgesteckt ist, sieht sie aus wie eine präraffaelitische Madonna. Sie trägt ein schwarzes Kleid mit einem runden weißen Kragen, das an Großmutters Schürzen erinnert. Ihre mageren Beine sind ganz in Schwarz gehüllt. Sie merkt, wie auch der Mann mit der Untertasse die geringste Bewegung der Kleinen mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt. Die Kleine merkt nichts von den gespannten Blicken, die auf ihr ruhen, und kratzt sich unbefangen mit einer lasziven Bewegung am Oberschenkel, wobei ihr kleines Hinterteil auf und ab hüpft. Nun hat sie sich fast genau gegenüber der Terrasse auf eine Bank gesetzt und balanciert ihre Schultasche auf ihren gespreizten Schenkeln. Sie steht wieder auf, stellt einen Fuß auf die Bank. Lola fühlt sich mehr und mehr verwirrt, gleichzeitig hat sie ungeheure Lust, dem kleinen Mädchen einen Schlag auf den Popo zu geben. Sie glaubt, hinter sich ein Keuchen zu hören, und dreht sich halb um. Der Mann ist fasziniert von dem Kind, er scheint darauf zu lauern, daß die nächste Bewegung der Kleinen ihm irgendein intimes Geheimnis enthüllt. Die Zeitung liegt aufgeschlagen auf seinen Knien und bedeckt eine Hand. Bei seinem Anblick überkommt Lola eine Vermutung, die sie so erregt, daß sie die Schenkel aneinanderpreßt und soeben ein leises Stöhnen unterdrücken kann. Lola weiß, daß sie und der Mann dasselbe erwarten: Ob sie sich wohl bückt?

Die beiden Mädchen hüpfen von der Bank und gehen an ihren Tischen vorbei. Auf der Höhe von Lola fällt der Kleinen die Schultasche aus der Hand. Kugelschreiber, Bleistifte, Radiergummis, ein Kompaß und ein Winkelmesser, das ganze Rüstzeug einer perfekten Schülerin, fallen heraus. Lachend beugt sie sich zu Boden und sammelt ihre Sachen wieder ein.

Lola vernimmt das Rascheln von Papier, ein kurzes Stöhnen. Allem Anschein nach ist für den Mann die Sache nun erledigt. Lola läßt das Geld für den Kaffee auf dem Marmortischchen liegen und steht auf. Auch der Mann hat sich erhoben, sein Blick ist noch leicht verschwommen. Sie sehen sich an und lächeln sich wissend zu, ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Glücklich geht jeder seiner Wege.

 

Das kleine Mädchen trug übrigens schwarze Strümpfe.

Lili oder Beim Tanztee

Oh! Laß nicht die Flammen fehlen,

Sonst wärmt mein frierend Herz sich nie,

O Wollust, Folter aller Seelen!

 

Charles Baudelaire

Lili ist über fünfzig. Seit zwanzig Jahren geht sie regelmäßig auf Tanztees, besucht Tanzdielen und andere Veranstaltungen, auf denen man tanzen kann.

Als das Claridge damals seine Tanztees abschaffte, war es für sie ein harter Schlag. Fünfzehn Jahre lang war sie zweimal in der Woche dorthin gegangen. Sie liebte das Claridge besonders, weil das Publikum, ihrer Meinung nach, schicker war als in der Coupole, dem Royal-Lieu oder dem Balajo, wo der Pöbel sich traf, die Atmosphäre war kultivierter als im Tango, wo Hinz und Kunz hingingen. Jeden Dienstag und Freitag gegen vier Uhr nachmittags (außer während der zwei Sommermonate, die sie in Deauville verbrachte) parkte sie ihren Wagen auf den Champs-Élysées und steuerte zielsicher das berühmte Hotel an. Es war jedesmal dasselbe Vergnügen, wenn sie die Halle betrat und die Portiers und Liftboys sie begrüßten. Hier bewegte sie sich auf vertrautem Boden. Sie betrachtete sich kritisch im Spiegel auf der Galerie, stolz auf ihre immer noch jugendliche und zierliche Figur. Sie wußte, daß sie eine elegante Erscheinung war und kannte die Wirkung ihrer großen schwarzen Augen, die gegen das sorgfältig gepflegte Blond ihrer naturgewellten luftigen Frisur noch dunkler wirkten. Langsam ging sie auf den Tanzsaal zu, begrüßte im Vorübergehen ihren bevorzugten Tangopartner, dann den Mann, der so lüstern Rumba tanzte, den General, der wie einstmals sein Vorfahre auf dem Wiener Kongreß gekonnt den Walzer drehte, auch den kleinen Georges (so nannten ihn alle schon seit fünfzehn Jahren) und den schönen Victor in seinem etwas geckenhaften Aufzug, und Lionel, nach dem alle Frauen verrückt waren. Da kam Maryse, die beim Charleston unübertroffen war, Roberte, die, wie man munkelte, ihre Gunst nicht gerade verschenkte (und davon leben konnte!), Madame Hortense, die aus der Hand las, und die Comtesse, deren Wutausbrüche beim Personal berüchtigt waren. Lili reichte dem einen die Hand, der andere bekam ein Küßchen, bis sie zur Garderobe kam, ins Reich von Georgette, die über die Kundschaft wie über das Hotelpersonal mit eisernem Zepter herrschte. Georgette arbeitete hier seit 1933. Oh, was sie nicht schon alles mitbekommen hatte! Ihr brauchte man wirklich nichts vorzumachen! Sie war über Glück und Unglück fast all ihrer Kunden auf dem laufenden, sei es, weil sie sich ihr anvertrauten oder weil sie von ihr bei einem Gespräch belauscht wurden. Für viele war sie aber auch nur ein Briefkasten, und manchem Stammkunden half sie gern mal aus einer momentanen Verlegenheit.

«Guten Tag, Georgette. Was macht der Blutdruck heute?»

«Immer noch zu hoch, Madame Lili. Und Sie? Wie geht’s mit dem Kreislauf?»

«Na ja, geht schon.»

Bevor sie den Saal betrat, prüfte Lili noch einmal kritisch ihr Make-up und den Sitz ihrer Frisur. Dann schritt sie mit hocherhobenem Haupt, ein Lächeln auf den Lippen, in den Saal.

Die Kapelle stimmte sich ein. Raoul, der Oberkellner, kam auf Lili zu:

«Guten Tag, Madame Lili. Sie sehen ja wieder bezaubernd aus … Was für ein elegantes Kleid Sie heute wieder tragen! … Ich habe Ihnen Ihren Stammplatz reserviert …»

Seit fünfzehn Jahren, zweimal in der Woche, dieselben Worte. Im ersten Jahr war es ihr lästig gewesen, doch mittlerweile gehörte es zum Ritual, das durch die kleinste Veränderung aus dem Gleichgewicht geraten würde.

Lili ging zu ihrem Tisch am Rand der Tanzfläche, nicht weit von der Kapelle entfernt, doch auch nicht zu nah, bestellte einen chinesischen Tee, machte es sich auf dem vergoldeten Stuhl so bequem, wie es eben möglich war, stützte sich lässig auf das Marmortischchen und blickte um sich.

Allmählich füllte sich der große Saal, alte Bekannte kamen an ihren Tisch, um sie zu begrüßen. Wenig neue Gesichter. Auch diesmal würde sie sich sicher keinen Ausschweifungen hingeben, dachte sie lächelnd. Und dennoch … was für Abenteuer hatte sie hier nicht schon erlebt, an diesem scheinbar so steifförmlichen Ort! Oh, nicht so viele wie anderswo, aber immerhin! … Gerührt erinnerte sie sich an den Tag, als ein junger Schauspieler, damals noch recht unbekannt, heute eine Berühmtheit, sie nach einem Tango, der bis an die Grenzen des Schicklichen ging, in den Fahrstuhl gezerrt hatte, um ihr dort ungestüm die Brüste und das Geschlecht zu bearbeiten. Anschließend, in der Hotelwäscherei im obersten Stock, hatte er sie auf den Bügeltisch geworfen, ihren Rock hochgeschoben, den Slip heruntergerissen. Dann war er mit solcher Wucht in sie eingedrungen, daß es ihr einen Schrei entriß. Um es sich bequemer zu machen, hatte er dabei ihre Arschbacken fest mit beiden Händen umklammert und sie hin und her geschaukelt. Während er sie vögelte, hatte er sie beschimpft.

Und noch heute ließ sie die Erinnerung an seine groben Beleidigungen lustvoll erschauern, so daß sie die Schenkel aneinander preßte. Anschließend hatte er sie an ihren Platz zurück begleitet, ihr die Hand geküßt und war fortgegangen. Die zwei- oder dreimal, die sie sich wiedersahen, hatten sie jedesmal auf die Schnelle gevögelt, entweder in den langen Fluren des Hotels, stehend im Fahrstuhl oder unter einem Tisch im Konferenzsaal im Schutz der großen grünen Filzdecke. Lili hatte dabei immer Angst, entdeckt zu werden, aber gleichzeitig steigerte die Angst ihre Lust. Eines Tages war er verschwunden. Erst auf der Leinwand hat sie ihn wiedergesehen.

 

Aber diese Zeiten waren vorbei. Nach Ende des Krieges hat Lili mit ansehen müssen, wie die Cafés, in denen man tanzen und flüchtige Bekanntschaften schließen konnte, von der Bildfläche verschwanden, eines nach dem andern. Im Augenblick gab es nur noch zehn. Wie lange noch? Trotz allem … man hätte sie erhalten sollen, im öffentlichen Interesse sozusagen. Für die Reichen wie für die Armen waren sie eine Notwendigkeit, für Jung und Alt, Männer und Frauen, für die, die zuviel Zeit, und die, die zuwenig hatten, für die, die nur tanzen, und die, die sich jemanden aufreißen wollten. Für die Einsamen, die nie jemanden kennenlernten, waren sie eine Zuflucht, und sei es auch nur für die Dauer eines Tanzes. Der Oberst kam hierher in beschwipster Laune, das Hausmädchen suchte sich hier einen Liebhaber, der Rentner ein wenig Jugendfrische, der Provinzkaufmann das Flair von Paris, die Dame reiferen Alters einen Gigolo, der Gigolo eine Kundin. Der Handelsvertreter wollte nur schnell eine Stunde zwischen zwei Verabredungen totschlagen, Geschäftsleute suchten Entspannung nach einer vollgepfropften Arbeitswoche, der Angestellte versuchte, die Schikanen seines Vorgesetzten zu vergessen. Wenn sie zum Bal de la Marine, ins Boule Rouge, ins Tango, in die Coupole, ins Balajo oder Java gingen, ins Tahiti oder zum Bal Nègre, ins Mikado oder sonstwohin: für ein oder zwei Stunden waren sie alle ihre Sorgen los. Beim Klang von Akkordeon oder Geige hatten sie das Gefühl, ihr eintöniges und banales Leben könnte sich irgendwann ändern. Es genügte, daß ein schlechter Imitator von Carlos Gardel einen Tango sang, und schon befanden sie sich im Geiste in der unendlichen Weite der Pampas, in den Armenvierteln von Buenos Aires, sie fühlten sich wie die Königin der Prärie oder ein Tangokönig. Im Walzerrausch verwandelte sich die kleine Modistin in eine junge, vornehme Wienerin, die von einem hübschen Offizier entführt wird. Die Rumba erweckte das Bild eines schönen dunkelhaarigen Jünglings mit schmalen, muskulösen Hüften in einer vielversprechend engen Hose. Die Frauen erblühten zu hübschen, wollüstigen Mädchen, und schon ein Augenzwinkern genügte, daß sie sich hinlegten «auf den Sand, der weicher ist als jedes Bett». Bei der Java mauserte sich der kleine Bankangestellte zu einem angriffslustigen und gewalttätigen Apachen aus einem Roman von Charles-Henry Hirsch. Und die Postangestellte spielte sich auf wie eine Prostituierte, der man nichts vormachen konnte. Ach, was waren das für wüste Feste samstagsabends im Java Bleue!

Beim Pasodoble reifte die dicke Germaine zu einer andalusischen Tänzerin und der kleine Riri entwickelte die Anmut eines Toreros. Doch die Königin aller Tänze, die alle Anwesenden in ihren Bann zog und auf die Tanzfläche trieb, wenn es plötzlich schummerig wurde, die Macht, die Jung und Alt, Könner und Nichtkönner miteinander vereinigte, war der Slow. Da war der Rhythmus plötzlich nicht mehr wichtig, auch nicht das Geschick des Partners, sondern nur noch seine körperliche Nähe. Beim Slow brauchte man sich kaum zu bewegen, zumal der Andrang so groß war, daß Figurentanzen gar nicht möglich war. Niemand kümmerte sich mehr um komplizierte Schritte, um die anderen Tänzer oder den Rhythmus: was allein zählte war das Beisammensein zweier Menschen, die sich nicht kannten, die vor den Augen aller Anwesenden für wenige Minuten wie in einer Paarung miteinander verbunden waren. Spannung lag in der Luft: der Mann zog seine Partnerin enger und enger an sich, die Frau lauerte auf eine intime Reaktion. Wenn sie mit Befriedigung gespürt hatte, was sie erwartet hatte, wandte sie sich von ihm ab, als sei sie schockiert. Wollte sie hingegen die Straflosigkeit des Tanzes und die Unverbindlichkeit des Ortes genießen, rieb sie sich mit Unschuldsmiene genüßlich an seiner Wölbung. Der verzückte Partner verstärkte daraufhin seinen Druck. Nicht selten ging es so weit, daß die Dame ein leichtes Zucken des Objekts verspürte und dann: Schluß, bis auf den gespielt unbefangenen Gesichtsausdruck des Herrn, der sofort nach Beendigung des Tanzes in Richtung Toilette verschwand.

Beim Slow wurden auch gewöhnlich Verabredungen in ein nahe gelegenes Hotel getroffen. So hatte es auch Lili immer gemacht. Je nachdem, wo sich die Szene gerade abspielte, wußte sie genau, wohin sie einen probaten Liebhaber für ein oder zwei Stunden in ihren Fangnetzen mit sich abschleppte, ob er Interesse an ihr hatte oder nicht. Die Tatsache, daß sie gelegentlich die Gunst ihrer Liebhaber bezahlte, war für sie nie ein Problem gewesen. In manchen Fällen fand sie es sogar viel angenehmer und bequemer. Man brauchte da nicht die große Leidenschaft zu mimen; es war ein klares Geschäft: Ich zahle, du vögelst. Außerdem hatte es so manchem armen Schlucker sicherlich schon ganz schön aus der Klemme geholfen. Wo hatte sie doch gelesen, daß der Autor von Irenes Loch eine Zeitlang seinen Lebensunterhalt bei Tanztees verdient hatte? Sie hat es vergessen. Aber meistens hatte Lili es gar nicht nötig, ihr Portemonnaie zu zücken, wenn sie geliebt werden wollte. Es mangelte weder an Fünfzigjährigen noch an temperamentvollen Sechzigern, die allein schon von Lilis blonden Haaren, ihren ausladenden Brüsten und ihren zarten Beinen so fasziniert waren, daß sie von sich aus zu allem bereit waren. Nicht daß Lili jedesmal, wenn sie tanzen ging, unbedingt auf ein Abenteuer aus war, nein, gar nicht. Aber es lag doch immer im Bereich des Möglichen, der Wünsche. Der langweiligste Tanz wurde ein wenig prickelnder: Mit dem da? Oder etwa dem? Der große Dünne oder der kleine Untersetzte? Der Pickeljüngling oder der gutsituierte Herr, der sich vergeblich bemühte, seinen Bauch einzuziehen? Sie machte sich eben ein Spiel daraus.

 

Heute fühlt sie sich in ausgelassener Stimmung. Nach einem fröhlich begossenen Mittagessen in der Coupole und einem nicht gar zu schlechten Film in einem kleinen Kino um die Ecke steigt sie, leise vor sich hin summend, die Treppe der berühmten Brasserie hinunter, die zum Tanzsaal führt. Zwar ist sie hier seit langem Stammgast, doch jedesmal versetzt es ihr wieder einen Stich, wenn sie den riesengroßen Saal betritt: Frauen allein, nicht mehr ganz jung, viel zu sorgfältig frisiert, sitzen adrett und sehr steif vor einem Minzlikör oder einem Tee und warten darauf, daß das Orchester beginnt. Für Lili ist es das Urbild der Einsamkeit: Diese Frauen, die wartend dasitzen. Bei dem Gedanken, sich ebenfalls hierher zu setzen, packt sie jedesmal die Wut, überfällt sie die Lust, von hier wegzurennen. Diese herumsitzenden Frauen verströmen eine solche Traurigkeit, eine derartige Unterwürfigkeit, daß Lili mehr als einmal kurz davor war, eine von ihnen bei den Schultern zu packen und kräftig zu schütteln. Aber sie läßt es bleiben, denn sie erinnert sich an die Antwort einer dunkelhaarigen Frau, weder hübsch noch häßlich, weder jung noch alt, die sie vor einigen Jahren einmal angesprochen hatte:

«Warum kommen Sie hierher?»

«Wo soll man denn hingehen, wenn man allein ist, Lust hat zu tanzen und in meinem Alter ist?»

Solche Verbitterung schwang in ihren Worten mit, daß Lili keine weiteren Fragen mehr gestellt hat.

Um diese traurige Erinnerung zu verscheuchen, bestellt sich Lili einen Whisky. Nach und nach füllt sich der Saal. Die erste Kapelle, zuständig für Tango und die eher langsamen Tänze, betritt das Podium. Die Musiker tragen weiße Hemden, schwarze Hosen und rote Flanellschärpen (Lili zumindest stellt sich gern vor, daß die Schärpen aus Flanell sind). Die Musiker nehmen Platz, stimmen die Instrumente und beginnen mit einem Reißer, einer Mischung aus Foxtrott, Marsch und Rumba. Alle Männer stehen gleichzeitig auf, streichen wie in einem Ballett im Saal herum, tänzeln zwischen den Tischen hindurch, um ein weibliches Wesen nach ihrem Geschmack zu finden und vor den Damen ihre stattliche Männlichkeit zur Schau zu stellen. Eine Frau nach der andern erhebt sich. Lili lehnt alle Aufforderungen ab. Sie wartet lieber ein oder zwei Nummern ab, bis sie die Qualität der Tänzer eingeschätzt hat. Heute scheint nichts sonderlich Erhebendes dabei zu sein.

«Tanzen Sie, Madame?»

Eine kaum hörbare Stimme hatte ihr ins Ohr geflüstert. Sie hebt den Kopf und glaubt, ihren Augen nicht zu trauen. Vor ihr steht ganz allerliebst ein junger Mann mit der rosigen Haut eines jungen Mädchens. Mit seinem Stiftekopf sieht er aus wie ein Soldat auf Heimaturlaub. Mit verlegener Miene wartet er auf ihre Antwort.

Sie lächelt liebenswürdig zurück und nimmt seine Aufforderung an. Auf der Tanzfläche stellt sich heraus, daß er keineswegs so linkisch ist, wie es zuerst den Anschein hatte. Mit der Entschlossenheit eines reifen Mannes übernimmt er die Führung. Lili paßt sich willig an. Seine kurzgeschorenen Haare verströmen noch den Duft des Haarwaschmittels, vermischt mit dem Geruch eines frisch gebadeten Säuglings.

Es erregt sie, wie sein zarter und nervöser Körper sich an sie schmiegt. Plötzlich bekommt sie Lust, in diese frische Haut hineinzubeißen, und sie kann ihrem Verlangen nicht widerstehen, die Hand um seinen glatten Nacken zu legen. Bei dieser Berührung wirft der Jüngling mit einem Ruck den Kopf herum. Verschreckt zieht sie ihre Hand zurück in der Annahme, es hätte ihm nicht gefallen.

«Nein, machen Sie ruhig weiter … nur … es hat so gekitzelt … aber ich habe das gern», fügt er nach kurzem Zögern hinzu.

Sie legt ihre Hand wieder an dieselbe Stelle und krault mit ihren Fingern seinen Nacken entlang. Er grunzt vor Zufriedenheit.