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Was heute der Traum vieler Erholungssuchender ist, war einst eine schwer zu bewirtschaftende und bewohnende Region – die Alpen. Davon zeugen verlassene und vergessene Orte, die von damals erzählen: aufgegebene Bergwerke, heruntergekommene Almhöfe, zerstörte Burgen und Bunker. Auch seltsame Personen sind in der Höhenluft auf abwegige Gedanken gekommen, vom Exorzisten bis zum Mörder. Besuchen Sie mysteriöse Orte und erfahren deren dunkle Geheimnisse.
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Seitenzahl: 194
Veröffentlichungsjahr: 2024
Relikt aus der Stein-Zeit (Kapitel 5)
Benedikt Grimmler
33 vergessene, verlassene und unheimliche Orte
Ruinierte Ruinen (Kapitel 8)
Bauernopfer (Kapitel 14)
Tarnen und Täuschen (Kapitel 6)
Einleitung
Verhaltensregeln für Lost Places
33 LOST & DARK PLACES
1Obelix in Südtirol
Die Menhire von Algund
2Lawinen und Hexentänze
Rund um das Bergdorf Ardez
3Vorerst ausgebucht
Der Berwanger Hof
4Heilung gesucht
Das Bad Kreckelmoos in Breitenwang
5Relikt aus der Stein-Zeit
Das Schotterwerk in Buchs
6Tarnen und Täuschen
Artilleriebunker Ennetberge
7Versperrter Tunnelblick
Der Olympiatunnel in Eschenlohe
8Ruinierte Ruinen
Am Wolfsee in Fischbachau
9Die Hochburg des Terrors
Schloss Kehlburg bei Gais
10Der erwünschte Untergang
Graun im Vinschgau
11Der Exorzist
Johann Josef Gaßner im Klostertal
12Der May ist gegangen
Die Krankenanstalt Kreuth
13Ausgebremst
Marmorbahn und Kandlwaal in Laas
14Bauernopfer
Höfe im Bregenzerwald
15Wo seid ihr hin?
Das Ruinendorf Gonda
16Eine mittelalterliche Mautstation
Die Mühlbacher Klause
17Ausgerastet
Die Autobahnraststätte Walensee
18Die Strom- und der Lauterfresser
E-Werk Rundl und Schloss Rodenegg
19Finstere Zeiten
Der Finstermünzpass bei Nauders
20Ausverkauft
Der Bahnhofskiosk Nesselwang
21Für immer Ruhetag
Gaststätten in Oberau und Immenstadt
22Höhlenrätsel
Burg Wichenstein und Kristallhöhle
23Der Schwarze Tod
Pestfriedhöfe im Allgäu
24Ein architektonischer Alp-Traum
Die Ruine Falkenstein
25Stillstand im Weltkurort
Die Wartensteinbahn Bad Ragaz
26Letzte Runde
Die Sternbräu Rankweil
27Betriebsschluss
Das Unterwerk Roppen und das Schotterwerk Riedern
28Der Tod des Generals
Das Hotze-Denkmal bei Schänis
29Springer, Schwestern, Saarländer
Scheidegg im Allgäu
30Umsteigen aufs Fahrrad
Die Dolomitenbahn
31Das große Loch
Bergbau in Walenstadt
32Gastfrei im Toggenburg
Das Hotel Acker in Wildhaus
33Angst unter der Martinswand
Die Burg Martinsbühel
Register
Impressum
Bauernopfer (Kapitel 14)
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Höhlenrätsel (Kapitel 22)
Ein verstecktes Schloss?Nein, ein Elektrizitätswerk (Kapitel 18)
1729 schrieb der gebürtige Berner Mediziner Albrecht von Haller ein Gedicht mit dem schlichten Namen »Die Alpen«. Es ist ein sehr langes, sehr gebildetes und für uns nur noch sehr mühsam zu lesendes Werk, das aber doch für die Kulturgeschichte ein bedeutendes Ereignis darstellt.
»Hier zeigt ein steiler Berg die Mauer-gleichen Spitzen,
Ein Wald-Strom eilt hindurch und stürzet Fall auf Fall.
Der dick beschäumte Fluß dringt durch der Felsen Ritzen
Und schießt mit gäher Kraft weit über ihren Wall.
Das dünne Wasser teilt des tiefen Falles Eile,
In der verdeckten Luft schwebt ein bewegtes Grau,
Ein Regenbogen strahlt durch die zerstäubten Teile
Und das entfernte Tal trinkt ein beständiges Tau.
Ein Wandrer sieht erstaunt im Himmel Ströme fließen,
Die aus den Wolken fliehn und sich in Wolken gießen.«
Hallers Gedicht zeigt einen Wendepunkt an. Er beschreibt die Alpen als etwas Beeindruckendes, Faszinierendes, das Gebirge – und seine Bewohner – verdienen aus seiner Sicht Bewunderung. Die Großartigkeit der Natur, die einfache und natürliche Lebensweise der Menschen, die Stille und Einsamkeit, die dort zu erfahren seien. Was uns vertraut zu sein scheint und ein bisschen nach Fremdenverkehrswerbung klingt, war damals tatsächlich sensationell. Denn vorher galt für Jahrhunderte: Die Alpen sind ein schrecklicher Ort, je höher es hinaufgeht, desto mehr sollte jeder vernünftige Mensch sie meiden. Auch in der hier zitierten Strophe aus Hallers Gedicht ist dieses Gefühl durchaus noch zu spüren (Mauer-gleiche Spitzen, stürzet, schießt, tiefen Falles etc.), auch wenn er es umzudeuten versucht.
Dieser Ausflug in die Kulturgeschichte ist für unser Buch von Bedeutung. Das Hochgebirge war bis über Hallers Zeiten hinaus vor allem ein Hindernis und ein dünn besiedelter und karger Lebensraum. Sicher, es gab sonnenverwöhnte Hochebenen und Hänge, ein paar breite, fruchtbare Täler, aber eben auch dunkle, enge, ständig von Lawinen bedrohte Schluchten, schattige Gegenden, in die wenig Sonne drang, und menschenfeindliche Höhen, die nichts boten als graues Gestein, und noch dazu lange Wintermonate, in denen Schneemassen ganze Ortschaften von der Außenwelt komplett abschnitten. Wer hier lebte – und es sind doch erstaunlich viele Dörfchen und Städte mit teils langer Vergangenheit über den gesamten Alpenraum verteilt –, stellte sich für gewöhnlich auf ein raues und beschwerliches Dasein ein.
Über eine bestimmte Höhengrenze ging man besser nicht hinaus – es lohnte sich auch nicht. Wo keine Almen mehr möglich waren, lebten – da war man sich sicher – ohnehin nur Dämonen oder andere seltsame Gestalten. Gipfel zu besteigen galt bis ins 17. Jahrhundert nicht nur als sinnlos, sondern geradezu wahnsinnig. In den Tälern und an den Hängen war es gefährlich genug: Lawinenabgänge und reißende Hochwasser, noch dazu waren die (wenigen) Pässe unsicher, das Gebirge war ein beliebter Rückzugsort für Räuber und sonstiges Gesindel. Und da (manchmal unklare) Landesgrenzen den Alpenraum durchzogen, war er allzu oft Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen. Dies ist die erste von drei auffälligen Kategorien, die unter den Lost und Dark Places immer wieder auftauchen: Militärbauten. Seien es alte Sperrfesten, spätere Alpenfestungen, die noch in jüngster Vergangenheit errichtet wurden, oder Überbleibsel geschlagener Schlachten.
Die zweite Kategorie ist die wirtschaftliche Nutzung, die sich – neben der Landwirtschaft – einst hauptsächlich auf den Bergbau konzentrierte. Ein nicht selten gefährliches Geschäft. Und keineswegs krisenfest. Was einst Erfolg versprach, hinterließ nach der Pleite nur noch wenige, aber nicht selten markante Spuren. Auch andere – modernere – Unternehmungen, etwa die Nutzung der Wasserkraft, hatte Folgen. Während schon früher ganze Ortschaften – aus Gründen, die wir oft nicht kennen – aufgegeben wurden, vertrieb auch der Ausbau für Kraftwerke manchen Bewohner aus seinem angestammten Zuhause.
Eine direkte Auswirkung der Stimmung, die Hallers Gedicht ausdrückte, war natürlich der Alpentourismus. Bessere Straßen wurden angelegt, wagemutige Eisenbahnstrecken gebaut, Gaststätten, mondäne Hotels, aber auch Kurhäuser und Sanatorien erschlossen selbst entlegenste Täler und Höhen. Gipfel waren nun erstrebenswerte Ziele, wer nicht hochkraxeln konnte, für den wurden bequeme Steige oder Seilbahnen angelegt. Aber auch hier galt, gebändigt war die Natur nicht, manches holte sie sich zurück, andere Höhenflüge endeten in leerstehenden Hotelbauten, zuwachsenden Parkanlagen, geschlossenen Gastwirtschaften, stillgelegten Bahntrassen oder gesperrten Tunneln.
Für all das – und noch einiges mehr – bietet dieses Buch Beispiele aus dem Kerngebiet der Alpen. Vom Kanton Glarus über Graubünden bis zu den Dolomiten, vom bayerischen Oberland über Vorarlberg bis Südtirol. Denn die Alpen sind und bleiben ein schrecklicher, aber faszinierender Ort.
Ein Stern, der keinen Namen mehr trägt (Kapitel 26)
Kein riesiger Waldameisenhügel, sondern ein Bunker des Alpenwalls (Kapitel 30)
Jedes Bauwerk und jedes Gebäude erzählt eine Geschichte aus vergangenen Tagen. Dies gilt es zu schützen. Und auch wenn es nicht immer so aussieht, hat jeder Lost Place einen Eigentümer. Dies ist zu respektieren und Zuwiderhandlungen können ernsthafte rechtliche Konsequenzen haben. Betreten Sie keine Gebäude oder Grundstücke unbefugt, zerstören oder beschädigen Sie nichts, öffnen Sie nichts gewaltsam. Sind Fenster oder Türen verschlossen, soll das auch so bleiben. Dieses Buch ist so konzipiert, dass Sie viele der Orte frei oder auf Nachfrage betreten dürfen (Burgruinen etc.) oder, falls dies nicht offiziell erlaubt ist, die Orte auch »mit Abstand« erfahren und genießen können.
Wenn Sie etwas von einem Lost Place mitnehmen, und sei es noch so klein, ist es Diebstahl. Wie bereits in Punkt 1 gesagt, alle diese Orte haben einen Eigentümer. Daher gilt die Regel: Alles bleibt, wie es ist. Belassen Sie es bei den schönen Einblicken und Fotos, die Sie an dem Ort machen. Das bedeutet auch: Lassen Sie nichts zurück, keine Essensreste, keine Kaugummis, keine Zigarettenkippen..
Hier ging es nicht hoch hinaus, sondern herunter: Laaser Marmorbahn. (Kapitel 13)
Das bringt uns zum nächsten Punkt: Rauchen verboten. Zollen Sie dem ehrwürdigen Ort Respekt und verzichten Sie für die Zeit, die Sie da sind, aufs Rauchen. Zigarettenkippen brauchen nicht nur 15 Jahre zum Verrotten (sie sollten übrigens nirgends achtlos weggeworfen werden), sondern können schnell ein verheerendes Feuer verursachen.
Dass Sie nichts hinterlassen sollen, gilt auch für »Kunstwerke« an den Wänden. Lassen Sie Wände und Mauern, wie sie sind. Auch die Menschen nach Ihnen sollen den Ort so erleben können, wie er früher einmal war.
Besonders wichtig: Vorsicht ist besser als Nachsicht. Das gilt vor allem bei Lost Places. Brüchige Mauern, frühere Keller, herumliegende Überreste oder auch Müll, aber auch natürliche Gegebenheiten (Bodenlöcher, Höhlen) bergen einige Gefahren. Zudem liegen manche der Objekte recht einsam. Deshalb ist es ratsam, immer mindestens zu zweit, besser noch zu dritt einen Lost Place zu besuchen. Da gilt die alte Regel: Ist eine Person verletzt, bleibt die zweite vor Ort und die dritte holt Hilfe. Zudem weiß man nie, wen man vor Ort trifft. Plünderer, Spinner oder Betrunkene sind auch oft rund um Lost Places anzutreffen. Da ist es beruhigender, nicht allein unterwegs zu sein.
Bis hierher und erst einmal nicht weiter: die Mühlbacher Klause (Kapitel 16)
Unerwünscht naturnah wohnen: Vorbauten der Kehlburg (Kapitel 9)
Die Menhire von Algund
Im Abstand von einem Jahrzehnt wurden bei Algund mehrere geheimnisvolle Steine gefunden – überraschend stellten sie sich als Menhire heraus. Sie bergen noch immer zahlreiche Rätsel.
Algund, Trentino-Südtirol, Italien Ort Kirchplatz, I-39022 Algund GPS 46.682714, 11.121801 Anfahrt Bahnhof Algund (RE Meran–Mals); A22, Ausfahrt Bozen, weiter über SS 38
Schon aufgereiht präsentieren sich heute die (Kopien der) Menhire in Algund.
OPERATION MENHIR – Selbst wer kein regelmäßiger Leser der Asterix-Abenteuer ist, hat wohl das Bild von dessen Freund Obelix vor Augen, der auf dem Rücken einen mächtigen Klotz trägt: einen Hinkelstein. Das verballhornte deutsche Wort für die übliche Bezeichnung Menhir ist vermutlich überhaupt nur noch durch den französischen Comic bekannt, obwohl dessen Helden Gallier, also Kelten, sind und die Menhir-Kultur weitaus älter als jene. Trotzdem ist die Verbindung nicht ganz verkehrt, erstens entstammt das Wort dem Bretonischen – es bedeutet ganz simpel »langer Stein« – und tatsächlich haben diese aufgerichteten Steine im französischen Nordwesten ihren Ursprung, sprich in der Nachbarschaft des weltberühmten gallischen Dorfes. Von dort haben sie sich langsam über den Kontinent ausgebreitet und gewissermaßen auch den Alpenraum erreicht. Dies bewiesen unter anderem mehrere erstaunliche Funde bei Meran. »Am Nachmittag des 11. Februar brachte mir mein Freund Anton Martin-Egen die Nachricht, daß Herr Kröß-Töller in Algund auf seinem Grund ›in der Kiem‹ Grabarbeiten vornehme und daß die Arbeiter dabei einen merkwürdig geformten und bearbeiteten Stein ausgegraben haben. Es lohne sich wohl, denselben an Ort und Stelle zu besehen.« Und ob. So beginnt der wunderbar erzählte Forschungsbericht des Heimatforschers Matthias Ladurner-Parthanes, der nicht nur die Bedeutung des Fundes sofort erkannte, sondern bald noch einige zusätzliche Überraschungen erleben sollte. Dazu gehörte, dass gleich am nächsten Tag ein weiterer Stein auftauchte. Der Experte identifizierte die beiden in Größe und Gestalt ziemlich unterschiedlichen Fundstücke als Menhire und informierte die zuständigen Behörden – die Steine wurden vorerst ins Museum nach Meran gebracht. Ladurner-Parthanes aber ließ das Thema nicht los, zu Recht vermutete er auch, dass die Menhire einst an anderer Stelle, weiter oben am Hang, gestanden haben mussten. Immer wieder ging er durch das Gebiet und exakt zehn Jahre später half ihm das Glück: Er entdeckte zwei weitere Menhire, noch dazu an ihrem ursprünglichen Aufstellungsort.
KULT IN ALGUND? – So erfreulich wie überraschend die Algunder Funde waren, so viele Rätsel gaben sie auf. Problematisch war, dass außer den Steinen selbst keine zusätzlichen Artefakte auftauchten, etwa Opfergaben oder anderes, die Aufschluss über den Sinn und Zweck der Menhire hätten geben können. Stein I wurde als weiblich bezeichnet, da er vorne eine Brust zeigte; wie die anderen auch trug er zudem leicht wellige Rillen, vorne zumeist quer, hinten senkrecht. Stellten diese Haare dar, Kleidung oder waren sie nur Verzierung? Die anderen, »männlichen« Menhire wiesen – neben den Rillen – zahlreiche eingeritzte Dolche auf, auf einem ist anscheinend auch ein Ochsengespann zu sehen. Immerhin ließen die Ritzbilder eine ungefähre Datierung zu, die Menhire entstammen vermutlich der sogenannten alpinen Kupferzeit von 2300–1900 v. Chr. Relativ einig ist man sich in der Forschung auch, dass sie Kultzwecken dienten. Aber wann genau, wie und wem dort geopfert wurde, bleibt gänzlich im Dunkeln. In Südtirol wurden bis in jüngste Zeit immer wieder Menhire gefunden, oft ganz unterschiedlicher Art. Nicht wenige weisen zum Beispiel keinerlei Bildnisse auf. Vieles an ihnen und der dahinterstehenden Kultur bleibt im Dunklen, vielleicht wird uns eines Tages ein weiterer Zufallsfund Aufschlüsse bringen. Die Originale der Algunder Menhire stehen heute in Museen in Bozen und Meran, im Dorf wurden sie als Nachbildungen beim Tourismusbüro aufgereiht. Auch in dieser Form üben sie noch einiges von der Faszination aus, wie sie schon der Bericht ihres Entdeckers vermittelte.
Der Menhir, den die Forscher als »weiblich« bezeichnen
Neben den Menhiren tauchten in Algund noch einige weitere geheimnisvolle Steine auf. Ein naher Verwandter könnte ein 2,60 Meter hoher runder Felsblock sein, der 1975 bei Bauarbeiten im Kapellgut gefunden wurde. Zwar weist er keine Zeichnungen oder (historische) Inschriften, aber Bearbeitungsspuren auf; ob es sich tatsächlich um einen Menhir handelt, ist deshalb umstritten – heute dient er als Brunnen. Nur wenige Meter entfernt steht ein durchlöcherter Stein vor dem früheren Café Andrea. Er wurde 1978 ebenfalls bei Bauarbeiten entdeckt und anfangs für einen unvollendeten Mühlstein gehalten. Die Archäologen glauben mittlerweile allerdings, dass er Teil eines steinzeitlichen Dolmens, eines Hünengrabes, war. Das Seelenloch ist ein typisches Merkmal solch eines Megalithbaues. Doch auch hier wurden keine weiteren Kleinfunde gemacht, die weiterhelfen könnten.
Die Steine zieren ähnliche, aber schwer zu deutende Ritzzeichnungen.
Rund um das Bergdorf Ardez
Die Unterengadiner Idylle um das Bergdorf Ardez sollte nicht darüber hinwegtäuschen: Wo Hexen auf den Felsen tanzen, können auch allerhand andere unheimliche und unschöne Dinge geschehen.
Ardez (Gemeinde Scuol), Graubünden, Schweiz Ort Nahe Pradè, CH-7546 Scuol GPS 46.781222, 10.213902 Anfahrt Bahnhof Ardez (RhB Scuol–Tarasp–Pontresina); A13, Ausfahrt Landquart, weiter auf N28 und N27
Die Ruine Chanoua war früher ein stattliches Gebäude und beeindruckt noch immer.
RUINE CHANOUA – Binnen weniger Jahre wurde das beschauliche Bergdorf Ardez mehrfach von Katastrophen heimgesucht: 1738 zerstörte eine Lawine einige Häuser, zwei Jahre später erfolgte der nächste Bergsturz, 1742 war es erneut so weit. Im Frühjahr des gleichen Jahres traf es schließlich das älteste Gebäude der Gegend, nur war es dieses Mal ein anderes Element, nämlich Feuer, das für Verwüstung sorgte. In der kleinen Fraktion Chanoua, oberhalb des Dorfes an der uralten Straße nach Ftan, der einstigen Hauptverbindung von Como nach Tirol, brannte die Sust ab, die zugleich Lagerhaus, Herberge und Gastwirtschaft war. Bereits im 9. Jahrhundert war sie als »fiskalische Taverne« erwähnt worden, sie bestand aus einem bewohnten Teil, einem Stall und einem großen Lagerraum, in den man hineinfahren und dank eines zweiten ebenerdigen Tores ohne kompliziertes Wenden wieder hinausfahren konnte. Um diesen Hauptbau existierten noch einige andere Häuser und wohl auch eine Kapelle, die jedoch aus unbekannten Gründen irgendwann alle komplett verschwunden sind. Die Sust wurde nach dem Brand in etwas veränderter Form wiederaufgebaut, 1773 ist noch einmal erwähnt, dass dort eine große Beherbergung nach einem Ardezer Markttag stattfand. Spätestens mit der Verlegung des Hauptweges Mitte des 19. Jahrhunderts weiter hinunter ins Tal waren aber ihre Tage gezählt. Zumindest der vordere Teil war allerdings noch bis 1910 bewohnt, dann stand der letzte verbliebene Bau in Chanoua leer und verfiel. 1950 stürzte die Decke des Lagerraums ein, die Mitte, der einstige Stall, war fast schon bis auf die Grundmauern herabgekommen. Nur die Säulenreste des früheren Gewölbes und die Frontseite mit ihren teils noch vorhandenen Eckverzierungen erinnern an die Stattlichkeit dieses einst so wichtigen Gebäudes, dessen Geschichte nach tausend Jahren endete.
BOS-CHA – Vielleicht sah Chanoua einmal so aus wie der kleine Weiler Bos-cha, der in luftiger Höhe am Weg von Ardez nach Guarda – nebenbei zwei der schönsten und am besten erhaltenen Unterengadiner Bergdörfer – liegt. Auch hier gab es einst ein Gasthaus zur Versorgung Durchreisender, die Überlieferung allerdings warnt, dass es besser gewesen sei, dieses zu meiden. So habe die Wirtin von Bos-cha ihre Gäste heimlich beraubt, wenn nicht gar Schlimmeres. Als ihr eigener Sohn, der vor vielen Jahren nach Übersee ausgewandert war, unerkannt bei ihr einkehrte, ging es ihm nicht besser. Versessen auf seinen Geldbeutel, flößte die grausige Dame dem übermüdet Eingeschlafenen heiße Butter ein. Als er sich in einem letzten Aufseufzen als ihr Sohn zu erkennen gab – in anderen Versionen war es seine Schwester, die er vorher aufgesucht hatte, die ihn gegenüber der Mutter identifizierte –, rannte sie vor Entsetzen davon. Noch immer soll sie ab und zu in der Gegend zu sehen sein. Heute wirkt Bos-cha friedlicher, auch weil einige der Häuser leerstehen und keine raublüsternen Wirtinnen mehr beherbergen; mancher fürchtet schon, dass dem Dörfchen ein Schicksal blüht wie der ebenfalls zu Ardez gehörenden Fraktion Sur En, die über weite Teile des Jahres unbewohnt nur noch im Sommer zum Leben erweckt wird. Verschwunden aus Bos-cha ist die bereits vorher profanierte Kapelle St. Stephan, die, in ein Wohnhaus umgewandelt, 1924 abbrannte. Für den Untergang eines weiteren wichtigen Gebäudes sorgte der berüchtigte Lawinenwinter 1951. Die enormen Schneemassen zerstörten die außerhalb gelegene Alte Mühle, einen schlichten Bau, der ausgerechnet kurz zuvor unter Denkmalschutz gestellt worden war. Die Grundmauern und das Mühlrad hat man restauriert, trotz des tragischen Endes der Mühle dient sie so immerhin noch als sehr pittoresker Rastplatz am Weg nach Guarda.
Nehmen Sie Platz bei den Hexenplatten!
DIE HEXENPLATTEN – Rund um Ardez tragen die Ruhebänke an den Wanderwegen eigene Namen. Und so steht auf einem Pausenplätzchen westlich des Dorfes deutlich auf der Rücklehne: »Platta da las Strias« – Hexenplatte. Wer sich umschaut, wird diese auch sofort entdecken: zwei verschieden große eingesunkene Felsblöcke mit zahlreichen seltsamen kleinen Einbuchtungen an der Oberfläche. Der Name deutet darauf hin, dass unseren näheren Vorfahren diese Steine unheimlich waren, sie in jedem Fall nichts mehr über ihre Entstehung und ihren Zweck wussten. Nun, zwar vermuten die Historiker, Archäologen und Heimatforscher nicht mehr unbedingt Hexen hinter den rätselhaften Löchern, aber wirklich schlauer sind sie trotz intensiver Forschung auch nicht über das Phänomen geworden, das sie wesentlich nüchterner »Schalensteine« nennen. Im Alpenraum sind diese bearbeiteten Felsblöcke weit verbreitet, aber auch in anderen Gegenden zu finden. Im Gebirge ist ihnen gemein, dass sie für gewöhnlich außerhalb von Ortschaften und in höheren Lagen zu finden sind – wie die Ardezer Hexenplatten. Dann aber fangen die Unsicherheiten schon an: Wann sind sie entstanden? Erste Beispiele gibt es schon aus der Zeit um 10000 v. Chr., in den Alpen aber werden sie – grob – meist auf die letzten Perioden der Steinzeit und die Bronzezeit datiert, einzelne Exemplare gibt es sogar noch aus dem Mittelalter. Wie sie zustande gekommen sind, wird nicht minder heftig diskutiert. Manche gehen von natürlicher Entstehung – etwa durch Auswaschung – aus, manche von bewusster Bearbeitung, andere glauben an Mischformen. Die Hauptpreisfrage ist natürlich der Zweck – und die Antworten sind Legion. Sind sie die Hinterlassenschaft von handwerklichen Tätigkeiten, etwa für das Wetzen von Werkzeugen oder als eine Art Mörser? Oder waren sie Orientierungszeichen, markierten Hirten hier ihre Anwesenheit oder verwiesen sie auf astronomische Konstellationen? Dienten sie womöglich kultischen Zwecken, Fruchtbarkeitsriten oder Opferungen? Das Ende der Spekulationen ist längst nicht erreicht. Wer hat hier oben über Ardez in zwei Felssteine hundert beziehungsweise zwanzig Kuhlen graviert, wann – und warum? Oder sind es etwa doch die Abdrücke der hier ziegenbeinigen tanzenden Hexen, wie unsere Vorfahren vermuteten?
Diesen Blick auf Ardez können die Hexen beim Tanzen genießen.
Der mittlere Teil der Ruine Chanoua ist fast bis auf die Grundmauern zerstört.
Östlich der Ruine Steinsberg und direkt im Felsen über dem Tunnel der Rhätischen Bahn liegt die Höhle Foura Chagnoula. Den Einwohnern von Ardez diente sie jahrhundertelang als Entsorgungsplatz verstorbener Tiere. Während andere Ortschaften hierfür einen abgesonderten Begräbnisplatz ausweisen mussten, wo der Abdecker tote Tiere verscharrte, fungierte den Ardezern die abgelegene und fast dreißig Meter tiefe Höhle als Kadaverloch. Kurzerhand wurden die Leichen der Haus- und Stalltiere hier hinabgeworfen. Begehungen durch Höhlenforscher zeigten, dass sie inzwischen bis zur Hälfte mit tierischen Überresten aufgefüllt ist. Eine Besichtigung ist – nicht nur deshalb – untersagt.
Der Berwanger Hof
Die Prominenz kam gern, waren doch die Besitzer des edlen Hotels in Berwang selbst prominent. Doch leider nahm alles – Hotel und Besitzer – ein trauriges Ende. Besteht wenigstens für die Gebäude noch Hoffnung?
Berwang, Tirol, Österreich Ort Berwang 25, A-6622 Berwang GPS 47.411143, 10.749109 Anfahrt Bahnhof Bichlbach-Berwang (RB Pfronten–Reutte–Garmisch-Partenkirchen); A7 (Deutschland), weiter als österreichische B179 (Fernpassstraße) bis Bichlbach
Ausreichend Platz für seine Gäste bot der Berwanger Hof.
TOURISMUSPIONIERE IN BERWANG – »Einen totalen Umbruch seiner Wirtschaftsstruktur und sogar des Dorfbildes erlebte die früher in einem abgelegenen Winkel liegende Gemeinde Berwang. Der Fremdenverkehr, der sich dort seit den 1920er Jahren besonders im Winter immer kräftiger entfaltete, hat nun das Bild des Siedlungskernes Berwangs völlig verändert. Aus einem armseligen Bergbauerndorf ist eine Hotelsiedlung geworden.« So urteilte eine wissenschaftliche Untersuchung über die wirtschaftliche Entwicklung Berwangs und seiner Nachbargemeinden – im Jahr 1969. Der Prozess hin zum attraktiven Tourismusort war damals noch nicht abgeschlossen, die Attraktivität des Ortes besonders als Winterferienresort stieg weiter an. Die Analyse traf zu: Jahrhundertelang lag Berwang im Abseits, auf gut 1335 Metern Höhe in einem Seitental als einzig größere Siedlung. Es gab eine Kirche, man lebte von der Landwirtschaft, aber das nur kärglich – wer nicht musste, kam dort auch nicht hin, wer konnte und auf ein besseres Leben hoffte, wanderte ab. Die Außerfernbahn, die weitab unten im Tal verlief, brachte keinerlei Abhilfe. Es war ausgerechnet das raue Klima, das bislang das Dasein eher erschwerte, aber nach der Jahrhundertwende für den Umschwung sorgte. Schnee hielt sich in Berwang lange, oft bis nach Ostern. Dies lockte noch vor dem Ersten Weltkrieg erste Pioniere des noch jungen Skisports in die Tiroler Gemeinde, die hierauf schnell reagierte. Je mehr es mit der Landwirtschaft bergab ging, desto schneller war man mit der Umstellung auf die Beherbergung und Versorgung von Gästen. Existierten Mitte der 1920er nur zwei Dorfwirtschaften, so setzte auf Betreiben eines Kommerzialrates namens Singer ein Boom ein. Er selbst erbaute das erste Hotel vor Ort, ließ Skilifte errichten und machte sich für den Ausbau der einzigen Zufahrtsstraße nach Berwang stark. Bis vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verdreifachte sich die Zahl der Gastwirtschaften, neben dem Hotel waren Pensionen und zahlreiche private Unterkünfte entstanden.
Hier fließt kein Bier mehr.
ST. MORITZ IN TIROL