Lost on Ice - Allie Well - E-Book

Lost on Ice E-Book

Allie Well

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Beschreibung

GÜNSTIGER EINFÜHRUNGSPREIS. NUR FÜR KURZE ZEIT! Ein verrücktes Selfie und Alices Welt liegt in Scherben. Eine berührende, humorvolle Sports Romance für Fans von Ayla Dade und Rebekka Weiler  »Ich hasste Eishockey. Das würde sich nie ändern, weil es ein Sinnbild für alles war, womit ich noch immer haderte. Ich hasste es, an einen Spieler gekettet zu sein, der an eine Mannschaft gekettet war, egal wie dauerhaft.«  Alice hat Eis satt. Mit einem Eishockey-Star als Zwillingsbruder kennt sie sich mit Pucks und Schlägern aus, hat ihre Hausaufgaben in Eishallen gemacht, ihre Wochenenden bei Spielen verbracht – und will all das nie wieder sehen. Ein Umzug in eine andere Stadt soll ihr endlich den erhofften Abstand und einen Neuanfang bieten. Hier trifft sie auf den ebenfalls zugezogenen Reed, mit dem sie die Unbeschwertheit nachholt, die sie bisher vermisst hat. Bald wird aus der Freundschaft voller Abenteuer mehr – doch dann stellt sich heraus, dass Reed Eishockeyspieler ist, ein Goalie vor dem großen Durchbruch. Nun muss Alice entscheiden, ob sie sich erneut auf das Eis einlassen kann ... 

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

 

Für Elke

Kapitel 1

Unsere Blicke trafen sich das erste Mal, als sich eine Frau, optisch in den Siebzigern, so lautstark darüber beschwerte, ihr Ingwergetränk ohne Zucker würde scharf schmecken, dass wir eine Grimasse aus Fremdschämen und Belustigung austauschten. Er prostete mir mit seinem Glas zu und nippte am Schaum des Chai Lattes, der mit mehr Zimt bedeckt war, als in so manchen Zimtstreuer passte. Und dazu las er ausgerechnet einen Ernährungsratgeber – den riesigen Spinatblättern auf dem Umschlag nach zu urteilen jedenfalls. Adrian hätte sich von der Scheinheiligkeit des Kontrasts persönlich angegriffen gefühlt.

Eigentlich hatte ich mit ihm als Bruder und seinen Freunden genug ernährungsratgeberlesende Mittzwanziger gesehen, um für mein restliches Leben versorgt zu sein. Eigentlich. Der junge Mann … war anders. Brünett, definitiv größer als ich, mit Buch und Heißgetränk im Café. Mindestens so 08/15 wie ich. Nicht einmal die Tatsache, dass er von Grünzeug las, während er Zucker konsumierte, hätte ihn aus der Masse herausstechen lassen sollen. Nicht einmal mit der Art, wie seine Ohrenspitzen ein winziges bisschen rot anliefen, als er meinen andauernden Blick bemerkte. Mit einem Quietschen schabte sein Stuhl über den Holzboden, und auch wenn ich die Bewegung gesehen hatte, zuckte ich zusammen.

Der junge Mann schnitt eine entschuldigende Grimasse, bevor er seine Beine neu sortierte und sich wieder in seinen dunkelblauen Polsterstuhl sinken ließ. Diesmal prostete er mir mit seinem Buch zu, dann wandte er den Blick ab. Ich tat es ihm gleich. Letztlich war ich hergekommen, um meinen Roman zu lesen, also würde ich exakt das tun. Gerade war der junge Chirurg dabei gewesen, einem Patienten das Leben zu retten, und auch wenn es ihm erfahrungsgemäß gelingen würde, würde ich ihn dabei begleiten und unterstützen. Zwischen zwei Kapiteln, die sowohl Arzt als auch Patient gut überstanden hatten, griff ich nach meiner Kaffeetasse und nahm einen Schluck. Es war nur Adrians Trainingsregime zu verdanken, dass ich ihn nicht postwendend in die Tasse zurückspuckte. Das empfindliche Zeitfenster, in dem Kaffee eine perfekte Temperatur hatte, die über den Mangel an Milch und Zucker – ebenfalls dank der effektiven Erziehung meines Bruders – hinwegtäuschte, hatte ich hiermit wohl verpasst. Weil ich mich lieber auf einen Fremden als auf meinen Roman konzentriert hatte. Und ich bereute keine Sekunde, auch nicht, als ich eine neue, kleinere Tasse bestellte und auch diesmal weder Zucker noch Milch hineinrührte. Adrians Erziehung hatte, wie alles, was er tat, Spuren hinterlassen. Während der Kaffee etwas abkühlte, die Geschehnisse im Roman wieder von Krankenhausalltag zu Mordermittlungen wechselten und der Chai-Latte-Typ seine Ernährungsweise studierte, vibrierte mein Handy an meinem Oberschenkel.

Ich zog es aus der Tasche der Sportleggings und nahm den Anruf entgegen, ohne auf den Namen zu sehen. Notfalls legte ich einfach wieder auf. »Ja?«

»Liz?«

Ich sollte wieder auflegen. Das teilte ich dem Mann am anderen Ende der Leitung auch mit, was den jungen Mann im Café aufsehen und belustigt eine Augenbraue nach oben ziehen ließ. Wenn Adrian anrief, war es selten ein Notfall, gelegentlich interessant, häufig anstrengend, aber immer ein Anruf, den ich nicht wegdrücken würde.

»Als ob«, meinte er nur. Im Hintergrund knarzte sein Sessel. Oje. Wenn Adrian sich für ein Gespräch hinsetzte, anstatt es zwischen Tür und Angel zu führen, handelte es sich erfahrungsgemäß um eine längere Angelegenheit. Wie es aussah, stand meinem Kaffee dasselbe Schicksal wie seinem Vorgänger bevor.

»Ich bin im Café« teilte ich ihm mit. »Kann ich dich später zurückrufen?«

Adrian seufzte. »May wollte sich mit mir treffen.«

May. Manchmal fragte ich mich, ob diese Frau ein Engel oder einfach nur auf eine andere Weise speziell war als mein Bruder, wenn sie es so lange mit ihm aushielt. Seinem Tonfall nach zu urteilen, hielt er sie gerade für alles andere als geduldig. »Klingt gut?«

Ein Stöhnen. »Sie will reden.«

Ach so. Ich sollte Übersetzerin zwischen Mann und Frau spielen. Oder zwischen Sportler und Mensch, bei Adrian wusste man nie. Es war wenig überraschend, dass er deshalb anrief. Seit er nach Buffalo gewechselt hatte, litt seine Beziehung zunehmend unter den veränderten Umständen. Kein Wunder. Sportlerbeziehungen waren zum Scheitern verurteilt, wenn nicht beide für das Thema brannten und leben wollten. Früher oder später würde auch May kapitulieren. Wenn es nach Adrian ging, lieber später. »Und deshalb willst du vorher reden?«

Das Nicken konnte ich vor dem inneren Auge sehen, das erneute Knarzen des Sessels hören, dicht gefolgt von Schritten. »Du bist eine Zumutung.«

Ich biss die Zähne zusammen. Ich? Nein. Nicht, wenn ich im Café saß und sämtliche Höflichkeitsnormen ignorierte, um mit ihm zu telefonieren. Er war eine Zumutung. Sein Leben war eine Zumutung. Seine Präsenz in meinem Leben war eine Zumutung. Ich verdrehte die Augen und fing einmal mehr den Blick des Spinatlesers auf. Diesmal legte er den Kopf schief. Mit einem Schulterzucken tat ich die Frage ab. Es war nur Adrian. Zwillinge mussten sich gelegentlich auf den Keks gehen, sagte man. »Was ist jetzt mit May und dir? Was will sie bereden?«

»Keine Ahnung?«

»Habt ihr gestritten?«

»Ich glaube nicht?« Er klang verwirrt. »Wir waren mit dem Team aus, bevor sie nach Hause gefahren ist, dann ist sie gestern nicht gekommen, und heute will sie reden. Denkst du, sie hat Probleme mit ihren Eltern?«

Vermutlich hatte May ganz andere Probleme als ihre Eltern, wenn sie nicht sofort zu Adrian fuhr, wann immer er Luft für gemeinsame Zeit hatte. Allein, dass er anhand der Informationen an ihre Eltern dachte, sprach Bände. »Was hast du gemacht?«

»Nichts?«

»Hat sie das gesagt?«

»Als ich gefragt habe, hat sie nur gemeint, dass alles okay wäre und wir uns heute sehen würden.« Eine Pause, dann das Geräusch tiefgefrorener Gemüsesorten, die ihrer natürlichen Form beraubt und zerkleinert wurden. Adrian …

»Im Zweifel heißt das, dass nichts okay ist.« Er schlug einen Löffel gegen den Plastikbehälter seines Mixers und ich tauschte einen dritten Blick mit dem Gemüsebuchmenschen. Die beiden würden sich vermutlich gut verstehen.

»Was habt ihr mit deinen Freunden gemacht?« Seine Freunde, falls sie die Bezeichnung überhaupt verdienten, waren grundsätzlich niemand, dessen Gesellschaft man genoss. Die Wochenenden, als Adrian mit dem Uniteam unterwegs gewesen war, waren die besten meines ganzen Studiums gewesen. Wenn seine neue Mannschaft ähnlich sympathisch war, hatte May einen furchtbaren Abend verlebt und jetzt einiges aufzuarbeiten.

»Wir haben ein gewonnenes Spiel gefeiert«, kam es langsam aus dem Telefon.

»Übersetz mir das in Promille.«

Ein Schnauben. »Liz!«

»Nichts Liz!« Ich hatte ein Leben lang Erfahrungen mit seinem Umfeld, und das war nichts, was ich als bereichernd bezeichnen würde. Für mich hatte es genug Abende mit Hockeyspielern gegeben, um sie einschätzen zu können. Ein Sport wie Adrians brachte mehr Verlierer hervor als nur die unterlegene Mannschaft. »Habt ihr getrunken?«

»Ein paar von uns.«

»Kauf ihr Blumen und hoffe, dass sie dich nicht in den Wind schießt.«

Adrian verschluckte sich an seinem Shake und hustete ihn halb in den Hörer. »May ist nicht so und vor allem nicht so überempfindlich wie du.«

Die Retourkutsche kam nicht aus dem Nichts und doch schluckte ich. Unsere unterschiedlichen Perspektiven würden unseren Gesprächen immer eine bittere Note geben. Manchmal fragte ich mich, ob es nicht gut war, dass Feiertage in dieser Familie grundsätzlich ausfielen oder anderweitig besetzt waren. Ohne lange gemeinsame Essen blieben uns immerhin die Streitigkeiten erspart.

»Sag ihr das. Und dass du sie zu schätzen weißt«, sagte ich. »Und vergiss die Blumen nicht, Adrian. Keine Supermarktblumen, keine Topfpflanze.«

Mit Adrians Lachen war die angespannte Stimmung zwischen uns gebrochen. »Einmal, Liz, das war ein einziges Mal! Hätte ich gewusst, dass ich mir das mein Leben lang anhören muss …«

… wäre seiner ersten Freundin wohl die fragwürdige Situation, zum Tanzkursabschlussball statt eines Blumenstraußes eine halberfrorene Sukkulente in die Hand gedrückt zu bekommen, erspart geblieben. Ihr Gesichtsausdruck war herrlich gewesen. Der meines Bruders, als er verstanden hatte, dass er irgendwo falsch abgebogen war, noch mehr. Ich stimmte in sein Lachen mit ein.

»Adrian«, sagte ich, als wir einige Sekunden mit der Erinnerung verbracht hatten, »vermassle es nicht. Ich mag May.«

»Ja.« Das leise Wort wollte nicht so recht zu dem kompromisslosen Sportler passen, den sein Umfeld sonst ihn ihm sah. Den ich sonst in ihm sah. »Ich auch.« Er beendete das Gespräch.

Seine letzten beiden Worte waren noch eine Spur verletzlicher als das zuvor. May war nicht nur ein Accessoire für ihn, er mochte sie wirklich. Doch egal, ob ich ihm gerade Beziehungstipps am Telefon gegeben hatte, würde es auf eine Entscheidung zwischen seiner Karriere und seiner Freundin hinauslaufen, war es egal, wie gern er May hatte. Sportler funktionierten nicht ohne Sport. Ohne Beziehungen dagegen schon.

Ich ließ das Handy sinken und legte es neben der Kaffeetasse auf den Tisch. Wirklich probieren wollte ich das Getränk nicht. Nach dem Gespräch war es vermutlich kalt und bitter geworden – wenig reizvoll. Früher hatte ich versucht, nachträglich mit Süßstoff gegenzusteuern, aber die Kombination hatte den Geschmack nicht verbessert. Im Gegenteil. Und spätestens seit Adrian eine Studie zu Süßstoff in Zusammenhang mit Heißhungerattacken ausgegraben hatte, hatte die gesamte Familie dem Zeug ohnehin abgeschworen. Trotzdem griff ich nach dem ungesüßten Kaffee und leerte ihn in zwei Zügen; nicht ohne eine Grimasse zu schneiden.

Wieder fing ich den Blick des Spinatlesers auf, der fragend eine Augenbraue nach oben zog und in Richtung der Tasse in meiner Hand nickte. Ich antwortete mit einem Naserümpfen, das er wiederum zum Anlass nahm, mir mit seinem Chai Latte zuzuprosten. Diesmal war mein Naserümpfen eine Spur weniger echt. Die Getränkeempfehlung kam nicht unprovoziert und trotz des Zimts sah der Inhalt des Glases nicht unappetitlich aus, aber ändern würde ich meine Standardbestellung deshalb nicht. Kaffee und Buch, das war der Ablauf hier. Normalerweise ohne störende Anrufe wie Adrians oder andere Ablenkungen.

Der Chirurg im Roman ermittelte munter weiter, aber so gut das Buch auch war, so wenig aufnahmefähig war ich. Alle paar Sekunden schweifte mein Blick zu dem anderen Café-Besucher, der vollkommen in sein Fachbuch vertieft dasaß und nur hin und wieder umblätterte. Himmel! Sonst hatte ich auch keine Probleme damit, allein hier zu sitzen und zu lesen. Ein beliebiger Mann, gerade mit dieser Lektüre, sollte nichts daran ändern. Und doch änderte gerade das alles. Nach einem Leben auf Highways, am Rande von Spielfeldern und voller Trubel, den ich mir nicht ausgesucht hatte, war Normalität für mich so anziehend wie ein trainierter Sportler für andere. Normalität. Routine. Verlässlichkeit und Raum für kleine Traditionen. Dass der Fachbuchleser zusätzlich trainiert aussah, tat auch nicht weh. Mit einem Stöhnen klappte ich das Buch zu. Weit würden es der Protagonist und ich heute nicht mehr bringen und mein Interesse an einem dritten Kaffee, den ich abkühlen ließ, hielt sich ebenfalls in Grenzen. Für den Moment war es besser, zu kapitulieren und es mit einer anderen Beschäftigung zu versuchen. Yoga zum Beispiel. Zumindest hätte Mom mir das geraten. Aus ihrer Sicht war Yoga mehr oder minder Allheilmittel. Und Familiensport. Es war eine weitere Gewohnheit, die ich einfach beibehalten hatte, selbst jetzt, wo niemand aus der Familie mehr in der Nähe lebte.

Ich bat den nächstbesten Mitarbeiter um die Rechnung, zahlte, und räumte meine Tasche wieder ein. Auf dem Weg zur Tür passierte ich den jungen Mann einmal mehr. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke und ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Als er es erwiderte, schoss mir Wärme in die Wangen und ich beeilte mich, das Café zu verlassen. Sein Lächeln war niedlich. Sehr niedlich. Im selben Moment, in dem mir die ersten Regentropfen auf die Haare fielen, bereute ich, ihn nicht angesprochen zu haben oder länger geblieben zu sein. Vielleicht hätten wir uns auch dann nicht unterhalten – allein, dass ich das wollte, war ungewohnt –, zumindest wäre ich aber trocken geblieben. So war ich nass und ohne Chance auf Gesellschaft.

Ich war schon selbst schuld daran, würde mein Bruder sagen. Niemand hatte mich gezwungen, nach dem College den Bundesstaat zu verlassen und allein noch mal von vorn anzufangen. Niemand hatte mich gezwungen, Adrian und das Leben, in dem ich einen festen Platz gehabt hatte, zurückzulassen; im Gegenteil. Aber nicht jeder Platz hatte eine Form, in die ich passte, ohne mich zu verbiegen. Ich setzte meine Kapuze auf und machte mich auf den Heimweg.

Als ich zu Hause ankam, war ich trotz der Jacke durchnässt, dafür aber deutlich gelöster als noch vor einer guten Stunde. Für einen Moment war das Gefühl, von einer Chancenlosigkeit in die nächste gerannt zu sein beklemmend geworden, und der Gedanke, sofort wieder in der Wohnung festzusitzen, hatte mich genug gestört, um einen Spaziergang zwischenzuschieben. Zwar im Regen, aber nasse Haare waren nichts, was mein Immunsystem überhaupt als Risikofaktor registrierte. Dafür war es zu abgehärtet.

Die Kleidung hängte ich in die Dusche und frisch trockengelegt fühlten sowohl der angefeuchtete Roman als auch ich uns deutlich besser. Ein Blick auf die Uhr bestätigte, dass mein Bruder gerade sein Treffen mit May hatte. Mit Adrian hatte May es nicht leicht, aber sie mochte ihn mindestens so sehr wie er sie. Vermutlich nicht die schlechteste Ausgangslage, wenn Konflikte ins Spiel kamen. Adrian würde mir schon ein Update geben – spätestens, wenn er die Welt oder wahlweise seine Freundin nicht mehr verstand.

Das Knicken des Buchrückens und die ersten Leserillen taten mir in der Seele weh, aber noch mehr als ein unversehrtes Buch schätzte ich ein leserliches und schimmelfreies Buch. Also wanderte der Krimi auf die Heizung, wo er einen Spagat erlernte, während ich einen Rucksack und einen Umzugskarton, der sich irgendwie nie von selbst entsorgt hatte, vom Wohnzimmerteppich schob, um ihn zur Yoga-Matte umzufunktionieren. Wenn mein Roman litt, litt ich aus Solidarität mit. Besseres hatte ich ohnehin nicht zu tun. Nach gerade einmal einem Monat hier hielten sich meine lokalen Kontakte in Grenzen. Eng gesteckten Grenzen. Ich ließ mein Handy einen Podcast abspielen, den mir eine Kollegin empfohlen hatte, und begann, eine der Routinen, die Mom uns beigebracht hatte, zu durchlaufen. Wie immer dauerte es nicht lang, bis meine Gedanken zu schweifen begannen, ohne konkret zu werden. Eine Anspannung, von der ich nicht wusste, dass ich sie in mir gehabt hatte, löste sich langsam, und als ich letztlich nur noch auf dem Teppich lag und versuchte, dem Podcast trotz meiner Wissenslücken zu folgen, konnte ich zum ersten Mal heute durchatmen.

Keine Ahnung, was ich mir unter meinem neuen Leben vorgestellt hatte, aber das hier war es nicht gewesen. Rochester war alles, was ich mir gewünscht hatte, und gleichzeitig nichts davon. Alles um mich herum waren Gegenstände und Orte, die meine Familie nie gesehen hatte, aber mein Leben war noch immer so, als käme Adrian jeden Moment zur Tür herein, um zum Mittelpunkt zu werden. Vielleicht mussten Zwillinge so sein, vielleicht musste man irgendwann die Trennung wagen – vielleicht würde ich es hier herausfinden.

Der Podcast, dessen Thema wie auch der Großteil des Inhalts an mir vorbeigegangen war, stoppte abrupt und wurde von meinem Nachrichtenklingelton abgelöst. Ich rappelte mich auf und zog das Smartphone näher zu mir heran. Adrian hatte geschrieben. Mit einem Mal fühlte sich Atmen weniger frei an. Offenbar musste er nicht durch die Tür kommen, um zum Fokus meiner Aufmerksamkeit zu werden.

Die Blumen waren eine gute Idee.

Gleich darauf folgte die nächste Nachricht, ein Zumindest hat sie sie mir nicht um die Ohren gehaut. Ich schmunzelte. Verdient hätte er es im Zweifel gehabt. Die Blumen eher weniger. Kurz war ich versucht, ihn zu fragen, ob May denn nun Streit mit ihren Eltern gehabt hatte, verzichtete aber darauf. Es kam selten genug vor, dass Adrian und ich dasselbe wollten – dass May ihm und damit der Familie erhalten blieb. Ich musste es nicht absichtlich verderben.

Ein gutes Zeichen, antwortete ich und schickte einen Daumen nach oben hinterher. Dann: Wie seid ihr verblieben?

Sie gibt mir noch eine Chance. Ein augenrollender Smiley. Ich soll aufhören, sie wie ein Puck Bunny zu behandeln – WTF ist ein Puck Bunny??

Jetzt war ich es, die augenrollend dasaß. May wollte nicht länger nur Accessoire meines sportfanatischen Bruders sein und gab ihm wahrscheinlich eine letzte Chance, und er hängte sich an Begrifflichkeiten auf? Und besaß die Frechheit, genervt aussehende Emojis zu schicken? Manchmal war Adrian so ein Mann, dass es kaum auszuhalten war. Ich verwies ihn an Google. Sollte Wikipedia sein Wörterbuch spielen, mein Job war es nicht. Ich hatte Boston verlassen und mit seiner Karriere – inklusive Terminologie – abgeschlossen. Eigentlich wusste er das. Er verstand es nicht, wie auch, wenn er nie »das andere Kind« gewesen war, aber er wusste, dass ich nichts mehr mit dieser Welt zu tun haben wollte. Trotzdem zog er mich immer wieder zurück.

Dass das nie aufhören würde, hatte ich immer gewusst. Jetzt realisierte ich es mit einem Schlag und die Erkenntnis gefiel mir nicht. Was sie bedeutete gefiel mir nicht. Das Handy in meiner Hand gab einen weiteren Nachrichtenlaut von sich und ich konzentrierte mich wieder auf die Konversation.

Mays Hormone spielen verrückt, schrieb er. Puck Bunny ist dramatisch, sogar für sie

Mann. Klischeehaft, stereotypisch Mann. Sag ihr das besser nicht :/ Es hat nichts mit Hormonen zu tun

Mehr mit dem Partner. Menschen waren keine Dekoelemente oder Spielzeuge. Irgendwann würde er es lernen, hoffentlich bald. Oder May würde dieselben Konsequenzen ziehen wie ihre Vorgängerinnen, Leidensgenossinnen … und ich.

Kapitel 2

Mit gerunzelter Stirn nickte der Spinatbuchleser in Richtung meines Buchs, als sich unsere Blicke das nächste Mal trafen. Gestern hatte ich den Nachmittag damit verbracht, meinen Krimi zu Hause zu lesen. Nach seiner Dusche und der Trockenphase inklusive Buchrückenzerstörung bot er einen Anblick, für den man sich nur schämen konnte. Damit würde der Roman meine Wohnung wohl nicht mehr verlassen. Stattdessen hatte ich einen Gedichtband, den ich irgendwann geschenkt bekommen und seither verdrängt hatte, dabei, durch den ich mich mit dem Kaffee quälte. Immerhin waren die Gedichte kurz genug, um häufig Kaffeepausen zu machen und das Getränk zu trinken, bevor es kalt und bitter wurde.

Mit einem hochgezogenen Mundwinkel hob ich das Buch an, um den Spinatbuchleser den Buchdeckel sehen zu lassen, und lächelte, als er mit einer gequälten Grimasse die Geste erwiderte und seine eigene Lektüre zeigte. Spätestens jetzt war klar, dass er eine akkuratere Bezeichnung brauchte: Im Gegensatz zu seinem gesunden Ratgeber hatte er heute ein Rezeptebuch in den Händen, das deutlich besser zu seinem zimtigen Chai Latte passte, und schon auf dem Cover ein riesiges, pinkes Macaron abbildete. Kontraste konnte er.

Ich nickte ihm anerkennend zu und richtete den Blick wieder auf eines der Gedichte, ohne auch nur ein Wort zu registrieren. Macarons hatte ich ewig nicht gegessen. Zu Hause buk niemand, mit Freunden war ich kaum in Cafés gewesen und mein neue Stammanlaufstelle hier war zwar ein gemütliches Büchercafé, von Kuchen abgesehen aber schlecht aufgestellt, was Backwaren betraf.

Der Gedanke kam gleichermaßen erwartet wie unerwartet und ließ mich beim Griff zur Tasse innehalten. Ich wusste nichts über den jungen Mann hier, nur, dass er sympathisch wirkte, offenbar an Rezepten interessiert war, und dazu noch gut aussah. Ob er das wusste, konnte ich nicht sagen. Die Schultern leicht hochgezogen und die Stirn beim Lesen in Falten gelegt wirkte er nicht so, als wolle er auffallen oder erwarte Aufmerksamkeit von seiner Umgebung. Es war sympathisch.

Fremde sind Freunde, die du noch nicht kennst. So oder so ähnlich hatte ein Instagram-Beitrag, den mein Algorithmus ausgespuckt hatte, heute gelautet. Bei den meisten Fremden war ich froh, dass sie Fremde blieben und sich nicht so in meinem Leben festsetzten, wie ich es von einigen Freunden von früher kannte. Bei diesem Fremden war ich mir nicht so sicher. Er gefiel mir, allein in der Art, auf die er immer wieder kam und las. Humorvoll, aber nicht laut oder aufdringlich damit. Und attraktiv. Eigentlich war er alles, was sich kennenzulernen lohnte.

Am Nebentisch tauschte ein Mann mehr oder eher minder bereitwillig seinen Kuchenteller mit dem weniger schokoladigen seiner Begleitung, sodass diese das Stück genießen konnte. Er selbst pickte in seinem Obstkuchen herum und sah hin und wieder sehnsüchtig auf sein ehemaliges Gebäck. Wieder tauschten der Macaronmensch und ich einen Blick. Seiner war mitleidiger als meiner, wie ich feststellen musste, und ich beeilte mich, anteilnehmender auszusehen. Offenbar wollte ich, dass er mich nicht für herzlos hielt. Als der Mann jedoch begann, seine eigene Großzügigkeit und Opferbereitschaft zu kommentieren, bis der Frau der Appetit auf das Schokokuchenstück verging und sie es ihm zurückgab, konnte ich mich nicht weiter an den neuen Gesichtsausdruck halten. Ich verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.

Der Rezepteliebhaber antwortete mit einem Nicken, bevor er sein Buch zur Seite legte und zur Theke ging, wo er die Kuchenauswahl begutachtete. Ich nutzte die Zeit, um ihn einmal mehr zu begutachten. Er sah noch immer gut aus, die letzten Minuten hatten nichts daran geändert. Auch wenn er wohl dazu neigte, mitfühlend zu reagieren, anstatt rational abzuwarten, ob die Emotion verdient war, war er nach wie vor sympathisch. Einmal mehr fing er meinen Blick auf und Wärme schoss mir in die Wangen. Langsam musste er denken, ich kam nur ins Café, um ihn anzustarren. Ich senkte den Kopf und tat zumindest so, als würde ich meinen Gedichtband lesen. Interessanter als der junge Mann würde er nicht werden, aber immerhin war das Gedicht, das ich jetzt überflog, weniger furchtbar als das zuvor.

Wir konnten nicht alle so mitfühlend sein wie der Typ, der sich zu seinem Schokokuchen nun einen weiteren Chai Latte bestellt hatte und beides selbst zurück zu seinem Tisch trug. Diesmal bemerkte er meinen Blick nicht. Ob mich das enttäuschte oder erleichterte, wusste ich nicht.

»Alice?« Die Stimme kam mir bekannt vor. »Alice!«

Melody, eine meiner Kolleginnen, stand vor mir, eine Tasse in den Händen und angesichts des nachmittäglichen Besucheransturms wohl auf der Suche nach einem Sitzplatz. Sie sah mich erwartungsvoll an. Ich zwang meine Mundwinkel in ein Lächeln und bot ihr mit einer Geste den zweiten Stuhl meines Tischs an. Dieser Blickkontakt war deutlich weniger reizvoll als der mit dem jungen Mann. Ich lächelte entschuldigend in seine Richtung, ob er es sah oder nicht. Wir hatten bisher kein Wort miteinander gewechselt, und doch fühlte es sich an, als würde ich eine Unterhaltung gegen eine andere eintauschen.

»Hi«, sagte ich und nippte an meinem Kaffee.

»Ich wusste gar nicht, dass du gern liest.« Melody streckte sich, um den Titel meines Buchs zu sehen. »Geschweige denn Gedichte.«

Es gab eine ganze Menge, die Melody nicht über mich wusste – angefangen bei allem, was über Smalltalk unter neuen Kolleginnen hinausging. Mein Lieblingscafé schloss das mit ein. Dann wiederum wusste ich im Gegenzug nicht mehr über sie, als dass sie glücklich verheiratet war, ihre Frau nächsten Monat das erste Kind der beiden zur Welt bringen sollte, und dass sie wie ich bei HR gelandet war. Ein Kindertraumberuf war es bei uns beiden nicht geworden, dafür gab es solide und geregelte Arbeitszeiten, eine gute Krankenversicherung, und sogar Zahnersatz war miteingeschlossen. Das Ziel der klischeehaften Spießer.

»Ein Geschenk meiner Mom«, entgegnete ich und klappte die Gedichte zu. »Das erklärt alles, denke ich.«

Sie nickte verständnisvoll, zückte ihr Handy, und hielt mir kurz darauf einen Albtraum in rosa unter die Nase. Sollte das Babykleidung sein? Ob das Kind damit warmgehalten oder effektiv bewegungsunfähig gemacht werden sollte, stand anhand der schieren Menge an Rüschen zur Debatte, schön war aber anders.

»Für eure Tochter?«, fragte ich.

»Geschenk der Schwiegermutter. Ein Outfit für die ersten Stunden nach der Geburt.« Sie rümpfte die Nase. »Versteh mich nicht falsch, Gwens Mom ist super, aber ihr Modegeschmack grenzt an Körperverletzung.«

Meiner Meinung nach eher an Freiheitsberaubung, aber großartig unterschied sich das nicht. »Was stellt ihr euch denn vor?«

Ein Schulterzucken. »Soweit ich weiß, hat Gwen ungefähr fünf Strampler in fünf Farben eingepackt. Solange das Kind nicht wie eine Eisprinzessin glitzert, kann es tragen, was sie will. Keks?« Sie streckte mir den abgepackten Cracker entgegen und öffnete ihn selbst, als ich den Kopf schüttelte. »Aber genug von Babykleidung. Dich interessiert das wahrscheinlich nicht besonders.«

Diesmal war ich es, die mit den Schultern zuckte. Ich hatte nichts gegen Babys oder ihre Kleidung. Oder gegen so gut wie jedes Gesprächsthema, das weder Adrian noch sein Leben zum Fokus hatte. Von mir aus konnten wir Strampler bewerten, bis Melody genug davon hatte.

»Du bist sowieso noch jung, da braucht es noch keine Kinder.« Sie lachte und aß ihren Keks.

Was ich von dieser Aussage halten sollte, wusste ich nicht, also nickte ich nur vage. Für Kinder brauchte es sowieso erst einen passenden Partner. Und seit der Sache mit B… egal. Seither hatte ich niemanden mehr gedatet. Adrians Freunde in der Schul- und Collegezeit hatten … Ihres dazu beigetragen. Von diesen Kreisen hatte ich genug. Abgesehen davon brauchte es für einen geeigneten Partner Kontakte, die über Kolleginnen Mitte dreißig und flüchtige Bekannte wie die Studierenden, die im Café jobbten, hinausgingen. Ohne Kontakte lernte man kaum neue Menschen kennen und selbst wenn der Schritt getan war, waren es noch immer Fremde, die nicht alle einfach Freunde werden konnten.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der einzige Fremde heute, in dem ich Potenzial sah, sein Rezeptebuch einpackte und Anstalten machte, das Café zu verlassen. Dabei ging er an uns vorbei und ich glaubte, ein Lächeln auf seinen Lippen zu entdecken, doch bevor ich es erwidern konnte, war er verschwunden und Melody lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf sich und ein Gespräch über die Quittung für ein Flugupgrade, die ein Kollege ihr vorgelegt hatte. Als ob ein größenwahnsinniger Mitarbeiter interessanter sein konnte als ein küchenbegeisterter Cafébesucher.

 

In den nächsten Tagen wartete ich vergeblich darauf, herauszufinden, welche Nahrungsmittelgruppe auf die grünen Shakes und die Gebäckstücke folgte. Aber weder ein neues Rezeptebuch noch der junge Mann mit Chai Latte tauchten auf. Zwar führte mein regelmäßiges Erscheinen nach Feierabend dazu, dass ich den üblichen Kaffee inzwischen kommentarlos gebracht bekam und hin und wieder auch ein Cracker dabeilag, dennoch verlor das Café mit jedem Tag, an dem ich nur still und lesend dasaß, statt stumme Unterhaltungen zu führen, etwas von seinem Reiz.

Direkt nach meinem Umzug hatte ich mich die ersten Tage unendlich frei und unendlich einsam zugleich gefühlt. Ich hatte nicht gewusst, dass sich dieses Gefühl verstärken konnte, nur weil ein Mann, den ich weder kannte noch jemals gesprochen hatte, nicht am anderen Ende des Raumes saß. Es war geradezu albern. Ich verdrehte die Augen über mich selbst und las denselben Absatz, den ich schon zweimal neu begonnen hatte, ein drittes Mal – diesmal mit mehr Erfolg. Dann siegte doch der Mangel an Motivation, das Buch zu beenden, und ich scrollte durch meinen Instagram-Feed. Ein Foto von Adrian und May, wie sie mit seinen Teamkollegen feierten, erschien und ich hinterließ ein paar Emojis als Kommentar, bevor ich dasselbe Spiel mit meinen anderen Kontakten wiederholte. Wie es aussah, hatte er seine Beziehung vorerst am Leben erhalten können. Gut für ihn. Hoffentlich auch gut für seine Freundin. Wir hatten lange nicht miteinander gesprochen. Als absehbar gewesen war, dass die beiden zumindest die nähere Zukunft miteinander verbringen würden, hatte sie mehr und mehr die Rolle übernommen, die zuvor meine gewesen war: Unterstützung, Rückenstärker, Begleitung. Nicht, dass mir irgendetwas davon fehlte. Nur mit meinem Rückzug aus der Welt hatte sich unsere Schnittstelle aufgelöst, und außer Adrian hatten wir wenig gemeinsame Interessen. Trotzdem sollte ich mich gelegentlich melden. Ich tippte eine kurze Nachricht an sie in den Chat und schickte sie ab, bevor ich mich anders entscheiden konnte.

Ein Räuspern. »Miss?«

»Ja?« Das Handy noch in den Händen sah ich auf.

Der heutige Student kratzte sich am Hinterkopf und schnitt eine entschuldigende Grimasse. »Meine Schicht ist gleich zu Ende und wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht …« Der Satz verlief ins Nichts.

Ach so. »Kein Problem.« Er wollte noch kassieren, bevor er ging, das Spiel kannte ich mittlerweile. Die blonde Kellnerin hakte sämtliche Rechnungen ab, wenn sie das Bestellte brachte, dieser bebrillte junge Mann kam immer zum Ende seiner Schicht, und die Cafébesitzerin, eine ältere Dame, nutzte die Zahlvorgänge dazu, um unvorbereiteten Gästen ein Stück Kuchen aufzuschwatzen. Ich zahlte meinen Kaffee und packte den Geldbeutel zurück in meine Handtasche.

Als ich den Blick das nächsten Mal durch den Raum schweifen ließ, blieb er sofort an einem der Besucher hängen. Meine Mundwinkel wanderten nach oben, als ich den eben angekommenen Gast als meinen nonverbalen Konversationspartner identifizierte. Zur Begrüßung nickte ich ihm zu. Er erwiderte die Geste und hielt Blickkontakt, als er ein neues Buch aus seinem Rucksack zog. Damit hatte er meine Aufmerksamkeit endgültig auf sich gezogen. Es war deutlich weniger pink als sein Vorgänger, bildete aber eine stattliche Auswahl an Marmeladengläsern mit bunten Füllungen ab. Was auch immer ich als Fortsetzung erwartet hatte, eine Einführung ins Marmeladenkochen war es nicht gewesen. Wie es aussah, war er kochbegabter als ich. Was kein Wunder war, bei meinem Bruder. Adrian hatte sich in das gesunde Kochen hineingesteigert – und damit neben dem Zucker auch jede Begeisterung, die ich hätte entwickeln können, effektiv aus der Küche verbannt.

Die ruckartige Bewegung, mit der er das Buch auf seinen Beinen platzierte und aufschlug, ließ mich ebenfalls abrupt aufsehen. Einmal mehr tauschten wir einen Blick und er deutete mit dem Kopf auf ein freilaufendes Kind, das gerade dabei war, einer abgelenkten Kleingruppe die Kekse vom Tisch zu stibitzen. Einmal mehr hatten wir komplett gegensätzliche Reaktionen: Während der Chefkoch ein leichtes Lächeln mit einem an die Lippen gelegten Finger kombinierte, hatte ich die Stirn gerunzelt und vergeblich nach der Betreuungsperson des Kindes Ausschau gehalten. Kinderliebe in allen Ehren, aber wer seinen kleinkriminellen, impulsgesteuerten Nachwuchs nicht unter Kontrolle behielt, sollte ihn zu Hause lassen. Und doch war es – einmal mehr – sympathisch, wie der junge Mann die Welt zu sehen schien.

Das Kind hatte die Gebäckauswahl der Gruppe erstaunlich schnell erstaunlich drastisch reduziert und streunte nun weiter durch das Café. Als es in meine Richtung lief und schließlich meinen Tisch anzusteuern schien, beeilte ich mich, meine Sachen zusammenzupacken. Mit der bereits bezahlten Rechnung hatte ich immerhin keine Wartefrist und konnte mich in Sicherheit bringen, bevor der Dreikäsehoch noch auf die Idee kam, meine Handtasche nach Essbarem zu durchforsten. Bei meinem Glück fand er meinen Reservenussriegel, aß ihn und verstarb an einem allergischen Schock. Kein Bedarf. Ich nickte vage in die Richtung des Marmeladenmannes, dann tauschte ich die warme Caféluft gegen Rochester Nieselregen und machte mich auf den Heimweg.

 

Einige Tage, eine Beziehungskrise zwischen Adrian und May, und zwei Blickgespräche mit dem kulinarisch vielseitig begabten jungen Mann später, legte ich meinen aktuellen Krimi auf dem Tisch ab. Das Personal kannte mich mittlerweile gut genug, um meine Habseligkeiten kurz zu beaufsichtigen, wenn ich auf die Toilette ging. Ich passierte meinen Café-Buddy und stolperte fast, als ich bemerkte, dass er anstelle eines Rezeptebuchs heute eine Ansammlung von Papierfliegerbastelanleitungen mitgebracht hatte. Warum hatte er die Kochkunst aufgegeben? Ich war versucht, ihn einfach zu fragen, aber als ich wenige Minuten später zurück in den Gastbereich ging, saß er nicht mehr an seinem Tisch. Mit einem Augenverdrehen kämpfte ich das Gefühl einer verpassten Chance nieder. So wichtig war es nicht. Es war das Buch eines Fremden. Es ging mich nichts an. Selbst wenn ich ihn angesprochen hätte, hätte er vielleicht nicht mit mir sprechen wollen. Und ich hätte nicht nur die Chance auf ein Gespräch vertan, sondern gleich auf unsere künftigen Kontakte.

Wem machte ich etwas vor? Ich war enttäuscht. Von ihm, von mir, vom Tag, von der Welt. Die Nase gerümpft setzte ich mich zurück zu meinem Kaffeerest, der auch schon kalt und bitter war, und griff nach meinem Krimi. Besser ich vertiefte mich in fiktive Probleme und ignorierte meine selbstgeschaffenen für die unmittelbare Zukunft. Da sah ich nach Jahren einen Mann, den ich interessant fand, und dann verbaute ich mir selbst alles. Großartig, Alice. Wer brauchte schon Sportler, um das Leben zu ruinieren, wenn man es auch selbst konnte? Ich ließ den Finger über den Buchschnitt gleiten.

Das Lesezeichen war anders, als ich es hinterlassen hatte. Seltsam. Ich schlug das Buch auf und staunte nicht schlecht. Sogar der Inhalt der Seite, auf der ich vorhin gestoppt hatte, hatte sich verändert. Statt des gedruckten Texts sah ich ein hellgelbes Post-it, mit blauem Kugelschreiber beschriftet.

Hey,

wenn dich keine Freundinnen in Beschlag nehmen oder Kinder in die Flucht schlagen, darf ich dich auf den nächsten Kaffee einladen? Blicke können Bände sprechen, aber Worte sind auch nicht zu verachten :) Ich würde mich freuen!

 

Darunter stand eine Handynummer geschrieben. Gegen das Lächeln, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete, konnte ich nichts tun. Wollte ich nichts tun. Ich fühlte mich wie ein Teenager aus einer Rom-Com-Serie, der zum ersten Mal mit dem Schulschwarm sprechen konnte, und im selben Moment wie ein Kind, das sich endlich im Kindergarten einlebte und Anschluss fand. Vielleicht ergab das eine junge Frau, die sich endlich nicht mehr ganz allein in einer neuen Stadt fühlte – die zum ersten Mal seit Jahren jemanden kennenlernen konnte, den sie sich ausgesucht hatte.

Kapitel 3

Das Kennenlernen gestaltete sich schwieriger als erwartet. Da war zum einen die erste Hürde, die sich beim Einspeichern der Nummer in mein Handy ergeben hatte: Wie zur Hölle benannte ich den Kontakt? Weder Spinatmensch noch jegliche Verweise auf Macarons, Marmeladen oder Rezepte im Allgemeinen fingen den jungen Mann ausreichend ein, jetzt, wo er beschlossen hatte, sich Papierfliegern zu widmen. Einen Namen hatte er nicht notiert. Blicke sprachen Bände, alles schön und gut, aber Namen verrieten sie erfahrungsgemäß leider nicht.

Ich streckte die Beine auf dem Sofa in meiner Wohnung aus und pustete mir eine verirrte braune Strähne aus dem Gesicht. In Ermangelung eines Namens, den ich eingeben konnte, tippte ich die Emojis für das, was ich für Spinat hielt – oder sehr seltsamen Salat –, einen Keks statt des fehlenden Macarons, Honig als Marmeladenersatz und eines Flugzeugs in die Namensspalte ein. Besser als nichts und inmitten meiner mit Buchstaben benannten Kontakte würde er immerhin so hervorstechen, dass ich ihn wiederfinden konnte.

Nachdem ich das erste Hindernis überwunden hatte, folgte gleich der Endgegner. Was schrieb ich ihm? Ein Bild des Post-its, mit der Frage, wann er Zeit hatte? Davon, ihn ewig auf eine Antwort warten zu lassen, hielt ich nichts. Auch wenn ich mir gelegentlich wie ein Teenager vorkam und mein Zwilling ohnehin kindisch ohne Ende war, war ich eine erwachsene Frau, die die Zeit eines erwachsenen Mannes nicht unnötig verschwenden musste, wenn letztlich beide Parteien an einem Gespräch interessiert waren. Ich seufzte. Warum war es als Erwachsene so schwer, Freunde zu finden? Letztlich musste man Menschen einfach wie Kindergartenkinder zusammenwerfen und irgendwie würden sie sich schon verstehen. Meistens. Gelegentlich. Besser nicht. Die Menschen, mit denen ich die letzten Jahre über zusammengeworfen worden war, waren auch nicht zu meinen Freunden geworden.

Das Leben war hart. Und nicht zu wissen, wie zur Hölle ich mit jemandem kommunizieren sollte, mit dem ich kommunizieren wollte, weil ich plötzlich Worte dafür brauchte, war ebenfalls hart. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, tippte ich den erstbesten Entwurf in das Nachrichtenfeld und schickte ihn ab.

Hey, ich habe dein Post-it in meinem Buch gefunden :)

Das klang nicht sehr charmant. Wahrscheinlich fand der Cafémann meine Nachricht deutlich weniger sympathisch als meine genervten Blicke in Bezug auf Kinder, Rentner und andere Störenfriede. Ich war nicht gut mit Worten, darum las ich Bücher statt sie zu schreiben, und ein Gespräch ohne die Möglichkeit, etwas Falsches zu sagen, hatte nur Vorteile.

Fast. Denn seinen Namen wusste ich noch immer nicht. Er meinen auch nicht, wenn ich es recht bedachte. War »gleiches Recht für alle« hier noch angemessen? Den Bildschirm abgeschaltet warf ich mein Handy in die Sofakissen. Besser, ich sah mir die Nachricht nicht mehr an, sonst würde ich sie nur zerdenken. Oder noch mehr zerdenken als ich es ohnehin tat. Wo waren diese Übersetzer »Alice – Welt, Welt – Alice«, wenn man sie brauchte? Adrian fiel weg. So sehr er es auch versuchte, er verstand mich nicht.

Jetzt griff ich doch wieder nach dem Handy und öffnete den Emoji-Chat. Die Haken waren noch immer grau. Hatte er die Markierung, dass er etwas gelesen hatte, überhaupt aktiviert? Und würde er es seltsam finden, wenn ich noch online war, wenn er die Nachricht irgendwann öffnete? Würde er, weil es seltsam war. Himmel! Er war nicht mein High-School-Schwarm und selbst wenn ich ihn mehr als nur attraktiv und sympathisch finden würde, wäre er bei Weitem nicht der erste Mann, der meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Nicht der Erste, mit dem ich Gespräche führte, und nicht der Erste, mit dem ich dann auch ausging. Aber er war der Erste, bei dem ich mich in ein nervöses Wrack verwandelte. Der Erste, der nicht aus Adrians Umfeld stammte, der vielleicht nicht gefährlich für mein Herz war, der … Nein. In diese Richtung würde ich nicht denken. Er war anders. Der erste Mann hier, von dem ich wollte, dass er mich auch weiterhin interessant genug fand, um sich mit mir zu unterhalten.

Im Café?

Die Nachricht kam unerwartet, gleichermaßen zu schnell wie zu langsam. Sie war kurz genug, um ganz in der Vorschau meines Sperrbildschirms aufzutauchen, dann aber dicht gefolgt von einer zweiten abgeschnittenen. Ich öffnete den Chat, etwas genervt von meinen zitternden Fingern. Ein Haufen essbarer oder flugfähiger Emojis strahlte mir anstelle eines Namens entgegen.

Im Krimi? Das Cover kam mir bekannt vor, ist er gut?

Im Café, im Krimi, bestätigte ich. Er ist gut, jedenfalls wenn man Romane lieber mag als Rezepte und Bastelanleitungen :p Ich kann ihn dir leihen, wenn du willst

Mit Satzzeichen? Ohne? Wann hatte ich das letzte Mal meine Interpunktion in Textnachrichten hinterfragt? Himmel, ich musste mich dringend zusammenreißen.

Diesmal ließ die Antwort gar nicht mehr auf sich warten: Ich bleibe lieber den Spinatshakes treu xD oder Papierfliegern

Ich schnaubte. Papierflieger. In der Schule hatten wir einmal einen Papierfliegerweitwurfwettbewerb veranstaltet; die einzige sportliche Veranstaltung, bei der ich besser gewesen war als mein Bruder.

Egal. Das war eine Überlegung für einen anderen Tag, jetzt hatte ich Prioritäten zu setzten. Angefangen bei dem Mann, der nicht nach meiner Nummer hatte fragen müssen, um sie zu bekommen.

Papierflieger, schrieb ich. Ein abrupter Wechsel von Essbarem dazu :D Bastelst du sie nur, oder wirfst du auch?

Ich sehe sie gerne an. Laut Nash ziele ich wie seine Schwester xD

Nash ist ein Freund. Seine Schwester motorisch unbegabt, falls das nicht klar war xD

Ich lachte. Den Spruch hätte Adrian auch bringen können. Nur hatte ich im Gegensatz zur Schwester dieses Nashs eine exzellente Auge-Hand-Koordination.

Mit wem habe ich es hier eigentlich zu tun, Freund von Nash?, fragte ich schließlich.

Oh

Shit

Ja, sorry. Reed. Ich bin Reed.

Hi Reed. Reed. Meine Lippen formten den Namen. Er fühlte sich vertrauter an, als er sollte. Ein Name, der zu dem nur fast perfekten Gesicht des Mannes passte. Reed, braune Haare, ein nettes Lächeln im Gesicht, und Humor in Mimik, Gestik und Chats. Ja, ein Name, den auszusprechen ich mir gut vorstellen konnte.

Hi Liz. Du heißt Liz, oder?

Liz? Wo hatte er das aufgeschnappt? Niemand nannte mich Liz. Nicht Mom, nicht Dad, nicht meine Kontakte. Nur Adrian. Hatte ich ihn auf Lautsprecher … nein. Vielleicht hatte ich mich im Gespräch mit meinem Bruder Liz genannt. Den Namen hatte er mir schon vor zwanzig Jahren verpasst. Offenbar war Alice ein so schrecklich langer Name, dass nicht erwartet werden konnte, ihn in Gänze auszusprechen. Ich verdrehte die Augen. Wie auch immer. Für Reed wollte ich ich sein. Alice.

Alice, korrigierte ich ihn. Würde er die abgedroschenen Wunderland-Witze bringen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Spinatme-Reed so albern war, war aber trotzdem froh, als nur ein Hi Alice zurückkam. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Der erste Schritt war geschafft. Dennoch war »Hi, Alice« kein Aufhänger, um ein Gespräch fortzuführen, ohne es zu erzwingen. Aber der Gedanke, das Gespräch hier schon zu beenden, war enttäuschend. Blieb enttäuschend.

Mit jeder Minute, die verstrich, ohne dass mir eine witzige bis sympathisch-freche Antwort auf den Gruß einfiel, fürchtete ich mehr, eine eben bekommene Chance zu verlieren oder den Moment nicht zu nutzen. Erst als ich tatsächlich Adrians Kontakt aufgerufen hatte und mein Finger über dem Anrufbutton schwebte, riss ich mich am Riemen. Meinen Bruder würde ich sicher nicht anrufen. Nicht nur, dass er mich das nie würde vergessen lassen, er würde mir auch nicht helfen können. Und wenn ich ehrlich zu mir war, wollte ich seine Hilfe auch nicht. Das letzte Mal, als er in Sachen Beziehung mitgemischt hatte, hatte ich gerade verdaut. Nochmal konnte – wollte – ich seinen Einfluss nicht.

Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Dann passte der nächste Gesprächsaufhänger eben nicht perfekt zu »Hi Alice«. Gerade schrieb Reed nichts, warum auch, er hatte zuletzt geantwortet, und so würde es auch bleiben, wenn ich nichts unternahm. Oder? Drama-Queen, würde Adrian jetzt sagen.

Was sind deine Top-3-Dinge in Rochester?

Keine fünf Sekunden später zeigte der Chat an, dass Reed antwortete. Dann schwand das Zeichen. Wieder die Information, dass er tippte. Er tippte eine Weile, fast, als würde er eine ganze Argumentation aufsetzen.

Keine Ahnung :/

Das … war erstaunlich wenig Text für so viel Schreibarbeit.

Ich bin erst vor ein paar Wochen hergezogen und hatte bisher keine Gelegenheit, die Gegend zu erkunden.

Moment, was?

Warte, schrieb ich zurück. Du bist auch neu hier?!

Du auch?

Ja :‘D Bis auf das Café und meinen Job kenne ich hier ungefähr nichts

Einen Moment lang war ich versucht, »und niemanden« anzuhängen, ließ es aber bleiben. Schlimm genug, dass ich sozial offensichtlich nicht gut angebunden war und er das Highlight meiner neuen Kontakte war. Auf die Nase binden musste ich es ihm nicht. Stattdessen folgte ein Und du??

Same xD Eigentlich wollte ich zum Sport aber ich bin im falschen Bus gelandet und im Café gestrandet

Was machst du? Wenn ich fragen darf. Also als Job

HR. Weniger furchtbar als unser Ruf :), tippte ich. Mehr wollte ich nicht dazu schreiben. Meine Handynummer war nicht unglaublich persönlich, die konnte er gerne haben. Meinen Arbeitsplatz eher weniger. Und selbst?

Sportbranche

Eine Pause, dann: Bist du morgen im Café?

Kann gut sein, der Krimi will beendet werden

Und Reed musste kennengelernt werden. Auf den Kaffee konnte ich verzichten, aber was auf die Papierflieger folgte, wollte ich herausfinden. Strickmützen für Fortgeschrittene? Zu meiner Überraschung konnte ich ihn mir sogar dabei vorstellen, wie er zwei Nadeln manövrierte und etwas mit ihnen schuf.

It’s a date!

Ich grinste, als er sofort ein falls du willst hinterherschickte, gefolgt von einer kleinen Armee an schwitzenden, lachenden und als Kaffee existierenden Emojis. Statt einer verbalen Antwort bekam er einen Daumen nach oben. Lieber zwei? Zwei waren auch gut. Besser sogar, weniger wortkarg. Bildkarg? Ach egal! Das Handy flog einmal mehr in meine Kissen und ich ließ mich nach hinten fallen.

Zum ersten Mal, seit ich in Rochester wohnte, freute ich mich auf den nächsten Arbeitstag – und darauf, was auf ihn folgen würde.

 

»Alice.«

Die Art, wie er meinen Namen als Anrede und Grußformel zugleich verwendete, war unglaublich alltäglich, und doch fühlte es sich nach etwas Besonderem an. Ich fühlte mich besonders. Reeds Stimme war wärmer, als ich erwartet hatte. Tief, ohne unendlich tief zu sein, warm, ohne zu sanft zu klingen. Ich konnte mir keine passendere Stimme für den jungen Mann vorstellen.

Heute trug er ein Sweatshirt mit einem Unilogo, das mir vage bekannt vorkam. Im Zweifel war es eine Uni, die Adrian bei einem seiner Sportevents zum Gegner gehabt hatte. Irgendwann waren ihre Teams zu einer Masse verschwommen, aus der nichts hervorstach. Schon gar kein Logo, das so unspektakulär wie das Ahornblatt auf einem Hoodie war. UMMH. Ich speicherte das Kürzel ab. War das Reeds Uni gewesen? Das konnte ich später ergoogeln. Ich ließ den Blick kurz über ihn gleiten – nicht einmal die lockere Kleidung versteckte, dass er den ewigen Chai Latte nicht anzusetzen schien – und kam zu dem Schluss, dass er von gestern auf heute nur noch attraktiver geworden war.

Meine Ohren wurden warm und ich strich mir die Haare über die Schultern, um sie zu verstecken. Bei meinen Wangen war das ein hoffnungsloses Unterfangen und ich schluckte die Nervosität herunter, als ich zu ihm aufsah.

»Reed. Hi.« Ich begegnete seinem Lächeln mit einem eigenen und die Aufregung verschwand so schnell, wie sie gekommen war. »Cooler Pulli.«

»Danke.« Er ließ sich auf den freien Stuhl an meinem Tisch gleiten und überkreuzte die Knöchel. »Man muss ihn nicht bügeln.«

Wir tauschten ein Grinsen. »Das hatte ich unterschätzt, als ich zu Hause ausgezogen bin«, gestand ich.

»Ging mir auch so. Wenn ich nicht zwischen Jeans und Sportklamotten leben würde, wäre ich verloren. Und arm, wenn ich meine Kleidung immer zum Bügeln geben würde.«

»Ich vermisse nicht viel an der Uni, aber einfach in Sportleggings aufkreuzen zu können, ohne falsch angezogen zu sein, gehört dazu.«

»Nash, mein …«

»… bester Freund?«, fiel ich ihm ins Wort. Der Name kam mir bekannt vor. Nicht nur bekannt. Ich musste nicht so tun, als hätte ich unser gestriges Gespräch heute nicht gelesen. Mehrmals. Wenn Nash schon wieder fiel, war er wohl ein wichtiger Teil in Reeds Leben. Ein Name, den ich mir merken würde.

»Genau.« Reed nickte. »Er hat sogar den Rucksack bald abgelegt und alles in seiner Sporttasche herumgetragen. Fiel unter Geruchsbelästigung, da bin ich mir sicher.« Er zog den Kopf leicht ein. »Ich kann das trennen.«

Der Zusatz war so … nett, dass ich auflachte und eine Anspannung aus meinen Schultern wich, die sich bis jetzt gehalten hatte. »Das rieche ich«, versicherte ich ihm. »Oder eben nicht.« Ich wickelte mir eine Haarsträhne um den Finger. »Das ist etwas Gutes«, fügte ich hinzu.