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Die Welt scheint gerettet, doch in Torch Creek bahnt sich neues Unheil an. Wächter James ist spurlos verschwunden und pünktlich zu Evers 18. Geburtstag stehen ungebetene Gäste vor der Tür. Als plötzlich ein Unglück geschieht, wird George stärker denn je mit seinem alten Feind konfrontiert: Seinem alles verzehrenden vampirischen Blutdurst... Kann Sam eine Katastrophe verhindern? Haben seine Gefühle zu Ever eine Chance? Was hat es mit dem rätselhaften Buch der Engel auf sich? Und wieso fühlt sich Issy so sehr zum dunklen Wächter Lukas Drake hingezogen?
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Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Beth St. John
Lost Vampire 2
Ungebetene Gäste
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Und es geht weiter….
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Zur Autorin
Impressum neobooks
5. August. Rom. Später Abend.
Er wusste, welches Risiko er wagte. Doch ganz gleich in welche Richtung er auch recherchiert hatte, Antworten schien es nur an diesem einen Ort zu geben: Dem Vatikan.
Es war bereits spät am Abend, doch noch immer tummelten sich viele Menschen in den Straßen Roms und genossen die alles umschließende Wärme, welche der Bilderbuchsommer mitgebracht hatte. Schon seit Wochen kam er nun jeden Abend hierher. Getarnt als unscheinbarer Tourist mit alter Spiegelreflexkamera, buntem Hawaiihemd und Baseballkappe hatte er nur ein Ziel vor Augen: Das geheime Archiv der päpstlichen Bibliothek.
Zur Vorbereitung hatte er vor ein paar Tagen auch an einer Vatikanführung teilgenommen und sich dabei die Positionen der Wachen und Sicherheitskameras eingeprägt. Es gab einige tote Winkel, die er für sich nutzen würde.
Mit aller Macht verdrängte er die Gedanken an ein Scheitern seiner Mission. Sollte man ihn festnehmen, hätte er mit Sicherheit ein gewaltiges Problem. Er mochte aussehen wie ein Mensch und er mochte sich auch so bewegen, doch die Wahrheit war: Es gab nichts Menschliches an ihm. Und sollte er in Gefangenschaft geraten, wäre seine Übernatürlichkeit auf Dauer schwer zu verbergen. Was man dann mit ihm anstellen würde, wäre mit Sicherheit schlimmer als jede Gefängnisstrafe.
Er atmete tief durch. Er durfte sich von diesen Gedanken nicht ablenken lassen. Der Entschluss war gefasst, der Plan geschmiedet. Wenn er jetzt umkehrte, würde er es vielleicht nie wieder wagen.
Flink folgte er der alten Mauer, welche die Rückseite des Vatikans schützend umgab, in nördlicher Richtung, bis er den alten Kastanienbaum erreichte. Er hatte sich lange den Kopf darüber zerbrochen, welcher Weg hinein wohl der klügste wäre – und hatte sich schließlich für den einfachsten entschieden.
Er verharrte einen Moment und lauschte aufmerksam. Er war allein. Es war soweit. Jetzt oder nie. Er zog die Riemen seines Rucksacks fest an seine Schultern und richtete den Blick auf die Krone der Mauer. Dann ging er in die Knie und drückte sich ab. Einer Sprungfeder gleich schnellte er in die Höhe. Geschickt packte er die Kante mit beiden Händen und schwang den rechten Fuß hinauf. In geduckter Haltung verharrte er und lauschte wieder. Er vernahm den leisen Gesang einer Nachtigall in den Bäumen und weit entferntes Stimmengewirr, sonst war alles still. Leichtfüßig sprang er hinab und landete nahezu lautlos auf der anderen Seite. Er verzog den Mund zu einem grausamen Grinsen. Welche Ironie, dachte er, dass ausgerechnet ein Wesen wie er in das Heiligtum von Gottes Vertreter auf Erden einbrach!
Dann rannte er los, so schnell, dass er für menschliche Augen kaum zu erkennen gewesen wäre. Es dauerte nur eine Sekunde, bis er das Hauptgebäude der Vatikanischen Museen erreichte. Er drückte sich an die kühlen Steine der Außenwand. Plötzlich ertönten Stimmen; geschickt suchte er Deckung hinter einem Ginsterbusch und seine ganz in Schwarz gekleidete Silhouette verschmolz fast vollständig mit der Dunkelheit. Die sich nähernden Männer schienen ihn nicht bemerkt zu haben. Unbedarft plauderten sie miteinander. Vorsichtig lugte er zwischen den Blättern des Busches hervor; es waren in Blau, Rot und Gelb gestreifte Uniformen gekleidete Wachen – Männer der Schweizergarde – persönlich verantwortlich für die Sicherheit des Kirchenoberhauptes und somit bewaffnet und außerordentlich gut trainiert. Mit dem päpstlichen Armeekorps war nicht zu spaßen.
Zu seinem Glück waren Einbrecher im Vatikan jedoch eher eine Seltenheit, was die Aufmerksamkeit der Gardisten scheinbar stark sinken ließ. Langsam verhallten sowohl ihre Stimmen als auch ihre Schritte in der Nacht.
Er blickte hinauf. Die sagenumwobene Bibliothek lag tief verborgen im Herzen des Vatikans und stand nur ausgewiesenen Gelehrten mit Empfehlungsschreiben offen. Sie sollte stets ein höchst exklusives Heiligtum der Wissenschaft sein, deren jahrhundertealte Bestände viel zu kostbar waren, als dass man sie jedem in die Hand geben könnte.
Allerdings liefen täglich zehntausende Besucher der Vatikanischen Museen direkt an den Räumen der heiligen Bibliothek vorbei, ohne auch nur zu ahnen, wie nahe sie den kostbarsten Schriften tatsächlich waren, wenn sie den langen Korridor entlanggingen.
Direkt über ihm in etwa drei Metern Höhe lag ein Fenster. Er ging in die Knie und drückte sich ab. In einer einzigen fließenden Bewegung hielt er sich am Sims, zog sich nach oben und stützte sich mit den Füßen an der glatten Wand ab. Plötzlich strauchelte er und wäre um ein Haar gestürzt; in letzter Sekunde gelang es ihm jedoch, sein Gleichgewicht wieder zu finden. Er schnappte nach Luft. Der Sturz hätte ihn freilich nicht ernsthaft verletzt, doch wuchs das Risiko, entdeckt zu werden, mit jeder Sekunde. Er musste endlich hinein in das Gebäude. Er gab dem Fenster einen kräftigen Stoß und es stürzte ins Innere des Raums. Mit einem Klirren zerbarst es auf dem Fußboden im Inneren. Geschickt schwang er sich hinein. Er hatte es geschafft. Er war nun bereits in den Räumlichkeiten der Bibliothek. Jetzt musste er nur noch finden, wonach er suchte. Die Vatikanbibliothek war riesig und er hatte nur eine vage Information darüber erhalten, wo genau das Buch aufbewahrt wurde.
Seine eisig blauen Augen streiften durch den Raum. Wie geplant befand er sich in ihrem Büro. Ordentlich lagen Bleistifte und Füllfederhalter in einem Körbchen neben dem Monitor auf ihrem Schreibtisch. Alles wirkte unpersönlich und etwas steril, sehr ungewöhnlich für eine Frau. Er hielt kurz inne und dachte an die letzte Nacht. Daran, wie sie ihn angesehen hatte, als der letzte Funken Leben in ihr erlosch. Emilia della Florenti war eine von nur zwei Frauen im Leitungsgremium der römischen Kurie gewesen. Ein Mauerblümchen in seinen Augen und doch wollte sie ihm widerstehen. Ihm, der Menschen anzog wie Licht die Motten! Nicht oft war er mit seinen Verführungskünsten gescheitert und hätte Emilia geahnt, welches viel schlimmere Schicksal sie erwarten würde, hätte sie sich ihm vielleicht einfach hingegeben. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin und Theologin hatte sich vor wenigen Jahren für die umfangreiche Modernisierung der Bibliothek eingesetzt. Im Zuge dessen waren Schlüsselwächter ersetzt worden durch einen neue elektronische Zugangskarte, die von ihren Besitzern liebevollMagic Cardgenannt wird, da sie auf wundersame Weise alles öffnet und schließt, was man mit ihr berührt: Die Garderobenfächer, die neuen Getränkeautomaten, die Türen zu den klimatisierten Kammern mit den seltenen Schriften. Er zog Emilias rote Plastikkarte aus seiner Brustinnentasche hervor und flüsterte: „Jetzt wollen wir mal sehen, wie viel Magie in dir steckt.“
Er öffnete die Bürotür und fand sich in einem lang gezogenen Flur wieder, an dessen Ende eine doppelte Wendeltreppe nach unten führte. Das war sein Weg. Unten angekommen öffneten sich sämtliche Türen zu Nebenräumen wie erhofft durch die Karte. Gleich im ersten Raum begrüßte ihn die altehrwürdige und der heutigen androgynen Ideologie erstaunlich entgegenkommende Hippolytstatue – eine zum Bischof Hippolyt umgearbeitete antike Frauenstatue, die ihn amüsiert den Kopf schütteln ließ.
Die Reihen von Regalen erschienen kilometerlang. Er zog eine kleine aber helle LED-Taschenlampe aus seiner Hosentasche und ließ den Lichtkegel über die Buchrücken wandern. Er wusste, dass die Bibliothek nach Themen sortiert war und innerhalb dieser chronologisch. Und natürlich wusste er, nach welchem Thema er suchte – doch die Zeit, aus der das Werk stammte, kannte er nicht genau. Deshalb war er gezwungen, zahlreiche Buchrücken zu lesen. Er fluchte innerlich. Zwar verstand er auf seltsame Weise jede Sprache dieser Erde, dennoch verlor er wertvolle Zeit. Irgendwann begann er, an der Glaubwürdigkeit seiner Quelle zu zweifeln, als sein Blick plötzlich auf ein kleines, in schwarzes Leder gebundenes Buch fiel, dessen Rücken unbeschriftet war. Einer Intuition folgend zog er es heraus und schlug es auf.
Es war offenbar ein Tagebuch. Er runzelte die Stirn.
Was zur Hölle hatte ein altes Tagebuch hier zu suchen? Er blinzelte verwirrt und blätterte ein paar Seiten weiter. Dann setzte sein Herz einen Schlag lang aus.
Das war kein gewöhnliches Tagebuch, es war das Tagebuch eines Gestaltwandlers. Eines Wesens, wie Ever es war. Ever. Der Gedanke an sie zog sein Inneres schmerzhaft zusammen. Er schüttelte den Kopf, als wolle er sie damit aus seinen Erinnerungen verscheuchen und steckte das Büchlein hastig in seinen Rucksack. Sollte er das, was er suchte, nicht finden, so hätte er wenigstens diesen kleinen Schatz für …sie.
Er riss sich zusammen und suchte weiter. Die Buchstaben begannen vor seinen Augen zu flimmern. Konnte er überhaupt noch lesen? Oder würde er das Buch glatt übersehen, einfach weil er sich nicht mehr konzentrieren konnte?
Auf einmal ließ ein einziges Wort seine Sinne Alarm schlagen:Mal'ach. Das hebräische Wort für Bote. Das musste es ein, das Buch der Engel. Behutsam zog er das weiße Buch mit der goldenen Schrift zwischen den anderen Büchern hervor. Der Titel wiederholte sich vorn auf dem Einband, war verschnörkelt und tief in das helle Leder eingeprägt. Die Goldfarbe, mit der man die Buchstaben ausgemalt hatte, war weitestgehend abgeblättert. Dennoch bestand kein Zweifel: Es war das, was er suchte.
Kurz war er versucht, es aufzuschlagen und darin zu lesen – doch sein Verstand gewann die Oberhand. Es wurde Zeit, dass er hier verschwand. Er verstaute das schwere Werk in seinem Rucksack und machte sich auf den Weg zu der Treppe, über die er herunter gekommen war.
Das dumpfe Geräusch einer schweren Tür, die aufgeschoben wurde, ließ ihn zusammenzucken. Er warf einen hastigen Blick auf seine Armbanduhr: Es war nach ein Uhr morgens. Wer kam um diese Zeit auf die Idee, der Bibliothek einen Besuch abzustatten? Schnell knipste er seine Taschenlampe aus und verharrte mucksmäuschenstill.
Eine durchdringende Männerstimme rief etwas auf Italienisch, eine zweite Stimme fügte etwas hinzu. Es war die Aufforderung an ihn, herauszukommen und sich zu stellen. Aber woher wussten sie, dass er hier war? Es hatte keinen Alarm gegeben. Oder hatte man die zerbrochene Fensterscheibe entdeckt? Er biss sich auf die aristokratisch geschwungene Unterlippe. Das war jetzt wirklich ärgerlich. Er befand sich in einer der hintersten Ecken des Gebäudes und die Wachen würden an der Treppe sein, noch bevor er diese erreichen konnte. Er musste zum Haupteingang flüchten, das war der einzig mögliche Ausweg.
Er rannte los. Flink wie der Wind raste er zwischen den Reihen von Regalen hindurch, ohne genau zu wissen, ob er tatsächlich den richtigen Weg nahm. Die Männer hatten ihn jedoch längst gehört und rannten in seine Richtung. Er lief einfach weiter – er hatte ohnehin keine Wahl. Plötzlich tauchten zwei Schweizergardisten direkt am Ende eines lang gezogenen Ganges vor ihm auf. Zwei Gewehrmündungen waren auf den Flüchtenden gerichtet.
„Keine Bewegung!“, rief der eine. Sicher würden sie gleich auf ihn schießen.
5. August. Vatikanbibliothek. Tiefe Nacht.
Er senkte den Kopf und rannte los. Die beiden Wachen waren für einen Moment irritiert von dem wahnwitzigen Verhalten des Einbrechers. Einer von ihnen brüllte etwas in sein Funkgerät. Er ließ sich nicht beirren und rannte weiter. Blitzschnell war er bei ihnen angelangt, noch ehe sie reagieren konnten, und riss dem ersten das Gewehr aus der Hand. Ohne zu zögern schlug er dem Mann den Kolben an den Schädel, der sofort bewusstlos zu Boden ging. Der zweite Gardist begriff, dass mit dem Eindringling nicht zu spaßen war, und legte an. Doch er war den Bruchteil einer Sekunde zu langsam. Der Fremde packte den Lauf des Gewehrs mit unmenschlicher Kraft. Die abgefeuerte Kugel schoss haarscharf an seiner Brust vorbei und traf ihn in den linken Oberarm. Kein einziger Tropfen Blut quoll aus der Wunde. Da war einfach nur ein Loch, das sich bereits wieder schloss. Er holte aus und verpasste dem ungläubig starrenden Gardisten mit der Rechten einen heftigen Kinnhaken, sodass seine Kiefer hörbar zusammenkrachten, und auch dieser ging zu Boden.
Er schüttelte kurz seine Hand und das Gefühl des Schlages verschwand ebenso schnell wie die Schusswunde. Jedwede Verletzung seines Körpers heilte umgehend. Plötzlich erklang ein ohrenbetäubender Lärm, jemand hatte den Alarm ausgelöst. Ihm blieb nicht viel Zeit, in wenigen Sekunden würde hier die Hölle los sein. Er behielt das eine Gewehr und sprintete los. Der Gang, den er entlang lief, verbreiterte sich und wurde zu einem großzügigen Halbrund. Und dort war auch der Ausgang.
Die große Flügeltür wurde aufgerissen und weitere Wachen strömten herein; er ließ sich nicht beirren und rannte einfach weiter, direkt auf sie zu. Die Wachen legten ihre Gewehre an und brüllten durcheinander, doch sie zögerten, das Feuer zu eröffnen; zu groß war die Gefahr, die wertvollen Schätze in der Bibliothek zu treffen. Er hingegen zögerte nicht. Im Laufen zielte er auf eine der Lampen an der Decke und feuerte auf gut Glück. Er traf; die Lampe zerbarst in tausende kleine Glassplitter, welche auf die Gardisten herabregneten. Es gab noch viele weitere Lichtquellen in der Bibliothek, doch im Bereich des Eingangs war es die einzige gewesen. Erschrocken vom Knall und der plötzlichen Dunkelheit begannen die Wachen zu schießen; sogleich spürte er einen stechenden Schmerz in seiner linken Seite und im Oberschenkel. Er stöhnte auf, blieb abrupt stehen und legte das Gewehr an.
„Wollt ihr mich etwa aufhalten?“, brüllte er. „Dann versucht es doch!“ Er feuerte skrupellos in die Gruppe und einer der Männer, die sich ihm in den Weg gestellt hatten, ging sofort zu Boden.
Dann stieß er sich mit aller Kraft ab und wirbelte dabei herum, wodurch er als Ziel schwerer zu treffen war. Im Landen riss er noch zwei der Wachen um und streckte sie mit Faustschlägen nieder. Die Tür war jetzt nur noch ein kurzes Stück entfernt. Eine weitere Kugel traf ihn, diesmal an der Rückseite des rechten Oberschenkels und er strauchelte. Mit einem wütenden Brüllen warf er sich nach vorn, packte den Griff der Tür und riss sie auf. Die Wachen kamen ihm nach, doch er war um ein Vielfaches schneller; er ignorierte die Schmerzen in seinem Bein und der Seite und rannte, so schnell er konnte, hinaus auf den Platz. Er hörte weitere Gewehrschüsse hinter sich, aber er wurde nicht noch einmal getroffen; wahrscheinlich war er schon viel zu weit weg. Er vergeudete keine Zeit damit, sich umzublicken, sondern konzentrierte sich voll und ganz auf seine Flucht. Atemlos erreichte er die große Mauer, sprang ab und zog sich hinauf. Endlich warf er einen Blick zurück: Die Wachen, die ihn verfolgten, riefen wild durcheinander und liefen ihm nach, doch mussten sie mittlerweile einsehen, dass Schießen zwecklos war. Er grinste unverschämt, winkte ihnen zu und verschwand auf der anderen Seite der Mauer in der Nacht.
12. August. Torch Creek. Haus von Ever Crest.Später Nachmittag.
Ever Crest stand vor dem Badezimmerspiegel und versuchte, einen halbwegs vernünftigen Lidstrich zu ziehen. Als der Kajalstift fast das Ende ihres Augenlids erreicht hatte, hörte sie, wie sich der Schlüssel im Schloss der Eingangstüre drehte und sie blinzelte unwillkürlich. Der Lidstrich war verrutscht. Genervt zog sie ein Kosmetiktuch aus der Box und wischte die schwarze Linie weg.
Das war mal wieder so eine grandiose Idee, dachte sie verärgert, legte ihre Schminkutensilien beiseite und blickte wieder in den Spiegel. Sie konzentrierte sich auf volle, dichte Wimpern und einen perfekten schwarzen Lidstrich und nur wenige Sekunden später blickten sie ebensolche Augen an. Einer der unschlagbaren Vorteile eines Gestaltwandlers. Zufrieden verließ sie das Badezimmer, um ihren Vater zu begrüßen.
„Hey, Dad“, rief sie fröhlich, den missglückten Schminkversuch längst vergessen.
Michael Crest räumte gerade ein paar Unterlagen vom Wohnzimmertisch in seinen Koffer, den er bereits für eine anstehende Geschäftsreise gepackt hatte. Er würde noch heute Abend nach Seattle fliegen.
„Du bist ja zu Hause, Schatz!“, erwiderte Michael lächelnd und drehte sich überrascht zu Ever um. „Wolltest du dich nicht mit George und deinen Freunden treffen?“
Ever stieß sich vom Türrahmen ab und nahm auf der Couch Platz. „Ja, ich muss auch gleich los“, sagte sie.
Er sah Ever bewundernd an, wie es nur ein Vater kann. Hübsch sah sie aus. Und erwachsen. „Wird George dich nach Hause bringen heute Abend?“
Ever errötete, als ihr Vater nach ihm fragte. Es fühlte sich seltsam an, mit ihm über dieses Thema zu sprechen. „Ja“, antwortete sie schließlich. „Er sorgt sich immer sehr um mich.“
„Da bin ich sicher.“ Michael Crest lächelte seine Adoptivtochter nachsichtig an. „Weißt du, ich freue mich für dich. Genieße es. Nichts ist so schön wie die erste große Liebe.“
Ever riss erstaunt die Augenbrauen hoch. „Die meisten Väter reagieren anders auf den ersten festen Freund ihrer Tochter“, bemerkte sie grinsend.
„Nun, ich bin nicht wie die meisten Väter, nicht wahr?“, gab Michael trocken zurück. „Irgendwann musste es ja soweit sein. Und ich gebe zu, ich bin zufrieden mit deiner Wahl.“
„Echt jetzt?“, fragte Ever verblüfft. Wenn du wüsstest … schoss es durch ihren Kopf … dass der erste Freund deiner Tochter ein Vampir ist … dass deine Tochter selbst auch ein übernatürliches Wesen ist … Sie seufzte kaum hörbar.
„Ja, echt jetzt“, gab Michael lachend mit den Worten seiner Tochter zurück. „Er macht einen zuverlässigen Eindruck. Naja, und du bist immer pünktlich zu Hause, wenn du mit ihm unterwegs bist, das ist doch schon mal was.“
„Ich mag ihn sehr“, gab Ever dann zu. „Aber – wo wir gerade beim Thema Freunde sind …“ Ever zog schelmisch eine Augenbraue in die Höhe. „Bald ist mein Geburtstag.“
„Das habe ich nicht vergessen.“ Michael schmunzelte.
„Es ist mein achtzehnter.“
„Auch das ist mir vollkommen bewusst.“ Michael legte den Kopf schief und sah seine Adoptivtochter aufmerksam an. „Worauf willst du hinaus?“
„Naja, man wird ja nur einmal achtzehn und bald gehen viele aufs College oder fangen irgendwo irgendwelche Jobs an … kurzum: Ich würde gern noch einmal eine richtig große Party schmeißen.“
Michael seufzte. „Und ich nehme an, sie soll hier bei uns stattfinden?“
„Das wäre perfekt! Wenn das Wetter schön ist, gehen wir in den Garten und falls es regnet … naja, ich möchte keinen Raum mieten oder so, das ist immer so unpersönlich.“
Michael war wenig begeistert. „Eine Horde Teenager im Haus zu haben ist keine besonders verlockende Vorstellung.“
Ever hob tadelnd einen Zeigefinger. „Dad, das ist keine Horde, das sind meine Freunde. Und ich werde alles wieder aufräumen, versprochen. Du wirst am nächsten Tag gar nicht mehr merken, dass wir hier waren.“
Michael lachte ein wenig verzweifelt. „Aber lasst die Einrichtung heil, in Ordnung? Und bitte, bitte, lade nicht gleich die ganze Schule ein.“
Ever strahlte von einem Ohr zum anderen. „Danke, Dad. Du bist der Beste!“
„Ich weiß, ich weiß“, entgegnete Michael schicksalsergeben. „Hoffentlich bereue ich das nicht.“
„Keine Sorge, wirst du nicht!“ Ever sprühte vor Vorfreude, dann wurde sie mit einem Mal ernster. „Irgendwie ist es nur schade, dass Sam nicht dabei sein wird.“
„Sam?“, fragte Michael erstaunt. „Welcher Sam?“
„Georges Freund“, erklärte Ever. „Weißt du nicht mehr? Vor ein paar Wochen ist er mir nichts, dir nichts verschwunden.“
Michael schnaubte verständnislos. Er erinnerte sich wieder an den blonden Chaoten. „Zum Glück, wie ich meine. Ein richtiger Unruhestifter.“
„Dad!“, tadelte Ever. „Du kennst ihn nur nicht wirklich!“
„Und dabei möchte ich es auch belassen“, sagte Michael trocken. „Ich für meinen Teil bin heilfroh, dass er wieder gegangen ist.“ Er sah seine Tochter mit vielsagendem Blick an. „Und du solltest auch froh sein. Dieser Typ hätte dir nur Probleme gemacht, glaub mir. Und deiner Beziehung zu George hätte er auch nicht gut getan.“
Ever seufzte; es war sinnlos, es ihm zu erklären. Was hätte sie auch sagen sollen? Er wusste nicht, dass Sam ein gefallener Engel war – dass er ihr Leben gerettet hatte. Und er würde es auch nie erfahren. Sollte er von Sam denken, was er wollte. Ever wusste es besser.
12. August. Tom’s Bar & Grill. Früher Abend.
„Hey, wirst du wohl die Finger davon lassen?“ Ever lachte und verpasste Peter einen Klaps auf die Hand. „Das sind meine! Warte auf deinen eigenen Teller.“
Peter grinste nur frech und steckte sich die Kartoffelecke, die er gerade von Evers Teller gestohlen hatte, genüsslich in den Mund. „Ich habe Hunger. Und von fremden Tellern schmeckt es sowieso besser.“
Ever wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als Ben schon mit zwei weiteren Tellern aus der Küche kam. Er stellte sie auf dem Tisch ab und zog sich einen Stuhl vom Nebentisch heran. „Rückt mal ein bisschen, ich will hier auch noch hin!“
Die ganze Clique hatte sich an diesem Abend in Tom’s Bar & Grill versammelt: Ever und ihre beste Freundin Issy, deren jüngerer Bruder Peter, außerdem Charlotte, die früher als geplant von Phoenix zurückgekehrt war. Man hatte ihre Bewerbung am College von Flagstaff angenommen und so kam sie zurück nach Torch Creek, um sich darauf vorzubereiten. Und natürlich Ben. Bens Eltern gehörte der Grill und eigentlich hätte er heute Abend Dienst gehabt, aber sein Vater hatte ihm freigegeben und stand nun selbst hinter der Theke. Die Zeit der Highschool war vorüber – für alle außer Peter, der noch ein ganzes Jahr vor sich hatte – und es würde nicht mehr allzu viele Gelegenheiten für die Freunde geben, einen Abend gemeinsam zu verbringen. Auch, wenn die meisten nur das benachbarte College in Flagstaff besuchen wollten, ihre unterschiedlichen Kurse und Prüfungen würden sie im schon ersten Jahr reichlich auf Trab halten.
„Es ist genug für alle da“, grinste Ben, nachdem er sich gesetzt hatte und zog einen der Teller zu sich heran. „Dad sorgt für Nachschub.“
„Was für ein Glück. Ich verhungere.“ Peter schnappte sich den zweiten Teller und begann zu essen.
„Mein Gott, man könnte meinen, du hättest seit dem Frühstück nichts mehr gekriegt“, schnaubte Issy. „Ist ja nicht so, dass du heute Mittag zu Hause keine doppelte Portion Maccaroni verdrückt hättest.“
Peter zog die Augenbrauen hoch. „Ich wachse noch“, stellte er zwischen zwei Bissen nüchtern fest. „Ich brauche das.“
Ever grinste belustigt und prustete los; Issy, Ben und Charlotte stimmten nur wenige Augenblicke später in das Lachen mit ein.
Peter schaute verständnislos in die Runde. „Was?“, fragte er, eine Kartoffelecke im Mund.
„Du wächst höchstens noch in die Breite, wenn du so weitermachst“, kommentierte Charlotte trocken.
Peter ignorierte die Stichelei und ein paar Minuten lang aßen alle schweigend. Schließlich fragte Charlotte: „Und, habt ihr eure Kurse schon gewählt?“
„Klar“, antwortete Issy. „Ich weiß schon seit Monaten, was ich belegen will. Geschichte, Politik und Kunst.“
„Unsere Issy will Lehrerin werden“, ergänzte Ever mit einem schelmischen Seitenblick auf ihre Freundin.
„Also ich finde das klasse“, überlegte Ben laut. „Und später unterrichtest du dann unsere Kinder.“
Issy zog die Augenbrauen hoch. „Unsere Kinder? Wessen Kinder?“
Verwirrt sah Ben von seinem Teller hoch. „Na, unser aller Kinder halt. Was dachtest du denn?“