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Vampir George hat es satt. Das Morden, das Verstecken, den Blutdurst. Um zur Ruhe zu kommen, zieht er von der Millionenmetropole Los Angeles in die Kleinstadt Torch Creek. Bereits am ersten Abend trifft er auf die faszinierende Gestaltwandlerin Ever, die seine Gefühle ganz schön durcheinander bringt. Sie fürchtet sich nicht vor dem düsteren und attraktiven Vampir, doch kann sie das Monster in seinem Inneren tatsächlich bezwingen? Und als wären das nicht genug Probleme, steht plötzlich Georges dunkler Wegbegleiter Sam vor der Tür. Mit dem Weltuntergang im Gepäck…
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Beth St. John
Lost Vampire
Das Ende der Welt
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Die Serie geht weiter…
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Zur Autorin
Impressum neobooks
23. März. Sunset Crater. Dämmerung.
Ever lag auf nacktem Stein und ihr Atem ging vollkommen ruhig. Es war einer der ersten warmen Sonntagnachmittage des Jahres. Der Fels war noch eisig vom Winter, doch die Kälte störte sie kaum. Wenn sie tief einatmete, stach die Luft mit einem befreienden Gefühl in ihren Lungen und aus den Augenwinkeln sah sie die weiß schimmernden Reste von Schnee. Wie es das launische Wetter am Sunset Crater an sich hatte, war noch am Morgen ein kurzes Schneegestöber über den Berg gepeitscht. Doch jetzt war selbst der Wind zu einem zarten Flüstern in ihren Ohren abgeklungen. Der Himmel war nun makellos blau und die Sonne wanderte langsam zum westlichen Horizont.
Umgeben von der starken Natur fühlte Ever ihre Gedanken aufklaren wie die Dämmerung eine lange Nacht erhellt. Die Landschaft um den erloschenen Vulkankrater hatte diese erstaunliche Wirkung auf sie und der strenge Winter hatte sie viel zu lange von diesem Ruhepol abgeschnitten. Dies, und der Stress in der Highschool. Sie lag nun bereits seit Stunden hier und glaubte, die Kraft der Natur durch jede Zelle und jeden Nerv fließen zu spüren. Eigentlich wollte sie ihre kurze Flucht aus dem Alltag nicht abbrechen, doch die Dämmerung legte sich langsam über das Land.
Sie drehte sich vom Rücken auf die Seite. Unter dem dichten Fell spürte Ever den steinigen Untergrund aus erkaltetem Vulkangestein. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit; sie sah genauso gut wie bei Tageslicht. Nach Osten erstreckte sich die Wüstenlandschaft wie ein schwarzes Meer ununterbrochen bis zum Horizont – wie es für das nördliche Arizona typisch war. Immerhin war es eine knappe Stunde bis nach Torch Creek und ihr ging durch den Kopf, dass sie nun wirklich zurück zum Auto gehen sollte. Zwar sah ihr Vater, obwohl er Bürgermeister war, ihre Ausgehzeiten eher locker, zumal er selbst zu selten zu Hause war, um sie tatsächlich zu kontrollieren, doch ab einem gewissen Punkt würde selbst er anfangen Fragen zu stellen.
Ehe Ever sich aufraffen konnte, traf ihr sensibles Gehör plötzlich ein Geräusch aus der nahen Waldgrenze. Sie war mittlerweile gut vertraut mit ihrer derzeitigen Gestalt, doch die schärferen Sinne überforderten bisweilen ihre durch und durch menschliche Wahrnehmung. Sie wusste, dass da etwas war und das machte ihr Angst. Es war schwer zu sagen, woher das Geräusch genau kam. Ohne einen weiteren Gedanken zu verlieren warf sie sich auf die Pfoten und zog sich vorsichtig in die andere Richtung zurück.
Das leichte Knistern von Schuhen auf dem Waldboden näherte sich, doch verschwand immer wieder zwischen zwei Fußschritten. Plötzlich stieß Ever mit dem Rücken gegen einen Widerstand, den sie nicht erwartet hatte. Verschreckt neigte sie den Kopf nach oben und sah am Bein eines Mannes hinauf, der dort eben noch nicht gestanden hatte. Ein Gesicht, dessen Züge zum vertieften Nachdenken geschaffen waren, blickte auf sie herab und verzeichnete ein verständnisvolles Lächeln.
„Mir ist über die Jahre schon so einiges begegnet, aber noch keine gemeine Hauskatze, die eine derartige Aura ausstrahlt“, sagte der dunkelhaarige Fremde und ging sachte in die Hocke. Seine Ellenbogen lagen auf die Knie gestützt und seine Hände waren ruhig gefaltet, anstatt sich nach Ever auszustrecken. Eine menschliche Eigenart, die sie bis heute zutiefst irritierte.
„Diese Orte ziehen kuriose Gestalten wie dich und mich magisch an, nicht?“
Ihre Gedanken rasten. Es gab keine Chance vor dem Fremden davonzulaufen, das hatte er bereits unter Beweis gestellt. Außerdem war da das Gefühl, es gar nicht zu müssen. Er wirkte alles andere als bedrohlich. Doch vielleicht war das nur die Ruhe vor dem Sturm? Sie spürte, wie sich die Gedankengänge in ihrem Kopf verkomplizierten und vermenschlichten. Schneller als es Ever lieb war überkam sie die Verwandlung.
Das Gestaltwandeln spielte sich für sie nur am Rande auf körperlicher Ebene ab. Es zog und zerrte, aber die Veränderung tat nicht weh. Es kam dem morgendlichen Strecken gleich. Selbst der Größenunterschied zwischen einer durchschnittlichen Hauskatze und einem zierlichen menschlichen Mädchen fiel dabei nicht ins Gewicht. Deutlich schwerwiegender und zeitweise verstörender empfand Ever den Wandel von Körpergefühl und Selbstwahrnehmung.
Statt Fell spürte sie nun Kleidung auf ihrer Haut. Ihre Sicht verschwamm zur menschlichen Perspektive, der so viele Details und Facetten entgingen. Sie sah nun so schlecht wie jeder normale Mensch bei Dunkelheit. Es war Neumond und so schimmerten nur die fahlen Sterne am Firmament. Unmittelbar neben ihr hob sich die Silhouette des Fremden kaum von der Nacht ab. Die furchtlose Jägerin war verschwunden und ein panisches Mädchen blieb zurück. Aufgeregter Atem drückte gegen ihren Brustkorb und sie spürte ein Zittern in den Händen. Unbeholfen kroch sie rückwärts, während die Gestalt regungslos verharrte.
„Ich will dir nichts tun. Wenn du Angst vor mir hast, dann gehe ich und lasse dich in Ruhe“, sagte die tiefe Stimme ruhig. „Ich würde es allerdings vorziehen dich kennenzulernen.“
Ever war unsicher, ob darauf überhaupt eine richtige Antwort existierte. Ihr Körper hörte auf, ziellos zu kriechen; nur das Zittern ihrer Hände auf dem steinigen Boden blieb. Langsam erhob sie sich und versuchte sich zu erinnern, wo sie ihren Rucksack abgestellt hatte. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihn in der Dunkelheit völlig aus den Augen verloren hatte.
„Wie bist du auf mich aufmerksam geworden?“ Ihr fiel in diesem Moment keine bessere Frage ein. Sie wollte wenigstens seine Stimme hören, wenn sie ihn schon nicht richtig sehen konnte.
„Offen gestanden wäre es schwer gewesen, dich zu übersehen. Für mich zumindest. Ich habe dich schon aus einiger Entfernung wahrgenommen“, antwortete er und sie glaubte eine Bewegung in ihre Richtung wahrzunehmen. Ihre menschlichen Augen gewöhnten sich immer mehr an die Nacht, doch es war zu dunkel, um viel zu erkennen. Sie seufzte innerlich. Es wäre vieles leichter, wenn sie sich auf Anhieb verwandeln könnte.
„Wahrgenommen? Du weißt, was man einem Mädchen sagen muss, um es zu beruhigen“, fragte Ever mit ironischem Unterton nach. Mit der Spitze ihres Schuhs streifte sie ihren Rucksack neben einem großen Gesteinsbrocken. Sie hob ihn sachte auf und kramte geschickt nach ihrer Taschenlampe ohne den Blick von dem Fremden abzuwenden.
„Bist du sowas wie ein übernatürliches Trüffelschwein?“
Leider schaffte sie es nicht rechtzeitig, die Taschenlampe aus der Tasche zu holen und auf die Gestalt zu richten, um noch sein Gesicht sehen zu können. Innerlich behielt sie sich die Vorstellung, dass er ziemlich verdutzt ausgehen haben musste. Blitzschnell schirmte er seine Augen mit dem Arm gegen das grelle Licht ab, bis sie den Strahl kurz darauf hinab senkte. Sie spürte, wie das Gewicht der großen Taschenlampe in ihrer Hand sie beruhigte.
„Ehrlich gesagt die einzige Bezeichnung, die ich bisher noch nicht gehört habe“, gab er amüsiert zurück und blinzelte einige Mal, bevor er wieder den Blick auf sie richtete.
Im fahlen Schein des Lichtkegels konnte Ever endlich etwas mehr von ihrem mysteriösen Gegenüber erhaschen. Seine Augen schienen dunkel und leer, doch das mochte vom künstlichen Licht kommen. Die Gesichtskonturen des Fremden waren sehr männlich, die Nase wirkte aristokratisch und die Lippen sinnlich – er war der Inbegriff männlicher Schönheit. Ever starrte ihn geradezu bewundernd an. Er wirkte ein paar Jahre älter auf Ever als sie selbst war, vielleicht fünfundzwanzig, definitiv unter dreißig, und er überragte sie um gut einen Kopf. Der Wind hatte wieder eingesetzt, zerrte an seinem Mantel und zerzauste ihm wild die dunklen Haare. Verwegen sah er aus, und verführerisch. Sie glaubte Regen zu riechen.
„Welche Begriffe sind dir denn geläufig?“
„Das kommt auf die Situation an und das gegenüber. Wiedergänger. Bestie. Untoter. Monster. Nosferatu. Blutsauger. Kreatur der Nacht. Einer meiner persönlichen Favoriten.“ Ein grausames Grinsen spielte sich auf seinen Lippen ab. „Vampir, gelegentlich.“
„Oh“, sagte Ever und in jeder anderen Situation hätte sie ihren platten Tonfall vielleicht als beleidigend empfunden. Hinter den Moment der Stille setzte sie ein entwaffnendes Lächeln, das sie selbst überraschte. „Ich meine – wow. Unglaublich. Kein Scherz?“
„Das kommt etwas zu überrascht von einem Mädchen, das bis vor wenigen Minuten noch eine Katze war.“ Wenn der Fremde sich beleidigt fühlte, dann ließ er es nicht durchblicken. Sein Blick wanderte von oben bis unten über ihren Körper und sie fühlte sich auf sehr menschliche Weise unangenehm gemustert.
„Könntest du deine Augen bitte hier oben behalten? Vampir hin oder her!“ Mit einem Schritt zurück verschränkte sie die Arme vor dem Körper.
„Verzeih' mir, das war nicht meine Absicht“, entschuldigte er sich und ging einige Meter aus dem Lichtkegel zum Rand des Sunset Crater. „Ich versuche nur zu verstehen, was ich gerade gesehen habe.“
„Was meinst du?“ Ever war von frühster Kindheit an eingebläut worden, misstrauisch gegenüber Fremden zu sein – auch wenn sie derart attraktiv waren wie dieser Vampir. Schon immer war sie zur Verzweiflung ihrer Eltern viel zu neugierig gewesen und hatte eher auf ihren Bauch gehört als auf besseres Wissen. Als die Gestalt an den Vulkankrater trat, folgte sie ihm und ließ sich einen guten Meter von ihm entfernt nieder. Sie strich sich die langen Haare hinter die Ohren und versuchte den eisigen Wind zu ignorieren.
„Ich hatte während der Französischen Revolution Umgang mit einem Gestaltwandler in Versailles. Er war behäbig und träge – und immer betrunken. Er konnte sich nicht so schnell wandeln und auch nicht in einem kleine Katze, soweit ich mich erinnere. Ich habe also noch nie jemanden wie dich erlebt“, erklärte er mit sehr bedachten Worten und blickte hinab in den Krater. Die Verwunderung in seiner Stimme und seinem Gesicht konnte sie förmlich spüren.
„Wie ist dein Name?“, fragte Ever nach einem Augenblick. Jede seiner Antworten förderte drei neue Fragen in ihrem Kopf zu Tage. „Es fühlt sich seltsam an, so offen darüber zu reden, wenn ich nicht einmal weiß, wie du heißt.“
„Mein Name ist George. Ich komme aus Los Angeles und bin gerade dabei, nach Torch Creek zu ziehen. Ich wollte mir den Vulkan ansehen, als ich dich bemerkt habe.“ Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, um sie gegen den Wind zu bändigen, doch es half wenig. Tatsächlich war der Vampir völlig fasziniert von Ever.
„Ich bin Ever. Ever Crest. Freut mich dich kennenzulernen. Ich bin eine Gestaltwandlerin“, ergänzte sie überflüssigerweise und setzte mit einem Lächeln hinterher: „Soweit ich weiß.“
George wandte seinen Blick wieder in ihre Richtung. Sie glaubte ihn nicken zu sehen, doch dann schwieg er für einen Moment. Da sich bei der Stille etwas in ihrem Inneren verknotete, setzte sie hinterher: „Dieser Ort zieht wohl Wesen wie dich und mich an?“
Sie hörte einen tiefen Laut der Zustimmung neben sich. „Mhm. Er hat mich derart abgelenkt, dass ich die Zeit aus den Augen verloren hatte und mich für den Tag in einer Höhle verstecken musste. Es ist atemberaubend, welche Kraft aus dem Krater strömt.“
„Aber nicht genug, um mich zu übersehen?“, fragte sie und betrachtete ihn aus dem Augenwinkel. Sie schaltete die Taschenlampe aus, um ihren Augen die Chance zu geben, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
„Es fällt mir leicht, andere Lebewesen aufzuspüren. Eine übernatürliche Aura macht es umso deutlicher“, erklärte der Vampir.
Also bin ich wirklich so offensichtlich… ging Ever durch den Kopf. Sie fühlte sich nackt auf einer völlig neuen Ebene und dieses schockierende Gefühl spiegelte sich immer stärker in ihrem Gesichtsausdruck wider.
„Gedankenlesen kann ich leider nicht“, ergänzte George nach einer Weile und riss sie aus ihren Überlegungen. Als sie zu ihm herübersah, lächelte er freundlich und hatte sich leicht zu ihr gewandt. Jetzt, da sie darauf achtete, waren die scharf zulaufenden Eckzähne unverkennbar.
„Sorry. Mir geht gerade viel durch den Kopf.“ Sie griff sich eine Locke aus ihren Haaren und begann, sie um einen Finger zu wickeln. „Du bist der erste Übernatürliche, den ich so richtig treffe. Und dann auch noch ein Vampir.“
George zog eine Augenbraue nach oben.
„Ich meine, dir ist sicher auch aufgefallen, dass ihr gerade ziemlich präsent seid? So in Büchern und Filmen und dergleichen? Du weißt schon?“, brachte sie in ihrer Erklärungsnot hervor.
Er stieß ein verächtliches Schnauben aus. „Das ist mir aufgefallen. Ich lebe aber leider eher weniger in dunklen Gruften und es ist in der Realität überraschend kompliziert, Menschen klarzumachen, dass nur Termine nach Sonnenuntergang möglich sind.“
„Das glaub' ich.“ Ever grinste. „Da ist es in Torch Creek schwer genug auch nur einen offenen Laden zu finden.“
Im Gesicht des Vampirs zeichnete sich eine Mischung aus Verwunderung und Verwirrung ab, die sie nicht ganz deuten konnte. Dann ging ihr der eigene Satz durch den Kopf und nahm eine andere Wendung. „Mist!“
„Alles in Ordnung?“ Jetzt wirkte George voll und ganz verwirrt.
„Ich…“, setzte sie an und fischte nach klaren Gedanken. „Ohne die magische Begegnung abbrechen zu wollen: Ich muss mich dringend auf den Weg nach Hause machen. Fast eine Stunde Fahrt und morgen früh Unterricht.“
„Das verstehe ich.“ Er nickte und stand in einem Sekundenbruchteil direkt vor ihr. Der Vampir schien sich ebenfalls zum Gehen aufmachen zu wollen.
„Wow“, entfuhr es Ever. „Ganz so eilig hatte ich es nicht, dich loszuwerden, um ganz ehrlich zu sein.“
„Oh Verzeihung, die Macht der Gewohnheit.“ Er reichte ihr die Hand und sie ließ sich von ihm auf die Füße ziehen. Seine Finger fühlten sich kalt an und eisern. Doch das mochte vom schneidenden Wind kommen.
„Genaugenommen wollte ich dich bitten, mich ein Stück mitzunehmen. Ich kam gestern zu Fuß von Torch Creek hierher, aber ich denke, mit dir reise ich komfortabler. Wenn das nicht zu viel verlangt ist?“
Er hielt seine Hand noch um die ihre geschlossen und ließ sie dann sehr langsam los, so als könne er sie zerbrechen.
„Kein Problem. Spring' auf und wir fliegen los.“ Ever klopfte sich frech auf die Schulter und grinste.
„Ich weiß nicht genau, was für ein Bild von Vampiren sie momentan im Fernsehen zeigen, aber Leichtgläubigkeit gehört definitiv nicht zu meinen Eigenarten“, sagte er mit fester Stimme und kam ihr hinterher.
„Gut.“ Sie warf sich den Rucksack über eine Schulter und nickte ertappt, aber auch belustigt. „Mein Pickup steht unten an der Straße.“
24. März. Torch Creek Highschool. Nachmittag.
Mit dem letzten Klingeln der Schulglocke ging der übliche Tumult im kleinen Klassenzimmer der Torch Creek High los. Obwohl es nur noch einige Wochen bis zu den Abschlussprüfungen waren, übertönte die Lautstärke der Schüler sie fast. Der Geschichtslehrer versuchte sich noch für einen kurzen Moment Gehör zu verschaffen, doch gab dann auf. Der bevorstehende Sommer machte den sonst schon unruhigen Haufen Siebzehn- und Achtzehnjähriger besonders nervös. Neben den Vorbereitungen für die letzten Klausuren lagen etliche Pläne für den wichtigsten Event – den Abschlussball – in der Luft. Nicht zu vergessen die Frage, wer mit wem dort erschien.
Issy nutzte den Lärmpegel, um sich zu Ever hinüberzubeugen. Ihre Freundin sah sie seit einem SMS-Gespräch während der Stunde ungläubig an. Nun erweiterte sie diesen Gesichtsausdruck um weit aufgerissene Augen. Mit ihrem kindlichen Gesicht und den kurzen schwarzen Haaren sah Evers beste Freundin aus wie ein verschrecktes Reh.
„Und du hast ihn einfach mitgenommen? In deinem Auto? Mitten im Nirgendwo?“
„Es hat sich eben angeboten“, entschuldigte sich Ever und versuchte sich verlegen die Wange zu reiben, um zumindest einen Anschein von Sorge zu erwecken. „Er war auf dem Weg nach Torch Creek und ich wollte ihn besser kennenlernen.“
„Weißt du, was alles hätte passieren können?“
Issy legte die Hand auf ihre und drückte sie, als könnte die Geste besser zu Ever durchdringen als ihre Worte.
„Als ob zu dem Zeitpunkt nicht schon alles schiefgegangen wäre, was hätte schiefgehen können.“ Sie lachte zaghaft. „Ich meine, er wusste da schon so ziemlich alles, was ich vor dem Rest der Welt geheim halte.“
Die Freundin seufzte und machte sich daran, ihre Schulunterlagen in den Rucksack zu stopfen.
„Ach, es ist hoffnungslos mit dir zu argumentieren! Wenn sie dich irgendwann tot in einem Straßengraben finden, dann weißt du ja, wer es dir prophezeit hat.“
„Wenn du darüber redest, dann klingt es viel schlimmer als es war.“ Sie knuffte ihre zierliche Freundin mit dem Ellenbogen in die Seite. „George macht wirklich einen netten Eindruck auf mich.“
„Ja, das ist in der Tat auch nicht zu übersehen“, sagte Issy provokant beim Hinausgehen aus dem Klassenzimmer.
„Was meinst du?“ Ever spürte wie sich ihre Stirn kräuselte. Sie strich sich eine Haarlocke hinters Ohr, wie immer, wenn sie ihre Unsicherheit zu kaschieren versuchte.
„Du bist heller als sonst.“
„Heller?“ Zuerst verstand Ever nicht. Dann zog ihr Issy die Haare wieder vor die Augen und schnaubte etwas verächtlich. Auf den ersten Blick war es ein unwesentlicher Unterschied.
„Oh – mein – Gott! Wie lange ist das schon so?“
Erst jetzt merkte Ever, dass ihre sonst kastanienbraunen Locken in einem helleren Ton schimmerten. Einige feine Strähnen schienen fast blond. Es war eine Kleinigkeit, doch es erschreckte sie, nicht selbst darauf gekommen zu sein. Die spontane Seite des Gestaltwandelns bereitete ihr regelmäßig Kopfzerbrechen und Panik. Die Angst, aus einer Laune heraus plötzlich anders auszusehen oder sich zu verändern, ohne es selbst zu bemerken.
„Issy! Wie lange ist das schon so?“, fragte sie nun bestimmter und strich sich nervös die Haare hinter die Ohren. Sie fischte nach einem Haargummi von ihrem Handgelenk, um sich einen Zopf zu binden, als würde es einen Unterschied machen.
„Den ganzen Morgen.“ Issy grinste schelmisch. Das war normalerweise ein Charakterzug an der Freundin, den Ever sehr schätze. In Situationen wie diesen beunruhigte es sie hingegen.
„Warum hast du nichts gesagt?“
„Ich hatte gehofft, irgendjemand anders bemerkt es – und das wäre eine Warnung für dich gewesen“, erklärte sie streng. „Aber die sind alle blind wie Maulwürfe, seit es nur noch um den Abschlussball geht...“
„Also?“, setzte Issy auf dem Gang an, nun mit großer Neugier. „Du hast mir bisher nur die abgefahrenen Geheimnisse erzählt. Wie sieht es denn mit den langweiligen Dingen über ihn aus?“
Die kleine Highschool von Torch Creek fasste kaum 400 Schüler, doch gerade jetzt, kurz vor dem Endspurt, wirkten die Hallen überfüllt. Über dem flachen Backsteingebäude lag seit Wochen ein gewisser, leicht schäbiger Glamour von farbenfrohen Bannern und Postern. An sämtlichen freien Wänden vervielfältigten sich die Zettel mit Bekanntmachungen, Informationen und Aufrufen. Es war unmöglich einen Meter zu gehen, ohne auf einem Flyer auszurutschen. Durch die Fensterfronten warf die kräftige Märzsonne ihre Strahlen in den Gang und Ever blinzelte ihr mit Vorfreude entgegen.
„Lass' mich überlegen. Sein Name ist George Tramente. Er hat die letzten Jahre in Los Angeles gelebt, aber das Stadtleben ist ihm zu hektisch geworden. Er hat das leer stehende Haus in der Baker Street gekauft und ist dieses Wochenende dort eingezogen“, erzählte sie beiläufig und öffnete dabei ihr Schließfach.
„Das verfluchte Haus in der Baker Street? Uhh, gruselig!“
„Mhm“, stimmte Ever halbherzig zu und begann Bücher aus dem Rucksack im Spind zu verstauen. Am Spiegel auf der Türinnenseite hingen drei Fotografien.
Auf dem ersten Bild lächelten Ever und ihr Adoptivvater Michael Crest auf der Einweihungsfeier des kleinen Naturkundemuseums vor gut drei Jahren in die Kamera. Sie trug ein fast kindliches Kleid mit orangefarbenen Blüten, dessen Rock fröhlich im Wind wehte. Ihr Vater trug wie immer einen dunklen, gut sitzenden Anzug. Lediglich seine Schläfen waren mittlerweile etwas grauer geworden, ansonsten sah er heute noch genauso aus. Als Bürgermeister von Torch Creek wirkte Michael Crest stets ein wenig steif, denn keine Veranstaltung, zu welcher die beiden gingen, war wirklich privat. Trotzdem bemühte er sich sehr, Normalität in ihrer beider Alltag zu bringen. Und Ever wusste, wie schwer das für ihn war.
Das zweite Foto zeigte sie und ihre Adoptivmutter Angelica auf dem Walk of Fame. Eigentlich wollte Angelica sie beide mit dem Hollywood Sign im Hintergrund fotografieren lassen, doch der Bildausschnitt reichte nicht aus für den weit entfernten Schriftzug. Sie mochte das Bild trotzdem, obgleich sich Angelica allein optisch extrem von Ever unterschied, was unter Umständen an der platinblonden Mähne und der Überdosis Botox im Gesicht ihrer Mutter liegen mochte. Nach der Scheidung ihrer Eltern hatte Ever ein altes Bild von ihnen Dreien bei ihrer Einschulung ausgetauscht, da es zu viele Erinnerungen wachrief. Angelica war es, die Michael und sie vor acht Jahren verlassen hatte, um „sich selbst zu finden“, wie sie es nannte. Sie zog nach Los Angeles, um dort Schauspielerin zu werden – mehr als ein paar lokale Werbespots waren dabei allerdings nicht herausgekommen.
Als Letztes steckte das Polaroid-Foto einer getigerten Katze neben dem rechteckigen Spiegel der Spindinnenseite. Evers beste Freundin, Issy Boyle, hatte dieses Bild von Ever geschossen, noch lange bevor sie Issy ihr Geheimnis offenbart hatte. Sie war in jenem Sommer vor fast vier Jahren in ihrer Einsamkeit und Verzweiflung oft in der damals noch fremden Katzengestalt auf Issys Fenstersims aufgetaucht.
„Er sagte, er sei Gutachter und Restaurator für…“, setzte Ever an und dachte dann einen Moment nach. „irgendetwas mit mittelalterlichen Waffen, Schwerter, Dolche und so ein Zeug. Ich hab' es nicht so richtig verstanden. Er scheint auf alle Fälle ziemlich gut dafür bezahlt zu werden, dass er sich solchen alten Kram ansieht und aufpoliert.“
„Du scheinst Männer anzuziehen, die es mit Geschichte haben, hm?“ Issy schlug mit einem blechernen Geräusch ihr Schließfach zu und trat näher an Ever heran. „Denkst du, er und James könnten sich mögen?“
„Schwer zu sagen.“ Ever dachte an ihren selbsternannten Mentor und rümpfte die Nase.
„Als ich ihn gestern Nacht noch kurz angerufen habe, um ihm von meiner Begegnung zu erzählen, klang er alles andere als begeistert.“
„James macht sich Sorgen um dich“, wusste die Freundin und auf ihrem Gesicht zeichnete sich genau dieselben Bedenken ab. „Wozu er auch Grund hat. Du weißt schon: Vampir.“