Lottes Träume - Beate Maly - E-Book
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Lottes Träume E-Book

Beate Maly

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Beschreibung

Wenn die ersten Schneeflocken fallen, beginnen die Träume zu glänzen. Der zauberhafte Auftakt einer außergewöhnlichen Serie.

Als Lotte 1904 in Wien ankommt, ist für sie noch alles neu und fremd. Bisher hat sie mit ihrem Vater in dem kleinen Ort Mürzzuschlag gewohnt und von der großen Stadt nicht viel mitbekommen. Aber ihre Zeit in den Bergen und auf Skiern ist ihr jetzt hilfreich. In dem kleinen Bergsportladen in der Kaiserstraße bekommt sie deshalb gleich eine Anstellung, denn der Skisport ist erst im Kommen, nur die wenigsten kennen sich mit den neuartigen Brettern aus. Dass das auch etwas für Frauen ist, kann man sich schon gar nicht vorstellen. Aber Lotte lässt sich davon nicht beirren, und als dann noch ein junger Herr bei ihr seine Skier bestellt und Gefallen an ihr findet, befürchtet sie, dass das alles nur ein Traum sein könnte …

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Buch

Als Lotte 1904 in Wien ankommt, ist für sie noch alles neu und fremd. Bisher hat sie mit ihrem Vater in Mürzzuschlag gewohnt und von der großen Stadt nicht viel mitbekommen. Aber ihre Zeit in den Bergen und auf Skiern ist ihr jetzt hilfreich. In dem kleinen Bergsportladen in der Kaiserstraße bekommt sie deshalb gleich eine Anstellung, denn der Skisport ist erst im Kommen, nur die wenigsten kennen sich mit den neuartigen Brettern aus. Dass das auch etwas für Frauen ist, kann man sich schon gar nicht vorstellen. Aber Lotte lässt sich davon nicht beirren, und als dann noch ein junger Herr bei ihr seine Skier bestellt und Gefallen an ihr findet, befürchtet sie, dass das alles nur ein Traum sein könnte …

Autorin

Beate Maly, geboren und aufgewachsen in Wien, arbeitete zunächst als Kindergärtnerin und in der Frühförderung, bevor sie mit dem Schreiben begann. Neben Geschichten für Kinder und pädagogischen Fachbüchern hat sie inzwischen neun historische Romane geschrieben und drei historische Krimis. »Lottes Träume« ist der Auftakt einer Reihe um eine junge Frau, die in Wien ihr Glück sucht, und die Anfänge des Skisports zu Beginn des letzten Jahrhunderts.

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BEATE MALY

Lottes

TRÄUME

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München

Umschlagmotive: Getty Images (H. Armstrong Roberts/ClassicStock/Archive Photos; Blaine Harrington III/Corbis Documentary); Vienna Railway Station in snow, Austria 20th Century Watercolour/De Agostini Picture Library/A. Dagli Orti/Bridgeman Images; DRogatnev/Shutterstock.com

Zusatzinfo: Der Wiener Bahnhof, wie er auf dem Umschlag abgebildet ist, stand zur Zeit der Handlung nicht mehr.

NG · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23785-1V002

www.blanvalet.de

1

Wien, Herbst 1904

Eintönig ratterte die Lokomotive über einen schier endlosen Schienenstrang. Lotte rutschte unbehaglich auf der harten Holzbank von einer Seite zur anderen und stieß dabei gegen den voluminösen Körper ihrer Sitznachbarin. Sie entschuldigte sich leise und erhielt als Antwort ein unverständliches Grunzen.

Die vorbeiziehende Landschaft veränderte sich mit jedem Kilometer, den sich der Zug der Hauptstadt näherte. Schon lange hatten sie die steinernen Viadukte passiert, die zerklüfteten Felswände des Semmering-Passes hinter sich gelassen und fuhren jetzt durch verschneite Felder Richtung Wien.

Lotte war mit ihren zweiundzwanzig Jahren erst einmal in der Haupt- und Residenzstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie gewesen. Damals hatte sie ihren Vater begleitet, weil er in Wien zwei Bücher gekauft hatte. Einen Gedichtband von Nestroy und ein Buch von Bernhard Scheinpflug. Letzteres war ein weniger bekanntes Werk über die griechische Mythologie, das Lottes Vater jahrelang im Unterricht eingesetzt hatte. Er war Lehrer in der Volksschule in Mürzzuschlag gewesen. Vorgestern hatte Lotte beide Bücher verkaufen müssen, gemeinsam mit all den anderen Gegenständen, die ihrem Vater gehört hatten. Bei der Erinnerung daran schnürte sich Lottes Kehle zu. Sie blinzelte eine Träne weg und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Wie lange würde es dauern, bis sie sich an seinen Tod gewöhnte und der Kloß in ihrem Hals wieder verschwand, der ihr das Atmen erschwerte und dafür sorgte, dass sie ständig das Gefühl hatte, auf der Stelle losweinen zu müssen? Im Moment konnte sie noch nicht glauben, dass er wirklich leblos in dem frischen Grab lag und nie wieder mit ihr einen der Berge besteigen würde, die sie beide so geliebt hatten. Zwei ­Wochen hatte der ungleiche Kampf gegen das hohe Fieber der Lungenentzündung gedauert. Walter Seidl hatte ihn verloren, und bereits drei Tage nach seinem Tod hatte Lotte die Wohnung, in der sie zweiundzwanzig Jahre mit ihm gelebt hatte, räumen müssen. Sie hatte sich von den Möbeln, seiner Kleidung und seiner Bergsportausrüstung getrennt. Der Verkauf seiner Habseligkeiten kam ihr wie ein Verrat vor. Aber ohne den Erlös hätte sie die Fahrkarte nach Wien nicht kaufen können. In Mürzzuschlag hatte sie keine Zukunft. Entweder sie heiratete den trinkenden und zu Gewalt neigenden Fleischer Alfred Rössel, dessen Antrag sie schon vor drei Jahren abgelehnt hatte, oder sie fristete ihr Leben als rechtlose Magd auf einem Bauernhof. Beide Möglichkeiten erschienen ihr wenig erstrebenswert.

Der ältere Herr, der ihr gegenübersaß und bis jetzt in einer Ausgabe der Kronenzeitung gelesen hatte, legte das Blatt zur Seite und packte Brote aus. »Wollen Sie ein Stück?«, fragte er freundlich.

Lotte lehnte dankend ab. Obwohl ihr Magen knurrte und sie seit dem Frühstück nichts gegessen hatte, würde sie keinen Bissen hinunterbringen. Sie war zu nervös, außerdem hatte sie seit Tagen keinen Appetit. Je weniger sie aß, umso seltener meldete ihr Körper das Signal, dass sie Hunger hatte.

»Ich nehme ein Stück«, sagte die Frau neben Lotte. Blitzschnell griff sie zu und biss in das Brot. Für einen Moment wirkte der Mann irritiert, dann widmete er sich seinem Proviant. Mit vollem Mund fragte er Lotte: »Besuchen Sie jemanden in Wien?«

»Nein, ich ziehe in die Stadt, um dort zu leben.«

»Wohin denn?«

»Das weiß ich noch nicht.«

Der Mann unterbrach sein Kauen. Fassungslos starrte er sie an.

Auch die Frau wirkte überrascht. »Sie fahren nach Wien und wissen nicht, wo Sie wohnen werden?« Sie klang, als hätte Lotte gerade gesagt, sie wolle einen Lipizzaner stehlen oder plane ein Attentat auf den Kaiser.

»Ich habe die Adresse von einem Geschäft, in dem ich vielleicht als Verkäuferin arbeiten werde.«

»Ach so, ich verstehe. Sie werden dort wohnen.« Etwas entspannter lehnte sich der Herr mit den grauen Schläfen zurück. Die Butterbrote drohten ihm vom Schoß zu rutschen, aber er fing sie geschickt auf.

»Das weiß ich noch nicht«, gab Lotte zu. Alles was sie besaß, war eine Adresse. In Gedanken ging sie das Gespräch mit Maria Schwegel, der Wirtin der Goldenen Gans in Gloggnitz, noch einmal durch.

»Ich hab gehört, dass junge Frauen in Wien als Verkäuferinnen arbeiten können. Eine Geschäftsfrau hat mir das erzählt. Sie kommt jedes Jahr auf den Semmering. Manchmal übernachtet sie nicht oben am Pass, sondern bei uns. Sie selbst verkauft Dinge, die man fürs Reiten braucht. Sicher kann sie dir helfen, wenn du nach Wien gehst.«

»Aber ich verstehe nichts vom Reiten«, hatte Lotte vorsichtig eingewandt. Eine Bemerkung, die die Wirtin nicht hatte gelten lassen.

»Was kann denn daran schwer sein?«, hatte sie gesagt, während sie mit Blockbuchstaben eine Adresse auf einen schmalen Block gekritzelt hatte, auf dem sie für gewöhnlich die Bestellungen ihrer Gäste aufnahm. Dann hatte sie Daumen und Zeigefinger abgeleckt, den Zettel abgerissen und Lotte mit einer Wichtigkeit überreicht, als handelte es sich um ein wertvolles Dokument. Der Zettel steckte nun in Lottes Handtasche.

Der Mann mit den Butterbroten holte sie aus ihren Erinnerungen zurück. »Aber was wollen Sie machen, wenn Sie in dem Geschäft keine Anstellung bekommen? Sie werden doch irgendwen in Wien kennen«, fragte er mit einer Mischung aus Besorgnis und Sensationslust. Er beugte sich neugierig nach vorne. Sein sauber rasiertes Kinn glänzte von der Butter, die Enden seines Schnurrbarts wippten.

»Ich kenne niemanden. Deshalb werde ich mir ein Zimmer suchen.« Lotte versuchte, ihrer Stimme mehr Zuversicht zu verleihen, als sie tatsächlich empfand, und den eindringlichen Blick ihres Gegenübers zu ignorieren. Dabei knetete sie nervös ihre Hände, bis sie schmerzten.

Die Frau neben ihr lachte humorlos auf. Der kleine Hut auf ihrem Kopf rutschte in die Stirn. »Ich hoffe, Sie verfügen über ausreichend Geld. Wien ist teuer, und jede zweite Wohnung ist mit Schlafgängern belegt.«

Lotte hatte davon gehört, dass sich mehrere Menschen in der Stadt ein und dasselbe Bett teilten, das sie jedoch zu unterschiedlichen Zeiten nutzten. Sie hoffte, dass sie selbst eine andere Lösung finden würde, auch wenn ihre finanziellen Mittel bescheiden waren.

»Kindchen, Sie müssen gut auf sich achtgeben. In der Großstadt wimmelt es von Halsabschneidern, die nur darauf warten, eine Person vom Land übers Ohr zu hauen.«

»Und all die Männer, die über hübsche junge Dinger wie Sie herfallen«, raunte die dicke Frau. Sie hatte ihr Brot aufgegessen und schaute begehrlich zu den verbliebenen Schnitten im Schoß des Mannes. Doch der wickelte sie rasch in seine karierte Stoffserviette ein und packte sie weg.

»Wir wollen Ihnen keine Angst einjagen, aber Wien ist gefährlich. Seit Jahren sammelt sich hier der Abschaum der Monarchie. Von überall strömen die Kriminellen in die Stadt, und die Polizei kommt nicht nach, sie alle einzusperren. Gewalttätiges Gesindel vom Balkan und Zigeuner. Bettler aus Böhmen und Diebe aus Ungarn. Sie alle lauern in den dunklen Gassen und überfallen unschuldige junge Frauen.« Zur Bekräftigung seiner Worte griff der Mann nach der Zeitung, die auf dem leeren Sitz neben ihm lag. Zielsicher schlug er eine Seite auf, suchte mit dem Finger nach einem Artikel. »Da, sehen Sie nur, mein Fräulein. Lauter hässliche Geschichten über Diebstähle, Überfälle und Betrügereien. In den Straßen der Stadt lauert das Grauen.«

Trotz der Wärme im Abteil fröstelte Lotte. Sie betrachtete ihre rot gewordenen Hände und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. Auch wenn die zwei Mitreisenden behaupteten, ihr keine Furcht einjagen zu wollen, war es ihnen gelungen, sie zu ängstigen. Die dicke Frau schien die Vorstellung von Dieben, Räubern, Betrügern und Mördern zu genießen. Ihre kleinen, dunklen Augen glänzten vor Aufregung.

»Wo befindet sich denn das Geschäft, in das Sie wollen?«, fragte sie.

»In der Kaiserstraße 15.«

»Das ist bei der Mariahilfer Straße«, murmelte der Mann. »Eine gute Adresse.«

Wenigstens etwas, dachte Lotte. »Es gehört Frau Mizzi Kauba. Sie verkauft Reitzubehör.«

»Sie meinen wohl, dass die Frau dort als Verkäuferin arbeitet?«

»Nein«, sagte Lotte. »Sie ist die Besitzerin.«

»Eine Geschäftsfrau?«, platzte der Mann empört hervor. Seine Sorge um Lotte schien mit einem Mal wie weggeblasen.

Bevor Lotte etwas antworten konnte, fuhr er aufgebracht fort: »Es wundert mich nicht, dass es um die Moral in der Stadt schlecht bestellt ist.«

»Wie bitte?«

»Wo soll das denn hinführen, wenn Frauen in der Geschäftswelt Fuß fassen? Eines Tages kommt es noch so weit, dass eine Frau einem Mann vorschreiben kann, was er zu tun hat.« Er schnaufte verächtlich. »Unser Vielvölkerstaat ist dem Untergang geweiht, wenn es den Männern nicht einmal mehr gelingt, das schwache und unterlegene Geschlecht zu kontrollieren.«

Lotte wünschte, sie säße in einem leeren Abteil. Verärgert versuchte sie den Zusammenhang zwischen dem möglichen Untergang der Monarchie und der Rolle der Frauen in der Geschäftswelt herzustellen. Demonstrativ wandte sie ihren Blick aus dem Fenster. Dort zogen immer dichter stehende, graue Häuser vorbei. Aus unzähligen Kaminen stieg dunkler Qualm.

»Noch dazu ein Reitsportgeschäft. In diesem Metier haben Frauen ja nun wirklich nichts verloren.« Der Mann konnte sich nicht beruhigen.

»Unsere verstorbene Kaiserin, Gott hab sie selig, war eine begeisterte Reiterin«, mischte sich die dicke Frau ein. »Ich habe sie vor Jahren in den Praterauen auf einem rotbraunen Hengst reiten sehen. Meiner Seel, war sie schön. Das Haar bis zur Hüfte zu einem dicken Zopf geflochten und eine Taille, die konnte man mit zwei Händen umfassen.« Ergriffen berührte sie ihren üppigen Busen und seufzte laut.

»Die Kaiserin war eine Ausnahmeerscheinung und eben die Kaiserin«, knurrte der Mann.

Gerne hätte Lotte darauf hingewiesen, dass die Kaiserin eine Frau gewesen war, aber sie biss sich auf die Zunge und schwieg, denn sie wollte das Gespräch nicht weiterführen.

Nach einer Weile holte der Mann eine goldene Taschenuhr aus seiner Jackentasche und klappte sie auf. »Wir kommen in wenigen Minuten an.« Er packte seine Zeitung wieder weg und setzte sich seinen Hut, eine gefütterte Melone, auf den Kopf.

Lottes Nervosität stieg. Jetzt war es so weit. Sie näherte sich der großen Stadt, von der sie so wenig wusste. Was würde ihr Vater dazu sagen? Er hatte nie über Lottes Zukunft reden wollen, gerade so, als hätte sie ihr ganzes Leben mit ihm verbringen können. Sie waren ein eingeschworenes Paar gewesen. Der Lehrer, Witwer und Bergsteiger Walter Seidl und seine Tochter, die ihn auf jeden Berg begleitet hatte. Egal, ob Sommer oder Winter. Schon als Fünfjährige hatte Lotte auf Skiern gestanden und war einen verschneiten Steilhang hinuntergesaust. Wehmütig dachte sie an den staubenden Schnee, an die winzigen Eiskristalle, die in der strahlenden Wintersonne funkelten und in all den Jahren für sie nie ihre magische Faszination verloren hatten. All das gehörte jetzt der Vergangenheit an.

Wieder drückte der dicke Kloß in Lottes Kehle. Sie schluckte ihn hart hinunter, bevor auch die Tränen sich wieder meldeten. Konzentriert widmete sie sich den vorbeiziehenden Bildern. Statt weißer Felder sah sie farblose Häuserschluchten, Schornsteine, Dächer und Kirchtürme. In Mürzzuschlag hatte es in manchen Jahren schon Anfang Oktober den ersten Schnee gegeben. Hier in Wien waren die Straßen grau, voller Menschen und Fuhrwerke. Dichter Nebel behinderte die Sicht, oder war es der Rauch aus den hohen Fabrikschloten, der über den staubigen Pflastersteinen lag? Der Zug wurde langsamer und rollte quietschend in den Bahnhof ein. Lotte war in Wien.

2

Wien

Etwas ungeschickt hievte sie ihren Koffer aus der Gepäckablage. Er war schwer und glitt ihr beinahe aus den Händen. Dann schleppte sie ihn zur Zugtür und verließ die Eisenbahn. Der Gestank, der ihr entgegenschlug, nahm ihr beinahe die Luft zum Atmen. Sie musste husten. Der Rauch der Lokomotiven hielt sich unter der riesigen Stahlgerüstdecke wie heißer Dampf unter einem Kochdeckel.

Menschen drängten an ihr vorbei. Ein Ellbogen landete in ihren Rippen. Lotte rieb sich die Seite und sah der Frau hinterher, die sie eben gestoßen hatte. Sie fasste ihre Handtasche mit festem Griff. Ein Betteljunge streckte ihr mit riesigen, hellen Augen seine dürre Hand entgegen. Trotz der klirrenden Kälte hatte er keine Schuhe an, stattdessen waren seine Füße mit schmutzigen Fetzen umwickelt. Lotte kramte in ihrer Manteltasche nach ein paar Heller und reichte ihm die Münzen. Sie hatte selbst kaum Geld, aber im Vergleich zu dieser jämmerlichen Gestalt fühlte sie sich wohlhabend und reich. Eine schrille Trillerpfeife ertönte. Ein Bahnbeamter hatte den Jungen entdeckt und drohte ihm mit der erhobenen Faust. Der Knabe schnappte nach den Münzen und lief fort. Flink wie ein Wiesel tauchte er in der Menschenmenge unter.

»Elender Bettler«, schimpfte eine Frau neben Lotte. Sie trug einen fast bodenlangen Pelzmantel. »Sie dürfen dem Pack kein Geld geben«, sagte sie. »Kaum hat einer einen Heller bekommen, kriechen hundert andere aus ihren Löchern wie die Ratten und wollen noch mehr. Die Polizei sollte sie alle einfangen und wegsperren.«

Sie bedachte Lotte mit einem strengen Blick, schnaufte erbost und ging weiter. Langsam setzte Lotte sich in Bewegung. Sie folgte den Menschen, die alle auf das neu errichtete Bahnhofsgebäude zustrebten. Ein Mann mit einer seltsamen Mütze auf dem Kopf trat auf sie zu. Er wollte ihr den Koffer abnehmen.

»Nicht notwendig, danke«, sagte Lotte. Sie wusste, dass der Dienstmann Geld dafür verlangen würde, wenn er ihren Koffer trug. Das vorbereitete Trinkgeld hatte sie eben dem Jungen gegeben.

»Geizhals«, murmelte der Mann. Er suchte nach dem nächsten Reisenden. Die Frau hinter Lotte gab dem Gepäckträger bereitwillig ihren Koffer. »Ich brauche einen Fiaker!« Es klang, als hielte die Frau beim Reden die Luft an und die Nase zu.

Lotte betrat das Bahnhofsgebäude. In der riesigen Kassenhalle drängten sich Menschen an mehreren Schaltern, um Fahrkarten zu kaufen. Durch hohe Fenster fiel Licht, zusätzlich brannten eine Unzahl von Deckenleuchten. Bei einem Kiosk wurden Semmeln, Kipferl und Limonade in Flaschen verkauft. Es stank immer noch nach Rauch, aber auch nach Parfüm, Schweiß und gebackenen Mäusen. Eine dicke Frau mit einem dunklen Schal über dem Kopf und den Schultern stand hinter einem kleinen Handkarren und verkaufte die fettige Mehlspeise. Lautstark pries sie ihre Ware an.

Lotte ließ die Menschen und die Halle hinter sich und ging zum Ausgang. Über breite Stufen gelangte sie ins Freie.

»Fiaker?« Ein junger Mann sprach sie an, zog seinen Hut vor ihr und verneigte sich.

»Nein danke.« Lotte wusste, dass sie sich diese Art des Transportmittels nicht leisten konnte. Sie musste sparsam mit dem bisschen Geld umgehen, das sie besaß. Sofort drehte der Fiaker ihr den Rücken zu und suchte nach einem anderen potenziellen Gast.

Lotte lehnte sich gegen einen der Randsteine, die dazu dienten, die Fuhrwerke davon abzuhalten, die Hausfassaden zu beschädigen. Wo sollte sie hin und vor allem wie? Alles hier war riesig und überwältigend. Die Gebäude, der Platz vor dem Bahnhof, die Menschenmenge, der Gestank. Ständig liefen Menschen an ihr vorbei. Die Leute schienen sie nicht zu beachten. Erneut wurde sie angerempelt. Es war, als wäre sie plötzlich unsichtbar geworden. Ein unbedeutendes Nichts, von dem niemand Notiz nahm. Wie sollte sie in die Kaiserstraße gelangen?

»Brauchen Sie Hilfe?«

Lotte schreckte hoch. Zwei hellblaue Augen musterten sie neugierig. Es war der Junge, dem sie eben ein paar Heller gegeben hatte.

»Kannst du mir verraten, wie ich in die Kaiserstraße komme?« Lotte sah jetzt, dass der Junge deutlich älter war, als sie zuerst angenommen hatte. Seine magere Gestalt und sein schmutziges Gesicht hatten ihn jünger erscheinen lassen. Sie schätzte ihn auf zehn oder zwölf Jahre. Er schien abzuwägen, wie viel Geld sie auszugeben bereit war.

»Fiaker?«

Lotte schüttelte den Kopf.

»Dann ist es das Beste, Sie nehmen die Elektrische, die gibt’s noch nicht lang in Wien. Ich kann Sie zur Haltestelle bringen.«

»Das ist sehr hilfsbereit von dir. Vielen Dank.«

Er grinste schief und legte dabei eine Reihe erstaunlich weißer Zähne frei.

»Soll ich den Koffer nehmen?«

»Oh, der ist viel zu schwer für dich.« Sie betrachtete seinen schmalen, viel zu dürren Körper. Wann hatte er wohl die letzte warme Mahlzeit zu sich genommen?

»Ich bin stark!« Der Junge hob seinen Arm und formte eine Faust, wohl in der Hoffnung, Lotte könnte seine Muskeln unter der löchrigen Winterjacke sehen.

»Nun, wenn du willst, kannst du mir helfen und wir tragen ihn gemeinsam«, schlug Lotte vor. Sie war froh, das sperrige Ding nicht allein schleppen zu müssen.

»Wie heißt du?«

»Fritz.«

»Ich bin Lotte.«

Dann packten sie beide den Koffer und machten sich auf den Weg zur Haltestelle. Sie umrundeten eine Litfaßsäule, auf der für eine Revuetanzshow, ein Modehaus, ein Konzert und ein riesiges Kaufhaus geworben wurde. Lotte kam nicht dazu, die Plakate genauer anzuschauen, sie hatte Mühe, mit Fritz’ schnellen Schritten mitzuhalten. Der Junge rannte ­regelrecht.

»Solltest du um diese Uhrzeit nicht in der Schule sein?«, fragte Lotte. Seit Maria Theresia bestand eine allgemeine Schulpflicht in Österreich, die ursprünglich sechs Jahre waren auf acht ausgeweitet worden. Lotte wusste von ihrem Vater, dass viele Eltern es nicht so genau mit dem Gesetz nahmen und ihre Kinder aus den unterschiedlichsten Gründen vom Unterricht entschuldigten. Der häufigste war, dass Kinder uner­laubterweise arbeiteten und so nicht unwesentlich zum Unterhalt der Familie beitrugen. Besonders in ländlichen Regionen war es üblich, dass Kinder im Hof und auf dem Feld mithalfen. Lottes Vater hatte sich mit drei der reichsten ­Bauern in Mürzzuschlag überworfen, weil er auf die Einhaltung der Schulpflicht bestanden hatte. Aber auch in Wien gab es unzählige Kinder, die schon nach einem oder zwei Jahren Schulbesuch in einer der Fabriken am Stadtrand landeten.

Fritz tat so, als hörte er Lottes Frage nicht. Er gab ihr keine Antwort. Nach wenigen Metern erreichten sie eine Haltestelle. In einem kleinen gemauerten Häuschen mit grün gestrichenen Fensterläden saßen bereits einige wartende Fahrgäste.

»Sie müssen beim Schaffner eine Fahrkarte lösen«, erklärte Fritz. »Der wird Ihnen auch sagen, wo Sie aussteigen müssen.«

»Vielen Dank für deine Hilfe«, erwiderte Lotte. Sie kramte erneut in ihrer Manteltasche und holte noch ein paar Heller heraus. »Hier, kauf dir was zu essen.«

»Danke schön!« Gierig griff er nach den Münzen. »Dabei sehen Sie gar nicht so aus, als hätten Sie viel Geld.«

Lotte war sich sicher, dass er sie nicht beleidigen wollte. Sie blickte an sich hinunter. Ihr knöchellanger dunkler Wollmantel hatte schon bessere Tage gesehen, die Kanten der Ärmel waren abgestoßen. Aber ihre festen Winterstiefel aus feinem Leder waren einwandfrei. Sie hatte sie erst letzten Winter gekauft, und auch die Wollmütze auf ihrem Kopf war relativ neu. Schal und Fäustlinge hatte sie selbst genäht. Ebenso das Kleid unter ihrem Mantel. Anna Hofer, ihre Nachbarin in Mürzzuschlag, hatte ihr das Schneidern beigebracht. Als Mutter von sieben Jungen hatte sie ständig Löcher in ­Hosen und Hemden flicken müssen. Lotte hatte rasch Gefallen am Nähen gefunden. Da es keine passende Bergsportbekleidung für Frauen gab, hatte sie schon früh damit begonnen, sich selbst welche anzufertigen. In Lottes Koffer befand sich eine Hose, die ihr passte, die sie aber nur anziehen konnte, wenn niemand sie sah. Es war Frauen nicht erlaubt, Hosen zu tragen, selbst in den Bergen nicht, deshalb hatte Lotte das Kleidungsstück stets im Rucksack mitgetragen und erst übergestreift, wenn niemand aus dem Dorf sie mehr hatte sehen können. Ob sie jemals wieder Verwendung für das gute Stück haben würde?

Ihre Überlegungen wurden unterbrochen. »Wenn Sie nochmals Hilfe brauchen: Ich wohne hinterm Westbahnhof. Das ist gleich bei Ihnen um die Ecke, in der Nähe der Kaiserstraße«, sagte Fritz.

»Was machst du dann hier?«

»Hatte Probleme mit der Polizei dort. Dachte, es ist besser, ich weiche für ein paar Tage aus und bettle am Südbahnhof.«

Gerade als Lotte zur nächsten Frage ausholen wollte, fuhr ratternd die Elektrische ein. Eine Straßenbahn, die mit Strom betrieben wurde. Lotte hatte von der neumodischen Erfindung gehört, aber noch nie eine gesehen. Völlig geruchlos näherte sich der rot-weiß gestrichene Triebwagen und blieb mit einem lauten Ruck vor dem Wartehäuschen stehen. Die Menschen hatten sich in einer ordentlichen Schlange angestellt. Lotte reihte sich ganz hinten ein. Einer nach dem anderen kletterte in den Waggon. Lotte mühte sich mit ihrem Koffer ab. Keiner der Fahrgäste schien ihr helfen zu wollen. Im Gegenteil, sie erntete finstere Blicke, weil sie sich erdreistete, ein derart sperriges Ding in die Straßenbahn zu hieven.

»Mit so einem Koffer nimmt ma an Fiaker«, beschwerte sich eine finster dreinschauende Frau, deren Mundwinkel tief nach unten gezogen waren.

Lotte drängte sich trotzdem ins Wageninnere, wo sie bei einem Schaffner in dunkler Uniform einen Fahrschein kaufte, den er mit einer Lochzange entwertete.

»In die Kaiserstraßen wolln S’? Da müssen Sie am Schwarzenbergplatz umsteigen. Bleibn S’ da stehen, dann sag ich Ihnen, wenn’s so weit ist.«

Lotte wagte es nicht, sich vom Fleck zu rühren. Sie hielt sich an einem der ledernen Haltegriffe, die von der Wagendecke baumelten, fest. Die Straßenbahn fuhr los. Als sie beinahe volle Fahrt aufgenommen hatte, sprang ein Junge auf die offene Plattform und klammerte sich seitlich fest. Der Schaffner bemerkte ihn nicht, er unterhielt sich mit einem Fahrgast. Lotte jedoch sah und erkannte ihn. Es war Fritz, der diesen gefährlichen Sprung gewagt hatte. Bei der nächsten Station sprang er wieder ab und lief schnell davon. Nun wusste Lotte, wie der Junge von einem Bahnhof zum anderen gelangte.

Nach einer fast endlosen Fahrt bedeutete der Schaffner ihr auszusteigen. Leider sagte er das sehr spät, und so musste Lotte beide Ellbogen einsetzen, um mit ihrem schweren Koffer rechtzeitig aus dem Waggon zu gelangen. Der Schaffner rief ihr hinterher: »Steigen S’ in den 5er um!«

Lotte versuchte, dem Schimpfen und Murren der Fahrgäste, an denen sie sich vorbeidrängte, keine Beachtung zu schenken. Wieder musste sie warten. Ein Fiaker fuhr so knapp an ihr vorbei, dass er sie beinahe erfasste. Der Kutscher brüllte ihr wüste Beschimpfungen zu, und Lotte konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen, als schon der nächste an ihr vorbeidonnerte, gefolgt von einer Dampftramway, die stinkenden Rauch ausstieß. Erschrocken sah sie den beiden überdachten Kutschen und der völlig überfüllten Tramway nach. Es dauerte eine Weile, bis sich ihr Herz wieder beruhigte und einen halbwegs normalen Rhythmus schlug.

Lotte zwängte sich zu den anderen Wartenden ins Wartehäuschen. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam endlich die Straßenbahn. Als die Elektrische einfuhr, sprangen die zwei Männer neben ihr nach vorne und stürmten gemeinsam mit drei Frauen in den Wagen, der so voll war, dass nun keine weiteren Fahrgäste mehr Platz darin fanden.

»Nehmen S’ den nächsten Wagen, Gnädigste!«, rief ihr einer der Männer zu. Verärgert stellte sich Lotte zurück ins Wartehäuschen, es hatte zu nieseln begonnen. Die nasskalte Luft durchdrang ihren Mantel und ihre Stiefel. Die Kälte kroch von den Zehen über die Waden zu ihrem Bauch und den Schultern hoch. Sie zitterte, wagte es aber nicht, den Griff ihres Koffers zu lockern. Die Geschichten von Diebstahl und Raub hatten sie verunsichert. Vielleicht hatte der Mann im Zug recht. Zum Glück kam schon nach kurzer Zeit die nächste Elektrische. Erneut löste sie eine Fahrkarte. Diesmal ergatterte sie einen Sitzplatz auf einer der knarrenden Holzbänke. Eiskalter Fahrtwind pfiff durch den offenen Waggon. Lotte sah aus dem Fenster. Geschlossene Fiaker holperten über Kopfsteinpflaster, die Männer auf den Kutschböcken hatten die Kragen ihrer Mäntel aufgestellt und die Hüte tief in die Stirn gezogen. Die Elektrische überholte eine Pferde­tram. Der Waggon sah ähnlich aus wie der, in dem Lotte saß, bloß wurde er von zwei Pferden gezogen. Auf dem Trottoir liefen Damen mit feinen Pelzmänteln und Herren mit Zylinder und Gehstöcken umher. Mit Regenschirmen schützten sie sich vor dem Nieselregen. Auf einem Straßenschild las Lotte: Mariahilfer Straße. Hier reihte sich ein prunkvolles Geschäft an das nächste, dazwischen befanden sich niedrige, alte Häuser. In beleuchteten Auslagefenstern wurden kostbare Waren zum Kauf angeboten. Lotte entdeckte Stoffe, Schuhe, Möbelstücke und sogar Schmuck. In den kleineren Läden waren Änderungsschneidereien, Fleischer und Gemüsehändler untergebracht. Viel zu schnell hielt die Straßenbahn in der Kaiserstraße, und Lotte musste wieder aussteigen. Der Regen war stärker geworden. Rasch lief sie die Straße entlang, bis zur Nummer 15, wo auf einem mehrstöckigen, gelb gestrichenen Gebäude in großen Buchstaben der Name Mizzi Langer-Kauba stand. Sechs riesige, mit dunklem Holz gerahmte Auslagenfenster reihten sich aneinander. In fünf der Schaufenster befanden sich lederne Sättel, Pferdedecken und Reitstiefel. Nur eine Auslage war leer, offenbar wurde sie gerade dekoriert. Eine doppelflügelige Glastür führte ins Innere.

Mit pochendem Herz stieg Lotte die drei Stufen hoch, ergriff die goldene Türklinke und betrat das Reitsportgeschäft. Eine helle Glocke erklang und kündigte ihren Besuch an. Sie erwartete den Geruch von Heu und Pferden, aber die warme Luft, die ihr entgegenschlug, hatte keine Ähnlichkeit mit der eines Stalls. Es roch behaglich nach Leder, Holz und einem dezenten Parfüm. Der lang gezogene, mit Holz ausgekleidete Raum war hell erleuchtet. Auf den auf Hochglanz polierten Verkaufstheken befanden sich Lampen mit grünen Glasschirmen. Dahinter standen zwei adrett gekleidete Verkäuferinnen. Sie trugen lange, dunkle Röcke, blau-weiß gestreifte, hochgeschlossene Blusen und hatten ihr Haar zu strengen Knoten nach hinten gebunden. Sie berieten Kunden, zeigten ihnen Reithosen und Jacken, die sie aus braunen Kästen mit unzähligen Fächern und Schubladen, die mit Messingschildern versehen waren, holten. Die Möbelstücke reichten vom Fußboden bis zur Decke. Um zu den obersten Regalen zu gelangen, mussten die Verkäuferinnen auf ­eigens dafür vorgesehene Leitern klettern. An den freien Wänden hingen gerahmte Bilder, die keine Pferde, sondern alpine Motive zeigten. Wehmütig trat Lotte zu einem der Gemälde, um es genauer zu betrachten. Ein junger Mann war zu ­sehen, der auf einem Berggipfel stand und in die Sonne blinzelte. Der Name Gustav Jahn stand darunter. Sicher handelte es sich um den Künstler, der das Bild gemalt hatte. Die Bewunderung, die der Maler den Bergen entgegenbrachte, war förmlich zu spüren.

»Gnädige Frau, Sie wünschen?«

Lotte zuckte zusammen. Sie hatte die Verkäuferin nicht bemerkt, die geräuschlos hinter der Theke hervorgekommen und zu ihr getreten war. Noch nie hatte sie jemand mit »gnädige Frau« angesprochen. Die Verkäuferin musste glauben, sie sei eine Kundin.

»Ich würde gerne mit Frau Kauba sprechen«, antwortete Lotte.

Die Verkäuferin, eine groß gewachsene, schlanke Frau mit auffallend orangerotem Haar, das exakt dem Farbton von Lottes Haar entsprach, musterte sie ungeniert. Was sie sah, schien ihr zu verraten, dass sie doch keine Kundin vor sich hatte. Augenblicklich verfinsterte sich ihr Blick.

»Frau Kauba ist gerade im Lagerraum. Meine Kollegin und ich sind im Moment sehr beschäftigt. Sie sehen ja, wie voll das Geschäft ist«, sagte sie schnippisch und zeigte auf die wartenden Kunden, die in bequemen Ledersesseln in einer Ecke saßen und in Katalogen blätterten und Kaffee oder Tee aus kleinen Porzellantassen tranken. Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr freundlich, sondern gereizt. »Haben Sie einen Termin?«

»Nein«, gab Lotte zu. »Ich bin auf der Suche nach einer Stelle als Verkäuferin.«

»Frau Kauba sucht keine Verkäuferin. Sie hätten sich den Weg sparen können.«

Lotte wollte sich nicht einschüchtern lassen. Sie hatte nicht angenommen, dass es einfach werden würde, zur Besitzerin vorzudringen. Aber ganz sicher wollte sie das Geschäft nicht verlassen, ohne mit Mizzi Kauba gesprochen zu haben.

»Ich muss es trotzdem versuchen. Ich möchte auf sie warten«, sagte sie unbeirrt.

»Wie Sie meinen. Aber ich warne Sie, das kann dauern. Außerdem können Sie nicht hier im Geschäft bleiben. Das würde unsere Kundschaft verstören. Sie müssen vor dem ­Lokal warten.«

»Es regnet.« In Gedanken fügte Lotte gekränkt hinzu, dass sie noch nie jemanden verstört hatte. Unbehaglich blickte sie zum Fenster neben der Eingangstür. Der Himmel hatte sich noch mehr verfinstert, der Wind pfiff. Vor dem Geschäft war es ungemütlich kalt.

Die unfreundliche Verkäuferin zuckte mit den Schultern: »Bin ich für das Wetter zuständig?«

Obwohl ihre Gesichtszüge ebenmäßig waren und ihre Haut rein, konnte man sie nicht als hübsch bezeichnen. Es lagen Härte und Berechnung in ihren Augen, und ihre schmalen Mundwinkel zogen unzufrieden nach unten.

»Ich werde mich unsichtbar machen und irgendwo in einer Ecke warten.« Lotte versuchte ein gewinnendes Lächeln, das an der Rothaarigen abprallte.

»Hier können Sie auf keinen Fall stehen bleiben!« Ihr Blick fiel auf Lottes alten Lederkoffer. »Und dieses Ding ist eine Zumutung für die Augen unserer Kundschaft.«

Lotte betrachtete den Koffer. Er hatte ihrem Vater gehört und war aus widerstandsfähigem Leder gefertigt. Es war einer der wenige Gegenstände, die ihr von Walter Seidl geblieben waren. Statt einer Antwort biss sie sich auf die Zunge. In dem Moment rief die andere Verkäuferin nach der Rothaarigen.

»Mila, Frau Oberkommerzialrat Schöller braucht deine Beratung!«

Augenblicklich veränderte sich der Gesichtsausdruck der jungen Frau. Aber auch das strahlende Lächeln schaffte es nicht, sie sympathisch erscheinen zu lassen. Es wirkte wie eine Maske, die Kinder im Fasching aufsetzten. Mit einer energischen Drehung wandte sie sich von Lotte ab und ließ sie stehen. Die trat einen Schritt zurück zur Wand. In der Hoffnung, sie könnte in eines der wunderschönen Gemälde schlüpfen und sich so lange unsichtbar machen, bis Frau Kauba kam. Vorsichtig stellte sie den Koffer ab, schob ihn dicht zur Wand, damit er nicht im Weg war und niemand sich durch ihn belästigt fühlte. Ihr Unwohlsein wuchs mit jeder Minute, die verging. Aufmerksam beobachtete sie die Menschen an den Verkaufstheken. Hinter einem Tisch standen zwei Kunden und warteten, während die anderen immer noch in den breiten Ledersofas saßen. Mila, wie ihre Kollegin sie genannt hatte, ging auf eine Frau im Pelzmantel zu. Lotte hörte, wie sie zuckersüß nach deren Wünschen fragte.

Am Tisch neben Lotte entwickelte sich ein Verkaufsgespräch, das sie unfreiwillig mit anhörte.

»Ich weiß ganz sicher, dass Frau Kauba Ski fährt. Sie hat es mir selbst letzte Woche gesagt und mich hierhergelockt mit der Aussicht, die beste Beratung der Stadt zu bekommen.«

Mit einem Mal war Lottes Aufmerksamkeit geweckt. Hatte der Mann eben nach Skiern verlangt? Sie war doch in einem Reitsportgeschäft.

»Es tut mir furchtbar leid, ich fürchte, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen«, gab die Verkäuferin leise zu. Sie klang sehr verzweifelt. Auf ihrem kurzen, breiten Hals hatten sich nervöse rote Flecken gebildet.

»Was soll das heißen, Sie können mir nicht weiterhelfen? Führen Sie nun welche oder nicht?«

Hilfe suchend sah die Verkäuferin, eine kleine stämmige Frau mit einem ausladenden Busen, zu ihrer rothaarigen Kollegin. Aber die war mit einer Kundin beschäftigt, und wenn sie doch den verzweifelten Blick wahrnahm, so ignorierte sie ihn geflissentlich. So, als wäre sie froh darüber, nicht selbst in der misslichen Lage zu sein.

»Aber Sie wissen, was Skier sind?«, fragte der Mann zunehmend ungehalten.

Rasch nickte die Verkäuferin. »Zwei Bretter, die man sich an die Füße schnallt, um damit im Schnee zu fahren.« Ihre Antwort klang wie die Gedächtnisübung einer Volksschülerin.

Beinahe war Lotte versucht, »sehr gut« zu sagen. Die Frau mit dem rundlichen Gesicht und den rosigen Wangen tat ihr leid. Sie sollte etwas verkaufen, von dem sie offenkundig keine Ahnung hatte.

»Zeigen Sie mir die Skier, die Sie führen«, forderte der Kunde.

Die Verkäuferin tupfte mit einem weißen Stofftaschentuch, das sie aus ihrer Rocktasche zog, auf ihre glänzende Stirn. Erneut blickte sie Hilfe suchend zu der unfreundlichen Rothaarigen, aber die war nach wie vor in das Gespräch mit der Frau im Pelzmantel vertieft.

Mit einem unsicheren Lächeln drehte die Verkäuferin sich um. Sie bückte sich und zog eine besonders breite Schublade auf. Umständlich fädelte sie zwei lange Bretter heraus. Vorsichtig legte sie eines nach dem anderen auf die polierte Platte des Verkaufstischs vor sich. Der Kunde nahm einen Ski und stellte ihn neben sich. Das Brett war um einen ganzen Kopf länger als der Mann.

»Und Sie sind sich sicher, dass dieser Ski zu mir passt?«, erkundigte er sich.

Die Verkäuferin zuckte verzweifelt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte sie so leise, dass der Kunde sie kaum verstehen konnte.

»So reden Sie doch lauter!«, forderte er schroff.

Lotte schätzte die Frau auf Mitte dreißig. Sicher hatte sie noch nie in ihrem Leben auf Skiern gestanden. Aber selbst mit großer Anstrengung und all ihrer Fantasie konnte Lotte sich die rundliche Frau mit den ungelenken Bewegungen ebenso wenig auf einem Pferd vorstellen.

Mit den Fingerkuppen fuhr der Kunde über die Kanten des Skis.

»Brauche ich Spezialschuhe, oder reichen meine Winterschuhe aus?«

Die ohnehin rosige Gesichtsfarbe der Verkäuferin färbte sich dunkelrot. »Ich glaube, Sie können mit Ihren Winterschuhen in die Bindungen steigen, die später auf dem Ski befestigt werden.«

Lottes Blick glitt zu den Füßen des Mannes. Er trug glatt polierte Lederstiefel mit einem kleinen Absatz. Sie konnte einfach nicht anders und musste sich in das Gespräch einmischen.

»Die Sohle von Ihrem Schuh ist viel zu glatt und der Absatz zu hoch«, sagte sie. »Außerdem ist der Ski zu lang. Sind Sie Anfänger?«

Überrascht drehte der Kunde sich zu ihr. Er war ein Mann mittleren Alters. Unter seinem Mantel trug er die Uniform eines hochrangigen K.-u-k.-Soldaten. Sein Bart war kunstvoll geschnitten und zu modischen Schnecken gedreht.

»Es ist mein erster Urlaub in den Bergen.« Neugierig, ohne sie einordnen zu können, musterte er Lotte. »Kennen Sie sich mit dem Wintersport aus?«

»Ja«, entgegnete Lotte geradeheraus. »Wenn Sie zum ersten Mal auf Skiern stehen, sollten Sie ein kürzeres Modell nehmen. Die Bretter sind leichter zu kontrollieren. Außerdem verringert sich das Tempo, das Sie mit dem Stock nur bedingt beeinflussen können.«

»Ich will schneidig den Berg hinunterflitzen, schließlich werde ich in Begleitung einer sehr interessanten Dame reisen.« Der Mann räusperte sich diskret.

Lotte verkniff sich ein Grinsen. »Das kann ich gut verstehen, aber ich versichere Ihnen, wenn Sie diese Skier nehmen, werden Sie nicht lange darauf stehen, sondern schon nach wenigen Metern fallen und dann als lebender Schneeball talwärts kugeln. Das ist weder schneidig, noch wird es Ihrer Begleiterin imponieren.«

Die Verkäuferin hinter dem Tresen schnappte entsetzt nach Luft. Der Kunde riss erstaunt die Augen auf. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn aber wieder.

»Ich rate Ihnen zu einem Modell, das um mindestens dreißig Zentimeter kürzer ist. Außerdem empfehle ich Ihnen eine andere Bindung. Mathias Zdarsky hat eine Stahlsohlenbindung entwickelt, die ich Ihnen ans Herz lege. Sie ist für den alpinen Skilauf besser geeignet als die althergebrachten Modelle. Wenn Sie sich geschickt anstellen, können Sie sich am Ende einer Woche auf den Brettern halten.«

Noch während Lotte sprach, trat eine weitere Frau zu ihnen. Sie trug denselben dunklen Rock und die gestreifte Bluse wie die anderen Verkäuferinnen. An ihrer Brust steckte eine auffallende goldene Brosche mit einem wertvoll aussehenden violetten Stein. Ihr blondes Haar war zu einem akku­raten Knoten gebunden, ihr schmales Gesicht zeigte erste Falten rund um die Augen.

»Herr Oberstleutnant Gabner«, sagte sie freundlich. Die sanfte Stimme passte nicht zu dem strengen Blick. »Ich sehe, Sie wollen Winterurlaub machen!«

»Ja, Sie haben mich bei unserem letzten Treffen überzeugt. Ich habe mich dafür entschieden, das Skifahren auszuprobieren.« Er trat auf die schlanke Frau zu, ergriff ihre Hand und deutete einen Handkuss an.

»Das ist eine sehr gute Entscheidung. Das Skifahren ist eine wunderbare Sportart. Körperliche Ertüchtigung an der frischen Luft in den herrlichen Bergen. Ich bin sicher, der Skilauf hätte unsere viel zu früh verstorbene Kaiserin erfreut, Gott hab sie selig.«

»Gott schütze unseren Kaiser!« Der Oberstleutnant salutierte und hob eine Hand an die Stirn.

Auch die anderen murmelten ein »Gott schütze den Kaiser«. Dann entspannte der Oberstleutnant sich wieder und sagte: »Dank der erstklassigen Beratung Ihrer … Kundin?«

Lotte schüttelte den Kopf: »Ich bin hier, um mich für eine Stelle als Verkäuferin zu bewerben.«

Der Oberstleutnant lachte. »Na, Frau Kauba, da sollten Sie nicht lange überlegen, wenn Sie wirklich auf den Wintersport setzen wollen. Eine derart patente Person finden Sie so schnell nicht wieder. Ich nehme ein kürzeres Paar Skier, außerdem will ich diese neue Bindung von diesem Herrn …«

»Mathias Zdarsky«, ergänzte Lotte.

»Ja, genau. Das junge Fräulein hat mich überzeugt.«

Lotte errötete. Es dauerte einen Moment, bis die Information ihr Gehirn erreichte. Die kleine, drahtige Frau war Mizzi Kauba. Ihre grauen Augen ruhten auf Lotte. Es war unmöglich, zu erkennen, was sie dachte.

»Marie, zeig dem Herrn Oberstleutnant Gabner ein kürzeres Paar Ski.«

»Ja, natürlich!« Rasch drehte die Verkäuferin sich um, öffnete erneut die breite Schublade und verstaute die langen Holzbretter ebenso umständlich, wie sie sie zuvor herausgenommen hatte. Dann zog sie ein weiteres Fach auf und entnahm ihm ein kürzeres Paar.

»Sie suchen eine Anstellung?«, fragte Mizzi Kauba.

»Ja, ich habe Ihren Namen und Ihre Adresse von Maria Schwegel.«

Der Name der Wirtin ließ kein Wiedererkennen auf Mizzi Kaubas Gesicht erahnen. Sie schien sich weder an den Namen noch an das Gasthaus zu erinnern.

»Haben Sie Referenzen?«

Lotte schüttelte den Kopf.

»Aber Sie haben bereits als Verkäuferin gearbeitet?«

Wieder verneinte Lotte. Ihr sank das Herz. War es wirklich so wichtig, ein Empfehlungsschreiben vorzuweisen?

»Trotzdem wollen Sie bei mir arbeiten.«

»Ja, ich brauche eine Anstellung. Ich habe letzte Woche meinen Vater verloren, die Wohnung in Mürzzuschlag verkaufen müssen und stehe jetzt vor dem Nichts.«

»Was glauben Sie, wie oft ich ähnliche und noch viel traurigere Geschichten höre?«, fragte Mizzi Kauba ungerührt. »Jede Woche kommen Mädchen vom Land und wollen bei mir arbeiten. Ich kann Sie ohne Zeugnisse nicht einstellen.«

Lotte schien es, als würde sich der Raum drehen. In ihren Ohren surrte es. Ihr war unglaublich übel. Die Worte der dicken Frau im Zug kamen ihr wieder in den Sinn. »Wie stellen Sie sich das denn vor?« Unsicher schaute Lotte sich um. Im Geschäft war es plötzlich sehr still geworden. Es schien, als ruhte alle Aufmerksamkeit auf ihr. Mila, die rothaarige Verkäuferin, grinste böse. Ihr überheblicher Blick drückte Genugtuung aus.

Nun wandte der Oberstleutnant sich erneut Lotte zu. »Was halten Sie von diesem Ski?« Er hielt ihr ein deutlich kürzeres Brett entgegen.

»Der ist viel zu schmal. Er eignet sich nur zum Laufen im flachen oder leicht hügeligen Gelände«, erwiderte Lotte niedergeschlagen. »Diese Art des Sports wird vorwiegend in Norwegen praktiziert.«

»Dann zeigen Sie mir den idealen Anfängerski, mit dem ich mich vor der Dame nicht zur Witzfigur mache.«

Lotte wusste nicht, was sie tun sollte. Sie konnte ja nicht hinter den Verkaufstresen gehen und nach einem passenden Paar Skier suchen.

»Frau Marie wird sich um Sie kümmern, Herr Oberstleutnant.«

»Mit Verlaub, ich bin sicher, dass Frau Marie mir die passende Bekleidung zeigen wird, aber von den Brettern versteht sie nichts.«

Noch mehr dunkle Flecken bildeten sich auf dem Hals der Verkäuferin. Ihre Stirn glänzte, und sie richtete verlegen den Blick zu Boden. Wäre Lotte nicht selbst so verzweifelt gewesen, sie hätte Mitleid mit der Frau empfunden.

»Ich will von diesem Fräulein beraten werden«, bestand der Oberstleutnant. Er zwinkerte Lotte frech zu. Sollte sie beschämt wegschauen. Nein, sie hielt seinem Blick stand. Er wollte von ihr bedient werden, dafür musste sie sich nicht genieren.

»Marie, zeig uns ein Paar Skier aus der dritten Schublade«, verlangte Mizzi Kauba.

Sichtlich nervös zog die Verkäuferin eine der Leitern zu sich, stieg unsicher darauf, sodass Lotte für einen Moment Angst hatte, sie könnte herunterfallen. Aber dann öffnete Marie eine weitere Schublade. Sie war schwer, denn die Verkäuferin holte schnaufend einen Ski heraus und reichte ihn nach unten zu Mizzi Kauba, die ihn übernahm.

»Das ist der perfekte Ski für Anfänger«, sagte sie bestimmt. »Er ist etwas breiter, hat scharf geschliffene Kanten und ist nicht ganz so lang wie das erste Modell, das Sie angesehen haben.« Mizzi Kauba richtete ihren Blick auf Lotte. »Haben Sie dagegen etwas einzuwenden?« Ihre Stimme erinnerte Lotte an die ihres Vaters. Er hatte mit aufmüpfigen Schülern, von denen er grundsätzlich wusste, dass sie klug waren, sich aber schlecht benahmen, ähnlich gesprochen.

Langsam trat Lotte näher. Mizzi Kauba hatte ihr eine klare Absage erteilt, dennoch loderte immer noch eine kleine Flamme der Hoffnung in ihr. Mit dem Daumen ihrer rechten Hand strich sie über die Kanten des Skis.

»Ein erfahrener Tischler sollte noch einmal mit einem Hobel nachschleifen.«

Der Oberstleutnant lachte. »Das Mädel gefällt mir! Was darf so ein Ski kosten?«

Nun wurde Lotte heiß. Ihre Ohren glühten. Sie wusste, was man in Gloggnitz beim Tischlermeister Loibner zahlte. Aber sie hatte keine Ahnung, was ein Paar Skier in Wien in der Kaiserstraße kostete. Ratlos zuckte sie mit den Schultern. »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Ich habe noch nie Skier gekauft, ich bin bloß damit gefahren.« Das war nicht gelogen.

Nicht mehr ganz so erfreut verzog der Oberstleutnant den Mund zu einer Grimasse. »Also, Frau Kauba. Was verlangen Sie für die Bretter?«

Mizzi Kauba nannte eine Summe, über die der Oberstleutnant empört schnaufte, die er aber zu zahlen bereit war.

»Die Beratung bezüglich Bekleidung und Schuhe gebe ich in die erfahrenen Hände meiner Mitarbeiterin Frau ­Marie.« Mizzi Kauba lächelte freundlich und verabschiedete sich von ihrem Kunden. Sie kehrte ihm den Rücken zu, während Lotte zu ihrem Koffer zurückging, der bei den gerahmten Bildern stand.

Schweren Herzens hob Lotte ihn hoch, als sie Mizzi Kaubas leise Stimme an ihrem Ohr vernahm. »Lassen Sie den Koffer stehen und kommen Sie mit in mein Büro.« Auf der Stelle plumpste der schwere Lederkoffer mit einem dumpfen Knall auf den glatt polierten Holzboden.

3

Kaiserstraße

Wenig später saß Lotte in einem Büro, dessen Wände in einem freundlichen Pastellton gestrichen waren. Hohe Fenster sorgten wohl an sonnigen Tagen für ausreichend Tageslicht. Jetzt waren es elektrische Lampen mit einfachen Schirmen aus milchigem Glas, die den Raum in eine heimelige Atmosphäre tauchten. Die dunklen Möbel aus poliertem Kirschholz stammten aus der Wiener Werkstätte. Der kunstvoll verarbeitete Schreibtisch passte zu den Stühlen, der Anrichte an der Wand und der Deckenleuchte. Sogar die Kaffee­kanne, die sich auf einem Beistelltischchen befand, zierte dasselbe Muster. Ein Ornament, das an griechische Tempel erinnerte.

Mizzi Kauba stand daneben und schenkte duftenden Kaffee in zwei Tassen. »Milch und Zucker?«, fragte sie.

»Ja, bitte.« Lotte hatte immer noch ihren Mantel an. Die Handschuhe hatte sie ausgezogen, und die Mütze lag in ihrem Schoß. Hoffentlich hatten sich ihre orangeroten ­Locken nicht aus dem Knoten gelöst. Besonders bei feuchtem Wetter neigten sie dazu, ein von Lotte unerwünschtes Eigenleben zu entwickeln.

Mizzi Kauba reichte ihr eine Tasse Milchkaffee. Zwei Stück Würfelzucker lagen auf dem Unterteller, dann setzte sie sich hinter ihren imposanten Schreibtisch. Eine Weile sagte sie gar nichts, sondern rührte nachdenklich in ihrem Kaffee. Die Stille hielt so lange, bis Lotte es kaum noch aushalten konnte. Endlich eröffnete Mizzi Kauba das Gespräch.

»Sie sind also auf der Suche nach einer Stelle als Verkäuferin. Können Sie lesen, schreiben und rechnen?«

»Selbstverständlich«, antwortete Lotte rasch. »Ich habe acht Jahre lang die Schule besucht.«

»Und was haben Sie danach gemacht?«

»Den Haushalt für meinen Vater geführt. Er war seit meiner Geburt Witwer und hat als Lehrer an der Volksschule in Mürzzuschlag unterrichtet.«

»Sie selbst haben nie daran gedacht, den Beruf einer Lehrerin zu ergreifen?«

Lotte neigte den Kopf zur Seite. Tatsächlich hatte ihr Vater ein paarmal versucht, sie zu überreden, in seine Fußstapfen zu treten. Aber Lotte hatte sich nie vorstellen können, Kinder mit Noten zu beurteilen. Niemals hätte sie es geschafft, schwache Schüler in die Schublade der Versager zu stecken, statt sie mit Worten dazu zu ermutigen, an ihren Stärken zu arbeiten. Außerdem gefiel ihr die Vorstellung von einem Leben ohne eigene Kinder nicht. Insgeheim hoffte Lotte darauf, eines Tages jemanden kennenzulernen, mit dem sie eine Familie gründen und alt werden wollte. Als Lehrerin wäre ihr dieser Weg versagt.

»Nein«, sagte sie ehrlich. »Aber ich habe im Winter ein paar von Vaters Schülern im Skilaufen unterrichtet.«

»Sie haben Kindern das Skifahren beigebracht?«

»Ja, mein Vater war der Überzeugung gewesen, dass Kinder besser lernen, wenn sie sich ausreichend bewegen. Hinter der Schule befand sich ein kleiner Hang, den haben wir genutzt.« Lotte verschwieg, dass einige der Eltern es gar nicht gern gesehen hatten, wie ihre Kinder mit Skiern an den Füßen gemeinsam mit einer jungen Frau den Nachmittag verbrachten. Aber sie hatten es nicht gewagt, sich gegen den Willen des Lehrers aufzulehnen. Nur ein paar Bauern hatten ihrem Nachwuchs die Teilnahme verboten, aber diese Kinder waren auch zum ganz normalen Unterricht nur selten erschienen.

Mizzi Kauba nahm einen Schluck ihres Kaffees und verzog angewidert den Mund. Rasch stand sie auf, holte die Zuckerdose und rührte drei weitere Stück Zucker in das Getränk. Lotte fand es erstaunlich, dass der Löffel in der Flüssigkeit nicht stecken blieb.

»Wie steht es mit Ihren Kenntnissen in der Buchhaltung?«

»Davon habe ich keine Ahnung«, gab Lotte niedergeschlagen zu.

»Wie viel ist 23 mal 8 plus 419 und minus 184?«

Lotte konzentrierte sich auf die Anrichte hinter Mizzi Kauba. Zum Glück gehörte das Kopfrechnen zu einer ihrer Stärken. Sie zählte in Gedanken: 184… 603… »419«, sagte sie.

Mizzi Kauba nickte. Zum ersten Mal glaubte Lotte so etwas wie Anerkennung in ihrem schmalen Gesicht zu erkennen.

»Seit wann können Sie Ski fahren?«

»Mein Vater hat mich auf die Bretter gestellt, als ich fünf war. Wir waren im Winter gemeinsam Ski fahren und im Sommer bergsteigen.«

Wieder war es Lotte ein Rätsel, was hinter Mizzi Kaubas hoher Stirn vorging.

»Welche Berge haben Sie bestiegen?«

»Den Schneeberg, die Rax und den Ötscher. Aber wir ­waren auch im Gesäuse und …«

Weiter kam sie nicht, denn es klopfte an der Tür. Ohne auf Antwort zu warten, wurde sie geöffnet. Ein hochgewachsener Mann im eleganten Anzug trat ein. Mit einem modern geschnittenen Vollbart versuchte er wohl, sein fliehendes Kinn zu verbergen. Er wirkte deutlich jugendlicher als Mizzi Kauba. Überrascht hob er die dichten Augenbrauen.

»Entschuldige, ich wusste nicht, dass du beschäftigt bist.«

»Ich führe gerade ein Einstellungsgespräch.«

Hatte Lotte sich eben verhört, oder hatte Mizzi Kauba wirklich »Einstellungsgespräch« gesagt? Das würde bedeuten, dass Frau Kauba es in Betracht zog, ihr eine Stelle als Verkäuferin anzubieten. Am liebsten hätte Lotte vor Freude laut aufgeschrien. Stattdessen hörte sie den Mann sagen: »Ich wusste nicht, dass wir eine Angestellte suchen.«

Er trat zum Schreibtisch, beugte sich über Mizzi Kauba und drückte ihr einen Kuss aufs blonde Haar. Die Geste wirkte emotionslos und wurde von Mizzi Kauba ebenso entgegengenommen.

»Das wusste ich bis vor einer Stunde auch nicht«, sagte sie. Zum ersten Mal, seit Lotte sie kennengelernt hatte, lächelte sie. Plötzlich wirkte ihr kantiges Gesicht weicher.

»Ich denke, dass Fräulein …«, sie sah Lotte fragend an.

»Seidl. Mein Name ist Charlotte Seidl. Aber man nennt mich Lotte.«

»Ich bin sicher, dass Fräulein Lotte hervorragend zu uns passen wird.« Mizzi Kaubas Blick fiel auf die Tür, die weit offen stand.

»Wir müssen die Bürotür reparieren lassen«, stellte sie verärgert fest. »Es kann nicht sein, dass man sie jedes Mal dreimal schließen muss, bis sie auch wirklich zu ist.«

»Ich habe den Tischler bereits verständigt.« Der Mann ging zur Tür und drückte sie gewaltvoll zu. Er zog an der Klinke und grinste zufrieden. »Na, bitte. Geht ja.«

»Ich will trotzdem, dass jemand kommt und danach sieht.«

Wortlos kehrte der Mann zurück zum Schreibtisch.

»Ich habe vor, in Zukunft mein Augenmerk auf den Wintersport zu legen, und da brauche ich dringend eine fachkundige Angestellte.« Mizzi Kauba kehrte zum Einstellungsgespräch zurück.

»Hast du diese verrückte Idee immer noch nicht aufgegeben?«

Die beiden duzten sich. Lotte nahm an, dass es sich um Mizzi Kaubas Ehemann handelte.

»Skifahren ist keine verrückte Idee, sondern der Sport der Zukunft.«

Der Mann seufzte laut und verdrehte die Augen.

»Wir müssen über dieses Vorhaben noch einmal ausführlich reden.«

»Wir haben bereits darüber geredet.« In Mizzi ­Kaubas Stimme lag eine Endgültigkeit, die dafür sorgte, dass ihr Mann verstummte. Die beiden sahen sich schweigend an. Schließlich zuckte Herr Kauba mit den Schultern und meinte: »Du bist die Chefin.«

»Ja, das bin ich, und als solche gebe ich Ihnen, Fräulein Lotte, eine Anstellung als Verkäuferin.« Frau Kauba lächelte.

Es dauerte, bis Lotte begriff, dass sie sich entspannen konnte. Sie fühlte sich benommen vor Glück. Mit zitternder Hand stellte sie den kalt gewordenen Kaffee auf dem Beistelltischchen ab. Die Tasse wackelte scheppernd auf dem Teller.

»Vielen, vielen Dank«, platzte sie heraus. »Ich werde Sie ganz sicher nicht enttäuschen.«

»Wann können Sie beginnen?«

»Jetzt gleich.«

Mizzi Kauba hielt ihr abwehrend die Hände entgegen. »Immer langsam, meine Liebe.«

»Brauchst du mich hier? Oder regelst du die Angelegenheit allein?« Herr Kauba schien sein Interesse an der Unterhaltung verloren zu haben.

»Ich komme gut allein zurecht«, sagte Mizzi Kauba. Ihr Lächeln war wieder verschwunden.

Herr Kauba holte eine Taschenuhr aus seiner Weste und klappte sie auf. »Ich habe in einer Stunde einen Termin beim Schneider.«

»Bitte vergiss nicht, nach den Schnittmustern für die neue Sommerkollektion zu fragen«, erinnerte Mizzi Kauba ihn.

»Werde ich nicht.« Er wandte sich an Lotte. »Wo werden Sie wohnen?«

Beschämt knetete Lotte ihre Hände. Sie hatte diese Frage befürchtet.

»Ich muss mir noch ein Zimmer suchen.«

»Nun, das kann dauern«, sagte er. »Es wird also noch ein Weilchen vergehen, ehe wir Sie hier begrüßen dürfen.«

»Fräulein Lotte kann sich das Zimmer mit Klara teilen.«

»Mit Klara?« Herr Kauba, der bereits auf dem Weg zur Tür war, hielt in seiner Bewegung inne. »Das kannst du nicht machen, Mizzi. Klara wohnt seit Jahren in dem Mansardenzimmer.«

»Ich weiß, wo Klara Horvath wohnt, schließlich bin ich die Besitzerin dieses Hauses. Deshalb entscheide ich, wer hier ein- oder auszieht.«

Herrn Kaubas buschige Augenbrauen zogen sich zusammen, und Lotte rechnete mit Protest, aber er schien seinen Ärger herunterzuschlucken und wiederholte: »Du bist die Chefin.«

»Ja, das bin ich.« Etwas entgegenkommender fügte Mizzi Kauba hinzu: »Klara ist eine umgängliche Frau, sie wird sich mit einer neuen Mitbewohnerin arrangieren.«

Herr Kauba öffnete den Mund zu einer Erwiderung, überlegte es sich aber anders und sagte: »Ich muss jetzt gehen!« Er deutete eine winzige Verbeugung an, winkte Lotte und seiner Frau zu und verließ das Büro. Die Tür, die er hinter sich schloss, ging sofort wieder auf.

»Ich werde mich selbst um einen Tischler bemühen!« Mizzi Kauba nahm einen letzten Schluck aus ihrer Kaffeetasse.

»Das war mein Mann, Franz Kauba. Sie werden ihm nicht oft über den Weg laufen. Für gewöhnlich meidet er das Geschäft und verbringt seine Zeit beim Polo. Einem Reitsport aus England. Er ist der Prokurator des Unternehmens, die Besitzerin bin ich.«

In Gedanken fügte Lotte an, dass dieser Umstand im Gespräch nicht zu überhören gewesen war, aber sie hütete sich davor, ihre Beobachtung zu kommentieren.

»Ich glaube, Sie haben Klara Horvath noch nicht kennengelernt. Sie hat heute ihren freien Nachmittag.«

Lotte war erleichtert, dass die unfreundliche Rothaarige nicht die Frau war, die man dazu zwingen würde, sich mit ihr ein Zimmer zu teilen.

»Morgen beginnt Ihr Probemonat. Danach sehen wir weiter. Während des Probemonats erhalten Sie nur ein Drittel Ihres Gehalts. Wenn Sie sich bewähren, bekommen Sie eine feste Anstellung.«

»Vielen, vielen Dank!«

»Machen Sie sich auf eine anstrengende Zeit gefasst«, sagte Frau Kauba streng. Jede Freundlichkeit war nun aus ihrer Stimme verschwunden. »Ich selbst arbeite vierzehn Stunden pro Tag an sieben Tagen die Woche. Ich schone mich selbst nicht und erwarte von meinen Angestellten nicht weniger als den vollen Einsatz.«

»Ich werde mein Bestes geben.« Lotte hätte allen Bedingungen zugestimmt. Bloß um eine Chance zu erhalten.

»Die Sonntage sind frei, nach dem Probemonat steht Ihnen alle zwei Wochen ein arbeitsfreier Nachmittag zu.«

Lotte nickte.

»Bert, unser Lehrling, wird Sie in die Kammer bringen, die Sie sich mit Fräulein Klara teilen. Es gibt dort keine Elektrizität und auch kein fließendes Wasser. Dafür verlange ich lächerlich wenig Miete. Sie haben heute Ihr großes Los gezogen.«

»Ja, das habe ich. Vielen Dank!«

4

Kaiserstraße

Bert, der Lehrling des Unternehmens, ein Bursche, der nicht älter als dreizehn war und so tat, als wäre er der Besitzer des Geschäfts, brachte Lotte auf den Dachboden des Gebäudes.

»Hier wohnt Klara«, erklärte er und zeigte auf eine niedrige Tür am Ende des unbeleuchteten, dunklen Gangs. »Die Kammer hat kein Schloss. Es ist also immer offen und du kommst problemlos rein.«

Lotte gefiel die Vorstellung nicht, zukünftig in einem Zimmer zu wohnen, das man nicht zusperren konnte. Aber sie hatte keine Wahl, also schob sie den Gedanken beiseite.

»Außerdem lagern in einem der Räume neben der Kammer die Möbel der Vorbesitzer. Früher hat das Haus einem Hutmacher gehört. Ich glaube, dass es hier immer noch eine kaputte Nähmaschine gibt. Es wird behauptet, dass die verstorbene Hutmacherin sich in Vollmondnächten an die Nähmaschine setzt und stundenlang näht, dabei weint und singt sie. Sie beklagt ihren verstorbenen Mann.«

Lotte blieb stehen. Sie setzte ihren Koffer ab und starrte Bert misstrauisch an. »Ich glaube dir kein Wort.«

Der schlaksige Junge, dessen Arme und Beine zu lang für seinen Körper zu sein schienen, zuckte mit den knochigen Schultern. Sein Gesicht war von roten Pusteln übersät, sein strähniges Haar hing ihm unfrisiert in die Stirn.

»Mir egal«, sagte er. »Wirst schon sehen, dass die Maschine nachts knattert. Aber beschwer dich nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte.« Er drehte sich um und lief zurück, während er Lotte allein in der Dunkelheit ohne Lampe zurückließ.

Lotte starrte der kleiner werdenden Flamme in seiner Laterne hinterher und stellte erleichtert fest, dass die Finsternis nicht alles schluckte. Je länger ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, umso mehr konnte sie von der Umgebung erkennen. Zum Glück war das Licht zu schwach, um die fetten Spinnen, die in den Ecken des zugigen Korridors hingen, zu sehen. Es reichte, dass Lotte sie dort vermutete. Sie berührte mit der linken Hand die Wand, während ihre Rechte den schweren Koffer trug. Schritt für Schritt tastete sie sich vorwärts. Über ihr knarrte es im Gebälk. Ein leichter Windhauch blies ihr entgegen, trotzdem fror Lotte nicht. Es war trocken, was sie als gutes Zeichen wertete, denn es bedeutete, dass das Dach dicht war. Die Luft roch nach Holz, Staub und Mäusepisse. Am Ende des Gangs gelangte sie an eine niedrige Tür. Vergeblich griff Lotte nach einer Klinke. Wie sollte sie in das Zimmer gelangen?

Vorsichtig stellte sie den Koffer neben sich ab und fuhr mit den Fingern über die raue Holztür. Auf Höhe ihres Gesichts spürte sie eine Klinke aus kaltem Metall. Sie drückte sie nieder, und genau wie Bert gesagt hatte, ließ sich die Tür problemlos öffnen. Mit einem unglaublich lauten Quietschen stieß Lotte sie auf. Es beruhigte sie, dass ein Einbrecher nachts nicht geräuschlos in die Kammer eindringen und im Schlaf über sie herfallen könnte.

Mit demselben lauten Quietschen schloss Lotte die Tür hinter sich wieder. Sie sah sich um. Die Kammer war winzig. Den meisten Platz nahm ein breites Bett ein. Kariertes Bettzeug lag ordentlich gefaltet am Kopfende. Die ­Matratze darauf bot die einzige Schlafmöglichkeit im Raum. Ob Lotte auf dem Boden übernachten würde? Sie blickte zu ihren Füßen. Sicher waren die hölzernen Bretter hart und eiskalt. An der Wand gegenüber vom Bett standen ein schmaler Kasten, ein Waschtisch mit einer weißen, abgeschlagenen Waschschüssel und einem Krug sowie eine Kommode mit einem trüben Spiegel und einem Hocker davor. Ein winziges Fenster führte in einen ruhigen Innenhof. Lotte schob ihren ­Koffer zur Wand und trat ans Fenster. Der Wind hatte sich gelegt und der Regen aufgehört. Zwischen zwei kahlen Bäumen sorgte eine Gaslaterne für trübes Licht, das bis in die Kammer drang. Lotte drehte sich wieder um. Nun verstand sie Franz Kaubas Reaktion von vorhin. Mizzi Kauba war zwar die Besitzerin des Hauses, aber wusste sie, wie winzig der Raum war?

Müde ließ sich Lotte auf den Hocker sinken. Das Möbelstück gab unter ihr ein ächzendes Geräusch von sich. Natürlich wäre es bequemer, auf dem Bett zu warten, aber das kam ihr zu intim vor. Auch auf dem Hocker fühlte sie sich wie ein ungebetener Eindringling. So erleichtert sie war, nicht auf der Straße zu stehen, so falsch erschien es ihr, hier auf eine Frau zu warten, die keine Ahnung davon hatte, dass sie ihr Reich heute Nacht teilen musste.

Am Fußende des Betts entdeckte Lotte ein leeres Kohlebecken. Jetzt erst fiel ihr auf, wie kalt es in der Kammer war. Sie zog den Mantel fester um ihren Körper und verschränkte die Arme vor der Brust. Lottes Zittern lag nicht allein an der Kälte, sondern auch an ihrer wachsenden Nervosität und ihrer langsam einsetzenden Müdigkeit. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Kommode und schloss für einen Moment die Augen. Heute Morgen war sie in Mürzzuschlag aufgewacht, jetzt saß sie in Wien. Sie hatte eine Anstellung gefunden und ein Dach über dem Kopf. Der schier endlos lange Tag zog noch einmal an ihrem inneren Auge vorbei. Mit einem Mal überkam sie eine bleierne Schwere. Die Erschöpfung breitete sich in ihrem Körper aus, und sie spürte, wie die winzige Kammer um sie herum in weite Ferne rückte.

Lotte hielt das laute Quietschen einer Tür für einen Teil ihres Traums. Sie schreckte erst hoch, als eine schmale Hand sich auf ihre Schulter legte und sie sanft rüttelte.

»Hallo«, sagte eine leise Stimme.

Auf der Stelle riss Lotte die Augen auf und sah in ein ovales Gesicht mit spitzem Kinn und mandelförmigen Augen. Es dauerte, bis sie sich wieder daran erinnern konnte, wo sie war.

»Ich bin Klara Horvath.« Die junge Frau richtete sich auf, zog eine Nadel aus ihrem Hut und nahm ihn vom Kopf, um ihn an einen Haken an der Tür zu hängen. Sie wandte sich wieder Lotte zu. »Frau Kauba hat mir gesagt, dass ich ab jetzt eine Mitbewohnerin haben werde.« Während sie sprach, schlüpfte sie aus dem Mantel und hängte ihn zu ihrem Hut. Sie war weder erbost noch verärgert. Vielmehr vermittelte sie den Eindruck, dass es für sie das Natürlichste der Welt war, ab nun mit Lotte zusammenzuleben.

Lottes Gehirn fühlte sich müde und immer noch träge an. Es fiel ihr schwer, klar zu denken.

»Wie heißt du?«, wollte Klara wissen. Sie stand vor Lottes Koffer. »Darf ich den zur Seite ziehen?«

»Ja, natürlich. Ich heiße Lotte Seidl.«

Klara schob den Koffer mit beiden Händen ans Ende des Betts.

»Himmel, ist der schwer«, schnaufte sie. »Hast du da Steine drin?«

»Ein paar Bücher«, gab Lotte zu. Sie hatte sich nicht von allen trennen können, die ihr Vater ihr hinterlassen hatte.

»Fürs Lesen wirst du in Zukunft keine Zeit haben.« Klara ließ sich auf die Kante des Betts plumpsen. »Manchmal müssen wir sieben Tage die Woche für Frau Kauba arbeiten. Offiziell ist der Sonntag zwar frei, aber manchmal findet sie trotzdem irgendeine Aufgabe. Freie Nachmittage gibt es erst nach dem Probemonat und auch dann nur alle vierzehn Tage mal einen.«

Lotte nickte wissend.

»Und wenn die Chefin keine Arbeit für uns findet, dann sucht Mila etwas. Sie hat schon für Frau Kaubas Vater, Herrn Langer, gearbeitet und glaubt, dass sie sich deshalb mehr Rechte herausnehmen kann als alle anderen. Natürlich nur, wenn Frau Kauba nicht da ist. Manchmal führt sich Mila hinter dem Rücken der Chefin wie ihre Stellvertreterin auf. Sie ist eine furchtbare Angeberin. Ich gebe dir den guten Ratschlag, geh ihr aus dem Weg, und wenn sich das nicht vermeiden lässt, dann nimm sie nicht ernst.«

Dass Klara die rothaarige Mila nicht ausstehen konnte, machte sie in Lottes Augen noch sympathischer.

»Warum bist du nach Wien gekommen?«

Lotte fasste in wenigen Worten ihre Erlebnisse der letzten Wochen zusammen.

»Oh, das tut mir leid wegen deinem Vater«, sagte Klara auf eine schlichte, aber einfühlsame Art. Lotte fühlte sich ernst genommen.