Love Crash - Andreas Suchanek - E-Book

Love Crash E-Book

Andreas Suchanek

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Beschreibung

Julie hat es geschafft. Ihr Traum vom Studium in New York hat sich erfüllt. Sie weiß: Das hier ist der Beginn einer großartigen Zukunft. Leider hat sie nicht mit Luca gerechnet, der sie mit Augen aus flüssigem Silber und seinem traurigen Blick um den Verstand bringt. Doch Luca verbirgt ein Geheimnis. Als Julie versucht, das Rätsel um ihn zu lösen, wird sie in einen Strudel aus Ereignissen gezogen, der ihren Traum vom Neubeginn zu zerstören droht. Von den Straßen New Yorks bis zu den verschneiten Rocky Mountains in Colorado. Zwei Schicksale, ein dunkles Geheimnis, ein Neubeginn.

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Seitenzahl: 370

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Love Crash

DER TRAUM VOM NEUBEGINN

ANDREAS SUCHANEK

Copyright © 2022 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Jenny Winterscheid

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlagdesign: Schattmaier Design

Bildmaterial: Shutterstock

978-3-95991-582-3

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

1. Freundschaft

Prolog

1. Krankenbesuch

2. Ihr habt was?!

3. Wir sind für dich da

4. Freundlich ist anders

5. Wahrheitssuche

6. Antworten

7. Der seltsame Fall des Luca Jackson

8. Fahrt durch die Nacht

9. Ein verregneter Sonntag

10. Kaffeestunde mit Überraschung

11. Einfach leben

12. Die Leichtigkeit des Seins

13. Ein Sturm zieht auf

14. Konfrontation

15. Abschied

2. Trümmer

16. Heimkehr

17. Wie geht es weiter?

18. Etwas, was du wissen musst

19. Lucas Wahrheit

20. Sturmnacht

21. Noch einmal mit Gefühl

22. Suche im Schnee

23. Die Weihnachtshexe

24. Eine andere Welt

25. Melissa im Einsatz

26. Auf begangene Fehler …

3. Neubeginn

27. Die ersten Schritte

28. Alles oder nichts

29. Du kannst alles haben

30. Gegen die Zeit

31. Wunden der Vergangenheit

32. Lügen

33. Spiel, Satz und Sieg

Epilog

Drachenpost

1. Freundschaft

Prolog

Die Fliege war schuld.

Nur für eine Sekunde war Julie abgelenkt, folgte dem winzigen Tier mit ihrem Blick, obwohl sie auf einem Fahrrad saß, mit dem zwischen Autos und Bordstein entlangraste.

Und da stand er.

Direkt vor dem Coffeeshop an der 129. Straße, einen Pappbecher in der Hand. Seine Augen schienen in der aufgehenden Sonne zu leuchten wie flüssiges Quecksilber, in das jemand goldene Sprenkel gegossen hatte. Das braune Haar war so zerzaust, als sei er direkt aus dem Bett gefallen, das Shirt spannte über seinen Schultern. Um die linke verlief ein hellbrauner Gurt, an dem eine Ledertasche auf Hüfthöhe hing.

Ihre Blicke trafen sich, und die Welt stand still.

Das Sonnenlicht fiel auf die Ladenfront. Hinter den deckenhohen Fenstern unterhielten sich Studenten. Einige kannte sie aus gemeinsamen Vorlesungen, sie warteten in der Schlange, um sich ihren morgendlichen Kaffee abzuholen, und gähnten bei vorgehaltener Hand. Auf dem Gehsteig eilten Anzugträger an Mechanikern vorbei, schoben Nannys die Kinderwagen mit den ihnen anvertrauten Sprösslingen durch die dichte Menge.

Das typische alltägliche Treiben, wie Julie es seit gut drei Wochen kannte und auf dem Weg zum College erlebte.

Die Augen des unbekannten Mannes weiteten sich, eine Andeutung von Panik erschien auf seinem Gesicht. Wie in Zeitlupe öffnete er die Hand, der Kaffeebecher fiel auf den Bordstein. Der Deckel löste sich, schwarzer Kaffee verteilte sich in Spritzern auf dem Boden. Sein Arm zuckte in die Höhe. Der Unbekannte rief etwas … wollte etwas rufen. In ihre Richtung?

Noch während sie darüber nachdachte, kehrte die Wirklichkeit abrupt zurück, die Magie des Augenblicks verschwand. Julie richtete den Blick wieder auf die Straße vor sich, doch es war zu spät.

Lautes Hupen erklang, Bremsen quietschten, Menschen schrien. Oben wurde zu unten und Julies Gesicht knallte gegen den kalten Bordstein.

Wieso lag sie auf dem Boden?

Wo war ihr Fahrrad?

Schmerz raste durch ihren Körper, sie hustete und spuckte Blut.

Mit geweiteten Augen, in denen das Entsetzen brannte wie glühende Lava, sah er auf sie herab. Er fiel förmlich auf die Knie, betastete sanft ihre Wange. »Bleib liegen. Nicht bewegen! Ruft einen Krankenwagen!«

Das war so süß von ihm. Aus der Nähe leuchteten die goldenen Sprenkel noch stärker. Sein Atem roch nach Minze, der arme Kerl hatte nicht einmal von seinem Kaffee trinken können, bevor dieser sich auf dem Boden verteilt hatte.

»Keine Angst, mir geht’s gut.« Wieso machte er sich solche Sorgen? Seine Hände zitterten. »Ich bin Julie. Die Fliege war schuld.«

Lippen bewegten sich, doch die Worte ergaben keinerlei Sinn. Menschen kamen herbeigeeilt, Smartphone-Kameras wurden auf sie gerichtet. Irgendetwas war nicht in Ordnung, aber Julie wusste nicht was. Ihre Gedanken flossen zäh wie Ahornsirup durch ihren Schädel.

Dann wurde der Himmel über ihr weiß, als hätte jemand ein Bild überbelichtet.

Ihr Bewusstsein erlosch.

KAPITEL1

Krankenbesuch

Julie blinzelte müde.

Endlich hatte sie ein paar Stunden Ruhe gefunden, wenn auch nur dank einer ordentlichen Dosis Schmerzmittel. Ihr gesamter Oberkörper war von Hämatomen übersät, die Haut stellenweise abgeschürft. In Filmen fügte der Arzt meist Worte wie »Glück im Unglück gehabt« hinzu, doch das wurde den Schmerzen nicht annähernd gerecht. Beim Aufprall auf dem Bordsteinpflaster war das obere Lippenbändchen zerfetzt worden, weshalb sie Blut gespuckt hatte. Glücklicherweise gab es keine inneren Verletzungen.

Sie lag in einem Zweibettzimmer. Andere hatten da weniger Glück, Vierbettzimmer waren der Standard. Ihre Nachbarin war eine ältere Dame mit grauen Haaren, die sich während des Schlafs unter ihrem Kopf ausbreiteten wie die Flügel eines Engels. Sie schlief fast ohne Unterbrechung. Selbst Julies abruptes Stöhnen, jedes Mal, wenn sie aus dem Halbschlaf aufschreckte, schien nicht zu ihr durchzudringen.

Vor dem Fenster graute bereits der Morgen. In Kürze würde der Arzt vorbeischauen, der sie in der Notaufnahme mit grimmigem Blick in Empfang genommen hatte. Viel zu oft und zu fest hatte er auf ihrem Körper herumgedrückt.

Ja verdammt, es tat weh!

Nein, sie hatte nichts getrunken!

Ja, sie kannte das heutige Datum und ihren Namen!

Julies Gedanken wurden von einer Tasche unterbrochen, die quer durchs Zimmer segelte, vom anvisierten Besucherstuhl abprallte und auf den Boden knallte. Der Inhalt verteilte sich überall – Lippenstift, Make-up, ein Deospray und die aus Österreich importierten Mozartkugeln, die ihre Freundin seit einer Urlaubsreise nach Wien abgöttisch liebte.

»Mist«, kommentierte Melissa. »Von Weitem sah der Stuhl größer aus.«

»Mel.« Julie wollte sich aufrecht hinsetzen, aber die Schmerzen ließen es nicht zu.

»Als ich zu spät kam und du Oberstreberin nicht in der Vorlesung warst, dachte ich mir schon, dass da was nicht stimmt.« Sie eilte herbei und betrachtete Julie von oben bis unten. »Keine Umarmung?«

»Eher nicht.«

»Schon klar.« Sie klaubte die Gegenstände vom Boden auf, stopfte alles zurück in die Tasche und stellte diese sorgfältig neben den Besucherstuhl, nur um dann selbst darauf Platz zu nehmen. »Ich will jedes Detail wissen.«

»Habe ich viel Stoff verpasst?«

Melissa verdrehte die Augen und kringelte sich eine ihrer dunklen Locken um den Finger. Ihren Schmollmund verzog sie ärgerlich, und selbst mit dieser Grimasse sah sie umwerfend aus. Es hätte Julie nicht gewundert, wenn hinter ihrer Freundin etliche Krankenpfleger gegen die nächstbeste Tür gedonnert wären, weil sie ihr nachstarrten. Die Erinnerung an den armen Hilfsdozenten, der wegen Melissa die Treppe hinuntergestürzt war und seitdem mit Krücken durch das College irrte, verdrängte sie schnell. Lachen schmerzte.

»Du wurdest gerade von einem Truck überrollt …«, kam es dozierend.

»Von einem Auto angefahren«, korrigierte Julie, doch Melissa ließ sich nicht beirren.

»… es ist ein Wunder, dass du überlebt hast. Und deine erste Frage betrifft die Vorlesungen?! Jules, entspann dich wenigstens hier im Krankenhaus. Sonst bekommst du noch einen Herzinfarkt. Haha.« Ein panischer Blick auf das Nachbarbett folgte. »Sie hat doch keinen?«

»Nicht dass ich wüsste.« Genau genommen hatte Julie nicht den Hauch einer Ahnung.

»Puh, das wäre ja mal ein Fettnapf gewesen, was? Aber zurück zu dir.« Sie verschränkte ihre Arme, feuerte einen bösen Blick ab. »Sobald du hier raus bist, schleife ich dich auf eine Party. Du. Musst. Entspannen.«

Womit sie vermutlich recht hatte. Doch noch immer kam Julie New York vor wie ein wahr gewordener Traum. Ein Jahr lang hatte sie mit drei Jobs parallel jongliert, um genug Geld für das erste Semester zusammenzusparen. Ihre Hoffnung war, dass die Noten in den Klausuren ausreichten, damit sie eines der begehrten Wentworth-Stipendien erhielt. Andernfalls würde es kein zweites Semester für sie geben. Mit dem Job in Beckys Café kam sie gerade so über die Runden, schließlich musste sie auch die Miete irgendwie aufbringen. Außerhalb des Campus zu wohnen war ungewöhnlich, doch in ihrem Fall galten besondere Umstände. Einer dieser Umstände saß anklagend vor ihr.

Zusammen mit Melissa und Cullen teilte sie sich eine kleine WG, die sie sich nur leisten konnten, weil die Vermieterin ein Herz für Studenten hatte und entsprechend wenig Miete verlangte.

»Jetzt hast du wieder diesen Blick drauf«, meldete sich ihre Freundin prompt zu Wort. »Als wärst du Bambi und jemand hätte dich getreten. Du willst nur, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme.« Sie seufzte. »Ich habe brav jede Vorlesung besucht, was nicht einmal ansatzweise meiner Natur entspricht, und alles mitgeschrieben. Die Unterlagen kannst du dir kopieren.«

Julie atmete auf. »Du bist die Beste.«

»Ich weiß.«

Ein hochgewachsener Student betrat den Raum. Missbilligend betrachtete er Julie. Obwohl er breit war wie ein Schrank auf zwei Beinen und mit dem markanten Gesicht und dem dichten blonden Haar wie einem Modelkatalog entsprungen wirkte, konnte sie nur kichern.

»Nicht witzig, Jules«, stellte Cullen klar.

Er trug einen gewaltigen Eisbecher und zwei Löffel in ihre Richtung. Ohne lange zu diskutieren, schob er sie sanft beiseite und legte sich neben sie auf das Bett.

»Strawberry-Cheesecake?« Sie konnte die Beschriftung der Eispackung nicht richtig erkennen.

»Was sonst?«

Cullen drückte ihr einen Löffel in die Hand und öffnete den Becher für sie. Der Knoten in Julies Brust schien nur auf diesen Augenblick gewartet zu haben und löste sich. Heiße Tränen rannen ihr über die Wangen, ein Schluchzen schüttelte ihren Körper.

»Hey, alles gut.« Cullen legte Löffel und Eisbecher beiseite und zog ihren Kopf sanft auf seine Brust. »Du hast uns einen verdammten Schreck eingejagt.«

Melissa quetschte sich sitzend auf das Bett und streichelte Julies Haar. Prompt musste sie noch mehr weinen.

»Lass es raus«, flüsterte Cullen.

»Wie machst du es nur, dass du immer so gut riechst?«, fragte Julie leise.

»Das sind die Gene.«

Melissa prustete los. »Könnte auch daran liegen, dass du morgens eine Stunde im Bad verbringst.«

»Irgendein Klischee muss halt sein.«

Cullen war der einzige Footballspieler am College, der nicht nur schwul war, sondern auch völlig offen damit umging. Es war seiner Muskelkraft zu verdanken, dass er keine Probleme bekam, und obendrein war er ein genialer Quarterback. Niemand wollte sich mit ihm anlegen, im Gegenteil.

Sehr zu Melissas Missfallen, mochte Cullen weder romantische Komödien noch ging er gern shoppen oder interessierte sich für Mode. Stattdessen machte er ständig Kraftsport, hing mit seinen Footballkumpel ab und stopfte bei jeder Gelegenheit Pizza in sich hinein.

Nur langsam bekam Julie ihren Heulkrampf wieder in den Griff. Sie benutzte das Taschentuch, das Melissa ihr reichte, schnappte sich den Löffel und schob sich eine große Portion Eis in den Mund. »Fehlt nur noch der richtige Film.«

»Ich dachte, du hast genug Romantik abbekommen.« In Cullens Augen trat ein belustigtes Funkeln. »Immerhin hat sich ein heißer Typ um dich gekümmert.«

»Was?« Melissa fuhr kerzengerade in die Höhe. »Wieso weiß ich das nicht? Moment, woher weißt du davon?«

»Würde ich auch gern wissen«, bekräftigte Julie.

Cullen grinste breit und verschlang eine große Portion Eis. »Mit vollem Mund spricht man nicht«, nuschelte er.

Kurzerhand riss Melissa den Eisbecher an sich und stellte ihn außerhalb seiner Reichweite ab.

»Hey!«, protestierte er.

»Antworten, Mister. Sofort.«

»Ist ja gut«, seufzte Cullen. »Du bist am College ein Youtube-Star. Jemand hat den Crash aufgenommen und das Video hochgeladen. Deshalb wusste ich ja, dass du im Krankenhaus liegst und konnte Melissa schreiben, dass du einen Unfall hattest. Hast du wirklich gesagt: ›Die Fliege war schuld‹?«

Julie erbleichte.

Melissa brach in schallendes Gelächter aus. »Das kannst du nur mit ›Ich habe eine Wassermelone getragen‹ toppen.«

Julie warf das Taschentuch nach ihrer besten Freundin.

»Igitt.« Mit spitzen Fingern nahm diese es auf, um es zu entsorgen.

»Aber unserem Neuling hast du einen ganz schönen Schreck eingejagt. Dachte echt, der kippt gleich neben dir um«, sprach Cullen weiter. »Der hat den Fahrer des Krankenwagens angebrüllt, er solle gefälligst endlich losfahren, da warst du noch gar nicht richtig eingeladen.«

Augen aus Quecksilber mit goldenen Sprenkeln. Minzatem und verwuschelte Haare. Ein Blick voller Panik und einem Hauch Traurigkeit.

Ihre Erinnerung kehrte zurück. »O Gott, habe ich das wirklich gesagt? Da war tatsächlich diese Fliege …«

»Jules«, unterbrach Melissa sie sofort, »das Tier erwähnst du zukünftig bitte nicht mehr. Mach daraus eine Spiegelung in den Ladenfenstern oder einen riesigen Truck, der dir die Vorfahrt genommen hat.«

Cullen kicherte, weshalb Julie ihm kurzerhand ihren Ellbogen in die Seite stieß. Schmerzhaft stöhnte sie auf. Hämatome klangen so unschuldig und waren doch so diabolisch. Nicht einmal lachen konnte sie, ohne dass ihr gesamter Körper verkrampfte.

»Was meintest du mit ›Neuling‹?«, fragte Melissa interessiert.

»Er ist erst seit diesem Semester bei uns«, erwiderte Cullen. »Luca irgendwas. Ist ein ziemlicher Eigenbrötler, sitzt ständig allein herum und wehrt jede Anmache ab, egal aus welcher Richtung sie kommt. Und er bekommt eine Menge. Hätte ihn eher in die Kategorie ›College-Macho‹ eingeordnet.«

Julie betastete ihre Wange. Er hatte sie gestreichelt, ganz sanft, und sich echte Sorgen gemacht. Nein, Sorge war zu wenig, er hatte Angst um sie gehabt.

Melissa seufzte. »Na toll. Jules, das geht gar nicht. So was nennt man Stockholm-Syndrom.«

Cullen lachte laut auf. »Du weißt schon, dass Stockholm-Syndrom bedeutet, dass man sich in seinen Entführer verliebt?«

Ungeduldig wedelte Melissa mit der Hand. »Darum geht es jetzt nicht. Was haben wir über die dunklen, stillen Typen gesagt?«

»Dass sie heiß sind«, half Cullen freundlich aus.

»Nein, das war vor meinem letzten Date. Was haben wir danach über stille, dunkle Typen gesagt?«

Julie spielte mit der Decke und warf einen unschuldigen Blick aus dem Fenster. »Ich weiß nicht, was denn?«

»Finger weg! Dabei kommt nie etwas Gutes raus.«

»War dein letzter Freund nicht total aufgeschlossen und kontaktfreudig?«, merkte Cullen gegenüber Melissa an. »Zu kontaktfreudig?«

»Ich wusste, dass du damit wieder anfängst«, blaffte sie. »Aber darum geht es jetzt auch nicht. Es geht ums Prinzip. Und um Prinz Charming, der Jules eindeutig den Kopf verdreht hat.«

»Und wenn schon.«

»Fall mir nicht in den Rücken, du Footballspieler«, protestierte Melissa. »Er könnte … ein Serienkiller sein. Wer wechselt denn schon das College, obwohl das Semester bereits begonnen hat?«

»Serienkiller eher nicht.« Wieder grinste Cullen sein freches Lausbubengrinsen, das Melissa ständig zur Weißglut trieb. »Aber was weiß ich Footballspieler schon.«

»Schluss damit«, forderte Julie. »Ich bin doch nicht verliebt. Er war nett. Und natürlich bedanke ich mich bei ihm, sobald es mir besser geht.«

»Aha«, sagte Melissa.

»Nett«, echote Cullen.

Glücklicherweise betrat in diesem Augenblick der Arzt von gestern den Raum. Doktor Zimmermann blickte mit streng wirkenden Augen in die Runde. Falls es einen Ort auf der Welt gab, an dem er lachte, war es eindeutig nicht das Krankenhaus. Eher der Wandschrank. »Wenn Sie beide so freundlich wären, uns allein zu lassen.«

Melissa und Cullen flüchteten, ließen den Eisbecher aber stehen. Gut so, Julie benötigte mehr Zucker. Sie konnte ihre Gedanken nicht von Luca lösen. Der Blick aus diesen tiefen Augen, die wie endlose Seen in der Morgensonne schimmerten, hatte etwas in ihr berührt.

Verblüfft realisierte sie, dass die Tür geschlossen war und der Arzt am Bett stand. Stille lag über dem Raum, nur unterbrochen von den gleichmäßigen Atemzügen der alten Dame neben ihr.

In diesem Augenblick wusste Julie, dass etwas nicht stimmte.

Doktor Zimmermann begann zu sprechen.

KAPITEL2

Ihr habt was?!

Der Rollstuhl quietschte.

Julie kam sich vor wie eine Invalidin. Doch obwohl sie laufen konnte, besagte die Krankenhausregel, dass sie bis zur Schwelle gebracht werden musste. Der Pfleger starrte immer wieder zu Melissa hinüber, weshalb Julie daran zweifelte, unbeschadet den Ausgang zu erreichen.

»Cullen hat extra einen Kombi angefordert«, betonte die Freundin und schwenkte ihr Smartphone, auf dem die Uber-App geöffnet war. »Wieso schaust du so traurig? Freust du dich nicht, endlich nach Hause zu dürfen?«

»Klar.« Das Lächeln missglückte.

Doch Melissa bohrte nicht weiter. Vermutlich schob sie die schlechte Laune auf Nachwirkungen des Unfalls, was grundsätzlich sogar stimmte. Von dem Gespräch mit Doktor Zimmermann wusste sie nichts, und das sollte einstweilen auch so bleiben. Bis die Daten noch einmal überprüft worden waren. Mit einem Kopfschütteln verscheuchte Julie den Gedanken.

»Ihr seid also …«, begann der Pfleger.

»Jap, College«, unterbrach ihn Melissa. »Müssen total viel lernen. Wenig Zeit.«

Er schluckte und schwieg. Armer Kerl.

Entgegen aller Wetten, die Julie mit sich selbst abgeschlossen hatte, erreichte sie ohne Crash den Ausgang. Auf dem Parkplatz gestikulierte Cullen wie ein Irrer, damit sie ihn auch ja nicht übersahen.

»Hast du eine Ahnung, wo er ist?« Melissa sah sich suchend um.

»Wollte er uns nicht abholen?« Julie tat es ihr gleich.

Das Gestikulieren wurde heftiger. »Hey! Hier drüben!«

Sie ließen ihn eine halbe Minute schmoren und brachen dann in schallendes Gelächter aus. Cullen verschränkte grimmig die Arme, war ihnen aber nicht böse. Er würde sich natürlich rächen. So ging das ständig hin und her.

Pfleger und Rollstuhl blieben zurück, als Julie hinter dem Fahrersitz Platz nahm und der Kombi abfuhr. Melissa saß neben ihr, Cullen auf dem Beifahrersitz. Der Fahrer kannte sich aus und versuchte nicht Zeit zu schinden. Es ging auf direktem Weg in den Randbezirk von Manhattan, wo sie wie durch ein Wunder die Wohnung für die WG entdeckt hatten. Aufgrund der Lage konnte Julie jeden Morgen das Rad benutzen und musste nicht auf die U-Bahn zurückgreifen.

Um sie herum ragten stuckverzierte Bauten in die Höhe, vereinzelt sorgten Bäume für grüne Tupfer im Grau der Stadt. Herbstlicher Sonnenschein fiel zwischen den Blättern hindurch und schuf ein Spiel aus Licht und Schatten auf dem Asphalt. Je näher sie der Innenstadt kamen, desto verstopfter waren die Straßen. Überall standen Touristengruppen herum und fotografierten, sausten Fahrradfahrer so schnell vorbei, dass Julie mehr als einmal zusammenzuckte. Glücklicherweise gehörte ihr Uber-Fahrer nicht zu den manischen Hupern, die ständig wütend gestikulierten, fluchten und abrupt zwischen Bremse und Gas wechselten.

Erst hier im Auto realisierte Julie, wie bedrückend es im Krankenhaus gewesen war. Der Geruch von Desinfektions- und Putzmitteln hing ihr noch immer in der Nase, und die Ärzte und Pfleger hatten professionell ihr Bestes gegeben, von emotionaler Wärme aber offensichtlich nie zuvor gehört.

Irgendwann erreichten sie trotz Stau und von gelben Taxis überfluteten Straßen den renovierten Altbau. Lächelnd betrachtete Julie den vertrauten kleinen Vorgarten, der durch einen Gitterzaun abgegrenzt wurde, die Sandsteinfassade und hohen Fenster.

»Soll ich dich hinauftragen?«, fragte Cullen.

»Das schaffe ich allein«, gab sie zurück. »Aber danke.«

Tatsächlich hätte Julie das Angebot am liebsten angenommen. Jeder Schritt sandte Erschütterungen durch ihren Körper, sie keuchte alle paar Stufen auf. In diesem Moment verfluchte sie die unter dem Dach liegende Wohnung, die sie ansonsten so sehr liebte. Doch sie musste es allein schaffen. Wollte es allein schaffen.

Melissa kramte den Schlüssel hervor und öffnete die Tür. Der vertraute Geruch von Tee und Kaffee stieg in Julies Nase, dazwischen ein Hauch Zimt. Erst jetzt fiel der Stress wirklich von ihr ab. Das war ihr Zuhause, wo sie mit Eisbecher und Pizza gemeinsam Filme ansahen, sich Kissenschlachten lieferten und gegenseitig anbrüllten, wenn der Putzplan mal wieder nicht eingehalten worden war. Diese Wohnung repräsentierte Chaos und Ordnung, Liebe und Geborgenheit.

»Jetzt musst du ein paar Schritte gehen, damit ich auch durch die Tür passe«, erklang eine Stimme direkt neben Julies linkem Ohr.

»Hetz ein armes Unfallopfer nicht«, gab sie zurück.

»Oh, schau. Dort vorn ist eine Fliege. Jetzt nicht noch mal stolpern.«

Melissa prustete los und Cullen handelte sich den nächsten Ellbogenstoß ein. Keuchend wich er einen Schritt zurück. »Warte nur ab, auf der Pizza beim morgigen Filmabend liegen Sardellen.«

Julie hasste Sardellen.

Leise kichernd schob er sich an ihr vorbei in Richtung Küche.

Beinahe wäre sie erneut in Tränen ausgebrochen, als sie die Muffins entdeckte, die dort ein kleines Plakat auf dem Tisch umrahmten. Willkommen daheim stand darauf. Sie ignorierte die Tatsache, dass jemand eine winzige Fliege daneben gemalt hatte. Gemessen an den überragenden Zeichen- und Schreibkünsten war das Mister Football gewesen.

»Ihr seid so süß.«

Prompt folgte eine Gruppenumarmung, bei der beide Freunde sie behandelten wie das rohe Ei, das sie war.

»Okay, setzen, ich mache Tee und Kaffee.« Melissa übernahm das Kommando.

Cullen sank auf einen der Stühle und schnappte sich einen Muffin. »Lecker«, nuschelte er zwischen Krümeln hervor.

Und das waren sie wirklich. Blaubeer-Kirsch, gebacken von ihm selbst.

»Was hat der Arzt gesagt?«, fragte Melissa, während sie den Wasserkocher anschaltete und die Kaffeetiera auf die Herdplatte stellte.

Da war er wieder, der Stich schlechten Gewissens. »Die Hämatome heilen in den nächsten Wochen ab, bis dahin soll ich aufpassen. Aber es spricht nichts dagegen, ab morgen die Vorlesungen zu besuchen.«

»Was natürlich auch total wichtig ist«, kommentierte Melissa.

Dass die Klinik alle Daten zu ihrer Ärztin schickte, damit Julie dort kommende Woche ein weiteres Blutbild machen lassen konnte, erwähnte sie nicht. Bisher handelte es sich letztlich nur um »asymptomatische Entzündungswerte im Blut«, hatte Doktor Zimmermann gesagt.

Er wolle sie nicht beunruhigen, aber sie solle das erneut überprüfen lassen. Nein, mögliche Gründe wolle er jetzt nicht aufzählen.

»Julie muss dringend zurück in die Vorlesung«, erklärte Cullen nachdrücklich, wobei die Krümel seines Muffins durch die Luft flogen. »Wie soll sie sich denn sonst bei Luca bedanken? Wo er doch so nett war.«

Das Muffinpapier traf Cullen an der Stirn, was er mit einem frechen Lachen quittierte. Julie fragte sich immer wieder, wieso er noch Single war. Sein lausbubenhaftes Grinsen, der athletische Körper … Aber auf Nachfragen erklärte er stets, dass er nach wie vor auf der Suche wäre und Sport aktuell vorging.

Melissa verteilte die Tassen auf dem Tisch und schenkte ein. Seufzend sank sie auf einen Stuhl, schnappte sich einen Muffin und begann ebenfalls zu futtern. »Ich soll dir viele Grüße von deiner Mom ausrichten. Sobald du wieder daheim bist, kannst du sie anrufen.«

»Meine Mom?« Ganz langsam ließ Julie den Muffin sinken.

Es war völlig klar, weshalb ihre beste Freundin das Wort kannst extra betont hatte. Der Anruf war keinesfalls optional.

Schuldbewusst sah Cullen zu ihr herüber. »Richtig, das wollten wir dir noch sagen. Wir haben sie angerufen.«

»Ihr habt was?!« Julie fuhr kerzengerade auf, nur um vor Schmerz aufzustöhnen. »Das habt ihr nicht!«

»Ein bisschen«, gab Cullen kleinlaut zu.

»Mach doch kein Drama daraus, Jules.« Melissa winkte ab. »Ich weiß gar nicht, was du hast. Sie klang nett. Du rufst sie zurück und erklärst, dass alles wunderbar ist. Ein Lächeln von dir durch die Leitung und sie storniert das gebuchte Zugticket.«

»Sie hat eines gekauft?!«

»Möglicherweise hat sie so etwas angedeutet«, erwiderte Melissa unschuldig. »Aber wir kriegen das hin. Überhaupt kein Problem.«

»Das sagt ihr nur, weil ihr sie nicht kennt. Sobald sie eine Woche Cullens Zimmer okkupiert, seht ihr das anders! Habe ich euch nicht genug Geschichten erzählt?!«

»Mein Zimmer?«

»Willst du sie auf der Couch schlafen lassen?«, hakte Julie diabolisch nach.

»Nein, das wäre wohl unhöflich.«

»In mein Bett kann sie leider nicht, weil ich ja Hämatome habe. Und du als Gentleman …«

Cullen schluckte den letzten Rest seines Muffins hinunter. »Ruf sie an. Sofort! Die Couch ist ungemütlich, sie kann ruhig zu Hause bleiben. Wir kümmern uns um dich.«

Wäre die Situation nicht so gefährlich, hätte Julie gelacht. Doch mit ihrer Mom war nicht zu spaßen. Die Frau war eine Urgewalt, die wie ein Tornado durch das Leben anderer fegte und es dabei völlig umgestaltete. Wenn sie dann mit einem Lächeln in den Zug stieg, mussten die Betroffenen sich von dem Schleudertrauma erholen.

»Du gehst jetzt in dein Zimmer«, befahl Melissa. »Entspann dich, ruf deine Mom an, und dann willst du doch bestimmt die Vorlesungsunterlagen durchsehen. Ich habe dir Kopien auf den Schreibtisch gelegt.«

Und schwups, war der Kaffee vor ihr verschwunden.

Sie hatte wohl einen guten Job gemacht, als sie den beiden Angst vor ihrer Mom gemacht hatte. Zu gut. Cullen nickte auffordernd.

»Ihr seid schreckliche Freunde.«

Mit einem bösen Blick verschwand Julie in ihrem Zimmer.

Ihr Zimmer!

Sonnenlicht fiel durch das Fenster, das fast die gesamte Front einnahm, in den Raum. Das Bett war zwei Meter breit. Sie hatte es vom Sperrmüll. Cullen hatte ihr dabei geholfen, das Holz abzuschleifen. Nur deshalb stand es hier, weil es nichts gekostet hatte. Gegenüber an der Wand stand der Schreibtisch, der bereits Teil des Zimmers gewesen war, als sie es bezog. Vierundzwanzig Quadratmeter, auf denen sie im hektischen Großstadtdschungel Ruhe fand.

»Also schön, du kannst das. Du bist erwachsen und lebst dein eigenes Leben.« Das Smartphone wog schwer in ihrer Hand. Ein Riss durchzog das Saphirglas, ein Andenken an den Unfall.

Sie wählte die Nummer.

»Julie!«, brüllte es ihr aus dem Hörer entgegen. »Wieso rufst du mich erst jetzt an? Wie geht es dir? Bist du noch im Krankenhaus? Deine Freundin ist ganz schön … direkt, wie ist das Zusammenleben mit ihr? Nun sag doch was, Kind.«

»Hallo, Mom. Ich bin jetzt erst wieder daheim. Ich …«

»Sie haben dich über Nacht dabehalten? Das ist kein gutes Zeichen! Gib mir mal den Namen deines Arztes, ich rufe ihn an. Wieso fährst du in New York überhaupt mit dem Fahrrad? Wozu habt ihr eine U-Bahn?«

»Hast du nicht gesagt, dass man dort ständig ausgeraubt wird?« Julie versuchte gar nicht erst, alle Fragen zu beantworten. In der Regel musste sie sich nur eine aussuchen, und mit der Antwort kamen fünf weitere.

Sie ging vorsichtig zum Fenster, neben dem ein großer Ohrensessel stand. Ebenfalls eine Sperrmüllrettung. Stöhnend sank sie hinein.

»Was ist los? Geht es dir nicht gut?« Die Tonlage ging wieder in die Höhe. »Walther Warren, unserer Tochter geht es nicht gut.«

»Was ist los?«, erklang die Stimme ihres Dads. »Ist sie schon wieder daheim? Auf Youtube sah das so aus, als müsste sie länger im Krankenhaus bleiben.«

»Da hat er recht«, bestätigte ihre Mom. »Kind, das war ganz fürchterlich. Aber wenigstens gab es da diesen stattlichen jungen Mann, der dir geholfen hat. Luca Jackson heißt er.«

Julie fuhr kerzengerade in die Höhe. »Woher weißt du das?!« Aua, das hatte wehgetan.

»Ach Kind, das ist heutzutage doch ganz einfach. Ich habe einen Screenshot des Videos gemacht, mit Gimp sein Bild ausgeschnitten und das dann über die Google-Bildersuche laufen lassen. Seltsamerweise steht da aber fast nichts. Nicht einmal bei Facebook oder Instagram ist er zu finden. Ich hatte mir schon überlegt, ob ich seine Eltern kont…«

»Nein!«, brüllte Julie. »Mom, halte dich da bitte raus.«

»Walther, deine Tochter ist wieder schwierig.«

»Sie ist unsere Tochter, Liebling.«

»Von mir hat sie das nicht.«

»Wieso kennst du dich plötzlich mit Gimp und Screenshots aus, Mom?« Der Wirbelsturm wurde gefährlicher.

»Das war dein Bruder«, erwiderte ihre Mom.

»Max?«

»Nein, Josh. Ist das nicht lieb von ihm? Zuerst wollte er nicht, aber ich habe ihm klargemacht, dass seine arme Mom, die ihn einundzwanzig Jahre lang großgezogen, gehegt und gepflegt hat, auch mal seine Hilfe benötigt.«

Armer Josh. Ihre Mom war einfach zu gut darin, ein schlechtes Gewissen hervorzurufen. »Ja, das ist total nett von ihm. Er bekommt einen Orden von mir.«

»Sie ist wieder sarkastisch, Walther.«

»Ich habe nie so ganz den Unterschied zwischen Ironie und Sarkasmus verstanden«, erklang die Stimme ihres Dads.

»Wisst ihr, ich sollte mich jetzt entspannen. Kopfschmerzen und so.«

»Kopfschmerzen«, echote ihre Mom. »Kind, dann leg dich besser hin. Und geh morgen noch mal zum Arzt. Ich könnte dich begleiten.«

»Danke, Mom, aber das ist gar nicht nötig.«

»Für meine Tochter würde ich diese beschwerliche Reise selbstverständlich auf mich nehmen.«

Weitere Pfeile in ihrem Köcher der Schuldgefühle.

Glücklicherweise klingelte es in diesem Augenblick an der Wohnungstür. Vermutlich der Postbote, aber das spielte keine Rolle. Es war ein Ausweg. Und in ihrer Verzweiflung hätte Julie nach jedem Strohhalm gegriffen.

»Mom, Dad, ich hab euch lieb. Haltet euch einfach raus. Mir geht es gut.«

Länger konnte sie ihren Fluchtreflex wirklich nicht mehr unterdrücken und legte kurzerhand auf. Zehn Sekunden später und ihre Mom hätte über die Konferenzschaltung damit begonnen, die anderen dazuzuholen. Es brachte massive Nachteile mit sich, aus einer Großfamilie mit vier Geschwistern zu stammen.

»Julie!«, brüllte Melissa.

»Was?!« Sie riss die Tür auf und machte einen Schritt in die Küche.

Vor ihr standen Melissa, Cullen und …

Noch während Julie starrte, stolperte sie über die Schwelle und fiel keuchend zu Boden.

Wieso war er hier?

KAPITEL3

Wir sind für dich da

»Dich kann man keine Sekunde allein lassen!«, rief Cullen besorgt.

Schon war er neben Julie und half ihr vorsichtig auf. Sein Mund war voller Muffinkrümel. Er hatte noch mehr davon verputzt. Schlimmer sah es nur aus, wenn er samstagmorgens Nougatcreme in sich hineinstopfte, die fand man dann auch überall in seinem Gesicht.

Trotz der Schmerzen musste sie grinsen.

»Das ist nicht lustig, Jules.«

Sowohl Cullen als auch Melissa nannten sie immer dann so, wenn sie ihrer Aussage Gewicht verleihen wollten.

»Du siehst ja furchtbar aus.« Simons Augen wurden groß.

Er starrte sie mit dieser typischen Mischung aus Entsetzen und Traurigkeit im Blick an, wie es nur junge Welpen konnten. Und er. Sein schwarzes Haar besaß einen Einschlag Naturlocken, die er täglich aufs Neue zu bändigen versuchte – erfolglos. Das Ergebnis war eine gewellte Fläche, aus der Kringel hervorragten.

»Danke, Simon.«

»Oh, so meinte ich das nicht«, wiegelte er schnell ab. »Du siehst natürlich super aus, das tust du immer. Richtig hübsch.« Seine Wangen färbten sich knallrot.

Cullen presste die Lippen so fest zusammen, dass sie zu einem dünnen Strich wurden. Immerhin verkniff er sich jeden seiner üblichen Witze.

Melissa kannte da keinen Schmerz. Sie verpasste ihrem Gast einen Schlag auf die Schulter, der ihn aufstöhnen ließ. »Dank deines neuen Celebrity-Status auf Youtube haben auch Simon und Becky den Unfall hautnah miterlebt.«

»Sage ihr bitte, dass ich ab morgen wieder da bin«, erklärte Julie nachdrücklich.

Simon schüttelte den Kopf. »Ich soll dir wortwörtlich ausrichten: ›Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Solltest du dir in den Kopf gesetzt haben, in der nächsten Woche hier aufzutauchen, um zu arbeiten, werde ich dich höchstpersönlich vor die Tür setzen. Verstehen wir uns? Falls du allerdings Aufmunterung benötigst, warten hier Muffins und Kaffee‹.« Simon räusperte sich. »Ja, also das soll ich dir von Becky ausrichten.«

Im ersten Moment war Julie wütend. Da standen sie, alle drei. Sie solle nicht zur Vorlesung gehen, sagten Cullen und Melissa. Ihren Job im Café solle sie erst einmal ruhen lassen, verlangten Becky und Simon. Verdammt noch mal, sie benötigte sowohl das Geld als auch gute Noten!

»Jetzt ist sie wütend«, stellte Simon entsetzt fest.

»Relax.« Melissa drückte ihm einen Muffin in die Hand. »Das passiert öfter, als du denkst.«

Wie eine Sprungfeder löste sich eine von Simons locken und flippte in die Höhe. Es fehlte nur noch eine dicke Hornbrille, dann hätte er das Bild des liebenswerten geekigen Nerds in Perfektion vollendet.

Sie kannte ihn nur als fleißigen Arbeiter und schüchternen Freund, der Comics liebte und Computerspiele. Darüber hinaus wusste sie eigentlich nichts von ihm. Sah man davon ab, dass Cullen und Melissa überzeugt waren, dass er total in sie verknallt war.

»Also … ich übernehme deine Schicht«, sagte er zaghaft.

Hinter Simon reckte Cullen die geballte Faust in die Luft. Yes!

Er und Melissa führten eine Liste. Alles, was für die Theorie sprach, dass Simon in sie verliebt war, landete als Plus auf dem Papier. Alles andere als Minus. Dazu hatten sie Wetten darüber abgeschlossen, wann er seine unsterbliche Liebe enthüllte und ob er ein Lied dazu komponierte oder klassisch auf Blumen und Pralinen setzte.

»Das musst du nicht, ich kann wirklich arbeiten«, stellte Julie klar.

»Wenn du mit dem Tablett so über die Schwelle fällst wie eben … also … vielleicht besser nicht.« Wieder räusperte er sich. »Also, das ist nicht böse gemeint. Aber du verletzt dich. Du musst erst gesund werden.«

»Und dich bedanken«, warf Cullen ein. »Bei Luca, deinem Retter. Der übrigens ziemlich heiß aussieht.«

Echt jetzt? Julie schickte einen Dolchblick zu ihrem Mitbewohner. »Er war nett. Und hilfsbereit.«

»Ach, er war heiß.« In Simons Blick nahm der Anteil getretener Hund deutlich zu.

Vermutlich ein Plus auf der Liste.

Julie tapste zum Tisch und sank auf einen der Stühle. »Willst du noch einen Muffin? Cullen hat ganze zwei übrig gelassen. Dafür sollten wir dankbar sein.«

Simon setzte sich neben sie, nahm den Nachschub entgegen und begann damit, Krümel herauszuzupfen. »Ich übernehme deine Schicht und du bekommst das Geld.«

»Kommt überhaupt nicht …«

»Doch!«, beharrte er. »Du brauchst es. Wenn ich das nächste Mal krank bin, kannst du ja für mich einspringen. Das wäre doch fair, oder?«

Julie hätte gern dagegenargumentiert, aber wie? Ohne das Geld konnte sie die Miete nicht bezahlen und sich so ziemlich gar nichts leisten. Sie würde ihre Eltern anpumpen müssen, was zu einem Gespräch mit ihrer Mom führte, im schlimmsten Fall zu einer Inspektion. Das ging einfach nicht!

»Okay.«

»Wirklich?«

»Ja, aber ich bin nicht begeistert.«

»Das ist ihre Art, Danke zu sagen.« Melissa fläzte sich in den Stuhl neben Simon und zupfte an seinem Haar. »Was hast du da hineingekleistert? Schuhcreme?«

»Spezialgel.«

»Das ist hart wie Zement. Du hast so hübsche Locken.«

Immerhin, wenn ihre Freundin eines konnte, dann das Thema wechseln. Und sei es in ein Gespräch über Haare.

»Isst den Letzten noch jemand?« Cullen blickte fragend in die Runde. »Niemand?« Er biss herzhaft in den Muffin.

Julie fragte sich, wie er seine Figur hielt bei den Mengen an ungesunden Dingen, die er in sich hineinstopfte. Die Natur hatte das wirklich unfair eingerichtet. Jungs mampften ohne Ende, nahmen aber nicht zu. Sie musste nur an Schokolade riechen und die Kalorien flossen auf ihre Hüfte. Dunkle Magie, hatte ihr Bruder Josh sie immer grinsend geneckt, bevor er am Frühstückstisch das fünfte Brot vertilgte.

»Computer, spiele Klassikrock«, sagte Cullen laut.

Nachdem die neue Sprachassistentin ständig falsch reagiert hatte – ein Freund Cullens hieß Alex –, hatte er sie umprogrammiert. Seitdem hörte sie auf die Bezeichnung Computer. Ein Lichtkreis rotierte, sanfte Popklänge erklangen.

Eine schöne Untermalung für den hereinfallenden Sonnenschein.

Vor den Fenstern leuchtete das Grün, und sie alle versanken in Schweigen. Simon zupfte Krümel, Cullen verschlang den Rest des letzten Muffins. Melissa philosophierte über lockige Haare und unnötiges Gel.

Es war, als stünde die Zeit still. Julie sah den tanzenden Staub im Lichtschein, vernahm das Zwitschern der Vögel und betrachtete die Dampfschwaden von Tee und Kaffee. Ein Moment für die Ewigkeit. Sie sank hinein und genoss ihn. Die Freunde ringsum, die Geborgenheit der eigenen vier Wände. Dass sie all das überhaupt noch erleben konnte, war pures Glück. Der Crash hätte auch schlimmer ausgehen können.

Unweigerlich blitzten Bilder von Dokumentationen in ihrem Geist auf. Querschnittslähmung, zertrümmerte Becken, komplizierte Brüche. Oder direkt Genickbruch – Tod vor dem Café. Immerhin wäre das ein schöner Titel für einen Roman. Sie vertrieb die Gedanken.

»Du gehst morgen also ganz normal in die Vorlesung?«, fragte Simon.

»Definitiv!«, erklärte sie. »Die erste hält Patryk.«

»Oh«, kommentierte Melissa und senkte den Blick.

Patryk war jener Hilfsdozent, der wegen ihr die Treppe hinuntergestürzt war und aktuell noch auf Krücken durch die Gänge humpelte. Immerhin würde Julie sich dann nicht so allein fühlen in ihrer körperlich angeschlagenen Form.

»Siehst du, auch du bekommst Legendenstatus.« Julie grinste böse zu ihrer Freundin hinüber. »Armer Patryk.«

»Hätte er halt besser aufgepasst«, kommentierte Melissa.

Sie plauderten noch ein wenig über dies und jenes, das Studium, Kinofilme und sogar Sport. Dann verabschiedete sich Simon. Obwohl Julie eigentlich Vorlesungsunterlagen hatte wälzen wollen, verkroch sie sich auf die Couch des gemeinsamen Wohnzimmers. Kurz darauf folgten Cullen und Melissa. Sie bestellten Pizza, sahen sich einen Superheldenfilm an und unterhielten sich über die Löcher in der Story. Irgendwann schlief Julie ein, den Kopf an die Schulter von Cullen gelehnt, der den Kampf gegen die Müdigkeit bereits Minuten zuvor verloren hatte und leise schnorchelte.

Die schmerzenden Hämatome ließen sie jedoch wenige Stunden später erneut hochschrecken.

Mitten in der Nacht taumelte sie ins Zimmer und sank auf ihr Bett. Der Schlaf war ein ständiges Wegdriften und Aufschrecken. Sie dümpelte dahin bis zum Morgengrauen, das viel zu schnell heraufzog. Müde richtete Julie sich auf, tapste ins Bad und benötigte doppelt so lange wie gewöhnlich, bis ein passables Antlitz aus dem Spiegel zurückstarrte. Damit brachte sie Cullen zur Verzweiflung, der in hektische Betriebsamkeit verfiel, nachdem sie das Bad freigegeben hatte.

Grimmige Blicke trafen Julie am Frühstückstisch.

»Es wäre wirklich besser, wenn du dir die nächsten Tage freinimmst.«

»Sonst wird unser Cullen aus lauter Verzweiflung ungewaschen zum Sport fahren, was natürlich gar nicht infrage kommt.« Melissa schlürfte absichtlich geräuschvoll ihren Tee, als er zu einer Erwiderung ansetzte.

Ein wenig tat er Julie leid.

Andererseits fühlte sie sich so elend, dass der Gedanke, sich einige Tage freizunehmen, gar nicht so weit hergeholt wirkte. Sollte sie … Nein! In ein paar Jahren fragte niemand mehr danach, ob sie krank gewesen war, einen Unfall gehabt hatte oder einfach der Tag dumm gelaufen war.

Sie musste in den Vorlesungen glänzen, wie auch in den Klausuren.

»Wann fahren wir los?«

Heute würden sie gemeinsam die U-Bahn nehmen. Melissa fuhr jeden Tag damit und hielt nichts von Fahrrädern, Cullen war von seinem gar nicht runterzubekommen. Doch an diesem Tag machte er eine Ausnahme.

Mit ein wenig Verspätung verließen sie die WG und tauchten ein in die morgendliche Rushhour Manhattans. Julie war dankbar dafür, einen recht kurzen Weg bestreiten zu müssen. Ihre Kommilitonen wohnten alle weiter außerhalb, wo die winzigen Zimmer bezahlbar waren. Einige natürlich auch auf dem Campus, die hatten es bezüglich der Entfernung am besten getroffen.

Die U-Bahn war bis zum Anschlag gefüllt, und Julie wusste innerhalb von Sekunden wieder ganz genau, weshalb sie lieber das Fahrrad nutzte. Husten und Niesen überall, dazu Rempler, die sie schmerzhaft aufstöhnen ließen. Irgendwann nahmen Melissa und Cullen sie in die Mitte, um sie von allzu ruppigen Zeitgenossen abzuschirmen.

Endlich erreichte die U-Bahn ihr Ziel und Julie atmete auf. Sie floh förmlich aus der Station und sog tief die frische Morgenluft ein. Am Ende der Straße zeichneten sich die ersten Collegegebäude ab. Der Anblick zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Wie sie es liebte, eine Studentin zu sein. Was hatte sie nicht alles dafür getan.

»Dieses Grinsen beim Anblick unseres Gefängnisses ist wirklich ekelhaft, Jules«, merkte Melissa an.

Natürlich liebte sie das Collegeleben auch, aber mehr mit Betonung auf Leben.

Sie verabschiedeten sich von Cullen, der das Sportareal ansteuerte, und erreichten die Vorlesung sogar noch rechtzeitig. Die meisten saßen schon auf ihren Plätzen, allerdings war Patryk bisher nicht aufgetaucht.

»Sieh mal, dort vorn.« Melissa holte aus, um Julie in die Seite zu stupsen, erinnerte sich aber glücklicherweise daran, dass es eine dumme Idee war.

Und da war er!

Gerade zog er seine Jacke aus, warf sie neben sich auf den Stuhl und sank auf den Sitz. Er schien zu bemerken, dass jemand ihn anstarrte. Verwirrt sah Luca sich um, die Augen zusammengekniffen. Wie er auf seiner Unterlippe kaute …

Julie lächelte, was vermutlich ziemlich dämlich aussah, doch es war ihr egal.

Dann sah er sie.

Seine Miene entgleiste.

»Hi«, hauchte Julie.

Wütend erwiderte Luca ihren Blick.

KAPITEL4

Freundlich ist anders

»Was hast du getan?« Melissa sah verblüfft zwischen Julie und Luca hin und her.

»Was soll ich denn getan haben?«

Melissa zog sie mit sich auf zwei freie Plätze im hinteren Bereich. Die meisten waren schon besetzt, Patryk stand endlich am Pult und bereitete seine Präsentation vor. Überall wurden Laptops aufgeklappt, Unterlagen der letzten Vorlesung herausgekramt und Papiernotizen aufgeschlagen. Dank Melissa erreichte Julie, ohne angerempelt zu werden, ihren Sitzplatz. Sie war sich der Hämatome nur allzu bewusst und achtete sorgsam darauf, niemandem zu nahe zu kommen.

Dieser Hörsaal war aufgebaut wie ein Amphitheater, an dessen tiefstem Punkt der Dozent stand, umgeben von einem Halbrund aus stufenartig angeordneten Plätzen. Ein wenig tat er Julie immer leid, es musste doch schrecklich sein, aus jedem Winkel angestarrt zu werden. Sie hätte das niemals gekonnt.

Vorsichtig blickte sie zu Luca. Er starrte konzentriert auf seinen Mac, die Stirn aber noch immer gerunzelt. War er tatsächlich wütend auf sie?

»Jules.«

»Hm?«

»Auspacken«, befahl Melissa.

Mit einem Kopfschütteln vertrieb Julie die Gedanken. Sie war nicht extra in die Vorlesung gekommen, um jetzt nichts davon mitzubekommen. Der Reißverschluss des Rucksacks klemmte, doch schließlich bekam sie ihn geöffnet und zog ihren Laptop hervor. Er war vier Jahre alt, leistete aber noch gute Dienste. Als sie ihn letzte Woche in Beckys Café benutzt hatte, war Simon nach einem Blick auf den Desktop entsetzt zurückgewichen und hatte damit begonnen, Updates einzuspielen. Dabei hielt er ihr eine Standpauke über die Notwendigkeit davon, Programme immer zu aktualisieren. Leider hatten sich durch besagte Updates auch diverse Menüs verändert, weshalb sie bei der Arbeit doppelt so lange benötigte wie zuvor.

Am Stehpult räusperte sich Patryk. Neben ihm am Tisch lehnten die Krücken. Immerhin wirkte er mittlerweile nicht mehr so bleich wie in den vergangenen Tagen. Ein Vollbart bedeckte sein Gesicht und verlieh ihm das Aussehen eines älteren Professors, obwohl er erst Anfang dreißig war.

Die Gespräche verstummten.

»Ich begrüße Sie alle zur heutigen Vorlesung ›Europäische Literatur des 18. Jahrhunderts‹. In der letzten Vorlesung haben wir uns zunächst einen Überblick über die verschiedenen literarischen Strömungen im 18. Jahrhundert verschafft. Am Ende der heutigen Vorlesungen erhalten Sie eine Lektüreliste von mir, die es vollständig abzuarbeiten gilt. In meinen Ausführungen nehme ich Bezug darauf und gebe keine ergänzenden Erklärungen.«

Ein Stöhnen ging durch die Reihen.

»Ja, das Leben ist schrecklich. Und ich weiß, dass Sie alle nicht nur diese Vorlesung haben. Trotzdem erwarte ich hundert Prozent Einsatz.«

Die Einführungsreden der Professoren glichen sich in ihrem Ton und der Art alle, bemerkte Julie. Einige brachten den berühmten Spruch: »Sehen Sie nach links, sehen Sie nach rechts. Von drei Studenten wird nur einer den Abschluss erreichen.« Nach dem ersten Schock nahm sie solche Sprüche gelassen. Jeder wies außerdem darauf hin, dass diese Vorlesung nicht gegenüber anderen zu vernachlässigen war. Als ob sie das könnten, immerhin gab es am Ende überall Klausuren, benotete Essays und Papers.

Patryk begann über einen Schriftsteller namens Moses Brown zu sprechen, und ging über in einen Exkurs zu den Unterschieden zwischen der hiesigen Literatur und der europäischen.

Obwohl Julie sich alle Mühe gab, schweiften ihre Gedanken ständig ab. Auch die Müdigkeit machte sich bemerkbar, und so rutschte ihr Ellbogen, auf den sie ihr Kinn gestützt hatte, vom Pult. Ruckartig fiel sie nach vorn und sog scharf die Luft durch die Zähne.

»Vielleicht sollten wir dich in ein großes Kissen packen, damit du nirgendwo anstoßen kannst«, kommentierte Melissa. »Jules, wirklich, wenigstens ein paar Tage hättest du noch daheim bleiben können.«

Was gar nicht infrage kam. Für den Rest der Vorlesung gelang es ihr, aufmerksam zuzuhören und sich Notizen zu machen. Das brachte Melissa wiederum dazu, eifrig auf ihrem Smartphone zu tippen, schließlich fertigte Julie die notwendigen Aufzeichnungen an. Die Zeit floss zäh wie Honig dahin.

Endlich kam Patryk zum Ende, blendete die Lektüreliste ein und sorgte damit prompt für entsetzte Blicke. Julie konnte sich nur anschließen. Auf der Liste standen fünfzehn Titel! Wie sollte sie das neben ihrem Job und den anderen Vorlesungen hinbekommen?

»Großartig«, kommentierte Melissa. »Die werde ich auf keinen Fall alle lesen. Brauchst du nicht abschreiben, die kannst du auf Patryks Website herunterladen.« Sie schwenkte ihr Smartphone.

Luca war anscheinend zu demselben Schluss gekommen, denn er packte den Laptop ein und verließ eilig den Vorlesungssaal. Dass er ihr dabei keinen Blick zuwarf, machte Julie erneut stutzig. Sie erhob sich und flitzte zum Ausgang, wobei ›Flitzen‹ eher an den schwankenden Gang einer achtzigjährigen Dame mit Rollator erinnerte.

»Luca!«, rief sie, denn ihn einzuholen war utopisch.

Ruckartig hielt er inne. Langsam wandte er sich Julie zu und kam zurück. Wieder trat dieses wütende Funkeln in seine Augen, als er sie von oben bis unten musterte. »Hi.«

»Hi. Ich wollte mich bei dir bedanken. Viel habe ich ja nicht mitbekommen, aber …«

»Wieso bist du hier?«

Verwirrt sah Julie sich um. »Ich studiere hier.«

»Nein, ich meine heute. Du warst schwer verletzt und lagst im Krankenhaus, ist dir dein Leben so wenig wert?« Die goldenen Sprenkel in seinen Augen schienen von innen heraus zu glühen.

»Ich habe Vorlesung.«

»Wie kann man nur so verantwortungslos mit sich umgehen! Was ist, wenn du doch noch innere Blutungen hast oder etwas anderes nicht stimmt?!« Seine Stimme war lauter geworden, und die ersten Studenten blieben wie zufällig stehen.

Gleichzeitig sah Julie wieder das Gesicht von Doktor Zimmermann vor sich, der ihr mit ernster Miene eine weitere Blutuntersuchung nahelegte. »Es ist mein Leben, und ich weiß wohl am besten, was gut für mich ist.« Selbst in ihren eigenen Ohren klang das lahm.

»Wenn du das tatsächlich wüsstest, hättest du beim Fahrradfahren auf die Straße gesehen und nicht auf mich!«

Julies Brust wurde eng vor Scham. Er hatte es also bemerkt. »Da war eine Fliege …«

Seine Braue wanderte verächtlich in die Höhe. »Ja klar, die Fliege war schuld. Und sie flog zufällig in meine Richtung.«

Was genau genommen der Wahrheit entsprach. »Was ist eigentlich dein Problem?!«

»Leute wie du, die … ach, vergiss es! Vielleicht passt du das nächste Mal einfach besser auf, wenn du auf dem Rad sitzt.«

Damit wandte er sich um und stapfte davon. Ja, er war tatsächlich wütend. »Dieser …«

»Mistkerl«, erklang die Stimme von Melissa direkt neben Julies Ohr.