Lovetrotter - Wlada Kolosowa - E-Book

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Wlada Kolosowa

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Beschreibung

Wie liebt die Welt?

Fünf Monate, fünf Kontinente: Wlada Kolosowa macht sich auf die Suche nach Liebesgeschichten – in Ägypten, Iran, Laos, Kambodscha, China, Brasilien, Russland, in den USA und in der Türkei. Sie trifft auf einen Buddhisten, der seinen Seelenfrieden für eine Frau auf gab; auf verbotene Lust im Iran; auf glückliche Vernunftehen und katastrophale Leidenschaft. Dabei lässt sie auch ihre eigenen Liebesgeschichten Revue passieren und durchlebt eine persönliche Entwicklung. Die Liebe ist überall. Und sie ist überall einzigartig: In jedem Land, in jeder Beziehung. Vor allem ist sie nicht immer das, was wir in Deutschland darunter verstehen.

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Seitenzahl: 223

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Wlada Kolosowa

Eine Weltreise rund um die Liebe

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. 1. Auflage

Originalausgabe

© 2014 Kailash Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Judith Henke

Umschlaggestaltung: ki 36, Editorial Design, unter Verwendung einer Illustration von Daniela Hofner und iStockphoto sowie Porträtfotos von Wlada Kolosowa

Gestaltung Innenlayout: ki 36, Editorial Design

Fotos Innenteil: © Wlada Kolosowa außer Bild 1 und Bild 2

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-641-12453-3V002

www.kailash-verlag.de

Für S.

Vorwort

Die Minutenzeiger schneiden ein immer größeres Stück von unserer letzten Stunde ab. Noch zwanzig Minuten, bis ich zum Flughafen muss. Noch sechzehn Minuten. Noch fünfzehn Minuten und 56 Sekunden. 55. 54.

In drei Stunden geht mein Flieger nach Kairo. Mein Freund und ich haben uns vor dem Schellen des Weckers in seinem Bett verschanzt, unsere Körperteile verknotet wie ein Topf Spaghetti. Ein Klumpen aus Beinen, Armen, Decke, Füßen und Knubbelknien, seinen Locken und meinen Schnittlauchhaaren, ein Klumpen, der sich bald für Monate trennen wird.

Ich fahre los, um Liebesgeschichten aus aller Welt zu sammeln: Ägypten, Türkei, Iran, Kambodscha, China, Brasilien, Russland, USA. Fünf Monate, fünf Kontinente. In den Moscheen von Teheran will ich nach der Liebe suchen, in den Wolkenkratzern von New York, auf dem Basar von Kairo, am Strand von Rio de Janeiro, in der Pekinger U-Bahn, in Moskauer Studentenwohnheimen und im kambodschanischen Regenwald.

Ich habe mir schon immer gern Liebesgeschichten angehört, von Freunden, Bekannten und gänzlich Unbekannten. Irgendwann fing ich an, sie festzuhalten. Ich schrieb eine Liebeskolumne für Spiegel Online; und für jetzt.de, dem Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung, habe ich mit insgesamt 60 Menschen über ihre Beziehung gesprochen.

Und Reisegeschichten liebe ich mindestens genauso wie Liebesgeschichten. Seit ich in der fünften Klasse Jules Verne gelesen habe, träume ich von einer großen Expedition. Leider hat das Leben meist mieses Reise-Timing: Hat man Zeit, fehlt das Geld. Hat man Geld, fehlt die Zeit. Hat man endlich beides, irgendwann im fortgeschrittenen Rentenalter, fehlen funktionierende Kniescheiben. Zu Hause hat man Fernweh, und wenn man zum Flughafen muss – hat man keinen Bock.

Aber zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich keine Ausrede: Ich hatte genug Geld für die Flüge beisammen und genug Mut, mich von meinem Job am Büroschreibtisch zu verabschieden. Die Knie waren in Betrieb, der Rücken beschwerte sich noch nicht angesichts von Doppelstockbetten und Klappsofas.

Und trotzdem mischten sich skeptische Stimmen in den Lockruf der fernen Länder: Wie hält man sich selbst fünf Monate lang aus – so ganz ohne Aufgabe? Waren Weltreise-Individualisten wie ich nicht alle unglaublich gleich, mit ihren Ponchos und Lonely Planets? Ans andere Ende der Welt zu fahren, um sich über billiges Essen und kaputte Häuser zu freuen, das schien mir irgendwie zu wenig.

Also beschloss ich, die beiden Sachen zu vereinen, die ich am liebsten tat: reisen und über die Liebe quatschen. Wann immer es ging, wollte ich bei Einheimischen übernachten, und mit ihnen darüber reden, wie es um die Herzensangelegenheiten in ihrem Land bestellt ist. Welche Kosenamen flüstern sich Verliebte in Ägypten zu? Streiten sich brasilianische Paare darum, wie viel Prozent Fett die Milch haben soll? Und hat vielleicht ein Land in dieser Welt das Mittel gegen Liebeskummer gefunden?

Jetzt war ich ein Lonely-Planet-Individualist mit einer Minimission. Ich hatte ein Alibi fürs Gewissen.

Der Wecker klingelt wieder. Noch fünf Minuten.

»Und du bist dir wirklich sicher, dass du dir die ganze Liebessache nicht lieber aus der Nähe anschauen willst?«, fragt der Freund und deutet mit beiden Daumen auf seine Brust.

»Ganz, ganz sicher«, sage ich und schüttele den Kopf.

Der Freund verstand. Er wäre sogar mitgekommen, wenn er nicht gerade seinen ersten, sehr ernsten Krawatten-Job angefangen hätte. Er spielte nicht die beleidigte Leberwurst, sondern wälzte stattdessen mit mir Reiseführer und drehte am Globus herum, um die Länder auszusuchen (die Kriterien: zu einem Drittel – spannende Liebesgeschichte; zu einem Drittel – bin noch nie dort gewesen; zu einem Drittel – Sonnenschein). Außerdem versprach er, mir in Brasilien Gesellschaft zu leisten. Aber natürlich bemüht er sich, kurz vor dem Abschied ein wenig motzig zu sein, damit wir vom Abreisedrama abgelenkt sind.

Es sind die Momente, in denen kleine Sachen ganz groß erscheinen und große Sachen ganz klein. Weltreise, pah. Meine Welt ist in diesem Bett! Seit anderthalb Jahren teilen wir es schon. Seit anderthalb Jahren wohnt meine Ersatzzahnbürste in seiner Wohnung, und am Wochenende auch ich. Es ist ein Sonntagmorgen im Mai. Wäre es ein ganz normales Wochenende, wir würden noch schlafen, bis uns die Sonne im gardinenlosen Fenster aus dem Bett schmeißt. Wir würden aufstehen, oder auch nicht. Wir würden klumpige Pfannkuchen machen. Wir würden uns darüber kabbeln, wer das blaue Hemd tragen wird: er, der rechtschaffene Besitzer, oder ich, die mal wieder zu wenig Klamotten mitgebracht hat. Wir würden wetten, wer für zwei Euro das hässlichste Ding auf dem Flohmarkt vor unserer Haustür bekommt. Oder poppende Hunde im Park angucken. Oder einfach zusammen ausdauernd gar nichts machen.

Der Wecker klingelt wieder. Wir schmus-snoozen weiter, bis für Drama überhaupt keine Zeit mehr bleibt.

Das ist ein Teil der Strategie: Man hat keine Zeit vor Abschiedsschmerz zu sterben, wenn man gleichzeitig Strumpfhosen anziehen, Zähne putzen und überlebenswichtigen Last-Minute-Kram wie den Augenbrauenzupfer im Rucksack verstauen muss. Zusätzlich verpassen wir noch den Bus, damit es spannend bleibt.

Aber als wir endlich losfahren, verschwindet der Freund unter dem Bussitz, kramt in der Tasche, und als er wieder hervorkommt, hat er eine schäumende Flasche Sekt in der Hand. »Trink«, sagt er nur, und das ist gerade genau das Richtige. Normalerweise verstärkt Alkohol nur emotionale Grundzustände. Sekt aber walzt alles zu Euphorie platt. Der Rest der Fahrt ist getränkt von Weltuntergangsfröhlichkeit und frühlingshafter Aufbruchstimmung.

Natürlich bin ich die Letzte, die eincheckt.

»Ein schlauer Mensch hat einmal gesagt: Abschiedsworte müssen kurz sein wie eine Liebeserklärung.«

»Komm wieder.«

»Mach ich.«

Fakten

Einwohner: 80,72 Millionen (2012)

BIP pro Kopf: 3 187 USD (2012)

Scheidungsrate: 40 Prozent

Geburtenrate: 2,81 Kinder pro Frau

Heiratsalter: Frauen: 22,7 (2012), Männer: 26,9 (2006)

Kosenamen

Habibi (für Männer), Habibti (für Frauen): Mein/e Geliebte/r, mein Schatz Amira: meine Prinzessin Roohy: meine Seele Albi: meine Welt

Unübersetzbare Ausdrücke

Ya’aburnee (Arabisch): Du begräbst mich – ein Ausdruck der Hoffnung, dass man vor seinem Geliebten stirbt, weil es unmöglich wäre, ohne ihn zu leben.

Liebesweisheiten

Wenn dein Liebhaber aus Honig ist, iss ihn nicht ganz auf. (Soll heißen: Überstrapaziere nicht seine Güte.) Wenn du stiehlst, stehle ein Kamel, wenn du liebst, liebe jemanden der so schön ist, wie der Mond. (Soll heißen: Wenn du etwas machst, dann richtig.)

Kairo: Dina und Nader – alle glücklichen Geschichten sind gleich

In Reisebüchern liebe ich diesen Moment, wenn der Protagonist zu seiner Mission aufbricht, und die Flughafenlichter langsam unter den Wolken verschwinden. Große Gedanken pflügen seine Stirn; seine Augen blicken in die Ferne, die vor ihm liegt.

Im wahren Leben läuft das so: Man ext vor den Sicherheitskontrollen die anderthalb Liter Wasser (zusätzlich zum halben Liter Sekt), gräbt Münzen aus den Hosentaschen und macht sich Sorgen. Große Fragen deromantisieren den großen Moment. In welcher Hosentasche liegt der Pass? Schaffe ich es vorher nochmal auf die Toilette? Und wie habe ich mir das eigentlich alles vorgestellt? Einfach mit dem Finger auf den Globus tippen, dorthin fliegen und schon laufen mir die Liebenden in die Arme, um mir ihre Geschichten zu erzählen?

Aber genau so passiert es. »Fliegst du zum ersten Mal nach Kairo?«, fragt mich eine Aschenbecher-Stimme, als wir am Gate warten. Deren Besitzerin heißt Dina1, hat einen Kopf voller wilder Locken und sieht aus wie Ronja, die Räubertochter, in ihren Mittzwanzigern.

Früher war Dina bestimmt eines dieser Rabauken-Mädchen, mit denen man in der Grundschule zwingend befreundet sein wollte, weil sie schon damals wussten, wie man knutscht und Omas Melissengeist trinkt. Dina ist sehr laut, lebendig und kann jeden zu allem überreden. Und das Beste: In fünf Tagen heiratet sie.

Als wir ins Flugzeug steigen, bequatscht Dina die Stewardess, sie auf einen Platz neben mich zu setzen, und flößt mir hochprozentigen Mandellikör aus diesen kleinen Fläschchen ein, die es nur im Flugzeug gibt, zusammen mit einer hochkonzentrierten Version ihres Lebens. Sie ist 27, halb Ägypterin, halb Deutsche, studiert Psychologie und managt ein Bekleidungsgeschäft. In Berlin war sie, um sich ein Hochzeitskleid von Kaviar Gauche zu kaufen.

Nach zehn Minuten habe ich das Gefühl, Dinas Biografie schreiben zu können. Nach fünfzehn Minuten lädt sie mich zu ihrer Hochzeit ein. Nach einer halben Stunde beschließt sie, noch am gleichen Abend eine Willkommensparty für sich und mich zu schmeißen. Nach 31 Minuten schläft Dina ein und pfeift leise auf einem Nasenloch. In meinem Kopf macht sich eine angenehme Leere breit, aus der mich erst das Landungsruckeln des Flugzeugs wieder herausreißt.

Im Duty-free-Bereich beladen wir einen Einkaufswagen randvoll mit Alkohol, den wir dann im Kofferraum von Dinas Freund abladen. Nader ist älter als sie und hat ebenfalls einen deutschen Elternteil. Er ist höflich, hat kluge Augen und spricht so bedächtig, als würde er jedes Wort erst prüfend vorkauen. In seiner Anwesenheit wird Dina weicher, zarter. Ein Wirbelwind, der plötzlich leicht wie eine Brise weht.

Wir fahren in das Haus von Dinas Eltern in Heliopolis, einem wohlhabenden Teil von Kairo. Dina und Nader wohnen noch nicht zusammen: Vor der Heirat sei das sehr schwierig. Dafür hat Dina heute sturmfrei. Ich blicke mich neugierig um. Nour, ihr Bruder, bewohnt eine Einliegerwohnung, obwohl er jünger ist. Dinas Zimmer grenzt ans Wohnzimmer. Zufall? Oder genießen Männer tatsächlich mehr Freiheit?

»Warum habt ihr beide überhaupt Doppelbetten, wenn niemand bei euch übernachten darf?«, frage ich. In Ägypten gebe es viele Dinge, sagt Dina, die es eigentlich nicht gibt: Reizwäsche unter den züchtigen Kleidern, Prostitution, dunkle Ecken zum Rummachen, im stillen Mitwissen der Eltern beim Freund übernachten, solange man eine einigermaßen plausible Ausrede vorweisen kann.

Anstrich sei oft das Wichtigste: Paare aus der Mittelschicht, die miteinander schlafen und dennoch seriös wirken wollen, können zum Beispiel eine Urfi-Heirat vollziehen – eine Art inoffizielle Eheschließung. In der Oberschicht gilt meistens: Alles erlaubt, solange es niemand sieht. Selbst die liberalste Frau wird ihrem Ehemann kaum etwas von ihren früheren Abenteuern erzählen. Und bei der Hochzeit werden die Freunde, die früher deine Haare über der Toilettenschüssel hielten, und mit dir über dem Schwangerschaftstest bangten, auf deine Ehre trinken.

Ami Mowafi, die eine Kolumne für das Magazin Enigma schrieb – eine Art Cosmopolitan der arabischen Welt –, formuliert es so: »Jede von uns ist eine Jungfrau (solange das Gegenteil nicht bewiesen werden kam), ein (gefallener) Engel, eine Ehefrau in Ausbildung; ein gutes Mädchen in der Mache. Wir haben nie einen Tropfen Alkohol angerührt (bis uns jemand dabei erwischt) und noch nie eine Zigarette geraucht (vor unseren Eltern).« Mowafi stellt sich folgende Frage: »Wenn all die arabischen Männer ihre Jugend damit verbringen, stolz ihre Saat zu streuen und jede arabische Frau sagenhaft züchtig ist – wo genau wird diese Saat geerntet?«

Ja, wo? Dina zuckt mit den Schultern. »Hinter verschlossenen Türen und halb zugedrückten Augen«, sagt sie. »Es ist keine Sünde, vor der Ehe Sex zu haben. Sünde ist es nur, wenn andere es wissen.«

Inzwischen bevölkern zehn Menschen den Innenhof. Flaschen gehen herum, Mädchen sitzen auf den Schößen der Jungs. Es sieht aus wie eine normale Minihausparty in Berlin. Nur dass es sich hier um eine sehr, sehr kleine Schicht handelt, die die U-Bahn in Kairo noch nie von innen gesehen hat. Einfach so zum Spaß zu knutschen und sich die Hörner abzustoßen ist das Privileg der wenigsten. Irgendwie scheint es besonders ungerecht: In Deutschland ist zumindest Rummachen eines der wenigen Dinge, die nicht direkt mit dem sozialen Status zusammenhängen.

In Kairo lernen sich viele Mittelschichtspaare an der Universität kennen. Aber vor allen Dingen in kleinen Städten ist die Salonheirat immer noch weit verbreitet: die Anbandlung, bei der der unbekannte Bräutigam in spe zusammen mit seinen Eltern im Wohnzimmer der Braut vorspricht.

Aber auch die Oberschicht hat es nicht leicht, erklärt ein Mädchen, das auf Nours Schoß sitzt. Der Weg durch dieses Niemandsland zwischen Jungfrau und Hure sei schmal und steinig. Man dürfe nicht prüde erscheinen, aber auf keinen Fall einfach zu haben sein, schlau, aber nicht zu schlau. Durchsetzungsstark, aber nicht zu selbstbewusst. Weil viele lieber das kleine, hübsche, stille Mäuschen mit dem reichen Vater wollen.

Eigentlich hatte Dina nicht vor zu heiraten. Sie schmachtete die Männer nicht an, sie beneidete sie höchstens um ihre Freiheiten. Und wenn sie die vielen ehrgeizigen Mädchen sah, die alles aufgaben, um eine Kinderaufzucht zu starten, hatte sie erst recht keinen Bock. »Es gibt viele junge Frauen, die im Studium superambitioniert sind. Aber eigentlich gehen sie nur an die Uni um zu heiraten«, erzählt sie. »Heiraten ist die einzige Möglichkeit, Kinder zu haben, eine Familie zu gründen, ohne schiefe Blicke zu ernten.«

Und warum änderte sie ihre Meinung? Bei ihrer eigenen Geschichte wird Dina zum ersten Mal still. »Du weißt ja: Alle glücklichen Geschichten sind gleich«, sagt sie, aber dann erzählt sie doch. »Unsere Freunde meinten, wir sollten uns kennenlernen, weil er auch zur Hälfte Deutscher ist. Ich war die Letzte, die sich verkuppeln lassen wollte. Aber dann … dann war es einfach gut.« Keine Kämpfe darum, wie ein Mädchen zu sein hat, keine Spielchen, kein Tauziehen um die Macht innerhalb der Beziehung. »Plötzlich war das, was ich für unmöglich gehalten hatte, die einfachste Sache der Welt.«

1Name geändert.

Kairo: Nazir und Rania – aus einem Teig, aber unterschiedlich gebacken

Nazir2 sieht erwachsener aus als vor einem Jahr, drahtiger. Aber er umarmt mich genauso überschwänglich und mit der Kraft einer Schrottpresse. Er lacht sein bellendes Lachen und kann es kaum fassen, dass wir uns tatsächlich wiedersehen. Zum ersten Mal sehe ich ein Fältchennetz um seine grün-gelben Augen. Honigfarben nennt man solche in Ägypten.

Wir laufen zu einer Bude, in der Kuschari serviert wird – ein Kohlenhydrateninferno aus Linsen, Reis, Nudeln, Zwiebeln und einer Spur Tomatensoße. Im erbarmungslosen Licht der Neonröhren sehe ich die Kanten, die das letzte Jahr in Nazirs Gesicht gemeißelt hat. Die hautengen T-Shirts sind einem Hemd gewichen. Beides steht ihm gut. »Ein Geschenk von Rania«, sagt er, als ich sein Hemd kommentiere, und sieht plötzlich sehr müde aus. »Es tut mir leid. Ich habe keine Liebesgeschichte für dich. Wir haben uns getrennt.«

Ich bin sprachlos. Um ehrlich zu sein, habe ich Kairo als die erste Station meiner Reise ausgesucht, weil ich bei meiner Reiseplanung noch den Status »engaged« in Nazirs Facebook-Account sah.

Wir lernten uns 2011 in Kairo auf einem Magazin-Workshop kennen, als wir gemeinsam eine Geschichte über Revolutionshymnen recherchierten.

Nazir war damals 27, er hatte Englische Literatur studiert und arbeitete in der Kulturredaktion einer Onlinezeitung. Er war sehr respektvoll, sehr höflich, sehr fürsorglich. Er trieb mich in den Wahnsinn.

Obwohl Kairo im Juli nach der Revolution bei weitem nicht so chaotisch war wie heute, und wir uns meistens in Gruppen bewegten, benahm er sich, als sei die Stadt ein Schlachtfeld und er meine kugelsichere Weste. Wo auch immer wir hingingen: Er war um mich herum, wie eine zweite Haut – ohne mich dabei ein einziges Mal zu berühren.

Nazir konnte auf einer sechsspurigen Straße den Verkehr mit einer ausgestreckten Hand aufhalten. Er kündigte alle Straßenlöcher in kilometerweiter Entfernung an. All die schmierigen Blicke, nach denen ich mich am liebsten gewaschen hätte, tötete er mit einem Gegenblick. Leider tötete er auch jeden meiner Versuche, allein auf die Straße zu gehen. Nazir hatte eine übersinnliche Begabung, genau dann vor der Redaktionstür zu rauchen, wenn ich mich gerade rauszuschleichen versuchte.

Die einzige Gelegenheit, seinem wachsamen Auge zu entfliehen, ergab sich, wenn sein Handy sich in einem süßlichen ägyptischen Lied ergoss. Dann vergaß er für 20 Minuten die Welt um sich herum. Erst am fünften Tag eröffnete er mir, wer die Verursacherin meiner persönlichen Freiheitshymne war: Rania, seine Kollegin, für ihn das schönste Mädchen der Welt. Sobald er das Geld für die Ringe beisammenhatte, wollte er sich mit ihr verloben.

Rania arbeitete bei derselben Onlinezeitung wie Nazir, aber in einer anderen Redaktion. Zuerst sprachen sie nicht viel: Rania war eine Hierarchiestufe über ihm, sie hatte in London studiert und schüchterte ihn etwas ein. Alles, was Nazir über sie wusste, war, dass eine Sammlung von Katzenfiguren auf ihrem Tisch stand und dass sein Herz höher schlug, wenn sie den gleichen Aufzug nahm wie er.

Nazir hielt Rania für unerreichbar. Bis zu dem Tag, an dem vor dem Fenster plötzlich ein dicker Regenvorhang hing und für mehrere Stunden blieb. Der Sturm hatte die wuselige Stadt menschenleer gespült stattdessen flutete eine dickflüssige Suppe aus Gemüseschalen, Müll und braunem Dreckwasser die Straßen. Normalerweise kann man in Kairo keine drei Schritte laufen, ohne dass ein Taxifahrer anhält und einem seine Dienste aufdrängt. An diesem Tag aber waren plötzlich alle ausgebucht – erst recht in dem abgelegenen Stadtteil, in dem die Redaktion lag.

Nazir dachte, er sei der Letzte, der unter dem Vordach auf ein Taxi wartete. Aber dann trat Rania aus der Dunkelheit und fragte verschämt nach einer Zigarette. Sie saugte hastig daran, jeden Moment bereit, sie wegzuwerfen, sobald jemand kam. Aber die Straße blieb leer: kein Mensch, kein Taxi. Nazir wünschte, es würde für immer so bleiben: Es war gemütlich sich vorzustellen, sie beide wären die letzten Menschen auf der Welt, und hinter dem Regen zu reden, über Nazirs fünf Geschwister, über Ranias Katzen, über den Sinn des Lebens.

Als endlich ein Auto vor dem Vordach abbremste und Rania einstieg, lief Nazir eine Dreiviertelstunde durch den Regen und spulte die Unterhaltung in seinem Kopf zurück. Zu Hause schrieb er ihr sofort eine SMS, ob sie gut angekommen sei. Daraus wurden schnell Hunderte, Tausende. Geküsst haben sie sich aber erst Monate später, an seinem Geburtstag, vor den Pyramiden. Für ihn war es nicht der erste Kuss, aber »der erste richtige«. Für sie war es der erste. Danach wurden die »Fahrstuhlmomente« zu Nazirs Höhepunkten des Tages: 30 gemeinsame Sekunden in einem einsamen Aufzug vom Erdgeschoss in den fünften Stock, wo sie arbeiteten.

Rania lernte ich ebenfalls 2011 kennen. Sie, Nazir und ich gingen zu dritt ins Ägyptische Museum. Rania hatte Apfelbäckchen, trug ein pink-braunes Kopftuch und ein pinkes T-Shirt mit einer Cartoonkatze darauf. Höflich bestaunten die beiden mit mir jede Scherbe, obwohl klar war, dass sie nur Augen füreinander hatten. Um ihnen einen zweisamen »Museumsmoment« zu lassen, schloss ich mich einer Führung an.

Als der Guide uns in den Schmuckraum brachte, sah ich sie wieder. Nazir führte Rania gerade von einer Glasvitrine zur anderen und rückte sie so hin, dass ihr Spiegelbild im Glaskasten die schweren Pharaonencolliers trug. Sie waren ein schönes Paar: Er stark und sehnig wie ein Windhund; sie klein, pausbackig, lebendig, an ihrem Hals Prachtketten längst vergangener Königreiche.

Echten Goldschmuck konnte Nazir sich nicht leisten. Vielleicht sei es daran gescheitert, sagt er.

Im Juli 2011 verlobten sie sich, ein Riesenschritt: »Es ist eine Sache, Küsse und Geheimnisse zu teilen«, sagt Nazir. »Und eine andere, Familien zu teilen.« Es sei der größte Moment in seinem Leben gewesen, erinnert sich Nazir, zum ersten Mal vor den Augen der Eltern nebeneinanderzusitzen. Mit der gesamten Familie fuhren sie auf einer Feluke, einem traditionellen Boot mit Musik, den Nil herunter. Vor der Bootsnase lagen die dreckigen Wellen, vor ihnen die Zukunft.

Doch die Zukunft trat nie ein. Die Hochzeit war für 2013 geplant, aber es war klar, dass er bis dahin nicht das Brautgeld beisammenhaben würde. In Ägypten müssen beide Parteien Geld in die Ehe einbringen, aber der Mann trägt meist den größeren Teil und muss eine Wohnung bereitstellen. Rania sagte jeden Tag, dass Nazir mehr arbeiten solle, aber die Wirtschaftsflaute machte es unmöglich, einen zweiten Job zu finden, oder eine Wohnung, die er bezahlen konnte.

Sie stritten. Aus ihrem Mund kamen nur Beschimpfungen. Seine Lippen wurden von ungesagten Worten schmal.

»Rania und ich waren aus einem Teig«, sagt Nazir, »aber sehr unterschiedlich gebacken.«

»Hast du das nicht gleich bemerkt?«, frage ich.

»Kennst du diesen schiefen Turm, der bei euch in Europa steht?«

»Den Schiefen Turm von Pisa?«

»Ich glaube, so heißt er. Also, wenn man von außen schaut, sieht man sofort, dass er krumm ist. Aber wenn man oben steht, soll der Ausblick trotzdem sehr schön sein, habe ich gehört. Ich glaube, wir haben zu sehr an die Zukunft gedacht, an die Hochzeit und die Kinder, und nicht gemerkt, dass die ganze Beziehung schief ist.«

Nach einem Riesenstreit, nach dem alles endgültig kaputt schien, ignorierte Rania drei Tage lang seine SMS. In seiner dritten schlaflosen Nacht schrieb Nazir ihr: Wenn ich Dir irgendwas bedeute, irgendwas, schick mir eine SMS. Ein Wort. Egal welches. Einen Punkt. Oder ein Ausrufezeichen. Aber lass von Dir hören.

Sein Handy blieb stumm. Erst zwei Tage später meldete sie sich, mit einer Einladung zum Familienabendessen, um alles gemeinsam zu besprechen. »Aber es war zu spät. Ich bin ein Mann der Entscheidung. Wenn es auch nur einen Moment gab, in dem ich ihr nichts wert war, ist die Beziehung nicht zu retten.«

Nazir ging nicht zum Abendessen, wechselte seinen Job. Im alten Büro konnte er nicht einmal mehr Fahrstuhl fahren, ohne dass sein Herz sich zusammenzog. Seit anderthalb Monaten sind sie nun getrennt: »Eine Verlobung ist wie eine Operation, die zwei Menschen aneinandernäht, ihre Zukunft und meine Zukunft«, sagt Nazir. »Die Amputation bringt dich fast um. Und damit ist es noch lange nicht vorbei. Ich habe manchmal immer noch Phantomschmerzen.«

Das nächste Mal will er sich von seiner Mutter verkuppeln lassen. »Liebe hat mit Emotion zu tun, Heirat mit Verstand«, sagt Nazir. »Die Alten haben von so was viel mehr Ahnung.« Er hat sowieso nicht vor, sein Herz wieder zu verlieren: »Wer sich einmal die Zunge an der heißen Suppe verbrannt hat, der pustet jetzt auch auf den Joghurt«, zitiert er ein arabisches Sprichwort.

»Du wirst sicher ein tolles Mädchen finden«, sage ich.

»Inschallah«, sagt Nazir. So Gott will.

Inzwischen habe ich meinen Erdbeersaft ausgetrunken und Nazir hat eine Schachtel Zigaretten geraucht. Ich schmiede strategische Pläne, wie ich es schaffe, meine Getränke einmal selbst zu bezahlen, aber es ist alles wie immer: Als wir gehen wollen, ist die Rechnung bereits beglichen. Nazir führt mich wie ein Bodyguard zurück ins Hotel.

Ich trotte ihm hinterher und denke darüber nach, was für ein riesengroßes Ereignis die erste Hochzeitsnacht in Ägypten sein muss. Wenige Stunden nach der Zeremonie hat die Frau zum ersten Mal Sex, wacht in einem neuen Bett auf, sieht zum ersten Mal einen nackten Mann, ihren nackten Mann, sieht wie er schläft, was er zum Frühstück isst, sieht seine dreckigen Socken, sucht die Lichtschalter in ihrer gemeinsamen Wohnung, findet sich in ihrem neuen Leben wieder.

Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, zusammen mit jemandem Bettwäsche einzukaufen, bevor wir uns jemals in einem Bett gewälzt haben; ein Sofa auszusuchen, bevor man schläfrig-fummelnd zweihundert Filme auf der alten Couch miteinander geguckt hat. Vermutlich sind die Schritte der Choreographie einer Ehe überall auf der Welt gleich. Nur werden sie in den verschiedenen Kulturen in einer anderen Reihenfolge getanzt: die Eltern kennenlernen, zusammenziehen, miteinander schlafen, herausfinden, ob der andere lieber Kaffee oder Tee zum Frühstück trinkt, wissen, wie jemand ohne Boxershorts aussieht, zusammen verreisen …

Über gemeinsame Pfannen, Töpfe und Ewigkeitsversprechen gleich am Liedanfang würde ich stolpern. Und einer Ägypterin käme es wahrscheinlich komisch vor, sich gleich zu den ersten Takten der Melodie auszuziehen.

Wenn eine Eigentumswohnung in Deutschland die Voraussetzung wäre, eine Frauenbrust zu sehen, wären wohl alle meine männlichen Freunde noch Jungfrau. Ich selbst denke allein schon über das Zusammenziehen in eine gemietete Wohnung mit provisorischen IKEA-Möbeln seit anderthalb Jahren nach – ohne zu einem Schluss zu kommen. Nicht, dass schwerwiegende Gründe dagegen sprächen. Aber es gibt auch keine schwerwiegenden Gründe dafür, schon jetzt mit dem »Rest des Lebens« anzufangen, in dem man ein Klingelschild teilt. Die Hälfte der Woche verbrachten wir sowieso, als wären wir verheiratet. Und danach gingen wir jeder in die eigene Wohnung, um uns quer über das Bett auszustrecken und ungestört in der Nase zu bohren.

»Denkst du eure Beziehung hätte ohne den Heiratsdruck überlebt?«, frage ich Nazir.

»Gut möglich. Aber so wie ihr das in Europa macht, will ich das nicht haben. Es ist viel zu hart.«

»Wie meinst du das?«

»Bei euch ist man auf Probe zusammen: Vielleicht klappt’s, vielleicht klappt’s nicht.«

»Aber wenn es tatsächlich nicht klappt?«

»Dann tun wir unser Bestes, damit es das doch tut.«

»Und all das gemeinsame Hab und Gut ist die Garantie, dass man hart genug daran arbeitet? Das Vorhängeschloss der Beziehung sozusagen?«

»Ja. Wenn man sich dieses Vorhängeschloss denn leisten kann.«

Dann presst er mich wieder in seine Schrottpressen-Umarmung.

»Bitte verstrick dich in keine Abenteuer. Versprochen?«

»Versprochen«, sage ich.

Am nächsten Tag werde ich gekidnapped.

2Name geändert.

Eine sehr einfache Liebesgeschichte

Es ist kurz vor fünf Uhr morgens, und das Auto braust mit 120 Stundenkilometern durch die Morgendämmerung, immer weiter weg von der Innenstadt. Niemand reagiert auf mein Flehen anzuhalten, selbst als ich äußerste Blasennot simuliere.

»Ich muss ganz dringend raus!«, winsele ich von der Rückbank. »Ich muss so stark pinkeln, dass ich mir gleich in die Hose mache!«

»Später«, sagt Aladin, und das Auto fliegt weiter durch die menschenleeren Straßen Kairos.