Löwenbaby - Christina Wessely - E-Book

Löwenbaby E-Book

Christina Wessely

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Beschreibung

Löwenbabys sind süß und flauschig und zugleich Symbol für Potenz und Überlegenheit. Bis in die 80er gaben sie zusammen mit Fototapete und Baumstamm ein beliebtes Motiv ab für Souvenirs aus den heimischen Safariparks. Heutzutage erscheinen uns diese Bilder höchst befremdlich. Bei der Räumung der großelterlichen Wohnung stößt Christina Wessely auf eine mehr als dreißig Jahre alte Fotografie, die sie mit ihrem Vater und einem jungen Löwen im Safaripark Gänserndorf bei Wien zeigt - sie beginnt zu recherchieren und fördert Erstaunliches zutage. Diese kleine Kulturgeschichte der Löwenbabyfotografie ist das Porträt eines pervertierten Nischengeschäfts und zugleich eine Analyse des sich wandelnden Verhältnisses zwischen Mensch und Tier.

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Seitenzahl: 39

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Christina WesselyEreignisfotomit Löwenbaby

punctum 012

Die Züge des Menschen haben zwareine besondere Prägung,aber die Verwandtschaft seines Glücksund Elends mit dem Leben der Tiereist offenbar.

Max Horkheimer

Inhalt

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Bibliografie

I.

Mein Vater, ich und ein kleiner Löwe sitzen vor einer Fototapete im Safaripark Gänserndorf bei Wien, wir schreiben das Jahr 1982, ein Mann in khakigrüner Fantasieuniform steht uns gegenüber und drückt ab, er ist der als »Ranger« verkleidete Fotograf.

Das Bild, das er anfertigte, war über viele Jahrzehnte unsichtbar, denn es war eng und fest in seine Umgebung eingebunden, ja schien geradezu verwachsen mit dem Raum zu sein, in dem es stand. Zusammen mit den Cordsesseln, den braun gemusterten Vorhängen, der großen Schüssel aus Bleikristall, die immer, wirklich immer (egal, wie viel man schon gegessen hatte), randvoll war mit Milka Naps und Merci Schokolade, gemeinsam auch mit dem hölzernen Tukan aus Miami Beach, der über dem Fernsehgerät in einem hängenden silbernen Reifen hockte, und mit dem olivgrünen Telefon, das mir besonders geheimnisvoll schien, weil meine Großeltern, in deren Wohnzimmer es auf einem kleinen Tischchen stand, tatsächlich eine »Geheimnummer« hatten, die nicht im Telefonbuch verzeichnet war, war es nur ein weiterer Bestandteil der Umgebung, in die all diese einzelnen Elemente randlos eingesenkt waren.

Das Eingelassen-Sein war Prinzip dieses Interieurs: Auf der rechten Seite war in den Wandverbau, den mein Großvater (der »Onkel Karli« hieß und eigentlich gar nicht mein echter Großvater war, sondern mit meiner Oma in wilder Ehe lebte, ein leiser Skandal, über den man besser nicht sprach) nach eigenen Plänen angefertigt hatte, eine mit sehr eleganten, sehr dünnen Glastüren versehene Hausbar eingelassen, aus der sich die Männer (und nur sie) nach jedem Essen einen Fernet-Branca genehmigten. Linker Hand konnte man an einem silberfarbenen Griff ziehen und so einen in die Schrankwand eingelassenen Schreibtisch mit aufwendig dekoriertem Rückraum, der einer Höhle glich, aufklappen und seinen Inhalt offenlegen.

Nichts in diesem Wohnzimmer war lose. Von mobilen, modularen Einrichtungen hatte die Zeit schon gehört, aber meine Großeltern nicht, und dementsprechend war auch den Familienfotografien ein Platz bestimmt, ein Regalfach genau in der Mitte zwischen der Hausbar und dem Klappschreibtisch, das merkwürdigerweise genau so hoch war wie die gerahmten Fotos, die dort aufgestellt waren, passgenau. Zu diesen derart in ihre Umgebung eingespannten Fotografien gehörte auch jenes Bild, das kurz nach der Scheidung meiner Eltern entstanden sein muss.

Seit den frühen 80er-Jahren stand es im großelterlichen Wohnzimmer, und es war immer so selbstverständlich da, dass ich es gar nicht sah, obwohl ich über mehr als dreißig Jahre mindestens ein-, meistens zweimal pro Woche in diesem Wohnzimmer saß, dem Foto schräg gegenüber geröstete Leber mit Erdäpfelpüree aß, danach mit Schlagobers und enormen Mengen Kristallzucker dekoriertes Kastanieneis, und mit meiner Oma über Schulnoten und die Familie, über die neuste Mode und die Affären des europäischen Hochadels, später über meine Beziehungen und den Beruf sprach.

Es gab minimale Verschiebungen der Gesprächsthemen, aber das fiel kaum auf. In jenen Jahren war immer alles wie immer. Während sich alles außerhalb dieses Raumes mit rasender Geschwindigkeit änderte, besonders in den 1990er-Jahren – der Körper, die Gefühle, die großen und die kleinen Freundschaften, die Interessen, das Verhältnis zu den Eltern, die Welt auch, aber für die Welt interessierte ich mich damals noch nicht besonders – war das Wohnzimmer meiner Großeltern ein geschichtsloser Ort, beinahe ein Stück Natur, dessen Zentrum das Löwenbabyfoto bildete. Einige der anderen Bilder im Wandverbau wurden ab und an ausgetauscht: mein Vater, seine Mutter und ich beim Faschingsfest vs. ich beim Skirennen vs. ich im Festsaal der Universität Wien (greise Männer mit Zepter und Amtsketten überreichen mir mein Diplom); mein Vater im Architekturbüro vs. mein Vater, schon in Pension, vor dem grasgrünen Campingbus etc. Das Löwenbabyfoto jedoch blieb stur an seinem Platz. Es schien nie unmodern zu werden, war offenbar nie der Gefahr ausgesetzt, von den jüngsten, vielleicht spektakuläreren Ereignissen auf den Bildern verdrängt zu werden. Und doch registrierte ich diese neuen Fotos, die anfangs fremd wirkten in den altbekannten Rahmen, zumindest aus dem Augenwinkel. Nur die Fotografie aus dem Safaripark Gänserndorf entging mir jahrzehntelang. Dort, schräg links von mir, veränderte sich das Zentrum dieser Ewigkeitsumgebung einfach nicht.