Lückenleben - Katrin Seyfert - E-Book

Lückenleben E-Book

Katrin Seyfert

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Beschreibung

Vom Umgang mit einem unheilbar Kranken in der Familie und den Erwartungen von außen, die das Leid noch schlimmer machen

Fünf Jahre hat Katrin Seyfert ihren Mann durch seine Alzheimer-Erkrankung begleitet. Anfang 50 war er, als er die Diagnose bekam, Arzt und Vater von fünf Kindern. Sie hat den Familienalltag organisiert, die Finanzen, den Pflegedienst. Schließlich die Beerdigung. Schonungslos offen und brutal ehrlich erzählt sie davon, wie es ist, wenn der Partner allmählich seine Sprache und damit seine Identität verliert. Wie sie mit der Rolle hadert, die ihr erst als pflegende Ehefrau, dann als Witwe zugeschrieben wird. Und wie sie ihren eigenen Weg findet, sich mit der Lücke, die ihr Mann hinterlassen hat, zu arrangieren. Das Leben schlug zu, mit ihren Texten schlägt sie zurück: gegen die Konventionen, gegen die Tabus, gegen die Selbstverleugnung.

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Fünf Jahre hat Katrin Seyfert ihren Mann durch seine Alzheimer-Erkrankung begleitet. Anfang 50 war er, als er die Diagnose bekam, Arzt und Vater von fünf Kindern. Sie hat den Familienalltag organisiert, die Finanzen, den Pflegedienst. Schließlich die Beerdigung.

Schonungslos offen und brutal ehrlich erzählt sie davon, wie es ist, wenn der Partner allmählich seine Sprache und damit seine Identität verliert. Wie sie mit der Rolle hadert, die ihr erst als pflegende Ehefrau, dann als Witwe zugeschrieben wird. Und wie sie ihren eigenen Weg findet, sich mit der Lücke, die ihr Mann hinterlassen hat, zu arrangieren.

Das Leben schlug zu, mit ihren Texten schlägt sie zurück: gegen die Konventionen, gegen die Tabus, gegen die Selbstverleugnung.

Katrin Seyfert ist das Pseudonym einer freien Journalistin, Jahrgang 1971, die in Tübingen Rhetorik und Kulturwissenschaft studiert hat. Sie schreibt u. a. für die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung, Eltern und den SPIEGEL, wo sie seit 2019 auch Texte über die Alzheimer-Erkrankung ihres Mannes veröffentlicht, die regelmäßig große Resonanz bei Leserinnen und Lesern hervorrufen. Sie hat sich für ein Pseudonym entschieden, weil die Perspektive der Witwe nur einen Teil ihres Schreibens bestimmt.

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Katrin Seyfert

Lückenleben

Mein Mann, der Alzheimer, die Konventionen und ich

Ein SPIEGEL-Buch

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Copyright © 2024 by Deutsche Verlags-Anstalt, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München, und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Alzheimer-Bingo siehe hier und im Vorsatz / Nachsatz: © Marianne Moosherr

Umschlaggestaltung: Favoritbuero

Umschlagmotiv: Ninoisy/Shutterstock.com

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-31575-7V001

www.dva.de

Inhalt

Vorwort

»Was Sie jetzt brauchen, ist ein Testament«

»Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael«

Ein großes, trauriges Geschenk

Hummer und Sorgen an der Litfaßsäule

Prämortale Trauer

Ich brauche keine Kur, ich brauche Geld

Verrückt. Ich werde besser im Beruf

Zurückgeblieben

Wir haben genug

Jetzt ist er im Heim. Und das Haus ist leer, obwohl es voller Möbel steht

Fünf Puddings

Würde und Kitsch

Für so viele Dinge gibt es keine Worte

Sterbeurkunde und Hamster

Mädchen trauern anders als Jungen

Ein einzelnes hilfloses Haar

»Ja, das sollen Sie.«

Sei herausragend, aber falle dabei nicht auf

Ein versteckter Burnout

»Das Leben sagt immer zugleich Ja und Nein.«

Egoismus lernen

Der Körper trauert

Unklarer Bauch

Putins Pudding

Tagwursterei

Schlechte Laune

Witwenscham

Spültabs, Brot und Ziegenkäse

Gemütliche Verarmung

Ausblick und Schluss

Zwei Jahre Lebensdank

Literatur und Quellen

Anmerkungen

Vorwort

Mein Mann, die Liebe meines Lebens, bekam vor einigen Jahren Alzheimer. Er war ein stabiler, aber maulfauler Westfale mit einem großen Hang zur Lakonie. Er konnte als Arzt zwei Menschen gleichzeitig reanimieren und gab mir danach sein blutverschmiertes Hemd mit der Bemerkung: »Kochwäsche.« Er nahm mich in all meiner Hysterie, Verrücktheit und Quirligkeit und hielt mich am Boden. Es konnte sein, dass ich mit einem chaotischen Auftrag und glänzenden Äuglein nach Hause kam und Marc schon im Flur sagte: »Egal, was es ist, ich bin dagegen.«

War er dann meist natürlich nicht, aber ich wusste: Er, mein Korrektiv, schont mich nicht, aber beschützt mich, wenn die Gäule mit mir durchgehen. (Und tatsächlich habe ich in unserer Ehe nur ein einziges Mal Nein von ihm gehört. Da hatten wir drei Kinder, und ich wollte über Weihnachten nach Afghanistan. Ich glaube, das war die bescheuertste Idee meines Lebens.)

Wir waren so das Eiche-und-Kolibri-Modell, und wer uns besuchte, wusste nach fünf Minuten, dass Marc garantiert nicht der flatterhafte Vogel war.

War.

Bis zur Diagnose war er der Starke. Und ab da musste ich sein Leben mitleben, organisieren und selbst sein Sterben in seinem Sinne planen, so wie ich auch unsere Hochzeit, die Taufe und Konfirmation unserer Kinder und so manchen Urlaub und so manchen Sonntagsausflug auf die Beine gestellt habe. Und jetzt muss ich unser Leben planen ohne Marc. Ein Lückenleben, das es aber genauso wert ist, gemocht zu werden. Das bin ich mir, meinen Kindern und vor allem meinem Westfalen schuldig. Es ist aber nicht nur ein Lückenleben, es geht darum, die Lücken zu leben. Als Kranker. Als Angehöriger. Aber auch als Gesellschaft. Früher sind wir liebevoller mit Kranken und Krankheiten umgegangen. Wir waren tüddelig, ein Zappelphilipp oder hörten die Stimme Gottes. Heute benennen wir es gnadenlos: Alzheimer. ADHS. Schizophrenie. Präzision ist nicht immer ein Segen.

Bei der Bewältigung einer Krankheit gibt es zwei Ebenen: Die eine, medizinische, lebt von guten Ärzten, guten Medikamenten, einer Therapie, vielleicht einer Pflegeunterstützung. Die zweite Ebene lebt von den Angehörigen, ihrer Kraft und ihrer Originalität, weiterzumachen, obwohl alles anders geworden ist. Ich bin sicher, dass die zweite Ebene noch heilsamer ist als die erste. Die beste Medizin ist einen Fliegenschiss wert, wenn das Umfeld des Kranken krank wird oder resigniert. Doof ist nur, dass wir immer über die erste Ebene reden: Habt ihr schon einen guten Facharzt? Gibt es eine gesicherte Diagnose? Eine Zweitmeinung? Kann man anthroposophisch etwas dagegen tun?

Die zweite Ebene kommt erst sehr zaghaft ans Tageslicht. Weil es ein Tabu ist, vom Erfolg einer Angehörigen zu sprechen. Erst recht, wenn der Erkrankte inzwischen verstorben ist. Es ist ein Tabu, sich für diese Arbeit zu feiern. Dieser Erfolg macht unrein. Es ist sogar ein Tabu, über dieses Tabu auch nur zu reden. Geschweige denn zu schreiben.

In den insgesamt fünf Jahren zwischen Marcs Diagnose und seinem Tod im September 2022 sowie in dem Jahr danach schrieb ich mehrere Artikel über unser Familienleben mit Alzheimer. Als ich meiner ältesten Schwester erzählte, dass ich plane, nun auch noch ein Buch zu veröffentlichen, schaute sie mich kritisch an (das tut sie immer, wenn sie es gut und auch ein bisschen böse mit mir meint) und sagte:

»Willst du Marc jetzt noch weiter verhökern?«

Ja, will ich das?

Verschachere ich, veräußere oder verramsche ich die Krankheit, das Leiden und das Sterben meines Mannes? Oder suche ich den Ausdruck als Verarbeitung meiner schwersten Jahre? Beides wäre unredlich. Im ersten Fall sollte es andere Möglichkeiten geben, zu Geld zu kommen, im zweiten sollte ich besser Tagebuch schreiben.

»Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht«, sagt die Schriftstellerin Judith Hermann. Schön. Ich hätte diesen Satz gern geklaut.

Aber ich glaube, es geht noch um etwas anderes. Darf man über Krankheit, Sterben, Tod öffentlich reden, oder ist das immer noch ein Tabu?

»Was Sie jetzt brauchen, ist ein Testament«

»Du, Marc, ich möchte für den Spiegel etwas über Alzheimer schreiben. Wäre dir das recht?«

»Für wen?«

»Den Spiegel, das ist die Zeitschrift, die du immer liest.«

»Was ist damit?«

»Ich möchte für den Spiegel eine Geschichte über deine Krankheit schreiben. Würdest du das erlauben?«

»Was?«

»Dass ich eine Geschichte über dich und Alzheimer schreibe.«

»Für wen denn?«

»Den Spiegel.«

»Aha. Und warum?«

An guten Tagen fragt mein Sohn: »Papa, wie heißt die Hauptstadt von Eritrea?«, und mein Mann antwortet: »Asmara. 900000 Einwohner.« Er könnte auch sagen, wie viele Eier eine Mandarinente legt oder was der Unterschied zwischen Zystennieren und Nierenzysten ist. Bei Wer wird Millionär? wäre er weit gekommen.

Vor seiner Krankheit. Vor Alzheimer.

Heute hat er Inseltage. Da ist alles so wie früher. Und Krisentage, da müssen wir mitunter hart verhandeln, damit die Informationen den Kurzzeitspeicher im Gedächtnis wenigstens kurzfristig betreten dürfen. An schlechten Tagen verwehrt die Krankheit ihnen auch gänzlich den Zutritt.

Und ich verfalle nach drei, vier, fünf Wiederholungen in diesen widerlichen Krankenschwesternton, den keine Krankenschwester der Welt benutzt, weil sie Profi ist und ich Amateurin. Ich spreche mit Imperativ-Rhetorik, entbeint von Adjektiven und Adverbien, akzentuiert, unfreiwillig laut und langsam, so als wären Gedächtnisverlust und Schwerhörigkeit ein und dasselbe. »Schrei doch nicht so«, sagt mein Mann, weil das Einzige, was sein Gehirn dann noch wahrnimmt, meine Veränderung in der Modulation ist. Und Veränderung ist bedrohlich.

Angefangen hat die Krankheit kurz nach seinem 50. Geburtstag. Da war es noch keine Krankheit. Sondern ein steter Vorwurf: Kannst du nicht mal den Biomüll ordentlich trennen? Du wolltest doch Brot kaufen, wo ist das denn? Wieso hast du meinen Geburtstag vergessen?

Ich schob es auf die Arbeitsbelastung, obwohl die nur ein Symptom seiner beginnenden Krankheit war. Ich schob es auf eine Depression, obwohl die nur eine Konsequenz unserer Ahnung war. Ich schob es sogar auf unsere drei Kinder, damals zehn, acht, sechs, so laut, so wild, obwohl sie nur eine Ablenkung von der wachsenden Panik waren.

Mein Mann ist Arzt, ich bin sicher, er wusste zu jeder Zeit, dass sich da etwas zusammenbraute, was nicht gut war. Also schob er hinaus und kompensierte. Ich fand immer häufiger Zettel, auf denen Selbstverständlichkeiten standen: »10 Brötchen kaufen«, »Fußballtraining 16 Uhr«. Er schlief vor Erschöpfung bei der Tagesschau ein. Er lachte seltener und trank dafür Kaffee, der Tote hätte wecken können. Später, viel später las ich, dass Kaffee Demenz verlangsamen kann und dass die Verschlechterung des Geruchs- und Geschmackssinns ein Frühsymptom von Alzheimer sein kann.

Aber irgendwann kamen wir an den Tatsachen nicht mehr vorbei. Wir mussten uns anbrüllen, damit etwas in Bewegung kam. Nein, wir redeten nicht gesittet und wie vernünftige Leute. Wir schrien gegen unser beider Vorahnung an. Und ich rang Marc ein Versprechen ab: »Nach den Sommerferien gehe ich zum Arzt.«

Leider sagte er nicht, zu welchem. Und weil er nicht blöd, sondern nur dement wurde, ging er erst einmal zu einem Arzt, der garantiert nichts finden konnte, damit ich wieder für ein paar Monate Ruhe gab: Er ließ seine Lunge röntgen, seinen Bauch sonografieren, seinen Magen-Darm-Trakt spiegeln. Dass er nicht noch nach Senk- und Spreizfüßen schauen ließ, war alles. Heute weiß ich, dass er Zeit schinden wollte vor dem Unabwendbaren. Denn das einzig Sichere an dieser Krankheit ist: Sie schreitet voran.

Gedächtnistest, MRT, eine Liquorpunktion, selbst ein PET-Verfahren, das die Hirnregion radioaktiv anreichert und damit Plaque-Stellen sichtbar macht – alles brachten wir irgendwann dann doch hinter uns. »Machen Sie sich keine Sorgen, Ihr Mann ist ja so angenehm jovial, und er kann jedem Gespräch folgen. Das sieht nicht nach Alzheimer aus«, tröstete mich die Oberärztin in der Demenzsprechstunde, und ich starrte sie an. Ich weiß noch, dass sie eine dicke Schuppe in ihrer Wimper hängen hatte, und irgendwann während des Gesprächs lösten sich Schuppe und Wimper vom Augenlid. Darf ich mir jetzt was wünschen? Ich wünschte mir: »Rede nicht so einen Mist.«

Er spielt jovial, und er ist ein Meister in der Kompensation, er ist ein »Dissimulant«, so nennen Ärzte das Schauspiel, das er für sie bereithält. Diese vielen Aussetzer, der nicht getrennte Müll, der vergessene Geburtstag waren kein Zeichen normaler Überarbeitung. Trotz unauffälligem MRT.

Zwei Jahre nach den ersten Symptomen, an einem Dezembernachmittag um drei, dann die Gewissheit. Ein überanstrengter Oberarzt ruft an. Nicht Marc, sondern mich. So, als wollte er uns darauf vorbereiten: Das ist nur die erste Entmündigung Ihres Mannes, es werden noch viele weitere folgen. Er sagt nur zwei Sätze: »Alzheimer. Und was Sie jetzt brauchen, ist ein Testament. Ihre Freunde werden sich binnen einem Jahr halbieren, das müssen Sie wissen.« Und ich? Ich sage nicht: »Sie zur Heilung Unfähiger.« Ich sage: »Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Anruf, aber jetzt müssen Sie schnell wieder auf die Station.« Ich habe danach Schuhe geputzt, ein Backofenspray gekauft und getan, als wären es wirklich Senk- und Spreizfüße. So tief saß das Wort Alzheimer.

Rufe ich jetzt Marc an? In seiner Praxis, während der Sprechstunde? Erzähle ich es ihm, während der nächste Patient schon auf ihn wartet? Alzheimer. Die Kinder kommen, »Mama, ich habe eine Zwei in Mathe«, Alzheimer, der Paketbote, Alzheimer, soll ich googeln, telefonieren, nee, dann heule ich, Alzheimer. Wird er irgendwann vergessen, dass es uns gibt, dass wir uns lieben, dass er Kinder hat? Alzheimer. Das Leben ist zusammengeschrumpft auf dieses Wort.

Abends sitze ich auf dem Sofa. Marc ist erschossen von der Arbeit. Er will nur noch fernsehen, damit er eine Ausrede hat, einschlafen zu dürfen. »Marc, ich muss mit dir reden.« – »Oh, nee, jetzt nicht.« – »Doch! Jetzt! Die vom Krankenhaus haben angerufen. Sie haben jetzt die Diagnose. Alzheimer.«

Schweigen. Alzheimer. Auf dem Bildschirm läuft Werbung für Kinderjoghurt. Alzheimer. Marc schweigt und sagt dann: »Man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen, und wenn das meine Krankheit sein soll, dann bin ich bereit, sie anzunehmen.«

Ich heule. Das geht. Man muss nicht reden, keine Zusammenhänge verstehen, nur fühlen. Ich schäme mich, weil doch eigentlich Marc gerade Grund zur Trauer haben müsste. Oder bin ich jetzt schon seine Tränen-Stellvertreterin? So wie ich seine Geld-Stellvertreterin werde, seine Arzt-Stellvertreterin, seine Lebens-Stellvertreterin?

Am nächsten Mittag sitzen wir zur großen Konferenz. Die Kinder schauen erschrocken. Haben wir gemerkt, dass sie heimlich Schokolade genascht haben? »Ich werde nicht mehr arbeiten«, sagt Marc. Ich schlucke. Auch wegen der Unbekümmertheit der Kinder. »Toll, dann bist du ja jetzt immer zu Hause, wenn wir kommen.« Die Kleine erkundigt sich sicherheitshalber: »Was ist eine Vergess-Krankheit? Weißt du noch, wie ich heiße?« Die Kinder lachen erleichtert auf. Sie wissen nicht, dass es eines Tages genau so kommen wird.

Nachmittags fahren Marc und ich zu einem Hundezüchter und kommen mit Tinzo zurück. Immer wollte mein Mann einen Hund, schon bevor wir Kinder hatten, schon bevor wir zusammenzogen, bevor er mich kannte. Jetzt, genau jetzt braucht er etwas zum Streicheln und zum Fettfüttern, weil er mit der Zeit vergisst, wie oft er ihm schon Futter gegeben hat. Ein Wesen, das sich bedingungslos freut und mit dem Schwanz wedelt. Ich brauche keine letzte Reise nach Südafrika, ich brauche keine letzte Kreuzfahrt. Ich brauche den Hund für meinen Mann, weil ich weiß, dass er nicht mehr in der Lage ist, Wünsche umzusetzen. Ich brauche den Hund für meine Kinder. Irgendwann werden wir einfrieren, dann ist der Hund jemand, der schweigend zu uns spricht und uns wortlos liebt.

Die Rechnung geht auf. In den nächsten Wochen sind wir damit beschäftigt, dem jungen Hund das Eingewöhnen zu erleichtern. Ich merke, wie sehr ich es genieße, über die Hundehäufchen neben dem Kamin zu schimpfen. Ach Gottchen, es ist nur Kot!

Tinzo versteht ohne Sprache. Er freut sich ohne Verstand. Er ist von einem Abhängigen abhängig. Dieser Therapiehund hat lebenslanges Inkontinenzrecht.

Als Nächstes müssen wir einen Mediziner suchen, der den Namen verdient. Wenn man eine Krankheit hat, die man ohnehin nicht heilen kann, wird der Menschlichkeitsfaktor zur einzigen Größe. Und was hatten wir für Exemplare:

Der Erste hatte immer nur zehn Minuten Zeit. Dann saßen wir wieder auf der Straße, mit unserem Fragenzettel, der nur halb abgearbeitet war.

Der Zweite war ein zwanghaft Korrekter. Ich durfte nicht mit ins Behandlungszimmer kommen, und als Marc einmal seine Krankenkassenkarte vergaß, schnauzte er: »Wie kann so was passieren?«

Der Dritte war blasiert. »Aber wenn Ihr Mann krank ist, wieso kommen Sie dann mit?«

Der Vierte war langweilig und bot keinen Raum zur Resonanz. Er genügte sich selbst und seinem ICD-Code: G301. Demenz bei Alzheimer-Krankheit mit frühem Beginn, Typ 2. Da wollten wir gar nichts fragen.

Der Fünfte sagte: »Alzheimer? Scheiße!« Bei dem blieben wir. Wir hüten seine Handynummer wie einen Schatz. Nie würden wir uns trauen, dort anzurufen. Aber wir könnten. Er vertraut uns, sie nicht zu missbrauchen. Er schenkt uns eine Ehrlichkeit, die nicht wehtut, weil er dabeisteht und aufpasst, dass wir nicht tief fallen: »Irgendwann, Herr Kollege, wird Sie Ihre Frau gegen Ihren Willen in ein Heim schaffen. Das muss Ihnen klar sein.« Ich frage leise: »Kann man das nicht auch zu Hause schaffen?« »Rechnen Sie nicht damit, sonst setzt es Sie unter Druck, wenn Sie es nicht schaffen«, sagt er. Und dann benutzt er ein Personalpronomen, das mir im Ohr bleibt: »Wir schaffen das.« Dieses »Wir« deckt mich abends zu, wenn ich im Bett liege. Dieses »Wir« nimmt mich an die Hand, wenn ich allein zum Laternenumzug der Kinder gehe.

Dieser Arzt ist mehr Geschenk als Medizin, er kommt auf eine Liste. Ich lege mir in diesen Monaten tausend Listen an: eine mit Freunden, die helfen. Eine mit Freunden, die guttun. Eine mit Dingen, die mich stolz machen, damit es ein Karma-Gegengewicht in unserem Leben gibt. Stolz ist der Antipode zu Alzheimer. Man gibt ihn als Erstes auf, wenn man Herrin über etwas werden möchte, über das man nicht Herrin werden kann: Mein Mann löst sich vor meinen Augen auf in ein kreatürliches Wesen, das irgendwann nur noch Fleisch und Knochen ist.

Stolz, Würde, über diese Dinge denke ich jetzt häufig nach. Ich habe bei Walter Jens in Tübingen studiert, ich habe das Buch gelesen, schon vor vielen Jahren, das seine Frau über seine Krankheit schrieb. Von Walter und Inge Jens habe ich gelernt, dass die Würde eines Kranken auch darin bestehen kann, ihn nicht von der Öffentlichkeit fernzuhalten, nicht zu absentieren, sondern offen zu reden. Jens, der große Intellektuelle, litt zehn Jahre lang an Alzheimer.

Am Schluss konnte er sich an einem Würstchen bei Edeka erfreuen und an einem Stück Apfelkuchen auf dem Hof seiner Pflegerin. Seine Frau Inge prägte den Satz, der mir seitdem Leitbild über Menschsein und Selbstbestimmung ist – mehr als alle theoretischen Abhandlungen ihres Mannes zuvor: »Was lebt, will leben.« Ähnliches hat auch Marc früher gesagt, wenn er über seine Patienten sprach: »Was lebenswert ist, entscheiden die Kranken, nicht die Gesunden.«

Würde hat auch etwas mit Hingabe zu tun und mit Klarheit. Mein Mann würde diesen kitschigen Satz nicht unterschreiben, aber seine Entscheidung, dass wir über seine Krankheit reden dürfen, ja sogar scherzen, ist das größte Geschenk, das er mir in seiner Versehrtheit machen kann.

Der Humor sorgt dafür, dass wir nicht alle durchdrehen. Als mir irgendwann der Krankenhausarzt meiner Mutter eine »traurige Diagnose« mitteilt: »Ihre Mutti hat einen beginnenden Alzheimer«, schaut ihn Marc belustigt an. »Da kann ich drüber, Herr Kollege.« Und als ich eines Abends wieder schweigend auf dem Sofa sitze, dreht sich mein Ältester die Locken und sagt: »Weißt du, was ich gerade denke? Vielleicht prankt uns Papa alle. Und er ist überhaupt nicht krank.«

Marc narrt uns nicht. Ich bin jetzt Alleinverdienerin und fühle mich das erste Mal so wie Millionen Väter in Deutschland. Nur dass ich auch noch die Mutter bin. Und gerade ein viertes, erwachsenes Kind dazubekomme. Verdienen. Erziehen. Waschen. Elternsprechtag. Kindergeburtstag. Hundefutter einkaufen. Hast du deine Tabletten genommen? Der Schlaf ist nicht mehr wie früher mein Freund. Meine Schultern schmerzen.

Wir holen einen jungen Mann ins Haus, der bei uns wohnen soll. Ich sage gleich zu Beginn: »Du kommst in eine kranke Familie, das muss dir klar sein.« Der Mann, ein Geflüchteter aus Eritrea, schaut mich an. »Nein, ich komme in eine Familie, die einen kranken Menschen hat. Das ist ein Unterschied.« Und: »Alzheimer ist keine Katastrophe.«

Amare ist der Einzige, der diesen Satz sagen darf. Er sagt ihn oft. Als Marc das erste Mal mit seiner Tochter im Wald spazieren geht und den Parkplatz nicht wiederfindet. Als der Gutachter-Arzt beim Begutachten sagt: »Wer garantiert mir, dass Ihr Mann nicht noch fünf Prozent Restarbeitskapazität hat und nur nicht arbeiten will?« Als Marcs Eltern uns sagen: »Diese Diagnose bildet ihr euch nur ein.« Ich streiche die Klavierstunden für meine Kinder. Irgendwie ist das für mich das Symbol für das neue Leben: Meine Kinder wachsen ohne Klavierstunden auf, ohne Bildung, Schöngeistiges, Hedonismus. Und so, wie sich Marcs Hirn auflöst, lösen sich meine Maßstäbe auf: Auf einmal sind fehlende Klavierstunden eine Katastrophe, eine tödliche Krankheit jedoch nicht. Die Relationen verschieben sich, manchmal innerhalb einer Stunde.

»Ihre Kinder werden vielleicht irgendwann Hilfe brauchen, wegen der Zeit nach der Diagnose«, sagt mir ein Therapeut. »Aber sie werden sich davon erholen, weil es ein Leben vor der Diagnose gab.« Also keine Bildung, dafür werden sie auch keine Helikopterkinder. Marcs Krankheit ist wie ein Dünger: Sie wachsen und reifen schneller und lernen, für uns mitzudenken. Den Herd ausstellen, die Hundeleine suchen, Mama mit Tränen aushalten.

Ich lese. Weil ich immer gelesen habe. Jetzt könnte ich schreien, bei jedem einzelnen Buch. Entweder weil es so apokalyptisch ist. Oder weil es eine »neue Nähe« in der Partnerschaft beschreibt – eine »neue Nähe«, wie zuwider mir dieser Begriff ist. Ich kann nicht mal mehr mit meinem Mann streiten, und ihr schreibt von »neuer Nähe«? Gibt es Intimeres, als einen Menschen zu lieben, den man auch anschreien darf – und der einen weiterliebt?

Natürlich gäbe es tausend Gelegenheiten, jeden Tag zu streiten: Brauchen wir wirklich ein fünftes Messerset von Penny? Glaubst du echt, dass deine Jungs dir die Handcreme gestohlen und absichtlich versteckt haben? Können wir das Brot nicht einfach immer in den Brotkasten legen, statt in den Backofen, den Kühlschrank, die Waschmaschine? Darf ich das Geld verwalten? Bitte!! Lass mich das machen. Warum? Weil ich es kann und du nicht mehr. Warum? Weil du vergisst. Oft resigniere ich: »Komm, dann füll du den Überweisungsträger aus.« Und danach werfe ich ihn hinter seinem Rücken weg. Ist diese Heimlichkeit würdevoll? Oder gemein?

Abends fange ich an, in die Bettwäsche zu heulen. In unsere Bettwäsche. Ich habe sie zu unserem ersten Hochzeitstag bedrucken lassen, ganz klein, damit es nicht zu kitschig ist, ausgerechnet mit Rainer Maria Rilke:

Ich ließ meinen Engel

lange nicht los

und er verarmte mir

in den Armen

und wurde klein und

ich wurde groß

und auf einmal war ich

das Erbarmen

und er eine zitternde

Bitte bloß.

Das Gedicht verfolgt mich seit 15 Jahren, seit drei Jahren frage ich mich, ob Rilkes Frau auch Alzheimer hatte, so wiedererkannt fühle ich mich in diesen Zeilen, so treffsicher die Beobachtung, dass nur einer wachsen kann auf Kosten des anderen. Ich weiß noch, dass ich Marc von meiner Furcht vor diesem parasitären Wachsen erzählt habe und er sehr gelacht hat: »Aber es ist ja nur ein Gedicht.«

Jetzt ist es ein Gedicht und ein Leben. Irgendwann werfe ich das Laken weg. Wütend und voller Angst, dass es sich bewahrheitet hat.

Ich spüre keine Nähe zu dem Mann, mit dem ich früher über solche Zeilen oder einfach über das Leben debattierte. »Kennst du jemanden, den du heute als hold bezeichnen würdest?« oder: »Was ist Kraft?« Heute frage ich ihn: »Möchtest du Pfannkuchen oder Nudeln zum Mittagessen?«

Die Artikel, die ich schreibe, versteht er nicht mehr. Ich bitte seinen Neurologen, diesen Text gegenzulesen. Damit nichts über ihn geschrieben wird, das ihn verletzen könnte. Damit es zwei Menschen gibt, die ihn schützen.

Meine Ängste versteht Marc nicht. »Warum? Du hast doch immer geschrieben. Schreib doch jetzt auch.« Welche Nähe soll sich da aufbauen, wenn einer entschwindet und der andere entweder gerade Geld verdient oder den Haushalt schmeißt oder schläft?

Immerhin, das mit den »halbierten« Freunden stimmt nicht. Ich bin mir nicht zu schade, um Hilfe zu bitten. Ich bekomme sie mit dem Füllhorn: Meine Nachbarin bietet an, meiner Tochter Klavierstunden zu geben. Ein Freund reist aus Tübingen an und recherchiert ein Wochenende lang, wie man einen Rentenantrag stellt. Meine Patentante schickt still zehn Gramm Gold: »Für dich, wenn du dir mal was kaufen willst, was unvernünftig ist.« Ich werde dieses Gold niemals verkaufen, weil es mir heilig ist. Weil es das Gegenteil von dem symbolisiert, wovor ich am meisten Angst habe: dass mich die Krankheit eines Tages genauso isoliert, wie sie Marc isoliert. Aber die vielen Freunde, die Hilfe, die Unterstützung, das Gold zeigen mir jeden Tag: Es ist keine Katastrophe.

Da hab ich ihm

seine Himmel gegeben, –

Und er ließ mir das Nahe,

daraus er entschwand:

Er lernte das Schweben,

ich lernte das Leben,

Und wir haben langsam

einander erkannt.

»Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael«

Einmal im Monat bin ich gebend, obwohl ich nehme. Einmal im Monat bin ich cool, obwohl ich klemmig schweige. Einmal im Monat werde ich geheilt, obwohl es gar nicht um mich geht. Einmal im Monat haben wir einen Haus-Musikabend. Müsste ich heute sagen, welche Stunden mich am meisten durch die Krankheit getragen haben, dann wären es diese, ohne jedes Vertun.

Angefangen hat alles mit einer lauten Party kurz nach der Diagnose. Ich hatte alle eingeladen. Und alle kamen, weil sich keiner traute, aus einer Stimmung der Beklemmung und der Scham heraus nicht zu kommen. Und dann sang unsere Tochter, damals acht Jahre alt, mit einer Ukulele das Lied »Let It Be«, umgetextet für ihren kranken Vater:

Wenn der Blues mich packt und schüttelt, bau ich mir ’ne Tüte

Aus gesundheitlichen Gründen macht das durchaus Sinn

Das macht frei, das macht high.

Ein Chor, eine erfahrene Sängerin und 50 willige Gäste in unserem Haus, die diesen Abend unvergesslich machen wollten, unterstützten sie im Refrain. Laut und willens, dass sich keine Wehmut einschleicht. Es war der schönste Moment meines Lebens. Weil ich wusste: Ich bin nicht allein. Ich muss meine Lebenslust nicht auch schon vorsorglich begraben. »Ich bin frei« hieß für mich: Ich bin umsorgt. »Schreib nicht ›der schönste Moment meines Lebens‹«, sagt ein Freund später, »das klingt kitschig und banal.« Aber ich kann keinen einzelnen schöneren Moment nennen – welcher sollte das auch sein? Konfirmation, Hochzeit, Geburt? Geburt ist nur deshalb schön, weil der Schmerz aufhört. Und dieser Moment war schön, weil die Angst, die verschissene, aufhörte. Für einen Abend.

Nach der Initiationsparty wurde es dann regelmäßig laut und lustig.

Die Regeln sind einfach: Viel Kerzenlicht, ab 19 Uhr ist offenes Haus, Wein ist immer da, Rum auch, ich koche, und jeder, der zwei Töne rausbringt, darf kommen. Die Kernmannschaft besteht aus einem begnadeten Pianisten, der sich nie anmerken lässt, wie furchtbar er mitunter die Lieder findet, die er spielen soll. Er spielt. Um Marcs Leben und ein bisschen auch um meines, ich muss ja noch durchhalten. Des Weiteren gehört Chris dazu, ein Fass voll Energie und Leidenschaft, dessen Stimme ich wie ein kleines Mädchen bewundere. Wenn Chris singt, werden die Welt, das Atmen und das Universum überflüssig. Und Lisa, die mit Lust und Laune und ihrer unaufgeregten Art die mitunter arg selbstverliebten Männer bändigt wie eine spanische Torera. Unsere Stiere bleiben alle am Leben.

Ehemalige Bandsänger, ein Klarinettist, Chorsänger, alle kommen. Sogar mein Cousin aus Berlin-Wannsee reist hin und wieder an. Einfach weil er die Luft atmen möchte, wenn sich Menschen zusammentun und nichts zum Bruttosozialprodukt beitragen. Meine lebenszähe Nachbarin, die singt und strahlt und sich freut, weil sie weiß, irgendetwas von ihrer Freude bleibt in diesen Räumen zurück bis zum nächsten Morgen, wenn ich die Gläser spüle. Sie schmettern und surren um Marcs Leben. Um ihn einen Abend zum Singen zu bringen. Ach, der Herr kennt noch »Marmor, Stein und Eisen bricht«? Also singen wir das so laut, so lebendig, wie es Drafi Deutscher nie konnte. Überhaupt, der Schlager. Marc liebte ihn aus musikalisch nicht ganz nachvollziehbaren Gründen, aber das ist egal. Er ist wiedererkennbar, leicht mitzuklatschen, launig, gesund. Die Gruppe singt, als seien die Siebziger nicht vorüber. Meine Kinder hören indigniert zu. »Sag mal, gab es das Lied ›Im Wagen vor mir sitzt ein junges Mädchen‹ wirklich?«, will meine Tochter wissen. Sie kann nicht glauben, dass sie von Eltern gezeugt wurde, die das mal gut fanden. »Gab es damals noch kein Me too?« Ihr Vater lacht schallend. Marc kann Gesprächen nicht mehr folgen, aber die Stimmung spürt er. Und irgendwie spürt er auch, dass sich so viele auf den Weg machen, um ihn zu besuchen. In keine Tagesklinik, in keinen Gesprächskreis vermag ich ihn zu locken. Die Lieder, die dort gesungen werden, sind dieselben und doch nicht die gleichen. Das vertraute Umfeld fehlt, die Ahnung einer Party, der frivole Alkohol, all das, was unerlaubt, verboten, nicht vernünftig scheint, macht den Abend zu dem, was er ist. In Singkreisen singt man gesittet, keiner übergrölt den anderen, man trinkt Kräutertee oder Mineralwasser medium. Unsere Gäste bleiben stets länger, als ich es schaffe, wach zu bleiben. Ich schleiche mich dann nach oben ins Bett und lausche wie früher, als ich Kind war, den Partyklängen. Gläserklingen, Türenklappern – irgendwann dämmere ich weg, und wenn ich am nächsten Morgen aufstehe, dann spüre ich mit jedem Glas, das ich spüle, dass hier Leben in der Bude war. Dass es einmal nicht um Alzheimer ging, sondern um Lebendigkeit, Lust und Rausch.

Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael

Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön’s hier war, haha, haha

Du hast den Farbfilm vergessen bei meiner Seel’

Alles blau und weiß und grün und später nicht mehr wahr2

Marc schläft immer häufiger im Sessel ein. Wir lassen ihn dämmern. Die Musik dringt auch durch den Schlaf. Wenn er dann wieder aufwacht, wippt er mit den Knien, bewegt den Kopf und spürt leibhaftig, dass er Teil einer Gemeinschaft sein darf, unabhängig davon, ob sein Gehirn funktioniert oder nicht. Während er also für fünf Stunden das Gefühl hat, wieder heil zu sein, während er Urlaub nimmt von seiner Lebensangst, seiner Verzagtheit – tue ich es noch viel mehr. Die Ernsthaftigkeit, mit der ehemalige Rocksänger die blödesten Lieder singen, einfach weil das ihr Beitrag zur Bewältigung dieser Krankheit ist, rührt mich. Und hilft.

Am Anfang hatten die Sänger noch Masken auf, weil es mitten in der Corona-Phase war. Das hat niemanden davon abgehalten, sich auf den Weg zu machen. Marc wollte Musik, also bekam er sie. Eine achtlos weggeworfene Maske habe ich bis heute aufgehoben und an mein Bett genagelt. Weil sie mir zeigt: Hilfsbereitschaft schlägt Angst. Es ist so eine wortlose Hilfsbereitschaft, eine, die ganz ohne Kitsch und Tapferkeitsscheiße auskommt. Diese monatliche Gemeinschaft kommt so unverbindlich daher und ist wahrscheinlich der lauteste Grund, warum ich nicht zusammenklappe. Warum die Kinder wie gesunde Pubertierende fliehen (»Ihhhh, Schlager …«). Warum der Burnout ausbleibt. Solange ich in solchen Gemeinschaften verortet bin, bleibe ich heil.

Natürlich könnte das, statt eines Liederabends, auch ein Kochabend sein, ein Maltreff oder ein Tanzevent. Es muss nur ohne Sprache auskommen, es darf nicht intellektuell sein, und es muss ein Thema haben, sonst verliert man sich schnell in hilflosen Phrasen. Sinnlichkeit hilft. Alkohol noch mehr. Und vor allem: Die Gemeinschaft trägt. Chris singt Grönemeyer.

Ich kann nicht mehr seh’n

Trau’ nicht mehr meinen Augen

Kann kaum noch glaub’n

Gefühle hab’n sich gedreht

Ich bin viel zu träge

Um aufzugeb’n

Es wär auch zu früh

Weil immer was geht

Wir haben versucht

Auf der Schussfahrt zu wenden

Nichts war zu spät

Aber vieles zu früh3

Es ist aus. Ich sitze da und flenne. Marc nimmt mich in den Arm, er weiß nicht, warum. Aber er spürt, dass sein Arm gebraucht wird. »Das werden die letzten Momente sein, dass ich von deiner Stärke und Zuversicht trinke. Dass ich mich an dir labe«, denke ich. Monate später übernehmen meine Gäste reihenweise das Umarmen. Eigentlich eine skurrile Situation: Wer nimmt jetzt mal die flennende Köchin? Siggi, mach du mal … Ich werde schweigend herumgereicht wie eine Schale Chips, in die jeder mal greift. Nur dass ich hinterher angefüllt bin und nicht leer. Diese nichtsprachliche, banale Sinnlichkeit tröstet und schenkt mir Gemeinschaft. Denn darum geht es doch. Zu wissen, dass ich dieses Paket nicht allein schultern muss. Leid zu teilen. Ist noch Rum da?

Marianne, meine Nachbarin und Lebenshüterin, erzählt von dem letzten Lied, das sie mit ihrem Vater sang, bevor er aufstand, ins Krankenhaus ging und starb. »Das singe ich ab jetzt für uns beide«, sagt sie. Siggi setzt sich wieder ans Klavier. Also Vicky Leandros, wenn’s denn sein muss.

Dein Koffer wartet schon im Flur

Du lässt mich allein

Wir seh’n uns an und fühlen nur

Es muss wohl so sein

Noch stehst du zögernd in der Tür

Und fragst: »Was wird aus dir?«

Nein, sorg dich nicht um mich

Du weißt, ich liebe das Leben

Und weine ich manchmal noch um dich

Das geht vorüber sicherlich4

Dieses Lied wird jedes Mal gesungen. Weil es genauso barmherzig wie unbarmherzig ist. Es lässt einen nicht im Sud aus Selbstmitleid. Das ist gut. Es umarmt das Leben. Es ist schmissig, lebensklug und hochtherapeutisch. Es stellt dem Verlust das Leben gegenüber. Und gleichzeitig will das Lied nicht mehr als drei Minuten Lebensfreude schenken. Es bevormundet einen nicht, es moralisiert nicht, es weist den Weg.

Als Marc mit zunehmender Krankheit selbst den Abenden nicht mehr folgen kann, singen wir weiter. Keiner traut sich, »Na, das lohnt doch nicht mehr« zu sagen. Ich habe Angst vor dem Ende der Liederabende. Ich habe Angst davor, dass ich jetzt doppelt allein zurückbleibe. Nichts war zu spät. Aber vieles zu früh. Und dann passiert das zweite Wunder: Wir merken, dass uns das Singen guttut, wir merken, dass wir alle die viel größeren Nutznießer der Abende sind als der Kranke. Brauchten wir in Wirklichkeit Heilung – und nicht Marc?

Der jüdische Schriftsteller Friedrich Weinreb, geboren 1910, hat in seinem Buch Vom Sinn des Erkrankens die Dualität von faktischer und nichtfaktischer Erfahrung als Conditio sine qua non des Lebens bezeichnet, als Grundvoraussetzung. »Der gesunde Körper ist nicht identisch mit dem gesunden Menschen«, schreibt er. »Der nur körperlich … interessierte Mensch ist etwas Erschreckendes, etwas Schauderhaftes. Eine Welt, bevölkert von diesen Wesen, ist wie eine Welt voller intelligenter, aber eiskalter Roboter. Man sieht auch, daß diese Menschen oft sehr unglücklich leben.«

Die Liederabende, die wir betreiben, hätten Weinreb erfreut. Weil sie »nicht wissenschaftlich messbar« sind, nicht »nützlich«, nicht »wertvoll«. »Doch lebt im Menschen auch eine andere Wirklichkeit. Sie zeigt sich in seinen Gefühlen, in seinen Empfindungen, in seiner Sehnsucht, in Liebe, Hingabe, Glaube, Hoffnung. … Solange man im Menschen nicht diese beiden Wirklichkeiten erkennt, hat man den ganzen Menschen zerbrochen, gespalten. Und dann hat man den Menschen schon zum Kranksein verdammt. Er ist dann nicht mehr heil.«

Wir heilen uns mit den Liederabenden selbst. Marc ist nur der Anlass, seine Krankheit das Feigenblatt. Wir instrumentalisieren ihn, um uns selbst zu behandeln. Ein wirklich richtig letztes Mal begegnet er uns als Heilkünstler. Das hätte ihn sehr zufrieden gemacht. 

Ein großes, trauriges Geschenk

Als Diana, Princess of Wales, vor 27 Jahren ihr legendäres BBC-Interview gab, sagte sie über ihre Nebenbuhlerin Camilla Parker Bowles: »Nun, wir waren zu dritt in dieser Ehe, also war es ein bisschen überfüllt.«