Luckenwalde - Ines Sommer - E-Book

Luckenwalde E-Book

Ines Sommer

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Beschreibung

Ines Sommer, Jahrgang 1973, wächst als Christin in der DDR auf. Aus Glaubensgründen geht sie samstags nicht in die Schule. Erich Honecker persönlich genehmigt ihr diese Fünftagewoche. Mit 14 weigert sie sich, der FDJ beizutreten. Kaum 15 verlässt ihre erste große Liebe das Land. Dann fällt die Mauer: Sie ist 16. Sie ist die Einzige ohne Rote-Socken-Vergangenheit. Sie wird Schulsprecherin. Ein Entwicklungsroman. Witzig, packend, skurril. Stilistisch perfekt.

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© 2019 Ines Sommer

Herstellung und Verlag: Delta X Verlag, Wien

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

© Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Film, Funk, Fernsehen, Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, Datenverarbeitungssystem jeglicher Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung: Ing. Beate Scherer, www.besch.at, Franziska Urban

Banane © eyewave, Flagge © moonrun Fotolia.com

Ines Sommer

Luckenwalde

Von der Freiheit in Bananen zu rechnen

Delta X Verlag

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Titel

Vorwort zur Jubiläumsaugabe

Wirkliches aus k/einem Land

Kleine DDR Kunde: Von der Freiheit, in Bananen zu rechnen

Meine ganz normale Arbeiter- und Bauernfamilie

Fahnenmalen für den Weltfrieden

Meine 5-Tage-Woche

Das Ende des Kapitalismus

Honeckers Hand

Schöner wohnen in der DDR

Nüchtern im Krieg

Ich habe einfach „Nein“ gesagt

Gemeine, allgemeine und hundsgemeine Genossen

Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen

Halbe Sachen und ganze Freundinnen

Durchs welke Land nach Prag

Drunter und drüben

Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf

… aber wir fahren in den Osten!

Meine Wende

Anmerkungen

Vorwort zur Jubiläumsaugabe

Anlässlich des 30-jährigen Mauerfalls sitze ich an meinem Schreibtisch und denke darüber nach, ob sich etwas geändert hat, seit dem ich das Buch vor 10 Jahren herausgeben habe.

Gedanken über ein Land, das es so nie gab.

Liebe Bürgerinnen, liebe Bürger Europas!

Wenn man einmal das Wunder einer friedlichen Revolution erlebt hat, sieht man die Dinge anders - so hoffe ich jedenfalls. Systeme sind nicht festgeschrieben, und erst recht keine menschenfeindlichen Ideologien. Sie sind veränderbar, zum Guten hin. Also müssen wir uns selbst fragen, in welchen Organisationsformen wir leben wollen. Und wenn das so ist, fragt man sich, was die Menschheit erreicht hat, welche Ziele hat sie sich gestellt, welche hat sie verwirklicht. Österreich ist inzwischen zu meinem Zuhause geworden, aus dem Kosmos betrachtet, ist es ein kleines Land, und doch sind in den letzten Jahren Tausende zu uns gekommen. Menschen, die wir vielleicht früher als Fremde oder Feinde gesehen haben und die heute mit uns zusammen leben. Wie ich. Wir wissen, dass unser Land nicht perfekt ist, aber das woran wir glauben, begeistert immer wieder viele aus der ganzen Welt. Vielleicht haben wir unser Ziel - ein freundliches Miteinander zu schaffen manchmal aus den Augen verloren, aber wir können uns besinnen. Menschlichkeit und Geschwisterlichkeit heißt nicht, sich einzumauern. Menschlichkeit und Geschwisterlichkeit heißt auf den anderen zuzugehen, miteinander zu leben.

Nicht nur von einer verbesserten Welt zu träumen, sondern sie wahrmachen. Wir sind alle auf der Suche nach Alternativen vom harten Überlebenskampf des Finanzkapitalismus. Nicht jeder möchte bei Karieresucht und Konsumterror mitmachen. Nicht jeder ist für die Ellenbogenmentalität geschaffen.

Wir Menschen wollen ein anderes Leben. Wir merken, dass Autos, Fernseher und Einkaufen nicht alles sind. Manche von uns sind bereit mit nichts anderem als gutem Willen, Tatkraft und Hoffnung ein anderes Leben zu verwirklichen.

Für diese ist LUCKENWALDE geschrieben.

Ines Sommer

Oktober 2018

Ich habe meine Familie und Freunde übrigens nicht gefragt, ob ich ihre Geschichten in diesem Buch verwenden darf. Es ist daher alles erfunden, jede eventuelle Ähnlichkeit ist allein meiner Phantasie entsprungen, keine Erinnerungen, nichts aus dem realen Leben. Und wenn, dann nur in einer zufälligen Art. Manchmal scheint es ja ohnehin, dass erinnerte Namen, Orte und Zeiten nichts mit der eigenen Geschichte zu tun haben. Jeden Morgen zum Beispiel.

Bei einigen Leuten, die ich aus steuerrechtlichen Gründen hier nicht nennen kann, möchte ich mich an dieser Stelle bedanken: Danke!

Wirkliches aus k/einem Land

Wo beginne ich, ein Land zu beschreiben, das es nicht mehr gibt? Kein roter Fleck mehr neben der BRD. Verschwunden, das kleine Land zwischen dem Westen und Polen. Untergegangen, der einstige Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden. Wie unser Wir-Gefühl, wie unsere Zone.

Ich könnte ein ganz neues Land erfinden. G’schichtln drucken, wie die Österreicher das nennen. Erzählen, was von hinten bis vorne nicht gerade erlogen, aber gut ausgedacht ist und wovon man schon das Ende kennt. Sonst wär’s kein G’schichtl, zumindest kein witziges, Stammtisch geeignetes. Ich könnte also eine neue Welt schaffen. Wie diese Bolschewiken 1917. Nur ein wenig netter. Ohne Gewehre, dafür mit Gewähr.

Ich könnte mir einfach ein Land ausdenken und von drei Meter großen Schafen berichten, von denen schon ein einziges eine mittelgroße ostdeutsche Familie ein halbes Jahr ernährt. Den Chemie-Kombinaten in Leuna sollen bei Dünge-Experimenten ja einige Fehler unterlaufen sein. Fehler, die uns dann als vorbildliche Über-Erfüllung des Fünfjahresplans verkauft wurden. Eine marketingtechnische Meisterleistung. Klingt ja auch viel besser als verschludert und mit reichlicher Verspätung eingegriffen. Gerade so rechtzeitig, dass nicht ganz Leuna in die Luft geflogen ist. – Hallo? Das ist doch kein Testlabor! Das war unsere Wirklichkeit.

Aber am besten, ich beginne mit dem Ende, das kann für ein Buch über die DDR nicht so schlecht sein. Vor 20 Jahren war der Mauerfall. Und nun sitze ich hier in Wien, wo ich lebe, und schaue meine Tagebücher durch. Aus Sentimentalität und aus Sensationslust. Auf der Suche nach dem Besonderen. Ich, die Exotin fernab der Heimat.

Oder ich beginne an dem Ende, an dem die Vergangenheit so nachhängt. Wir Ossis ziehen ja immer noch so ein zerfurchtes Friedhofsgesicht auf, weil die DDR gestorben ist. Unser ewiger Hang zum Monumentalen und zur Gruppe hat uns eine Diktatur-Erfahrung eingebracht. Und wir trauern trotzdem. Als sei jeder Einzelne nach wie vor mit Erich Honecker liiert. Jeder von uns ein ostdeutscher Schläfer, mit DDR-Mark-Konto in Angola1.

Immer noch wird es peinlich, wenn ich laut sage: „Ich komme aus dem Osten.“ Dann werde ich von anderen Deutschen verbessert: „Osten gibt es keinen mehr.“

Außerdem lebe ich schon länger im Westen als im Osten. Was also ist übrig? Welche Welt hat mich geprägt? Welcher Lebensabschnitt zu der gemacht, die ich heute bin?

Wie auch immer.

Ich heiße Ines. Ines Ruth Sommer, geborene Jurke. In Luckenwalde geboren und auch groß geworden. Ich bin 36 und lebe in Wien. Immer wieder mal liiert. Keine Kinder.

Kleine DDR Kunde: Von der Freiheit, in Bananen zu rechnen

Zuallererst muss ich mit einigen Missverständnissen aufräumen: Ich komme zwar aus dem Osten, habe aber in meiner Kindheit nicht gehungert, unser Globus im Geografieunterricht war rund und wir haben uns nicht durch Wind bestäubt. Und was ich hier wirklich mal anbringen muss: Den Schmuddel-Look haben ja wohl nicht die Hollywood-Typen erfunden. Wir sind so rumgelaufen. Wir fanden das chic. Oh doch, lieber Herr Heinz Strunk1, wir waren der Nabel der Modewelt.

Ich habe immer wieder mal begonnen, meine Lebensgeschichte aus den Tagebüchern herauszumeißeln. In der Art: Ich, die letzte Zeitzeugin des untergegangenen Atlantis. Denn war es vor fünf Jahren noch chic zu sagen: „Daran erinnere ich mich nicht“, gehöre ich heute bereits zu denen, die es noch wirklich erlebt haben.

Und Leute! Ich sage es euch im Voraus: In wenigen Jahren wird die DDR aus ihrer Versenkung auferstehen. Nein, zu schwach: Es wird eine DDR-Manie entstehen, die Sissi und ihre Touristen-Romantik in den Schatten stellt. Erich Honecker wird es im Taschenuhrformat geben. Für die Reise oder auch zum Hinstellen für zu Hause. Der Wecker wird „Steht auf, Verdammte dieser Erde“ brüllen. Und das Dunkelblau der FDJ-Hemden2 wird das Rot der Aids-Schleife ersetzen. Man wird sich in gemeinsamer Vergangenheitsvergewaltigung suhlen. Und die ganze West-Welt wird freiwillig von „geflügelten Jahresendfiguren“3 sprechen. Von „Erdmöbeln“ statt von Särgen. Und der „antifaschistische Schutzwall“, die Mauer, wird aufgedruckt auf Linoleum als Auslegware4 die moderne Wohnung des 21. Jahrhunderts zieren. Und alles wird ur-hip und ganz langsam säuseln: „D-D-R…“

Darum wollte ich eigentlich eine Art Leitfaden für diese zukünftigen Gesellschaftstrends schreiben. Man kann ja nie wissen, man muss darauf vorbereitet sein. Ich meine, ich kann einfach die Plaste-Klamotten aus dem Schrank holen. Aber ihr, die ihr nicht in der Zone groß geworden seid, ihr braucht einen Einkaufsführer. Jemanden, der sozusagen einen Proto-Ossi beschreibt in seinen Römersandalen. Ich weiß schon, für einen solchen Leitfaden bekommt man keinen Nobelpreis. Aber einen Platz in der Ratgeberbibliothek, gleich neben dem Brockhaus. So viel zu meiner selbstlosen Seite.

Beginnen wir gleich mit der Freiheit: Freiheit war für uns Ostdeutsche so was wie der Inbegriff des Westens. Frei sein bedeutete Colgate kaufen und nach Mallorca fahren. Freiheit hieß für uns „Ariel“, „Wir sind das Volk“ und „MA-O-AM“.

In meinem Gebiet der Republik gab es Westfernsehen. Am Rande Berlins war es mit einem nassen Waschlappen zu empfangen. Die Sender waren zwar sicher nur aus Versehen in Richtung Osten gedreht, aber ich bin groß geworden mit Golf GTI, Otto-Katalog und Mainzelmännchen. Nur eingekauft haben wir das Zeug halt nicht. Doch so schlimm finde ich das auch wieder nicht. Ich bin herangewachsen mit Werbefernsehen, nur anders: Alles, was man im Fernsehen sah, konnte man nicht haben. Werbung war so etwas wie Raumschiff Enterprise. Eine unwirkliche Welt. Ich bin mir nicht sicher, ob mir das so geschadet haben soll. Und überhaupt: Beamen ging auch im Westen nicht.

Es gibt noch einen Begriff, der so tief mit der DDR verbunden ist, dass wir ihn eigentlich im Grundgesetz hätten vermerken müssen: die Banane. Wir wurden sicher ins Guiness-Buch der Rekorde eingetragen, denn in der DDR gab es die meisten Kinder pro Banane. Wir waren eben eine inverse Bananen-Republik. Bei uns wurde alles in Bananen umgerechnet. Eine Stereo-Anlage: vier Kilo Bananen; ein Auto: zwei Tonnen Bananen; das Glück der Kinder: für ein Kilo Bananen zu Weihnachten. Und da sag einer, das Leben sei kompliziert! Nur wirklich blöd ausgesucht war diese Klimazone. Warum nicht Kartoffeln im Kartoffel-Land? Nein, es wurde in Bananeneinheiten gedacht, geträumt, gerechnet. Wir liebten die Banane als goldene Handelsware, verbunden mit guten Träumen vom Schlaraffenland BRD. Ich stellte mir den Bundeskanzler vor, wie er im Baströckchen diese Hula-Hoop-Bewegungen macht. Und es regnet Chiquitas.

Meinen ersten Kontakt mit Bananen hatte ich im Chemie-Unterricht der 7. Klasse. Wir waren also alle um die 14 Jahre alt und total gierig darauf, die dunklen Mächte der Alchemie zum Leben zu erwecken. Dabei ging es eigentlich um Fruchtester: um Kohlen-Wasserstoff-Verbindungen, aus denen man Geruchsstoffe herstellt. Einmal war dann Bananengeruch dran. Ich freute mich. Kohlenstoff und Wasserstoff verbanden sich zu einem guten Zweck. Mitten im Osten. Meine Vorstellungen vom exotischen Leben trugen wilde Früchte. Mein Bundeskanzler im Baströckchen tanzte schon. Und endlich war das Reagenzglas bei mir. Ich war vorbereitet: Die Nasenlöcher weit aufgemacht und langsam den Duft an den Nasenwänden vorbeiziehen lassen. Meine Nase weitete ihre Flügel. Da schwamm sie nun, die Flüssigkeit mit dem Geruch der Sehnsucht jedes Ossis. Hatte etwas Klinisches, gar nichts von dem Film in meinem Kopf. Im Reagenzglas wirken eben selbst Bananen wie Abenteuer mit Gummihandschuhen. Und Kohlen-Wasserstoff-Verbindung klingt auch mit Phantasie nicht sexy. Ich war enttäuscht. Das war alles? Das war der Geruch der großen, weiten Welt? Überhöht. Sich aus Angst vor Skorbut Zitronen zu wünschen, verstand ich ja noch. Aber Bananen?

Ich nahm mir damals vor, ein Cafe „Zur ostdeutschen Banane“ zu eröffnen. Würde sicher der Renner. Wir alle liefen ja einer verschwommenen Idee von Banane nach. Ein virtuelles Gesellschaftsspiel, das ein ganzes Land in Bewegung hielt. Denn Bananen mussten mit harten Devisen im NSW5 eingekauft werden. Selbst Genosse Fidel konnte da nicht helfen. Aus Kuba kamen nur Zitronen und Orangen. Fidels Orangen waren aber leider nicht zu essen – und auch nicht orange. Deswegen hießen sie bei uns auch Apfelsinen. Zitronen wiederum, so sagte man, waren deswegen so sauer, weil sie zu uns in den Osten mussten. „Die Armen!“, klang es einem in den Ohren. Aber wenigstens brachten die Zitronen ein Gefühl von Sandstrand mit.

Mit Geschichten über Fidel ließen sich ganze Bücher füllen. In meiner Fruchtester-Zeit war Fidel so etwas wie eine Pop-Ikone, gleichrangig mit Udo Lindenberg, den Puhdys und Karat6. Von seinen miesen Seiten ist natürlich nichts zu uns durchgedrungen. Er und Kuba – oder Kuba und er – waren für uns die Außenstelle des Kommunismus im imperialistischen Wasser. Mit dem Feind Amerika auf Tuchfühlung. Weit weg, tropisch, abenteuerlich. Der Nimbus der Neuen Welt mit rotem Stern am Strand. Bei uns gab es zwar keine Palmen, aber Fidel auf Postern. Marx und Engels als Button haben sich nicht durchgesetzt, mit Fidel herumlaufen war aber hip. Obwohl aus Kuba keine Bananen kamen.

Wir Ossis bezeichnen die Zeit von 1965 bis 1989 als das „dunkelgraue Mittelalter“. Das ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs ohne Marshall-Plan bis zum „Anschluss“. Und dann kam der Westen. – Der eingezogene Kohlismus hat vor allem der privaten Bereicherung gedient. Auf einmal war Konsum alles. Auf einmal war sie da – die Freiheit im Konsum.

Doch worüber rege ich mich auf? Wir haben die Trabis 7 durch andere Typen ersetzt, die ich wegen der Schleichwerbung nicht nennen will – müssten aber aus dem süddeutschen Raum kommen. Auch ich trage inzwischen Levi’s. Bananen für alle! Und bunter ist es allemal geworden. Wenigstens im Außen.

Aber beginnen wir am Anfang.

Meine ganz normale Arbeiter- und Bauernfamilie

Man kann sich natürlich nicht aussuchen, wo man geboren wird. Doch würde ich heute gefragt, in welchem Land ich geboren sein wollte, würde ich mir wünschen, dass alles genau so wieder passiert, wie es passiert ist. Wobei ich die Vermutung habe, dass ich ebenso gut an ganz anderen Plätzen der Welt hätte heranwachsen können. Mich hat es aber nun mal in die DDR verschlagen. Und ich habe mich unter diesen Verhältnissen gut entwickelt. Jedenfalls ist das meine Wahrnehmung.

Abgesehen davon bin ich eine Einwanderin in vierter Generation. Ich bin mein eigenes Ausländerproblem. Mein Urgroßvater mütterlicherseits ist mit seinen Eltern aus Frankreich nach Brandenburg gekommen. Er war einer der wirklichen Spaßvögel in unserer Familie. Musste aber als einziger männlicher Spross der französischen Ur-Familie den Brandenburgischen Bauernhof übernehmen. Wirklich Freude hatte er dabei nicht. Hieß das doch, nie wieder in der Stadt zu leben. Und dass nur die Bilderbuchseiten des Landlebens rosig waren, hatte er schon als ganz junger Mann überrissen. Zeit zum Lachen bleibt da kaum, rechts und links vom Umgraben.

Meine Vorfahren kamen nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Elsass. Als Vertriebene. Damals mussten die deutschsprachigen Elsässer aus den neuen französischen Gebieten raus. Ich frage mich heute manchmal: Wie geht so was? Sitzt man da im Elsass bei Wein und guten Gesprächen auf der Terrasse und denkt sich: „Was machen wir jetzt?“ Und dann fällt einem in der Runde Markendorf im mittleren Preußen ein? Meine Urgroßeltern sind jedenfalls auf Markendorf gekommen. Das ausgelassene Feiern der französischen Vorfahren hat sich bei uns – selbst entlang des Strebertums meines aus Schlesien stammenden Vaters – erhalten.

Damit wären wir bei meinen Eltern. Sie lernten sich vor dem Mauerbau in den 1950er-Jahren kennen. Wie, das konnte ich mir nie merken. Jedenfalls nicht über Parship. Sie sind Christen, Spezialausprägung Adventisten. Also eine Kleingruppe in der Minderheit. Und das verbindet – neben anderem – ganz, ganz stark. Der Geburtsort meines Vaters lag einige Autostunden vom Heimatort meiner Mutter entfernt, ihm aber stand nur das Fahrrad als Verkehrsmittel zur Verfügung, um zu seiner Freundin zu fahren. Doch früher gab es noch richtige Helden. In seiner Verliebtheitsphase dachte mein Vater sogar mal an Blumen, die er sich aufs Fahrrad klemmte. Die Stängel sind angekommen. Geheiratet wurde trotzdem. Der Wille zählt bekanntlich.

Zwei Kinder sind bald nach der Hochzeit auf die Welt gekommen. Zwillinge, 1959. Die Ärzte damals waren nie sicher, ob es sich um Zwillinge handelte, nur weil man zwei verschiedene Herztöne hörte. Alltägliche ostdeutsche Qualitätsarbeit. Das Ultraschallgerät war dann auch noch defekt. Das Restrisiko hält das Leben spannend. Es waren dann eben zwei Kinder. Völlig unvorbereitet gingen meine Eltern kurzerhand zum normalen Lebensalltag über. Machte ja nichts. Das Oktoberfest findet auch nicht im Oktober statt. Und meine beiden Zwillingsbrüder sind ohnehin an zwei unterschiedlichen Tagen im November geboren: der eine am 19. und der andere am 20. Auch nicht ganz normal für Zwillinge. Dabei wollte die Hebamme unbedingt beide Kinder am selben Tag zur Welt bringen. Nach einem arbeitsreichen Tag hätten Zwillinge sie zur produktivsten Hebamme des Kreiskrankenhauses gemacht. Während sich also mein zweiter Bruder durch den Geburtskanal zwängte, zogen an der Hebamme die Bilder des FDGB1-Heims Hiddensee vorbei: Sonderurlaub, der Wimpel für den vorbildlichen Einsatz zum Aufbau der DDR… Na ja, was soll man dazu sagen. Aber Axel wollte seinen eigenen Geburtstag. Genauso wie Matthias. Die Gedanken der Hebamme an Hiddensee lösten sich in der Kreißsaal-Beleuchtung wieder auf. Die Gute wusste sich ganz subtil zu rächen. „Wie sollte das zweite Kind heißen? Axel?!“ Das ist ein Hundename und sie höchst persönlich bringe niemanden zur Welt, der einen Hundenamen trägt. Völlig erschöpft brachte meine Mutter nur „Klaus-Dieter?“ heraus. Was einem halt so einfällt im Wochenbett: Klaus-Dieter. Bei uns hieß Klaus-Dieter trotzdem immer Axel. Einen Hund, der auf Axel hört habe ich nie kennengelernt.

Eigener Geburtstag hin oder her: Sie waren Zwillinge. Und sie wurden sehr, sehr oft verwechselt. Anziehtechnisch war da auch nicht viel wettzumachen, denn ginge es nach der Vielfältigkeit an Klamotten, dann wären sowieso alle in der DDR miteinander verwandt gewesen. Wenn Matthias sich dann noch die Brille seines kurzsichtigen Bruders ausborgte, sahen zwar beide nichts, aber hatten zumindest ihren Spaß dabei. Und jede Menge Vorteile bei Tests in der Schule. Die beiden haben sich den Lehrplan einfach geteilt. Konnten so das Lernen auf einige wenige Tage im Jahr minimieren.

Mein Vater ist auch ein Zwilling. Unsere Familie hat offenbar ein Faible für Doppelpacks: Matthias und Axel, Vati und Onkel Heinz. Ich dachte eine Zeit lang, dass Männer immer zu zweit auf die Welt kämen. Deshalb wollte ich auch ein Junge sein und einen Zwilling haben. Nicht nur eine große, unheimlich liebe, elf Jahre ältere Schwester. Karin legte die Puppen beiseite als ich auf die Welt gekommen bin. Und war ab dem Moment erwachsen. Mit ihr an der Seite bin ich groß geworden. Mam war Schwester auf der Intensivstation des Kreiskrankenhauses, Vati machte irgendetwas mit jungen Leuten – immer wieder standen Schüler im Hof, und die Brüder waren auf Achse. So war meine Familie ein eingespieltes Team. Jeder hatte seinen Platz auf der Hühnerleiter. Einschließlich der Katzen und der Schafe. Wobei die Schafe nicht ganz unten auf der Hühnerleiter zu sehen sind. Ich würde sie im gehobenen Mittelfeld ansiedeln. Und dort grasen sie noch heute, die Schafe meines Vaters.

Wie auch immer: Meine Mutter ist ein Kind der flämingschen Sandkiste2. Was so nicht ganz stimmt. Natürlich gibt es nur Sand in dieser Gegend. Aber auch im Sand wächst Wald und anderes Grün. Tundra mit Stern am Feld. „Wir sind der Sandstrand des Ostens“ – diesen Gedanken wollte ich mir patentieren lassen. Siebzehnhundertirgendwas hatte Fritze, der Preußenkönig, die famose Idee, Arbeitskräfte ins Land zu holen. Auf der anderen Seite Europas wurden sie gerade rausgeschmissen: die Hugenotten. Und auf einmal standen Tausende arbeitswillige und dankbare Gärtner am Sandkastenrand. Schaufel und Eimer inklusive. 200 Jahre plus eine Generation war dann auch meine Mutter da. Arbeitsam bis zum Geht-nicht-mehr. Weil‘s nicht anders ging. Mit gesundem Menschenverstand und Misstrauen gegenüber allzu dick aufgetragenen Gefühlen oder pompösen Bekenntnissen. Weshalb ich dazu neige, ihren Darstellungen zu glauben.

Ich bin also in Luckenwalde geboren. Leider fühlte man sich in Luckenwalde, 50 Kilometer südlich von Berlin, nie so wie im Mittelpunkt großer Entwicklungen. Es ist nicht ganz der Platz, den man sich vorstellt, um von dort aus die Welt zu erobern. Ich war im Sommer 1973 angekündigt. Die Welt und eine andere Hebamme als die meiner Brüder hatten sich den 12. Juni als meinen Geburtstermin ausgesucht. An diesem Tag stellte die DDR den Antrag, in die UNO aufgenommen zu werden. Das mit der UNO ist dann bald untergegangen. Der „Tag des Lehrers“ dagegen wurde ein viel wichtigerer Gedenktag im Osten. Damals hatten die Lehrer als Wegbereiter für die nächste Generation noch ihren Platz in der Gesellschaft. Intellektuell waren sie zwar zu Marionetten verkommen, aber mit Lorbeerkranz. Später hat unsere Direktorin am 12. Juni immer einen Sonder-Fahnenappell einberufen und besonders erfolgreiche Lehrer mit Wimpelkram behängt. Toll. An meinem Geburtstag! Da war mein Vater schon Lehrer. Auch ein Schicksal.

Wenn ich eine typische Handbewegung meines Vaters nennen sollte, ist es der Oberlehrerfinger. Nicht, dass er ein typischer Lehrer Lämpel gewesen wäre. Aber den Oberlehrerfinger hat er schnell draufgehabt. Der Beruf prägt einen anscheinend bis in tiefste Charakterschichten: Mein Vater hatte immer etwas Strenges. Und in der Zeit, als er als Lehrer arbeitete, war er wirklich ein mühsamer Vater. Er hat vielleicht einfach jeden Tag zu viel junges Volk um sich gehabt. Und irgendwann fragte ich ihn dann, ob er beim Heimkommen nicht einfach mal „Guten Tag“ sagen könnte wie andere Väter, statt gleich im Türrahmen zu springen. Er änderte sich dann langsam. Oder ich wurde älter. Vielleicht aber muss man sich ja auch so verhalten, wenn man Lehrer ist. Womöglich ist das nur eines der vielen Grundphänomene in der Welt: Zur Wurst gehört der Senf, zum Schnürschuh gehören die Schnürsenkel. (Was auch immer ein Senkel sein mag.) Und zum Lehrer gehört eben der Zeigefinger.

Meine Eltern waren und sind irrsinnig sparsame Typen. Diese Eigenschaft hat mit vier hungrigen Kindern sicher lebenserhaltend gewirkt. Die allgemeine Sparsamkeit der Ostdeutschen! Aber man muss zu den Anfängen zurückgehen, in die gute, alte Zeit. In der man im Hof noch etwas benutzte, das wie ein Telefonhäuschen aussah. Nur war es für grundlegendere Bedürfnisse gebaut. Wäsche wurde mit kaltem Wasser in Waschtrögen gewaschen. Die gute, alte Zeit! Mit Holz und Ofen und so. Bei uns zu Hause wurde mit Holz und Kohle in Kachelöfen geheizt. An Heizmaterial brauchten wir nicht sparen. Braunkohle wurde zugekauft, Holz holten wir aus dem Wald. Hieß dann Familienausflug mit Motorsäge. Im Garten das Gleiche: Alles, was man selber hat, braucht man nicht bezahlen.

Der westliche Konsumrausch ist auch mir nicht mehr fremd. Und doch sitze ich manchmal in meiner Wohnung und friere. Weil ich sparen will, bei 15 Grad im Wohnzimmer. Dabei fühle ich mich immer besonders geborgen. Frierend. Es ist dann fast so wie früher. Nur war ich damals einfach zu faul, meinen Ofen im Zimmer zu heizen, deshalb saß ich im Kalten. Heute ist das meine Alibi-Spar-Haltung: Seht her, ich kann auch sparen! Jedenfalls hab‘ ich die Geschichte einmal meinem Bankbetreuer erzählt, worauf er meinen Kredit noch nicht fällig stellte.

Kurz gefasst: Ich bin also das vierte Kind einer ziemlich normalen Familie. Was auch immer man unter normal versteht. Ob meine Eltern mich gewollt haben? Wer weiß das schon immer so genau. Jedenfalls war ich dann mal da, neben den anderen Geschwistern und den Schafen im Garten. Womit ich mich die ersten paar Jahre beschäftigt habe, ist auch rasch erzählt: Ich trank Milch, bis ich satt war. Bitte nur keine Fragen zu frühkindlichen Erfahrungen! Ich habe keine. Mir ist es ziemlich gut gegangen. Ich konnte mich schließlich auch auf die beachtliche Lebenserfahrung meiner deutlich älteren Geschwister verlassen.

Die Schafe haben in unserer Familie immer eine wichtige Rolle gespielt. Mein Vater drohte gern: „Wenn ihr nicht endlich aufhört zu streiten, müsst ihr zu den Schafen ziehen!“ Wir zeigten uns gemaßregelt. Wir waren zwar jung, aber nicht blöd. Denn der Stall war meinem Vater ein ganz lieber Ort. Also beließen wir ihn in dem Glauben, wir hätten Angst. Und konnten das Fürchten weglassen.

Sogar bei der Goldenen Hochzeit meiner Eltern im Herbst 2008 spielten die Schafe ihre Rolle. Während alle Anwesenden gerührt die fünfzig gemeinsamen Lebensjahre zelebrierten, hat sich mein Vater im Laufe des Nachmittags zu seinen Schafen verzupft. Immerhin lebte er ja auch mit ihnen schon ein halbes Jahrhundert. Und er ging sie an diesem Nachmittag nicht etwa schnell füttern, nein, er blieb eineinhalb Stunden weg! Was machte er nur so lange im Stall? Zählte er seinen Schafen die Kernpunkte der Festpredigt auf? Sehnsucht, würden Psychodramatologen deuten. Ich sage, mein Vater ist auch ein bisschen in die Schafe verliebt. Auf alle Fälle gehören sie dazu. Ich bin groß geworden mit Schafen, die Familienanschluss hatten. Das soll uns mal jemand nachmachen. Auch eine ziemlich normale Familie hat eben ihre Eigenheiten.