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Der tiefste Punkt in deinem Leben kann deine größte Chance sein. Die Mittdreißigerin Lucy hat aus weltlicher Sicht total versagt. Sie ist depressiv, abhängig von allem und jedem und hat nichts erreicht. Von ihrem Arbeitgeber verkannt, den Mitarbeitern gemobbt und ihrer großen Liebe verlassen, beschließt sie, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Der Sprung vom schäbigen Hochhaus ihrer Kindertage scheint geeignet. Kurz vor dem Schritt in den Abgrund sendet sie verzweifelt einen geistigen Hilferuf aus und bittet um ein Wunder. Als nichts passiert, springt sie in die Tiefe. Von da an nimmt ihr Schicksal eine Wendung. Denn sie wird aus Raum und Zeit herauskatapultiert - in eine Art Paralleluniversum. Während Lucys Körper von Etage zu Etage fällt, bekommt sie noch einmal die Chance, ihr Leben mit all seinen Facetten und Beziehungen zu betrachten und neu wahrzunehmen. Sie taucht mit jedem genommenen Stockwerk tiefer in ihren eigenen Geist ein und lernt ihr wahres Selbst kennen, das wertvoll, frei und mit allem in Liebe verbunden ist. Ihr begegnen altbekannte Menschen und Situationen, die es genau anzuschauen und zu heilen gilt. An ihrer Seite - stets hilfreich - ist der Geistführer Josua... "Lucy fällt" ist ein spiritueller Roman über die Liebe und Freude zum wahren Leben und eine Entdeckungsreise hin zum eigenen Selbst.
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Seitenzahl: 328
Veröffentlichungsjahr: 2020
Gaby Mrosek
Lucy fällt
© 2020 Gaby Mrosek
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-04955-0
Hardcover:
978-3-347-04956-7
e-Book:
978-3-347-04957-4
Coverbild: Michael Mrosek
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Ich widme dieses Buch dir,
denn es ist kein Zufall,
dass du diese Worte gerade liest…
On top of the roof— Der Sprung
Lucy rennt.
Lucy rennt vorbei an sämtlichen Weihnachtsmarktständen und Massen an Menschen. Wie sie es schafft, sich in hohem Tempo durch die Menge zu bewegen, weiß sie nicht.
Und es ist ihr egal. So egal, wie auch sie den Passanten egal ist, die ihr keinerlei Beachtung schenken – es sei denn, sie rempelt den einen oder anderen unsanft an. Von diesen Im-Weg-Stehern wird sie entweder beschimpft oder leise kopfschüttelnd verurteilt.
Natürlich – denn Lucy nimmt keine Rücksicht und bemerkt nicht einmal, dass sie einen alten Mann beinahe zu Boden reißt. Der wird glücklicher Weise noch rechtzeitig von seiner Begleitung aufgefangen.
Lucy hat keinerlei Zeitempfinden und spürt ebenso keinen Erschöpfungszustand, der sich irgendwann bei jedem noch so guten Läufer einstellt. Es scheint so, als sei sie plötzlich völlig gefühllos und ferngesteuert. Ihr Körper funktioniert ganz einfach. Das einzige, was sie klar in ihrem Geist sieht, ist das Hochhaus. Dieses 21 Stockwerke hohe heruntergekommene Haus am Stadtrand. Da hat alles begonnen – da soll alles enden.
Die Straßen werden leerer. Längst schon hat sie die noble Innenstadt verlassen. Jetzt steuert sie direkt auf das Ghetto zu. Viele Laternen gibt es hier nicht, die ihr den Weg erhellen könnten. Aber das macht gar nichts. Lucys Gehirn ist auf Autopilot geschaltet.
Kurz bevor sie den Haupteingang des Hochhauses erreicht, schießt der Schmerz wieder ein – mitten in ihr Herz. Dieser Schmerz des tiefen Verlustes, der Trennung, den sie für die Zeit des Rennens vorübergehend einfrieren konnte. Jetzt dringt er in ihren Bauch, um noch einmal hinterrücks, wie eine bedrohliche Welle, über ihr zusammenzuschlagen. Nun hat er sie komplett vereinnahmt. Ihr wird speiübel und sie muss würgen. Schließlich erbricht sie sich auf dem mit Kaugummi und Hundekot übersäten Gehsteig. Ein leises Wimmern kommt aus ihrer Kehle, während sie ihren Weg wieder aufnimmt. Nicht schnell dieses Mal. Nein, ganz langsam schleicht sie zum Eingang. Sie muss auf keinen der vielen Klingelknöpfe drücken - die Tür ist lediglich angelehnt. Sehr viele Wohnungen sind auch gar nicht mehr bewohnt, denn dieses Gebäude ist alles andere als heimelig.
Lucy atmet schwer. Der Marathon ist doch nicht unbemerkt geblieben. Sie sucht im Treppenhaus nach dem Lichtschalter. Als sie ihn findet und drückt, stellt sich heraus, dass nicht einmal das Licht funktioniert.
Plötzlich sieht sie das Gesicht ihrer Mutter vor dem inneren Auge. Dieses runde und schöne lächelnde Gesicht. Es sagt die Worte: „Lucy – die Lichtträgerin. Deshalb haben wir dich so genannt. Sei ein Licht für alle…“
Sei ein Licht für alle – sie kann nicht einmal im Hausflur die Lampe einschalten! Wut und Trauer wollen sie wieder übermannen. Stattdessen atmet sie tief ein und wieder aus und trommelt dabei heftig auf den Knopf des Aufzugs. Der setzt sich sogleich in Bewegung.
„Wenigstens etwas funktioniert hier“, murmelt sie und steigt zügig in das alte Ding. Ohne zu überlegen drückt sie die 21. Beinahe menschlich keuchend rappelt der Lift nach oben.
„Meine letzte Fahrt“, denkt Lucy und fühlt dabei nichts – allerhöchstens einen feinen Sarkasmus. Sarkasmus, weil sie weiß, dass diese letzte Fahrt, in einem grauen hässlichen Kasten, ein guter Ausdruck für ihr verpfuschtes Leben ist.
Mit einem Ruck hält der Aufzug an, und Lucy folgt wie hypnotisiert dem schmalen schmuddeligen Gang Richtung Metalltür. Diese Metalltür führt zum Dachaufstieg. Lucy kennt jeden Winkel im Haus und so versucht sie gar nicht den Lichtschalter hier oben zu betätigen. Die Dunkelheit ist das, was sie jetzt braucht. Sie drückt die eiskalte Klinke nach unten und zieht schwer daran. Unter unangenehmem Quietschen lässt sich die Tür öffnen. Lucy tritt nach draußen in die Kälte. Ein paar Stufen noch die Metalltreppe hinaufgestiegen, und sie steht tatsächlich auf dem Dach des Hochhauses. Der mit Abstand höchste Punkt, den die Stadt zu bieten hat. Einen kurzen Augenblick bleibt sie starr stehen und schaut in den Himmel hinauf. Über ihr funkeln tausende Sterne. Hier oben kann man das Weltall besonders gut beobachten, weil in dieser Höhe keine anderen Lichter blenden.
Das hat sie als Kind schon so oft getan. Immer wenn es für sie brenzlig wurde, ihre Eltern ihren täglichen Machtkampf austrugen oder ihr Leben ein einziges unerträgliches Chaos war, schlich sie hier her. Meistens war es schon finster oder sie blieb bis sich die ersten Sterne zeigten.
Lucy zögert, doch dann geht sie zu dem Mäuerchen – weiß der Teufel warum es überhaupt da steht und das schon seit sie denken kann – lässt sich auf den kalten Betonboden sinken und lehnt sich an.
Sie will noch einmal auf ihrem alten Platz über ihre Absicht nachdenken. Es soll keine Kurzschlusshandlung sein, auch wenn alles was kurz davor geschah, ein einziges Weglaufen und irres Durchdrehen war. Das war es schon, aber der Plan, ihrem Leben am unerträglichsten Punkt ein Ende zu setzen, war bereits seit ihrer Kindheit in ihr. Er war wie eine tickende Zeitbombe.
Sie atmet tief ein und aus, spürt die Kälte in ihre Glieder kriechen. Dann steht sie mit Schwung auf und sagt laut und bestimmt: „Dann bringen wir es jetzt zu Ende…“
Einige große Schritte, und Lucy steht vor dem niedrigen Gitter. Es ist ein Leichtes für sie, dort hinüberzusteigen. Sie denkt keine Sekunde darüber nach, dass sich nur zwei Fußlängen vor ihr der Abgrund auftut.
21 Etagen – nein, es sind sogar 22, denn sie steht ja auf dem Dach…
„22…. Wie bittersüß…“, murmelt sie, weil ihr zum ersten Mal bewusst wird, dass es sich um diese magische Doppelzahl handelt. Die Seelenpartner-Zahl…
„Ich sollte nicht hier oben stehen…“, flüstert sie, „wieso bin ich nicht bei Raffael?“
Für einen kurzen Augenblick glaubt sie, ihn zu spüren. Und es ist alles gut. Doch dann sieht sie die Szene vom späten Nachmittag. Wie ein Film spult sich alles vor ihrem inneren Auge ab. Sie sieht seine harten Gesichtszüge, seine zu Schlitzen verengten Augen….
Jetzt hört sie ihn sagen: „Lucy, das mit uns wird niemals einen Sinn ergeben. Geh jetzt besser!“
Sie fühlt wie ihr ein Messer ins Herz gestochen wird. Unerträgliche Schmerzen!
„Ich brauche ein Wunder!“, schreit sie plötzlich in den dunklen Himmel. Mit festem Blick starrt sie in die vielen funkelnden Sterne. Ganz kurz flackert ein Vertrauen in ihr auf, dass etwas Ungewöhnliches sie retten wird.
Ein paar Sekunden noch wartet sie. Aber nichts passiert.
Verzweiflung steigt wieder in ihr auf.
Sie schaut nach unten – doch da ist keine Angst, kein Zurückweichen. Dieser Schmerz… keine Sekunde länger will sie ihn dulden. Ohne weiter darüber nachzudenken, macht sie einen Schritt nach vorne, hinein in den Abgrund.
Lucy springt.
21. Etage – Das Wunder
Lucy befindet sich im freien Fall.
Kopflos – völlig ohne eine Idee oder einen Gedanken – dazu geht alles viel zu schnell. Schneidiger Wind pfeift um ihr Gesicht. Doch sie bemerkt nicht einmal das.
Sie denkt nichts und fühlt nichts in dieser Schrecksekunde des plötzlichen Fallens.
Und es ist wirklich nicht viel mehr als eine Sekunde. Denn ganz abrupt wird ihr Fall unterbrochen und zwar genau in der 21. Etage. Ebendort stoppt ihr Körper in einer unangenehmen Schräglage, die sie beinahe kopfüber hängen lässt. Tausend und abertausend Gedanken schießen gleichzeitig durch ihren Geist. Ein dickes Fragezeichen bleibt stehen. Kurz überlegt sie, ob sie längst unten auf dem Boden aufgeschlagen und schon tot ist und nun in einem schrecklichen Höllenstadium gefangen gehalten wird.
Es dauert tatsächlich nur einen Augenblick. Die schlimme Unsicherheit und der Wahnsinn dahinter, dass hier etwas physikalisch Unmögliches passiert, kommen ihr aber unendlich vor. Sie will außer sich vor Furcht und Schrecken zappeln und schreien, aber es scheint, als könnte sie ihren Körper nicht mehr steuern. Bevor ihre Angst in unerträgliche Panik umschlägt, geschieht etwas noch Ungewöhnlicheres – etwas mit dem sie nicht annähernd gerechnet hätte, ebenso wenig wie zuvor mit dem Steckenbleiben im freien Fall:
Die dunkle Straße tief unter ihr sowie das graue Gebäude, dessen Fassade sie berühren könnte, wenn sie die Hand danach ausstrecken würde, beginnen zu verschwimmen. Sie verwirbeln ineinander, zusammen mit dem sternenklaren Nachthimmel. Es scheint, als würden alle Bilder um sie herum eingesogen werden, so wie wenn das Wasser aus der Badewanne in einem Strudel abfließt. Und nicht nur die Szenerie, um sie herum, wird eingesogen. Nein, auch sie selbst, ihr Körper, ist ein Teil davon. Sie kann ihn plötzlich sehen und zwar so deutlich, dass sie meint, sie schaue in einen Spiegel. Doch auch das währt nur eine Sekunde. Denn schon sind alle materiellen Dinge ein einziger Kreisel aus Farben, die sich langsam zu einer einzigen homogenen Farbe vermischen. Auch wenn das Wort Farbe es nicht annähernd trifft.
Normalerweise ist es so, dass viele Farben ineinander gerührt und verquirlt, einen schmutzigen Braunton ergeben. Hier ist es umgekehrt. Anstatt Dunkelheit, ist eine aufdämmernde Helligkeit zu erkennen. Es wird heller, zunächst gelblich und schließlich strahlend weiß. Und auch das nimmt Lucy nicht wirklich als Farbe wahr, sondern als ein einziges einladendes Licht. Alle Angst weicht plötzlich einer tiefen Gewissheit, dass alles gut und richtig ist. In diesem wunderbar leichten Zustand, in dem sie sich schon lange nicht mehr befand, gibt es keine Fragen mehr.
Sie ist jetzt am richtigen Ort und zur richtigen Zeit! So könnte es bleiben - tut es aber nicht!
So augenblicklich Lucy mit diesem Licht zu einer Einheit verschmolz, genauso rasch nimmt sie alles um sich herum wieder wahr. Da sind sie wieder, all die Bilder der Formen und Farben. Und dennoch ist etwas anders. Lucy hängt noch immer in unbequemer Schräglage. Doch unter ihr, keine 20 Zentimeter tief, ist fester Boden. Kein Asphalt, keine schmuddelige finstere Straße. Nein, eine saftige grüne Wiese fängt sie sanft auf. Denn Lucys Fall wird hier nun beendet. Obwohl sie mit den Schultern und dem Kopf zuerst auf das Gras trifft, tut sie sich nicht weh. Die Erde federt sie weich wie eine Matratze ab. Und der Fall erfolgt zeitlupenähnlich. Sie liegt mit geschlossenen Augen da und fühlt wie die Grashalme in ihrem Gesicht kitzeln. Jetzt kann sie sich auch wieder bewegen und ihren Körper spüren.
Noch hat sie nicht den Mut, ihre Augen zu öffnen und nachzuschauen, was da eigentlich mit ihr passiert ist. Sie ist sich ziemlich sicher, dass sie tot sein muss. Denn die Fakten in ihrem Kopf sagen es deutlich.
Erstens ist sie vom Dach des Hochhauses gesprungen.
Zweitens sind während des Fallens merkwürdige Dinge geschehen, die unmöglich real sein können.
Drittens kann es durchaus sein, dass sie im freien Fall ohnmächtig geworden ist. Ein Selbstschutz sozusagen, um dadurch den schrecklichen Aufprall und die Erfahrung des Sterbens nicht bewusst erleben zu müssen.
Viertens hat sie Licht gesehen und war für einen Moment ganz frei und unsagbar froh.
Doch was ist jetzt? Wieso kann sie jetzt ihren Körper wieder fühlen? Sie spürt die leichte Übelkeit von vorhin in ihrem Magen. Sie fühlt den seelischen Schmerz. Diesen Trennungsschmerz. Verlustschmerz. Sie fühlt die kalte Wiese in Gesicht und an den Händen. Vorsichtig und ängstlich öffnet sie ihre Augen. Sie hebt den Kopf und blickt direkt auf einen hohen Berg. Irritiert setzt sie sich auf und wendet ihren Blick rundherum. Ja, sie sitzt auf einer Alm Wiese. Um sich herum ein Bergmassiv. Schäfchenwolken ziehen über den strahlend blauen Himmel hinweg.
Lucys Herz klopft bis zum Hals. Sie steht auf und dreht sich einmal um die eigene Achse. Dann schaut sie an sich hinunter und erkennt auf der schwarzen Winterjacke die Spritzer ihres Erbrochenen.
„Was ist das? Was soll das alles?“, fragt sie zunächst leise, um dann panisch in das Panorama zu schreien: „Hilfe! Wo bin ich?“
Nichts ist zu hören und um sie nur Landschaft. Eine wunderschöne zwar, aber das ist in Anbetracht der Situation völlig egal. Wie zum Teufel kommt sie auf diesen unendlich hohen Berg?
„Oh mein Gott“, schreit sie hysterisch, „ich wollte sterben! Nichts mehr fühlen! Nicht mehr leiden! Und jetzt bin ich tot und in einer beschissenen Zwischenwelt!“
„Du bist nicht tot“, hört sie eine sachlich heitere Stimme hinter sich. Ihr Herz setzt für einen Moment aus, um dann doppelt so schnell zu rasen. Sie schießt herum und blickt direkt in die freundlichen Augen eines jungen Mannes.
„Was mache ich hier? Was machst du hier? Wer bist du? Wie komme ich hierher?“, schießt es aus ihr heraus, ohne Punkt und Komma. Und dennoch ist da eine gewisse Erleichterung. Denn sie ist nicht allein. Der Mann, um die Mitte 20, ist äußerst attraktiv mit seinen mittelblonden wuscheligen Haaren und dem Dreitagebart. Außerdem lächelt er so lässig und einladend, dass sie sofort ein wenig beruhigter ist.
„Hm“, macht er jetzt und berührt sanft ihren Arm. Ein warmer Schauer durchflutet ihren Körper. So etwas hat sie noch niemals erlebt.
„Du wirst mir tausende und abertausende Fragen stellen wollen. Menschen sind so. Sie wollen alles ganz genau wissen. Sie bemerken nicht, dass hinter jeder dieser Fragen noch tausend andere stecken und dass es so unmöglich ist, die Wahrheit zu erfahren.“ Seine Stimme ist dunkel und erinnert sie an etwas Wunderschönes, längst Vergessenes.
„Wer bist du? Und wie komme ich hierher?“, fragt Lucy zögerlich, weil seine kleine Ansprache über Fragen sie beeindruckt hat.
„Das werde ich dir sagen, Lucy“, antwortet er und streicht ihr liebevoll über die Wange. Unendliche Liebe strömt sogleich durch sie hindurch.
„Du kennst mich?“, stammelt sie verwirrt.
„Natürlich kenne ich dich“, lacht er, und dieses Lachen ist keinesfalls besserwisserisch oder überlegen. Nein, es ist so liebevoll und tröstlich, dass sie für einen Moment im Gefühl der Sicherheit badet.
Sie öffnet ihren Mund, will etwas sagen. Doch er legt ihr sanft den Zeigefinger über die Lippen.
„Ich werde dir alles Wichtige erklären. Komm erst einmal mit mir.“ Er dreht sich um und läuft in Richtung einer kleinen Holzhütte, die noch ein wenig höher am Hang liegt. Lucy bleibt zunächst wie angewurzelt stehen, schüttelt verwirrt den Kopf und beginnt dann zügig hinter ihm herzulaufen. Schnell treten Schweißperlen auf ihre Stirn. Denn hier, in dieser Bergwelt, fühlt es sich viel wärmer an, als zu Hause in ihrer Stadt. Sie öffnet die dicke Winterjacke und streift sie schließlich ganz ab. Der junge Mann läuft mühelos den Rest der steilen Wiese hinauf. Die Ärmel seines weißen lässigen Hemdes hat er hochgekrempelt, und er trägt es salopp über seine verwaschene Jeans. Ja, Lucy betrachtet ihn genau und ist sehr erstaunt, als sie bemerkt, dass er barfuß läuft.
An der Hütte angekommen, öffnet er die Tür und bittet sie mit einer einladenden Bewegung hinein.
„Setz dich, Liebes“, fordert er sie vertraut auf. Es fühlt sich so richtig an und so gut. Lucy hat keinerlei Bedenken oder Angst, dass hier etwas nicht stimmen könnte. So vertrauensvoll war sie nur mit Raffael…
„Raffael und du hattet eine sehr wichtige Lernebene, Liebes“, sagt er so selbstverständlich, als hätte sie ihre Gedanken zuvor laut mitgeteilt.
„Woher weißt du von Raffael?“, flüstert sie unsicher und reibt dabei fest ihre Hände aneinander, um zu sehen, ob sich das echt und lebendig anfühlt. Doch. Das tut es. Ebenso echt wie die latente Übelkeit, die noch immer in ihrer Magengrube wabert und das unangenehme Schwitzen in dem derben grauen Wollpullover.
„Hier ist Sommer“, erklärt er heiter, „zieh deinen Pulli aus! Bei über 20 Grad ist es im T-Shirt angenehmer. Mir macht es nichts aus, dass die Nähte ausgefranst sind.“
Jetzt wird Lucy schwindlig. Sie muss sich setzen und plumpst schwer auf die Eckbank direkt neben der Tür. Woher weiß er das alles? Woher kennt er ihren Namen? Woher weiß er von ihrem alten Shirt, das sie noch manchmal im Winter unter dicken Pullovern trägt, weil es so schön weich ist? Und ganz ehrlich: wieso ist sie plötzlich in den Bergen – mitten im Sommer noch dazu?
Er lächelt wieder und antwortet: „Du träumst, Lucy. Es ist nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist nichts bedroht. Nichts ist hier gefährlich oder wahnsinnig. Nein, du drehst nicht durch. Aber du hast um Hilfe gebeten und wenn jemand all sein Tun benutzen will, um zu heilen und nur eine winzige Bereitwilligkeit dazu besteht, wird diese Hilfe auch gewährt. Egal in welcher Form. Du hättest auch vom Hochhaus stürzen und sterben können. In einem Traum natürlich. Aber für dich sehr wirklich. Was hättest du gewonnen? Hm, nichts. Auch nichts verloren. Denn dein Leben kannst du nicht verlieren. Du hättest wahrscheinlich einen neuen Körper benötigt. Und dann hätte alles wieder von vorne angefangen. Oder glaubst du ernsthaft, du könntest vor deinen Lernaufgaben davonlaufen?“
Lucy schüttelt mit offenem Mund den Kopf, obwohl sie kein Wort wirklich versteht.
Während sie erwartungsvoll und ziemlich steif auf der Bank sitzt, hantiert er im Hintergrund mit Teekanne, einem Campingkocher und Tassen. Lucy will weitere Fragen stellen, als sie bemerkt, dass er seelenruhig Tee kocht und dabei nichts weiter sagt. Stattdessen pfeift er leise ein heiteres Lied. Aber Lucy denkt an seinen Spruch von vorhin: Menschen stellen Fragen.
Und so unterdrückt sie ihre Aufregung in der Hoffnung, er wird schon gleich mit der Sprache rausrücken. Und das tut er auch. Nach einigen Minuten sitzen sie zusammen an dem klobigen dunklen Holztisch. Sie weiterhin auf der Bank, er ihr gegenüber auf einem Bauernstuhl. Zwischen ihnen steht die weiße Porzellankanne, die mit ihrer feinen Optik so gar nicht in das rustikale Bild passen will – ebenso wenig wie die hohen schlanken Teetassen.
„Trink Lucy“, ermuntert er sie, „das beruhigt deinen Magen.“
„In einem Traum“, kontert sie spontan. Sarkasmus ist deutlich herauszuhören. Doch das scheint dem Mann nicht das Geringste auszumachen.
„Ja“, lacht er nur, „in einem Traum. Du hast doch zuvor auch getrunken und gegessen.“
„Na klar, habe ich das“, erwidert sie, „da war ich aber auch in meinem Leben. Als Lucy.“
Jetzt lacht er schallend. Sie fühlt sich ein wenig ausgelacht, kann ihm aber irgendwie nicht böse sein. Denn in seiner ganzen Art – seiner Aura – ist etwas unendlich Gütiges und Liebevolles.
Sie soll keine Fragen stellen. Okay. Aber reden darf sie ja wohl und so sagt sie überwältigt von seiner Wärme: „Ich habe das Gefühl, ich kenne dich schon ewig. Es ist so, als wärst du mein Bruder oder Geliebter.“
Das Wort Geliebter kommt spontan über ihre Lippen und sogleich schämt sie sich dafür, einem Fremden so etwas zu sagen.
Doch er schaut sie tatsächlich mit überfließender Liebe an und flüstert: „Das ist es. Ich bin dein Geliebter. Bruder. Dein geliebter Bruder.“
Schauer der Freude laufen über Lucys Rücken und sie sagt: „Ich bin gesprungen und tot. Und du bist mein Engel…. “
Ja, so muss es sein. So ist es auch. So – und nicht anders. Hier kann sie leben. Hier, mit diesem Engel.
„Nein Lucy. Nichts davon ist wahr. Nur dass du gesprungen bist. Oder sagen wir es mal so: du springst gerade. Noch bist du nicht unten angekommen. Du steckst im 21. Stockwerk“, lächelt er wieder.
„Was ist los mit mir?“, stottert sie. Bevor sie weiterreden kann, ergreift er zärtlich ihre Hand. Sie fühlt seine sehr weiche und warme Haut. Sogleich beruhigt sie sich wieder.
„Ich kläre dich auf, Lucy. Jetzt“, sagt er, streicht sich mit der freien Hand durch das volle Haar, nimmt dann seine Tasse um einen großen Schluck daraus zu trinken und beginnt zu erzählen ohne ihre Hand loszulassen:
„Was du da oben gerade auf dem Hochhaus machst – du versuchst, dich umzubringen – das hast du schon viele Male getan. Wenn du von Raum und Zeit ausgehst, könnte man sagen, es wäre jetzt sogar das dritte Mal in Folge. Du hast kaum eine deiner Lektionen gelernt. Oft hast du den Freitod, dem Aufgeben von Illusionen, vorgezogen. Was war die Konsequenz? Du bist wieder als ein scheinbarer Körper auf der Erde inkarniert. Der Körper ist tatsächlich jedes Mal ein anderer. Nicht aber der Inhalt deines imaginären Rucksackes. Dieser Inhalt ist voller Bindungen, ungelöster Probleme und Altlasten. Du wirst ihn durch Davonrennen nicht los, Liebes. Ganz und gar nicht. Stattdessen packst du ihn weiter, füllst ihn an und weigerst dich, mal hineinzuschauen. Deine Strategie ist eine ganz andere. Sie lautet: Mach die anderen für deine Schlepperei verantwortlich. Sag ihnen, sie seien schuld, sie würden dir alles in die Schuhe - oder besser in diesem Beispiel: in den Rucksack schieben. Du fühlst dich zunächst erleichtert, wenn du so die Verantwortung abgeben kannst. Es ist aber nie von Dauer, weil du deutlich die schwere Last auf deinen Schultern bemerkst für die nur du allein verantwortlich bist. Du bemerkst das, weißt keinen Ausweg, es geht dir schlecht und schlechter, dich überkommt letztlich ein Fluchtreflex, und du springst in den Tod… mal wieder.“
Er macht eine kurze Pause und Lucy traut sich jetzt doch zu fragen:
„Und wer bist du eigentlich?“
„Josua“, kommt es wie selbstverständlich aus seinem Mund, „ich bin sozusagen dein Bergführer, dein Wegweiser. Ich bin bei dir - war es schon immer und werde es auch stets sein. Das sollte an Erklärungen für das erste genügen. Denn du bist hier um zu lernen. Deine Entscheidung gerade, um ein Wunder zu bitten, war die beste seit langer Zeit. Dein Wille ist da. Niemand kann etwas gegen deinen Willen für dich tun, Liebes. Sagen wir es mal so: durch diese Entscheidung, die nur winzig klein und dennoch stark war, liegst du jetzt nicht mit verdrehten Gliedern in einer feucht kalten Hochhausschlucht. Dein Wille geschehe. Dein Geist ist sehr mächtig und du hast stets die Obhut über deinen eigenen Weg.“
„Okay“, sagt sie zögernd und empfindet gerade Erleichterung, dass sie diese Entscheidung tatsächlich kurz vor dem Sprung wählte: um ein Wunder zu bitten, aber…
„Du sagtest, es wurde gestoppt, und ich befinde mich tatsächlich noch im Fall. Also erstens sitze ich doch hier und fühle deutlich die Holzbank unter meinem Hintern und zweitens, wie kann denn ein Fall einfach stoppen? Das ist physikalisch total unmöglich. Eigentlich ist alles, was ich gerade erfahre, unmöglich. Es verstößt gegen sämtliche universelle Gesetze…“
„Tja, so hast du es bisher erfahren. Und als Körper ist das auch so. Auf der materiellen Ebene gibt es Raum und Zeit und Dualität. Es gibt die biologischen Gesetze, die chemischen, die physikalischen und noch viele andere. Sagen wir mal so, du befindest dich im Moment zwar noch immer in der Zeit und der Materie, aber du wurdest zum Zwecke des Lernens in eine Art Trainingslager katapultiert. Deinen Entschluss sterben zu wollen, hast du kurz vor dem Sprung hinterfragt. Hättest du noch ein paar Sekunden innegehalten, hättest mal in dich hineingeschaut, wäre da wohl auch für dich ein Liebesruf zu erkennen gewesen. Du wärst wieder hinabgestiegen und niemals gesprungen. Das war nun die einzige Möglichkeit, dich vor einer weiteren Körperrunde zu bewahren. Lerne deine Lektion jetzt, Lucy. Jetzt als Lichtträgerin. Dein Name ist nicht einfach nur so: Lucy.“
„Bleibe ich nun hier auf diesem Berg mit dir?“, fragt sie unsicher.
Josua lacht wieder dieses vertraute Lachen: „Nein, du bleibst nicht hier. Vergiss nicht, du befindest dich kurzfristig in einer kosmischen Ausnahmesituation. Eigentlich fällst du gerade und daran ändert sich nichts bis du unten angekommen bist. Auch wenn das nicht die Wahrheit ist.“
„Was ist denn die Wahrheit?“, fragt sie ungeduldig.
„Die Wahrheit ist, du bist geborgen und in Sicherheit, in der Einheit mit allem was ist. Frag jetzt nicht weiter. Wenn du deine Lektionen gelernt hast, wirst du verstehen. Die meisten verstehen es später…“, schmunzelt er.
„Aber wenn ich eigentlich falle, dann bin ich doch gleich tot“, sagt sie zittrig. Plötzlich weiß sie, dass sie nicht sterben will. Der Sprung war eine ganz dumme Idee.
„Noch einmal. Du bist in einer kosmischen Ausnahmesituation. Ich bin, wie gesagt, dein Bergführer. Zusammen schaffen wir es durch jede Etage. Und je tiefer du kommst, desto mehr wirst du gelernt haben. Vergiss nicht, du bist absolut nicht allein.“
„Josua? Ich habe Angst….“, flüstert sie und ihre
Hand, die noch immer in der seinen ruht, drückt fester zu.
„Du hast alle Macht. Kontrolliere deine Angst. Angst ist in keinem Augenblick gerechtfertigt. Wenn du in deiner Angst steckenbleibst, schaust du dir nicht deine Baustellen an. Vertraue und glaube mir, es ist niemals etwas Wahres und Göttliches bedroht. Das ist unmöglich. Nur in Träumen kann dir etwas Schlimmes und Grausames zustoßen. Wenn du das erst einmal begreifst, dann werden all deine Träume heller und schöner und lieblicher. Du bist da, um dich zu freuen und zu lieben. In Wahrheit BIST du einfach – gegenteillos. Jetzt stelle ich dir eine elementare Frage, Lucy: Bist du bereit dir deine Fehlschöpfungen anzuschauen, aufzugeben und durch Liebe, die immer schon dahinter floss, zu ersetzen? Hilfst du mir, dein Beziehungschaos - das nichts anderes ist, als alles Beziehungschaos der ganzen Welt – aufzulösen? Aufzulösen, um mit allem und jedem in einer einzigen Beziehung froh und in Liebe zu sein?“
Zum ersten Mal seit sie mit ihm zusammen sitzt, schaut er sie ernst an. Sein Blick dringt bis zu ihrem Innersten vor. Sie fühlt die Wichtigkeit hinter seinen Worten.
Sie nickt und fragt leise: „Jedes Problem ist irgendwie ein Beziehungsproblem, oder?“
„Gut erkannt Liebes“, nickt auch er, „solange du einen Körper benutzt – und den Frauenkörper der Lucy benutzt du immerhin schon fast 35 Jahre – solltest du erkennen, dass es letztlich nur um Beziehungen geht. Beziehungen in jeder Form. Wenn du das geheilt hast, dann fühlst du die Einheit wieder. Genau das macht dich für dich und alle anderen unschätzbar wertvoll. Nicht, dass du an deinem wahren Wert je etwas verändern könntest, aber du machst dich auf diese Art sichtbar für alle. Lucy – sei das Licht der Welt! Heile deine Beziehungen!“
Es ist ganz leise in der Hütte. Beide schauen sich an und schweigen in einer unendlich sanften und heilsamen Art. Eingehüllt, ja fast schon einbalsamiert, in Geborgenheit, ist ihre Angst vor dem Wahnsinn, der sich womöglich hinter all dem verbirgt, völlig aufgelöst. Sie ist jetzt hier mit Josua.
„Ich danke dir für das Wunder“, sagt sie gerührt.
In diesem Augenblick verschwindet die Hütte und stattdessen befindet sie sich erneut in freiem Fall beim Sturz vom Hochhaus…
20. Etage – Alles auf Anfang
Es geht alles sehr schnell. Lucy kann nichts wirklich gedanklich greifen. Sie stürzt kopfüber und rasant, dass ihr Magen nach oben zu schießen scheint. Doch wieder sind es lediglich die paar Meter, bevor das Fallen ein abruptes Ende hat. Wieder zerfließt die Kulisse und wieder umhüllt sie eine warme und tröstende Helligkeit.
Sanft dämmert eine neue Szene vor ihren Augen hinauf, während sie wie in Zeitlupe auf einem beige gefliesten Boden zum Landen kommt. Und obwohl es dieses Mal kein weiches Gras ist, sondern harte Keramik, fühlt sie keinen Schmerz beim Aufkommen. Sie fällt tatsächlich so zart wie eine Feder. Zunächst bleibt sie einige Sekunden liegen. Sie stellt fest, dass sie wieder ihre Winterjacke trägt, obwohl sie diese oben in der Hütte auf die Bank gelegt hatte.
Langsam bewegt sie ihre Glieder und setzt sich neugierig aufrecht.
Anders als vorhin in der Bergwelt überkommt sie jetzt keine Panik. Vor allem, weil ihr Blick direkt auf Josua fällt. Er steht am Tisch einer großen gemütlichen Küche. Mit den Händen steckt er tief in einem festen Teig. Lucy weiß sofort, dass der Ort hier nicht die Berghütte sein kann. Gleichzeitig erkennt sie aber diesen rustikalen Tisch. Ja, er ist es. Der Tisch aus der Hütte.
Sie steht auf und geht langsam auf Josua zu.
„Was machst du da?“, fragt sie und schaut sich gleichzeitig im Zimmer um. Es gibt nicht ein Fenster hier. Das findet sie merkwürdig. Auf einem Regal in der Küchenzeile steht doch tatsächlich wieder die weiße Teekanne. Auch Josua trägt dieselbe Kleidung wie vorhin, und wieder sind seine Füße nackt.
„Zieh die Jacke aus und komm zum Backen, Liebes“, sagt er ganz selbstverständlich. Seine Stimme klingt wie die eines liebenden Vaters. Wie auch gerade in den Bergen, spürt sie die Wärme im Raum. Dieses Mal geht sie wohl von dem sehr großen Backofen aus, der etwas Heimeliges verströmt. Heimelige Kuschelwärme, heimeliger zarter Vanilleduft. Lucy streift ihre Jacke ab und dieses Mal auch den zu dicken Pullover. Ihr verschossenes Batik-T-Shirt, das ein Dunkelrot erahnen lässt, eignet sich in seiner schäbigen Optik eigentlich nicht einmal mehr zum unterziehen. Aber vor Josua schämt sie sich nicht. Langsam tritt sie an den Tisch.
„Ich nehme an, ich befinde mich jetzt in Etage 20?“, fragt sie und er nickt lächelnd.
„Hilf mir beim Backen, Lucy“, sagt er und deutet mit dem Kinn auf den großen Teigklumpen, den er noch immer bearbeitet.
„Sieht aus wie Brotteig“, meint sie und tippt mit dem Zeigefinger dagegen.
„Ja, der Teig ist sehr fest. Aber darum geht es jetzt nicht. Nimm ihn in beide Hände“, fordert er sie auf und legt den großen Ballen in ihre geöffneten Handflächen. Er fühlt sich schwer und warm an. Fragend blickt sie Josua an. Er lächelt und sagt schließlich: „Es geht um mehr, als nur ums Kuchenbacken. Das kannst du dir sicher denken….“
Lucy nickt. Ihr ist klar, dass alles was zwischen den Etagen geschieht, ihrem Lernen dienen soll. Jetzt soll sie Kuchen backen. Das kann nur eine Metapher sein. Denn schließlich geht es um ihr Leben.
„Es geht um dein Leben, Liebes. Das ist ganz sicher“, erwidert er, obwohl ihre Worte nichts als Gedanken waren. Gedanken, die er hören kann.
„Aber zuallererst sage ich dir etwas wirklich sehr Wichtiges: dein wahres Leben kannst du nicht verlieren. Niemals. Das wäre unmöglich. Alles was es in Wahrheit gibt, währt ewig. Leben ist vom Schöpfer. Der Schöpfer ist allmächtig und erschafft alles so wie sich selbst. Das heißt nichts anderes, als dass du so bist wie er. Allmächtig und ewig. Das, was sterben kann, ist eine Fehlschöpfung oder auch einfach nur eine Illusion in einem Traum. Wenn du also wirklich deinen Lucy-Körper nicht mehr benutzen kannst, dann bekommst du einen neuen. Weil der Schöpfer das so will? Nein, weil du das so willst, mit all deiner Macht. Er, der Schöpfer, muss warten bis du aufhören willst zu träumen. Und macht ihn das wütend? Oder traurig? Nein, denn er ist nur Liebe und wartet einfach ganz geduldig auf deinen wahren Willen. Darauf, dass du dich erinnerst, wer du in Wahrheit bist. Und dann erwachst du ganz einfach aus deinen Fieberträumen. So, bevor du jetzt weiter fragst, will ich dir etwas über dich und deine Mitspieler erzählen. Über deinen geliebten Raffael, deine Eltern und Kollegen usw. Du musst nämlich etwas Grundlegendes begreifen, bevor du beginnst all deine Beziehungen anders zu betrachten und zu heilen. Dafür dieser Teig. Sieh ihn dir genau an.“
Josua schaut sie prüfend an. Lucy bemerkt, dass das eine ganz praktische Aussage war und keine rhetorische. Sie betrachtet also den hellgelben Klumpen in ihren Händen. Er ist groß und warm und glatt und gibt schon bei geringem Druck nach.
„Und?“, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Mir fällt nichts weiter auf, als dass es ein großer Klumpen ist“, antwortet sie und ist damit selbst nicht zufrieden. Hier muss es doch um mehr gehen.
„Genau“, strahlt er sie an, „ein großer Klumpen.“
Lucy ist verunsichert. Das kann wohl kaum alles sein.
„Genau genommen ist das alles. Die Schöpfung ist so einfach. Anhand dieses Teiges möchte ich dir etwas klar machen. Sagen wir mal so, ich erzähle dir jetzt die Schöpfungsgeschichte ganz anders, als du sie kennst.“ Er macht eine kurze Pause um zu überprüfen, ob Lucy bereit ist, ihm voll und ganz zuzuhören. Das ist sie. Also beginnt er zu erzählen:
„Stell dir einmal vor, du hast einen schönen leckeren Teig, so wie den in deinen Händen, der eigentlich einen ganzen Kuchen ergeben soll. Einen einzigen und vollständigen Kuchen.
Plötzlich hast du aber die Idee, lieber viele kleine Kuchen backen zu wollen. Du füllst den Teig - der ja ein Ganzes ist – separat in Muffinförmchen und backst ihn. Das könnten wir tun.
Wenn du die Küchlein aus dem Ofen holst und betrachtest, sehen sie alle noch ziemlich gleich aus, und dennoch hast du sie durch den Backvorgang schon separiert.
Das genügt dir aber noch nicht – nein. Also beginnst du, alles schön zu verzieren. Du benutzt ganz unterschiedliches Dekor. Ein paar deiner Muffins bekommen eine nette Sahnehaube, ein paar andere eine Zitronen- oder Schokoglasur, die nächsten einen Überzug aus Buttercreme. Zusätzlich verwendest du noch Lebensmittelfarben in allen Tönen, Zuckerstreusel, Liebesperlen, Fondantblümchen und vieles mehr. Du setzt deiner Fantasie keine Grenzen. Zum Schluss betrachtest du dein Werk und stellst fest, dass jedes Teilchen anders aussieht. Die Täuschung der Individualität ist perfekt. Und obwohl sich jedes vom anderen unterscheidet, ist dir klar, dass der Kuchenteig unter all der Verzierung ein und derselbe ist. Du weißt das, aber du denkst nicht mehr daran. Wieso solltest du auch? Viel zu schön und auffällig ist der Überbau darüber. Klar, der eine Muffin ist dir scheinbar besser gelungen als ein anderer. Vielleicht ist sogar einer dabei, dessen Häubchen zerdrückt ist, die Zuckerperlen verrutscht und die Farbzusammenstellung gar nicht appetitlich ausschaut. Aber nach Entfernen des Gusses stellst du fest, der Geschmack ist identisch mit allen anderen - sogar mit dem schönsten deiner Törtchen.
Sicherlich ist dir sonnenklar, worauf ich hinaus möchte. Es ist jetzt auch an der Zeit, dieses Kuchengleichnis zu verlassen. Schauen wir uns lieber unseren vollständigen und heiligen Geist an: Dieser eine Geist, eine liebevolle Ausdehnung unseres Schöpfers, ihm total gleich, kam auf die wahnsinnige Idee, aus dem kompletten Ganzen, viele kleine Teile zu separieren. Frage nicht warum. Warum-Fragen bringen uns hier nicht weiter. Das Gegenteil ist der Fall – sie führen dich tiefer in den Traum von Trennung. Akzeptiere einfach, dass du einen idiotischen Wunsch nach Einzigartigkeit gehegt hast. Eine Einzigartigkeit, die dich nicht nur besonders machen sollte, sondern als Konsequenz auch die totale Trennung von Gott und ein Aufsplittern deines Selbst in unzählige Teile nach sich zog. Aber – und jetzt kommt das Wichtige, das es zu wissen gilt – da du bist wie dein Schöpfer, sein Ebenbild, konntest du dich nicht wirklich zerteilen und abgrenzen. Eine wahrhaftige Einheit bleibt eine wahrhaftige Einheit. Da gibt es nichts dran zu rütteln. All das ist nur in einer Wahnidee möglich. In einem Traum. Du allmächtiges Kind, eines allmächtigen Vaters, wolltest eine Trennungserfahrung und nichts und niemand konnte dich aufhalten. Wie gut, dass wir aus der Liebe kommen, die kein Gegenteil hat. Und so hat die Liebe unseres Lebens - das ist tatsächlich keine Wortspielerei, sondern wortwörtlich zu nehmen – uns eine grandiose Kommunikationsverbindung gegeben. Diese Kommunikationsverbindung ist der Heilige Geist, und er reicht in unseren Traum der Dualität und Trennung. Er ist sozusagen der Wecker Gottes. Denn ansonsten würden wir Runde um Runde einfach weiterpennen und träumen, dass wir reich sind und arm, verletzt wurden und alles verloren haben und plötzlich der Kaiser von China sind. So und so fortlaufend, ohne die Möglichkeit unseren verrückten Film zu stoppen. Doch wie schon gesagt, unser Schöpfer ist heil und ganz und einfach nur Liebe. Er kennt davon kein Gegenteil. So hat er das Heilmittel für unsere Fieberträume sogleich in unseren schlafenden Geist gelegt – das ist der Heilige Geist. Jeder einzelne kann ihn hören und hat ihn auch schon gehört, ohne das zu bemerken oder gar zu wissen. Diejenigen, denen das Traumspiel langsam dämmert, beginnen, ihn hören zu wollen.
Oder, um noch einmal auf unser Kuchengleichnis zurückzukommen, sie beginnen unter ihre Glasur, die hier unser Ego darstellt, zu schauen. Noch können sie all das Zuckerzeug nicht komplett entfernen, aber sie betrachten es schon mal. Und nach und nach nehmen sie eine Perle nach der anderen herunter, ebenso die Blümchen und die Sahne. Das machen sie solange bis sie erkennen, dass sie genau dasselbe sind, wie das Törtchen neben sich. Dann können sie noch eine Zeitlang so nebeneinander stehen, ganz bewusst, wer sie sind. Zwei, die eigentlich ein Ganzes darstellen sollten…
Und das ist letztlich deine Aufgabe: entferne deinen Überbau. Vergib dir selbst, was du nicht bist!“
Lucy trägt noch immer den Teig in ihren Händen. Mittlerweile umgreift sie ihn, wie einen prallen Ball. Ganz still steht sie da und schaut mit ihren grünen Augen auf die Masse. Josua lächelt schlicht, dreht sich um und kocht noch einmal einen Tee.
Ganz vorsichtig legt sie den Klumpen auf den Tisch, wischt ihre etwas fettigen Hände an der Hose ab und setzt sich auf einen der vier Stühle.
„Ich bin dieser Teig, ja?“, fragt sie beinahe schüchtern, weil sie es nicht glauben kann.
„Du bist, metaphorisch gesehen, dieser Teig. Korrekt. Stark vereinfacht und doch so anschaulich. Abgesehen davon ist nichts, was vom Schöpfer kommt, wirklich schwierig. Du bist ein Teil von ihm, und er gibt sich dir ständig zu erkennen. Eins musst du wissen: Er liebt dich unendlich. Du bist sein ganzes Glück. Seine Freude. Niemals ist er fern von dir. Niemals würde er dich irgendwo alleine aussetzen – dich verlassen. Das alles geschieht nur in deinen verrückten Träumen.“
Josua bringt den Tee an den Tisch, ebenso die Tassen und ein Blech mit noch heißen Keksen, die er soeben aus dem Ofen gezogen hat.
„Keine Muffins?“, lächelt Lucy mit Anspielung auf seine Schöpfungsgeschichte.
„Nein“, schmunzelt er, „Vanillekipferl. Das passt in deine Weihnachtszeit, in der du dich gerade zu befinden scheinst. Trink einen Schluck Tee. Das hast du in der Berghütte versäumt.“
„Wie lange bin ich denn schon hier? Hier in deiner Küche und in der Hütte davor?“, fragt sie, weil sie überhaupt kein Zeitgefühl mehr hat. Es könnten 2 Stunden sein oder 20 Minuten.
„Hm…“, überlegt er und blickt gespielt nachdenklich an die Decke, „in Anbetracht dessen, dass Zeit nur ein Taschenspielertrick ist, kannst du es dir aussuchen. Aber da du in deinem Traum der Lucy vom Hochhaus fällst und eben nur einen Schlenker im Raum-Zeit-Kontinuum machst, würde ich sagen: 5 Sekunden…“
Lucy beginnt zu lachen. Zunächst leise und zurückhaltend. Dann kann sie aber nicht mehr an sich halten, und sie lacht laut und schallend. Es tut ihr so gut. Sie lacht einfach all ihre Sorgen davon. Zum ersten Mal seit langer Zeit – wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt in ihrem Leben – ist sie froh ohne an Vergangenheit oder Zukunft zu denken. Sie ist hier im Jetzt und das ist wunderbar.
„Liebes, das ist wahrhaftig wunderbar. Manchmal muss man einfach alles davon lachen. Das gelingt dir aber erst, wenn du begreifst, dass alles was du mit menschlichen Augen siehst, nicht die Wahrheit ist. Dann kannst du vor Erleichterung lachen. Und da du in diesem Augenblick wahrlich bereit bist, schauen wir uns noch einmal die Muffins an, und auch den gesamten Teig. Verstehst du in diesem Zusammenhang, dass du nicht getrennt sein kannst von einem anderen? Verstehst du, dass die Trennung in Muffinförmchen nicht einen anderen Teig aus dir macht? Das geschieht nur in Illusionen. In deiner Welt hast du aus dir einen Menschen gemacht. Jemand der abgetrennt ist vom Ganzen. Ebenso abgetrennt wie mittlerweile beinahe 8 Milliarden. Dein Körper soll das Symbol der Trennung sein, die niemals wirklich stattfinden konnte…“
„Weil der Schöpfer keine Muffins mag, sondern lieber einen ganzen Kuchen“, beendet Lucy den Satz, und Josua grinst breit.
„Sehr vereinfacht, ja“, erwidert er, „weißt du Lucy, es ist in Wahrheit mehr Einheit da, als einfach nur ein Batzen Teig. Du bist tatsächlich ein Ganzes mit allen 8 Milliarden scheinbaren Teilchen. Und das, obwohl du nur einem winzig kleinen Bruchteil jemals begegnen wirst. Und vergiss nicht unsere Mission: Betrachtung und Heilung deiner Beziehungen zu allen. Zu jedem einzelnen. Zu dir also: Lass uns jetzt beginnen. Mit Raffael. Eine besondere Liebesbeziehung. Für dich sogar eine sehr besondere Liebesbeziehung.“