Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft - Horst Friedrich Wünsche - E-Book

Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft E-Book

Horst Friedrich Wünsche

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Beschreibung

In diesem Buch wird die Soziale Marktwirtschaft erstmals aus der Sicht ihres Begründers, Ludwig Erhard, beschrieben. Das Buch führt in das politisch-ethische Denken ein, das Erhards Sozialer Marktwirtschaft zugrunde liegt, und zeigt, wie unzureichend die gegenwärtige Politik bedacht und begründet ist. Grundlage von Erhards politischer Konzeption waren das Leitbild einer würdevollen, selbstbewussten Lebensführung, die von Bevormundungen und Gängelungen frei ist. Aus diesem Leitbild waren wirtschafts- und sozialpolitische Grundziele abgeleitet, die Erhard erreicht hat: Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit durch "Wohlstand für alle" und eigenverantwortliche Vorsorge sowie Stabilität und schuldenfreie öffentliche Haushalte. Die Politiken der vergangenen Jahre sind von Erhards Konzeption abgewichen und können weder Wohlstand für alle noch soziale Gerechtigkeit, weder Stabilität noch eine solide Finanzpolitik garantieren.

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Horst Friedrich Wünsche

Ludwig ErhardsSoziale Marktwirtschaft

Horst Friedrich Wünsche

Ludwig ErhardsSoziale Marktwirtschaft

Wissenschaftliche Grundlagenund politische Fehldeutungen

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-95768-136-2© 2015 Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek/MünchenInternet: www.lau-verlag.de

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigungund Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlagentwurf: Atelier Versen, Bad Aibling

In memoriam Ludwig Erhard

Vorwort

Kaum jemand wird daran zweifeln wollen, dass der Begründer der Sozialen Marktwirtschaft, dass Ludwig Erhard ebenso gedacht und geurteilt hat, wie es Wirtschaftswissenschaftler und Politiker heute tun. Doch das ist ein Irrtum. Erhard war weder Neoklassiker noch Neoliberaler im heutigen Sinn. Er hat anders gedacht und anders geurteilt, als es Politiker und Politikberater heute tun. Schon in der Wirtschafts- und Sozialpolitik seiner unmittelbaren Nachfolger als Bundesminister und Bundeskanzler hat Erhard einen gravierenden Bruch mit seinen politischen Vorstellungen und seiner erfolgreichen Politik gesehen: einen Rückfall in staatlichen Dirigismus und eine Rückkehr zum Interventionismus und Protektionismus einer überwunden geglaubten Zeit.

Erhards Soziale Marktwirtschaft und seine legendär gewordenen Erfolge – das „deutsche Wirtschaftswunder“ nach der Währungs- und Wirtschaftsreform 1948 und die daran anschließende Periode mit wirtschaftlicher Prosperität, Stabilität, Vollbeschäftigung und sozialer Zufriedenheit – beruhten auf dem wertorientierten Denken, das die sozialethisch orientierte politische Ökonomie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgezeichnet hat. Diesem Denkansatz gemäß war es Erhard wichtig, dass die Würde jedes Menschen gewahrt wird, und das bedeutete für ihn, dass jede Art von obrigkeitlicher Bevormundung und Gängelung unterbleiben muss. Jeder Mündige muss sein Leben in Autonomie, das heißt: selbstverantwortlich gestalten. Die Aufgabe der Wirtschaftspolitik war hiernach, günstige Bedingungen für Selbsthilfe und Selbstvorsorge zu schaffen und vor allem darauf zu achten, dass keiner aus dem Wirtschaftsgeschehen gedrängt oder ausgebeutet wird, so dass sich „Wohlstand für alle“ und stabile Strukturen einer solidarischen Gesellschaft entwickeln.

Nach Erhards Rücktritt aus der Politik erfolgte eine Abkehr von dieser anspruchsvollen Zielsetzung. Die Wirtschaftspolitik beschränkte sich auf das Ökonomische. Sie sollte mit der sogenannten Globalsteuerung die Wachstumskräfte der Wirtschaft fördern, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stärken und eine stetige Wirtschaftsentwicklung garantieren. Die Verteilung der Wirtschaftsergebnisse sollte im Rahmen einer „Konzertierten Aktion“ von Staat und Wirtschaftsverbänden geregelt werden.

Was für Erhard selbstverständliche Folge seiner Politik war – was erreicht wurde, auch wenn es Erhard nicht ausdrücklich angestrebt hatte –, wurde gesetzlich vorgegeben. Der Staat definierte fortan die wünschenswerten Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts und förderte die Wirtschaft. Doch die globale Wirtschaftslenkung funktionierte nicht in befriedigender Weise. Erst traten Preissteigerungen, dann wirtschaftliche Stagnation und hohe Arbeitslosigkeit auf. Die auf Selbstvorsorge beruhende soziale Sicherheit, deren Grundlage Vollbeschäftigung ist, wurde brüchig. Der Staat musste eingreifen, denn nur er konnte bei hoher Arbeitslosigkeit das Niveau der sozialen Leistungen garantieren und die Verteilung der sozialen Lasten auf Versicherte, Unternehmen und Steuerzahler durchsetzen.

Im Zuge dieser Entwicklung wurde mehr und mehr von den Prinzipien abgewichen, die für Erhard unverzichtbare Voraussetzungen einer Politik waren, mit der Wohlstand und soziale Sicherheit für alle geschaffen und Verteilungskämpfe vermieden werden können, unter anderem auch von Erhards Überzeugung, dass sich der Staat nicht auf Kosten zukünftiger Generationen verschulden darf und dass wirtschaftliche und soziale Fortschritte in einer Marktwirtschaft nicht durch staatliche Wirtschaftsförderungen und Subventionen angeregt werden können, sondern in erster Linie aus der Erfahrung und dem Einfallsreichtum der Wirtschaftenden selbst entstehen. Erhard hatte auf Freiheit und Selbstverantwortung vertraut, weil – wie er sagte – „die Freiheit individuelle und gesellschaftliche Kräfte freisetzt, von deren Stärke und Macht sich die Schulweisheit der Planwirtschaftler nichts träumen lässt.“ An eine Kombination von Marktwirtschaft mit globaler Wirtschaftssteuerung und sozialem Bürokratismus hatte er nie gedacht.

Im vorliegenden Buch werden die geistigen Grundlagen von Erhards Sozialer Marktwirtschaft nachgezeichnet. Es wird gezeigt, dass Erhard seine Politik als Wissenschaftler gründlich bedacht hatte und dass er sich als Politiker konsequent an seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert hat. Aus diesem Sachverhalt wird zum einen der Erfolg der Erhardschen Politik erklärt. Zum anderen wird dargelegt, dass die gegenwärtige Politik nur der altbekannte, in der Vergangenheit schon so oft gescheiterte Versuch ist, akute Probleme durch punktuelle staatliche Eingriffe zu kurieren.

Da es die Wirtschaft versteht, den Nachteilen staatlicher Interventionen einfallsreich auszuweichen, da Wirtschafts- und Sozialverbände in der staatlichen Wirtschaftsförderung und der staatlichen Sozialpolitik manchen Nutzen sehen und da es Politik und Bürokratie stets wichtig ist, möglichst alles, was geschehen kann, in Gesetzen und Verordnungen lückenlos und detailliert zu regeln, ist mit der gegenwärtigen Politik eine Tendenz zur Vervollkommnung von Wirtschaftslenkung und sozialstaatlicher Organisation entstanden. Es scheint, als könne diese Entwicklung zur Planwirtschaft nur blockiert werden, wenn die Notwendigkeit einer konzeptionellen Umorientierung der Politik begriffen und erkannt wird, dass in Erhards Sozialer Marktwirtschaft Umstände und Verhaltensweisen bedacht und beachtet wurden, die jederzeit wirksam sind und die niemals ignoriert werden dürfen.

Beim Schreiben dieses Buches haben mir viele geholfen. Namentlich zu nennen sind Dr. Herbert B. Schmidt, der Mitgründer des Wirtschaftsrates der CDU, dem ich viele Hinweise aus seiner Erfahrung mit Ludwig Erhard verdanke, sodann meine Frau, die meine Arbeit mit großer Geduld und vielen praktischen Hinweisen gefördert hat, sowie meine Töchter, die mich durch kritische Anmerkungen zu gründlicherem Nachdenken gezwungen haben. Nicht vergessen werde ich aber auch das teilnahmsvolle Engagement vieler Archivare und Bibliothekare bei meiner Suche nach verschollen geglaubten Dokumenten und vergessenen Texten. Kurz: Ich bin vielen sehr dankbar.

Hennef, im November 2014

Horst Friedrich Wünsche

Inhalt

I.Die jahrzehntelange Banalisierung von Erhards Politik

OFFENKUNDIGE BEFUNDE

1.Das aktuelle Meinungsspektrum

a)Gegensätzliche Urteile

b)Fragwürdige Maßstäbe

c)Ausgeblendete Wirklichkeit

d)Programmierte Ratlosigkeit

e)Bigotterie und Dogmatismus

f)Sozial blindes Streben nach Wachstum

g)Gravierende Denkfehler

h)Kontraproduktive Argumentationen

2.Im Kontrast: Zentrale Punkte in Erhards Sozialer Marktwirtschaft

a)Fünf Merkposten zu Erhards politischem Denken

b)Erhards Nähe und Distanz zum Neoliberalismus

c)Erhards wirtschaftstheoretischer Ausgangspunkt

3.Eigenheiten der aktuellen Politik aus Erhards Sicht

a)Begriffsverwirrung um das Soziale

b)Aktionismus statt langfristig bedachter Politik

c)Rechtfertigung von Politikversagen

d)Hang zur Öffentlichkeitsarbeit

e)Überschätzung wissenschaftlicher Politikberatung

4.Fehleinschätzungen durch die Wissenschaft

a)Strategisch begründete Interpretationen

b)Euckens problematische Wegweisung

c)Der Gegensatz zwischen Erhard und Eucken

d)Die missratene „Aktion Soziale Marktwirtschaft“

e)Furcht vor einer Erhard-zentrierten Betrachtung

TIEFERE URSACHEN

1.Verdrängte historische Tatsachen

a)Die Phase des „Wirtschaftswunders“

b)Der Umschwung Ende der 1960er Jahre

c)Die Entwicklungstrends aus heutiger Sicht

2.Vorurteile und mangelndes Interesse

a)Skepsis und Gleichgültigkeit

b)Versagen der Forschung

c)Wortkaskaden statt Forschungsbefunden

MÖGLICHKEITEN UND FOLGEN EINER KORREKTUR

1.Aufklärung durch einen neuen Forschungsansatz

2.Perspektiven einer Revitalisierung

a)Konsequentes marktwirtschaftliches Denken

b)Fundamentale Lösungen statt Symptomtherapien

c)Ursachenadäquate Maßnahmen statt Dogmatismus

d)Politik mit Weitblick und Beharrungsvermögen

3.Die Absicht der vorliegenden Untersuchung

II.Erhards Weg in die Wissenschaft

ABSICHTEN UND ZUFÄLLIGE FÜGUNGEN

1.Biographische Ausgangspunkte

2.Erhards Studienmotive

3.Die Nürnberger Handelshochschule

a)Die Gründungsabsichten

b)Nürnberg als Refugium der historischen Schule

III.Das Wirtschaftsstudium im Zwiespalt der Denkschulen

ERSTER TEIL: WÜRDIGUNG DER HISTORISCHEN SCHULE

1.Das verbreitete Fehlurteil über die historische Schule

2.Ausgangspunkte der ethisch-historischen Forschung

a)Freiheit als Richtmaß im Wirtschaftsleben

b)Die induktive Erkenntnismethode

c)Die sozialen Erkenntnisziele

3.Verwechslung von mildtätig, sozial und sozialistisch

a)Der Verein für Socialpolitik

b)Sozialpolitik in ethischer Sicht

c)Bismarcks Sozialversicherungen

d)Sozialismus aus „kathedersozialistischer“ Sicht

ZWEITER TEIL: DER UMBRUCH VON DER ETHISCHEN ZUR MODERNEN ÖKONOMIE

1.Die Rückkehr archaischer Denkweisen

a)Die Genesis der Grenznutzenlehre

b)Die Probleme einer ethikfreien Ökonomie

2.Der Methodenstreit

a)Anlass und Ablauf

b)Hintergründe und Bewertung

c)Vermengung von Methode und Erkenntnisobjekt

3.Die Wende zur Neoklassik

a)Die neue Lehre

b)Unbeabsichtigte Auswirkungen

c)Die Erklärungsschwäche neoklassischer Modelle

4.Das untergründige Fortleben der historischen Schule

IV.Erhards Karriere als Wirtschaftswissenschaftler

AUSBILDUNG ZU SOZIALER SENSIBILITÄT

1.Das fragwürdige Erkenntnisziel der modernen Ökonomie

a)Fehlendes Verständnis für soziale Fragen

b)Erhards Suche nach den Grundlagen der Politik

2.Erhards Studienzeit

a)Ein Semester Privatwirtschaftslehre

b)Umschwenken zur Nationalökonomie

c)Soziologie, Sozial- und Gesellschaftspolitik

d)Erhards Post-Graduierten-Studium

e)Die Hyperinflation 1922/23

3.Tätigkeit am Institut für Wirtschaftsbeobachtung

4.Wissenschaftliche Politikberatung

a)Auftragsarbeiten in Lothringen

b)Die Gutachten für die „Haupttreuhandstelle Ost“

c)Das Institut für Industrieforschung

Das Arbeitsprogramm (Exposé Dr. Erhard)

d)Das Kriegsende 1945

5.Funktionen nach Kriegsende

a)Aufträge der Militärregierung in Bayern

b)Leiter einer universitären Arbeitsgruppe „Industrie“

Problemaufriss:Der Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft:Die Aufgaben bis zur währungspolitischen Neuordnung (Dr. Ludwig Erhard, Fürth)

c)Minister für Wirtschaft in Bayern

d)Leiter der Sonderstelle Geld und Kredit

e)Der Weg in das Bundesministerium für Wirtschaft

6.Die konzeptionell entscheidende Phase

V.Bausteine einer Sozialen Marktwirtschaft

ERHARDS AKADEMISCHE LEHRER

1.Sieben Lehrer, darunter drei Wohltäter

2.Erhards Fragestellungen

3.Das Lehrangebot

(1) Wilhelm Rieger

a)Zur Biographie

b)Das Werk

c)Der privatwirtschaftliche Denkansatz

d)Symbiose von Privat- und Volkswirtschaft

(2) Karl Theodor von Eheberg

a)Zur Biographie

b)Das Werk

c)Grundsätze einer soliden Finanzpolitik

(3) Adolf Günther

a)Zur Biographie

b)Das Werk

c)Wertorientierte politische Ökonomie

d)Die Grundzüge einer sozialen Politik

(4) Franz Oppenheimer

a)Zur Biographie

b)Das Werk

c)Oppenheimers „System der Soziologie“

d)Der liberale Sozialismus

e)Grundlinien freiheitlicher Politik

(5) Andreas Voigt

a)Zur Biographie

b)Das Werk

c)Sicherung von Wirtschaftsfrieden

(6) Fritz Schmidt

(7) Wilhelm Vershofen

a)Zur Biographie

b)Das Werk

c)Einsichten und Folgerungen

d)Erhards Verhältnis zu Vershofen

4.Die für Erhard relevanten Lehren

VI.Erhards Soziale Marktwirtschaft

ERSTER TEIL: DAS KONZEPTIONELLE GRUNDGERÜST

1.Die Marktwirtschaft

a)Die Aufgabe marktwirtschaftlicher Politik

b)Freiheitssicherung durch Wohlstand für alle

c)Sozialethik und Psychologie in Erhards Denken

2.Das Soziale

a)Vollbeschäftigung und Leistungsgerechtigkeit

b)Komplementäre Gestaltungsprinzipien

c)Steckengebliebene Reformabsichten

ZWEITER TEIL: VON DER KONZEPTION ZUR POLITIK

1.Eckpunkte einer freiheitlichen Wirtschaftspolitik

a)Marktwirtschaftliche Steuerung durch Preise

b)Die soziale Funktion des Wettbewerbs

c)Vermeidung von wirtschaftlicher Fehlsteuerung

d)Anhaltspunkte auf dem Weg zu Vollbeschäftigung

2.Ausblick

a)Erhards Standpunkt

b)Was lehrt Erhard?

Anmerkungen

Quellenverzeichnis

1.Konsultierte Archive

2.Zitierte Texte von Ludwig Erhard

3.Literaturverzeichnis

Personenregister

KAPITEL I

Die jahrzehntelange Banalisierung von Erhards Politik

OFFENKUNDIGE BEFUNDE

1.Das aktuelle Meinungsspektrum

a) Gegensätzliche Urteile

Viele Jahre lang galt die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland als viel versprechende Politik. Man glaubte, mit ihr könnten relativ leicht der Wohlstand des Volkes gemehrt und soziale Sicherheit garantiert werden. Vor einem Vierteljahrhundert, als die Berliner Mauer geöffnet und der Einigungsvertrag geschlossen wurde, galt sie vielen sogar als Patentrezept, mit dem im bisher sozialistischen Teil Deutschlands ohne weiteres hohes Wirtschaftswachstum erreicht, Beschäftigung und Einkommen gesichert, eine international wettbewerbsfähige Wirtschaft aufgebaut und jedem Bürger Existenzsicherheit geboten werden können.

Die großen Erwartungen, die mit dem Einheitsprozess verbunden waren, wurden enttäuscht. Aber dem Ruf der Sozialen Marktwirtschaft hat das kaum geschadet. Es war bekannt, dass die Methoden der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in Ost und West grundverschieden waren und statistischen Ausweisen ohnehin nicht getraut werden durfte. Offensichtlich war die ehemalige DDR weitaus stärker heruntergewirtschaftet, als die veröffentlichten Zahlen vermuten ließen. So wurde zwar bedauert, dass die Wirtschaftsexperten einer Fehleinschätzung erlegen waren. Aber Bevölkerung und Politiker nahmen es hin, dass der Aufholprozess der neuen Bundesländer wahrscheinlich mühsamer sein und länger dauern wird, als ursprünglich erwartet wurde.

Die Überzeugung, dass mit der Sozialen Marktwirtschaft große und auch größere Herausforderungen glänzend bewältigt werden können, blieb zunächst unerschüttert. Doch im Lauf der Zeit hat sich dieser Optimismus verflüchtigt – verständlicherweise, denn auch im dritten Jahrzehnt der deutschen Einheit gibt es noch immer keinen überzeugenden Beleg für die angenommene überlegene Leistungskraft der Sozialen Marktwirtschaft.

In ihren Berichten zum Stand der deutschen Einheit stellt die Bundesregierung zwar alljährlich fest, dass es deutliche Anzeichen für einen Aufschwung in den östlichen Bundesländern gibt. So wurde beispielsweise 2013 hervorgehoben, dass immer weniger junge Menschen von Ost nach West übersiedeln, weil sie einen Ausbildungs- oder einen Arbeitsplatz im Osten finden.1 Aber die Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer mussten und müssen dennoch fortlaufend eingestehen, dass das Hauptziel der Wirtschafts- und Sozialpolitik der 1990er Jahre noch immer nicht erreicht ist:

„Die neuen Länder sind auch heute noch durch viele gemeinsame strukturelle Merkmale und Herausforderungen gekennzeichnet, die ein noch fortbestehendes Defizit im Hinblick auf die Angleichung an die westdeutschen Bundesländer dokumentieren.“2

Im jüngsten Jahresbericht wird der Rückstand der ostdeutschen hinter den westdeutschen Regionen bei den wichtigsten Indikatoren für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit 20 bis 30 Prozent beziffert3 und festgestellt:

„Die Bilanz zeigt, dass inzwischen zahlreiche wirtschaftliche und soziale Verbesserungen erreicht werden konnten. Vor allem hinsichtlich der Lebensqualität und der Infrastruktur sind heute zwischen neuen und alten Ländern kaum mehr Unterschiede festzustellen. Indes wurden gerade in den ersten Jahren des gesellschaftlichen Umbruchs viele Erwartungen und Hoffnungen enttäuscht. Insbesondere die Arbeitslosigkeit war und ist immer noch ein drückendes Problem, obwohl sie inzwischen auch in Ostdeutschland deutlich gesunken ist. Auch die Wirtschaftsstrukturen und die damit verbundene Wirtschaftskraft unterscheiden sich in Ost- und Westdeutschland noch erheblich.“4

Das lange Zeit so unbeirrt positive Urteil über die Soziale Marktwirtschaft wurde auch durch die seit der Jahrtausendwende aufgekommenen wirtschafts-, sozial- und finanzpolitischen Schwierigkeiten erschüttert. Angesichts dieser Schwierigkeiten vermuten nun viele, dass die wirtschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen in den vergangenen Jahrzehnten stark angewachsen sind, so dass sie sich nicht mehr so, wie es früher der Fall gewesen sei, mit der Sozialen Marktwirtschaft bewältigen lassen. Immer mehr Menschen folgern daraus, dass der Staat jetzt viel entschlossener eingreifen müsse als früher – entweder, um die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft zu verbessern, oder, um die Probleme unmittelbar zu lösen, die in der Marktwirtschaft ungelöst bleiben. Freilich fragen dabei auch manche, was von einer Marktwirtschaft übrig bleibt, wenn sich der Staat in marktwirtschaftliche Prozesse einklinkt oder wenn die Marktwirtschaft für politisch festgesetzte Ziele instrumentalisiert wird. Einige verweisen zudem darauf, dass staatliche Eingriffe häufig wirkungslos und manchmal sogar die Ursache von Fehlentwicklungen waren.

Der Stand der Debatte lässt sich so zusammenfassen: Derzeit herrschen in Deutschland sowohl gegenüber der Marktwirtschaft als auch gegenüber staatlichen Interventionen Vorbehalte. Im Konkreten heißt das: Die Bevölkerung ist gespalten. Einerseits gibt es viele Vertreter der Marktwirtschaft. Deren Plädoyers für mehr Marktwirtschaft werden jedoch in der Regel mit Hinweisen auf vermeintliche Schwächen der Marktmechanismen zurückgewiesen. Andererseits gibt es viele, die stärkere Staatseingriffe verlangen. Aber auch deren Vorschläge werden meistens als nicht Erfolg versprechend abgelehnt. – Einige vertrauen mehr dem Markt, andere mehr dem Staat. Die meisten davon und viele andere vertrauen keinem vorbehaltlos, weil beide die Erwartungen enttäuscht haben, die in sie gesetzt wurden.

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