Luftschlösser - Hilary Leichter - E-Book

Luftschlösser E-Book

Hilary Leichter

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Beschreibung

»Luftschlösser ist kein Roman, den man einfach liest; es ist ein Buch, das man bewohnt.« Pulitzer-Preisträger Hernan Diaz Mit großer Zärtlichkeit erzählt Hilary Leichter von Liebe und Verlust, von den fragilen Galaxien, in denen unsere Gefühle wohnen, und von der uralten Sehnsucht nach einer alles überdauernden Verbindung.   Annie und Edward leben mit ihrer kleinen Tochter Rose in einer winzigen Stadtwohnung. Als eines Abends Annies Kollegin Stephanie zu Besuch kommt, ist etwas anders als sonst: Hinter der Tür des verstaubten Wandschranks verbirgt sich auf einmal eine wunderschöne Terrasse. Die drei sind überglücklich. Doch welchen Preis müssen sie für diesen wahr gewordenen Traum bezahlen? Während Jahrzehnte früher immer mehr Arten aussterben und die Ehe zwischen Annies Eltern bröckelt, zeigen sich in dem Haus, in dem Stephanie aufwächst, unerklärliche Risse an den Wänden. Hat Stephanie etwas mit dem schrecklichen Unfall zu tun, der bald darauf ihre Familie erschüttert?  

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Seitenzahl: 215

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Hilary Leichter

Luftschlösser

Roman

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Terrace Story bei Ecco/HarperCollins.

Das zweite Motto im Kapitel Motto stammt aus: Virginia Woolf: Zum Leuchtturm. In der Übersetzung von Karin Kersten, herausgegeben von Klaus Reichert. © 1991 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

 

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2024 Arche Literatur Verlag,

ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich

© 2023 Hilary Leichter

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: DIEK Design/Sarah M. Hensmann

Coverabbildung: einer Fotografie von Douglas Freer/Shutterstock

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03790-149-6

 

www.arche-verlag.com

www.facebook.com/ArcheVerlag

www.instagram.com/arche_verlag

Für Matt

Man muss messen, was messbar ist, und messbar machen, was nicht messbar ist.

Galileo Galilei

 

 

 

»Nun ja, wir müssen abwarten, was die Zukunft bringt«, sagte Mr Bankes, als er von der Terrasse hereinkam.

 

Virginia Woolf, Zum Leuchtturm

Terrasse

Das alte Fenster bot einen herrlichen Ausblick auf Gelber Baum, vom Stamm bis zum Wipfel. Sie nannten ihn Gelber Baum, obwohl der Ginkgo nur eine Woche im Jahr gelb war, bevor die fächerförmigen Blätter beim leisesten Windhauch zu Boden raschelten. Annie und Edward standen mit ihrer Tochter am Fenster und sagten: »Da! Gelb!« Aber sie war noch zu klein, um das Wort nachzusprechen. Aufmerksam guckte sie hinaus und berührte die Scheibe. Sie wischten die Fingerabdrücke weg und küssten die Finger, die die Abdrücke hinterlassen hatten. Dann fielen die Blätter, und die Szenerie war nicht mehr dieselbe. Manche Ansichten zeigen nicht einmal die Hälfte von dem, was gesehen werden muss.

Als die Miete unbezahlbar wurde, mussten sie etwas an ihrer Wohnlage ändern. Lage ist alles. Annie dachte darüber nach, über ihre Lebenslage. Sie hatten nicht annähernd genug gespart für eine Maklerprovision, geschweige denn eine Kaution.

»Sieht kleiner aus, als es ist«, sagte Edward, als er sie durch die neue Wohnung führte. Ein dämmriges, unregelmäßiges Viereck. »Du musst nur ein bisschen Geduld haben, irgendwann wächst sie dir vielleicht ans Herz!«

»Willst du damit sagen, sie könnte buchstäblich wachsen?«, fragte Annie.

Die neue Wohnung bot keinen Ausblick auf Gelber Baum. Die in sich gekehrten Fenster waren vergittert und drängten sich um einen Lichtschacht, den Edward Taubentunnel nannte. Edward und Annie dachten sich für ihre Welt gern Eigenwörter aus: Gelber Baum, Taubentunnel, Schrankmysterium. Schrankmysterium war Annies Wort für das Mysterium, das ihr einziger, aus allen Nähten platzender Wandschrank war. Was würde einem beim Öffnen wohl entgegenrauschen? Es war ein echtes Rätsel. Auch für ihr Baby suchten sich Edward und Annie ein Wort aus. Das Baby-Wort war Rose.

Annie trug Rose vor die Brust gebunden, während sie auspackte und zusammengefaltete Umzugskartons und Windeln in das Schrankmysterium stopfte, und sie hielt sie dabei ganz fest, für den Fall, dass sich das Tragetuch lösen sollte, wie ein Schal durch einen Windstoß, und das Baby zu Boden zu fallen drohte.

»Vorsicht«, sagte sie, zu sich selbst und niemandem sonst.

Irgendwann einmal, erklärte Edward, würde ihnen ein Plätzchen unter freiem Himmel gehören. Ein Flecken Gras zum Spielen, ein Topf für die Kräuter. Das hatten sie auch in der Wohnung davor gesagt und in der Wohnung davor, und sie sagten es noch immer, vielleicht nicht mehr so überzeugt. Es sei zwar eng, sagte Edward, aber dadurch auch vertraut und gemütlich, oder? Doch, stimmte Annie ihm zu. Insgeheim glaubte sie, dass der fehlende Platz ein Anzeichen für die Zukunftsaussichten war, die ihr fehlten, ein abschließendes Urteil über falsch gesetzte Prioritäten und lauwarme Entscheidungen. Aber inzwischen hatte sich dieses Urteil im Grunde ihres Herzens eingerichtet, wo es unbedeutend geworden war, und nur, wenn sie sich besonders niedergeschlagen fühlte, landete der Ellbogen der Ernüchterung zwischen ihren Rippen. In vielerlei Hinsicht konnten sie sich glücklich schätzen. Sie waren gesund und zufrieden und guter Dinge. Sie hatten ihr gesamtes Erspartes für den Umzug ausgegeben, sogar die Münzen aus dem Schraubglas unter der Spüle. Sie hatten jetzt eine andere Spüle und ein leeres Glas für neue, funkelnde Münzen.

Edwards Arbeitsweg war jetzt kürzer, und seine Firma hatte einen eigenen Kindergarten. Als Annies unbezahlter Mutterschaftsurlaub zu Ende ging, fuhr sie mit dem Bus zum Büro und traf Stephanie, die in der Zwischenzeit Annies Kunden übernommen hatte, vor dem Eingang.

»Die verschollene Mutter ist wieder da!«, sagte Stephanie.

»Wo bleibt die Kapelle?«, fragte Annie.

»Oh, die Majoretten sind oben. Und stell dir vor, die Flöten sind raus, weil schwanger.«

»Alle?«

»Toutes des flûtes«, sagte Stephanie.

Stephanie ging mit Annie durchs Foyer und führte sie dann von einer Etage zur nächsten, was Annie seltsam vorkam, bis ihr klar wurde, dass ihre Schlüsselkarte in ihrer Abwesenheit deaktiviert worden war. Sie holten ihr am Empfang eine neue.

»Lass uns nachher zusammen essen«, sagte Stephanie. »Die Zukunft hält was Süßes für mich bereit.«

»Sag mal, steht der Kopierer woanders?«, fragte Annie.

»Nein, aber dein Schreibtisch.«

Später aßen sie Sandwiches und Chips aus kleinen Tüten und unterhielten sich über den Umbau des Marketing-Teams, die neuen, piekfeinen Stühle im Konferenzraum und den Wasserspender, der noch immer außer Betrieb war. Annie wollte wissen, wie es um ihre Kunden stand. Sie erwartete einen kollegialen Hilferuf, der ihr zu verstehen geben würde, dass sie unentbehrlich war.

»Was soll ich sagen?«, sagte Stephanie. »Du hast nichts verpasst.«

»Komm doch vielleicht mal zum Abendessen vorbei«, sagte Annie.

»Oh, nein, nein«, sagte Stephanie. »Ich will keine Umstände machen.«

»Doch, mach uns Umstände, bitte! Dann müssten wir endlich unseren Tisch zusammenbauen.«

Als Annie nach Hause kam, teilte sie Edward mit, dass sie einen Tisch kaufen mussten. Sie bezahlten mit der Kreditkarte. Annie schnitt Servietten aus altem Stoff aus, deckte ein, Gläser, Gabeln, das Service ihrer Großmutter, das sie vor Kurzem ausgepackt hatte. Alle Teller waren mit einem kleinen goldenen Tier verziert.

»Ich hab Wein mitgebracht!«, sagte Stephanie, als sie sich durch die Wohnungstür zwängte und Edward die Hand gab. »Na, wer bist du denn?«, sagte sie zu Rose. Rose antwortete, indem sie Stephanie ihr Spielzeug hinhielt.

Annie wollte instinktiv erklären, warum die Wohnung so klein war. Die Gegend, die Firma, der Kindergarten, ein Schnäppchen! Und dann würde sie Edward ein Zeichen geben, damit er sich für den Platzmangel entschuldigte, dafür, wie eng es war, eng auf die sympathische Art, für die bunten Bälle und Tüten und Teddys auf dem Boden.

Aber Stephanie kam ihr zuvor: »Wollen wir nicht draußen essen? Es ist so ein schöner Abend!«

Stephanie öffnete die Tür, die eigentlich die Schranktür war, und eine mit funkelnden Lichterketten geschmückte Terrasse kam zum Vorschein. An ihrem Geländer sammelten und verzweigten sich knorrige Ranken, blühten, schossen die Fassade hoch.

Annie sah die Terrasse zum ersten Mal, Edward auch. Hatten sie sie die ganze Zeit übersehen? Nein, das war unmöglich.

»Was ist das denn?«, flüsterte Annie. Mit Rose auf der Hüfte spähte sie auf die Terrasse (ihre Terrasse?), wo ein Tisch und vier Stühle standen, ein Grill und ein strapazierfähiger Schirm, den man aufspannen konnte, wenn nachmittags die Sonne schien. Alles sah teuer und makellos aus, wie gerade erst gekauft oder gerade erst erdacht. Es war, als würde Annie eine verloren geglaubte Brille auf ihrem Kopf wiederfinden.

»Schrankmysterium trifft es genau«, sagte Edward, der hinter sie getreten war.

»Immobilienmysterium«, flüsterte Annie. Sie sahen sich an und gingen zusammen durch die Terrassentür. (So breit die Tür! So groß die Terrasse!) Beide blieben sie unverletzt, unverändert, ein warmer Herbstabend umfing sie.

Stephanie bewunderte die Aussicht, die nicht zur Lage der Wohnung passte. Kein Taubentunnel weit und breit. Obwohl ihr Teil des Gebäudes nach Osten ging, hatten sie den Sonnenuntergang vor Augen, oder was davon übrig war. Stephanie schien den geografischen Widerspruch nicht zu bemerken.

»Der Wahnsinn«, sagte sie.

»Wir hatten so ein Glück!« Annie stellte den Wein auf den Tisch.

Stundenlang saßen sie auf der Terrasse, füllten ihre Gläser und Teller immer wieder aufs Neue. Je länger sie blieben, umso fester fühlte sich der Boden unter ihren Füßen an. Rose war auf Edwards Schoß eingeschlafen, und aus Sorge, er könnte sie wecken, wenn er aufstünde, ließ er sie weiterschlafen und blieb sitzen. Zuerst hatte sich eine große Anspannung bemerkbar gemacht, gefolgt von überwältigender Ruhe. Die Gefühle wechselten sich in Annie ab, bis sie schließlich erloschen und sie von dem erschöpften, schläfrigen Glück eines ausgelassenen Vormittags auf dem Spielplatz erfüllt wurde. Vom Glück, im Freien zu sein. Natürlich hätte sie sich bewegen können, aber sie wollte nicht. Ihre Arme und Beine waren schwer und selig. Oh, und wie er sich auf ihrer Stirn anfühlte, der Wind, der einen schwachen Lagerfeuergeruch aufkommen ließ und über ihr Gesicht hinwegwehte.

Später am Abend half Stephanie beim Abräumen, und Annie und Edward brachten sie die Treppe hinunter.

»Hat Spaß gemacht, vor allem mit der Kleinen hier«, sagte Stephanie und zupfte an Roses Fuß.

»Schön, dass du da warst«, sagte Edward.

»Das nächste Mal kommt ihr zu mir!«, sagte Stephanie.

»So machen wir’s«, sagte Annie und schloss Stephanie in die Arme. Sie konnte es kaum erwarten, die Terrasse ganz für sich allein zu haben, für sich und Edward und Rose, ihre Familie. Vielleicht würden sie draußen schlafen. Wie verwegen! Nur um sicherzugehen, dass es die Terrasse wirklich gab.

Als sie in die Wohnung zurückkamen, war die Terrasse verschwunden.

Annie öffnete und schloss die Schranktür, wieder und wieder und wieder, in der Hoffnung, es würde sich wiederholen, was längst in unerreichbare Ferne gerückt zu sein schien.

»Vielleicht ist sie nur da, wenn wir Gäste haben«, sagte Annie.

»Oder es ist nur dieses eine märchenhafte Mal passiert«, sagte Edward und warf seine Hose neben das Bettchen, das neben dem Herd stand, der neben dem Tisch stand, für den sie wirklich nicht genug Platz hatten, weder in der Wohnung noch auf der Kreditkarte.

»Der Abend war großartig«, sagte er. »Wir hatten heute eine Terrasse. Davon werden wir bis in alle Ewigkeiten reden.«

»Trotzdem«, sagte Annie in ihr Kissen.

»Trotzdem«, stimmte Edward zu.

Annie und Edward waren nie bei Stephanie zu Besuch, weil Stephanie sie nicht einlud. Stattdessen empfingen die beiden Freunde, alte Nachbarn und Mitbewohner aus Collegezeiten. Es war schön, die Menschen wiederzusehen, die ihnen wichtig waren, ihnen Rose vorzustellen und sich ihre Geschichten anzuhören. Aber weder bei Dan und Patricia noch bei den O’Neills oder Liza und Sonny kam die Terrasse zum Vorschein. Jedes Mal deckte Annie den Tisch mit einem Krug voller Blumen, von denen der Blütenstaub herabrieselte, und dem Service mit den goldenen Tieren, und jedes Mal versuchte sie, die Terrasse vorzuführen. Doch anstatt einen Sonnenuntergang herauszurücken, spuckte der Schrank lediglich eine verwaiste Packung Windeln aus.

»Vielleicht muss man den Knauf auf eine bestimmte Art drehen«, sagte Annie und versuchte, die Terrasse herbeizuhexen. »Vielleicht liegt der Schlüssel im Handgelenk.«

Edwards Eigenwort für diese Zeit war Traurigheim.

In einem Zustand unendlicher Unzufriedenheit schlich Annie mit Rose vor der Brust durch die Wohnung. In der Spüle sammelte sich immer mehr Geschirr an. Sie fehlte ein paar Tage im Büro. Sie wühlte sich durch das Chaos im Schrankmysterium und tastete die Wand ab, suchte nach einer Klappe oder einem verborgenen Scharnier.

Annie stand früh auf, um Rose zu stillen, ging in der Küche auf und ab und stellte sich vor, dass die Terrasse an den Mondzyklus gebunden war. Vielleicht wurde die Wohnung auch von der Terrasse heimgesucht, einem widerspenstigen Architekturgeist, der nur dann erschien, wenn man ihn störte. Rose hingegen war durch ihre Umgebung nicht beunruhigt. Sie war noch zu klein, um sich in den Bann einer magischen Terrasse ziehen zu lassen, und Annie war vielleicht zu alt dafür. Sie sah ihrer Tochter in die Augen und besann sich beinah wieder auf die Bedeutsamkeit ihres dürftigen, überwältigend schönen Lebens. Aber dann glitt sie über die Oberfläche dieses Gedankens einer weiteren überzeugenden Theorie entgegen. Rose griff nach dem Kragen ihrer Mutter und zog fest daran.

Was, wenn die Terrasse nur dann erscheint, wenn Stephanie da ist?, fragte sich Annie.

Natürlich hatte sie recht. Als Stephanie zum Sonntagsbrunch kam, war auch die Terrasse wieder da. Sie glänzte im Sonnenschein, die lichtbetupften Holzbohlen waren mit Eicheln und orangegoldenem Laub übersät. Annie hätte nicht gedacht, dass man sich nach einem Ort, an dem man nur ein einziges Mal gewesen ist, so sehr sehnen kann. Es gab andere Orte, die ihr fehlten, geliebte, von der Erde losgelöste Gegenden, verschlossen, fort. Aber die Terrasse kam über sie wie ein lang erwartetes Wiedersehen. Sie verspürte ein Frösteln, weil es ein Wiedersehen mit ihr selbst war. Jahrelang hatte sie sich mit einer unerkannten Verletzung arrangiert, und ohne Annies Zutun war diese Verletzung zu einem Teil ihrer alltäglichen Gefühlswelt geworden. Jetzt, da sie auf der Terrasse stand, begriff sie, dass sie endlich verheilt war.

»Hier muss mal wieder gefegt werden, was?«, scherzte Stephanie, stieß mit dem Fuß ein paar Blätter unter dem Geländer hindurch und sah zu, wie sie auf die Straße schaukelten.

Sie verbrachten den ganzen Nachmittag draußen, überhäuften Stephanie mit Getränken, Knabbereien und Platten voller Käse und servierten ihr dann dampfenden Cider in einem großen Krug.

»Hier geh ich nie wieder weg«, sagte Stephanie, die überdimensionierte Sonnenbrille schief auf der Nase.

»Einverstanden!«, sagte Annie. Sie breitete eine Decke aus und setzte sich mit Rose im Schoß auf den Boden, dorthin, wo der Schirm ein perfektes Schattendreieck warf. Sie spielten mit dem Plüschschwein, und Rose knabberte an den Ecken eines knittrigen Stoffbuchs. Edward grillte Hotdogs, zog die Schrauben der Terrassenstühle nach und unterhielt Stephanie, indem er Sachen erzählte, die nie passiert waren. Er berichtete von nie gemachten Urlauben, inexistenten Freunden und der großen Erbschaft von Annies Großmutter, die ihnen in Wahrheit nichts weiter vermacht hatte als ihre Goldtierteller.

»Wie in eurem Italienurlaub!«, sagte Stephanie eines Tages im Büro, und Annie musste sich in Erinnerung rufen, dass sie nie in Italien gewesen waren.

Annie und Edward nannten diese Geschichten Terrassengeschichten, denn wenn man sich an einem Ort aufhält, der nicht wirklich existiert, darf man dort so viele Luftschlösser bauen, wie man will.

»Auf dem Boden der Tatsachen würde ich dich niemals belügen«, sagte Edward, und Annie wusste, dass er die Wahrheit sagte.

Gelber Baum, Taubentunnel, Terrassengeschichte.

Annie lud Stephanie einmal pro Woche ein.

»Kurz vorbeischauen könnte ich schon«, sagte sie, aber sie schaute nie einfach nur kurz vorbei. Sie spielten Scrabble und Schach, strickten Schals und lasen Bücher in der Sonne. Sie picknickten mittags und abends auf der Terrasse, und ein Frühstückspicknick in der Morgendämmerung gab es auch. Annie kaufte Blumen, Blumentöpfe und Blumenerde. Alles mit der Kreditkarte. Stephanie half ihr, die Stiefmütterchen in die Erdhügelchen zu betten.

»Wir können sie nicht dazu zwingen, ständig zu uns zu kommen«, flüsterte Edward.

»Wer zwingt sie denn?«, flüsterte Annie zurück. »Ich muss überhaupt nichts sagen, sie lädt sich praktisch von selbst ein.«

»Und was hat sie davon?«, fragte Edward. »Ich meine, abgesehen von der Terrasse.«

»Rosie, wie du müffelst!«, sagte Stephanie, die unter dem Sonnenschirm saß und das Baby von sich streckte, zu hoch, viel zu hoch, viel zu nah am Geländer.

»Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht!«, rief Annie und nahm Rose schnell wieder an sich, um sie zu wickeln.

»Schluchz!«, jammerte Stephanie theatralisch. Aber für einen kurzen Moment bemerkte Annie an den Rändern ihrer Stimme eine echte Traurigkeit und versuchte ausfindig zu machen, was für einen leeren Raum diese Ränder umschlossen und womit er sich füllen wollte. Falls da ein Sehnen war, hätte Annie nicht zu sagen gewusst, wonach. Sie drehte sich noch einmal zu Stephanie um, und Stephanies Blick traf Annie und verfing sich einen Hauch zu lang in ihrem. Wer war bloß diese Fremde in ihrem Zuhause?

Stephanie ging zur Terrassentür, stand mitten im Durchgang und rief: »Haste noch ’n Bier für mich, Eddie?«

Bis spät in die Nacht spielten sie Scharade und lachten so laut, dass es sie nicht überrascht hätte, wenn die Terrasse durch den Mittelpunkt der Erde gestürzt wäre. Die Toilette war wieder verstopft, diesmal würden sie einen Klempner rufen müssen, einen richtigen, nicht irgendeinen Bekannten, der ihnen einen Gefallen schuldig war. Aber vorerst wandte Edward den beiden Frauen den Rücken zu und schiffte in der Not, nur dieses eine Mal, von der Terrasse. Sie brüllten vor Lachen.

»Annie hält ab sofort Windeln für dich auf Lager, Eddie!« Stephanie wieherte und lehnte sich in ihrem Stuhl zu weit nach hinten.

Annie und Edward gingen ins Bett, ohne vorher aufzuräumen, aber die Terrasse räumte sich von selbst auf. Als Stephanie an einem verregneten Samstag wieder vorbeikam, glänzte die Terrasse im Niesel, keine Bierflaschen, keine Servietten, kein Müll. Die Stiefmütterchen gediehen prächtig.

Im Büro ließ die Teamleiterin Annies Schreibtisch auf eine andere Etage bringen und delegierte einige ihrer Kunden an Stephanie weiter, aus rein praktischen Gründen. Sie ist nun mal auf dem neuesten Stand, hieß es in der E-Mail. Sei der Teamplayer, als der du von uns über alles geschätzt wirst!

»Schätzen dich deine Kollegen über alles?«, fragte Annie Edward.

»Sag mal«, entgegnete Edward, »wird das eine Terrassengeschichte?«

»Vielleicht könnte Stephanie jemanden mitbringen, wenn sie am Wochenende kommt, was meinst du?« Sie stopfte einen Turm aus Handtüchern in den Schrank.

»Ich schätze diesen Vorschlag über alles.«

Annie schrieb Stephanie eine Textnachricht und lud sie ein. Falls du jemanden mitbringen möchtest? Gern auch jemand Besonderen, fügte sie hinzu, Pünktchen Pünktchen Pünktchen.

Stephanie kam allein und hatte ein Brettspiel dabei. Der Würfel und die kleinen Spielfiguren aus Plastik rappelten im Karton, es war die Art von Geräusch, die jeden wissen lässt, hier fehlen wichtige Teile.

»Nur du?«, fragte Annie.

»Nur ich«, sagte sie und setzte sich neben Edward auf die Terrasse.

Einmal brachte Annie abends den Plattenspieler nach draußen, das Kabel spannte sich durch die ganze Wohnung. Die drei tanzten, nahmen abwechselnd Rose auf den Arm, vollführten Drehungen mit ihr, hoben sie hoch, wackelten mit ihren Beinchen, warfen sie aber nie in die Luft, das dann doch nicht, nicht hier oben, nicht hier draußen.

Als die drei außer Atem waren und erschöpft davon, auf den Beinen zu sein, erzählte Edward eine Terrassengeschichte. Die einzige, an die Annie sich später lückenlos erinnern konnte. Sie handelte von einem Date, das nie stattgefunden hatte, samt nie gemieteter Mietlimousine und nie gekauftem kitschigem Rosenbouquet. Daher auch der Name Rose, so jedenfalls wollte es die Terrassengeschichte. Das wahre Leben allerdings wollte, dass Annies Großmutter Rose hieß. Annie hatte für diese kleine Klitterung nichts übrig.

»Private Dining«, sagte Edward, »man bekommt sein eigenes Séparée, ein Tisch, zwei Stühle, mehr nicht, die Bedienungen klopfen an und bringen das Essen und die Getränke und irgendwann die Rechnung. Sie klopfen sogar an, bevor sie eintreten und fragen: ›Wünschen Sie Dessert?‹«

»Und wie wird geklopft?«, fragte Stephanie. »Da-dah-da-dah?«

»Nein«, sagte Edward, »eher wie eine synkopische Triole.«

Stephanie versuchte, eine synkopische Triole zu klopfen, und lachte.

»Cole-Slaw-mit-May-o – schmeckt-gut«, trällerte Edward.

»Hau rein!«

Annie zuckte zusammen. Diese Ausgelassenheit. Dieser Insiderwitz, und sie war der Outsider. Die Terrassengeschichten gehörten Edward und Annie, aber jetzt saßen die beiden da und klopften Geheimcodes aufs Terrassengeländer. Und Stephanie machte ein Gesicht, als würde sie die Geschichte in- und auswendig kennen. Nicht gesehen werden wollen, dachte Annie, wozu sonst braucht man ein Séparée?

 

»Das ist alles passiert«, sagte Annie. »In echt, mit einer anderen.«

Sie zogen sich schnell aus, streiften sich die Schuhe von den Füßen. Es war spät. Stephanie war weg, die Terrasse auch.

»Was redest du denn da?«

»Das war keine Terrassengeschichte. Das war eine wahre Geschichte.«

»So ein Unsinn.«

»Hör auf zu lügen. Die Sache mit dem Klopfen, ich bitte dich!«

»Annie, komm her. Hör jetzt auf. Das war keine wahre Geschichte.«

Sie hielten im Bett so viel Abstand wie möglich, das heißt: Sehr viel Abstand war es nicht. Dann drängte sich Edwards Ferse zwischen Annies Knöchel, und es dauerte nicht lang, und sie umarmten sich, und schon war alles gar nicht mehr so schlimm.

Später stand Annie wieder auf, um Rose zu stillen, und ging die Kreditkartenabrechnungen durch. Sie suchte nach einem Restaurant. Sie suchte nach einer Limousine oder einem Lokal mit Séparées in ihrer Nähe. Ihre Gefühle waren ohne jede Logik, aber kann eine Frau, die eine imaginäre Terrasse aufsucht, Logik für sich beanspruchen? Auch wenn das Date nicht stattgefunden hatte, es hatte eben doch stattgefunden, dadurch, dass Edward davon erzählt hatte, und jetzt war diese ausgedachte Geschichte Teil ihrer Lebenslage, wie der neue Seitenspross einer Pflanze, wie die Terrasse.

Sie schlief beim Stillen ein und träumte, dass Edward sich formvollendet entschuldigte. Ich habe geträumt, dass du das sagen würdest, und jetzt hast du es tatsächlich gesagt, sagte sie im Traum. Aber die Entschuldigung fiel sofort in sich zusammen, weil die noch immer träumende Annie wusste, dass alle seine Worte ihre eigenen waren.

Edward kam aus dem Bett zu Annie geschlurft, die im Sessel saß. »Vielleicht war es ein Date, auf das ich irgendwann gehen wollte«, sagte er. »Mit dir.«

 

Stephanie kam auch an Thanksgiving. Es war warm geblieben, selbstverständlich aßen sie draußen. Annie hatte einen Truthahn kaufen wollen, aber die Kreditkarte war abgelehnt worden. Sie musste den Truthahn durch den ganzen Supermarkt in den allerletzten Gang zurücktragen. Edward kannte kein Halten mehr, er rührte und stampfte und erklärte das Essen zum Beilagenbankett. Sie würden köstliche Kleinigkeiten schmausen, die – Stephanie pochte darauf – sowieso das Beste waren.

»Eine gute Füllung lob ich mir!«, sagte sie zu Edward und warf Brotstücke in die Pfanne.

Rose steckte ihre Finger in den Kartoffelbrei und trug einen Kürbisstrampler, den Annie extra gekauft hatte.

Am Silvesterabend, es war noch Pulloverwetter, setzten sie sich auf die Terrasse und tranken drittklassigen Champagner aus großen Tassen. Durch die neue Aussicht konnten sie in der Ferne ein großes Feuerwerk sehen. Annie erinnerte sich an ihre Kindheit, als sie mit ihrer Großmutter in den nahe gelegenen Park gegangen war, um die weiß funkelnden Lichter zu sehen, die sich wie die üppigen Schleppen einer Trauerweide über den Himmel breiteten und in der Dunkelheit verschwanden.

»Wenn man auf einer Terrasse Silvester feiert, die es nicht wirklich gibt«, flüsterte Edward Annie ins Ohr, »feiert man dann eigentlich Silvester?«

»Das alles passiert wirklich«, sagte Annie und lächelte.

Als die Minuten zu Sekunden wurden und die Sekunden zu ihrem Marsch ins Tal ansetzten, drehte sich Edward zu Stephanie um und küsste sie auf die Wange, vielleicht, damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlte. Annie nahm Rose auf den Arm, übersäte ihr Gesicht mit Küssen und prustete ihr in den Bauchnabel. Dann nahm Stephanie das Baby an sich, damit Edward auch Annie küssen konnte, und das tat er, aber Stephanie hielt Rose schon wieder viel zu nah ans Terrassengeländer, so nah, dass Annie es nicht aushielt und ihr das Kind wieder wegnahm, noch bevor Edward seine Frau in die Arme schließen konnte. Alles ging sehr schnell, aber die intensive Körperlichkeit des Augenblicks hallte nach, vom Ende des alten ins neue Jahr, und da war dieses mulmige Gefühl, als hätte sich in die wenigen Schritte, die Annie und Edward voneinander trennten, eine zusätzliche Entfernung gemogelt.

Als der Winter kam, zogen sie Rose von Kopf bis Fuß warm an und setzten sie auf den Terrassenboden. Sie konnte schon allein sitzen und patschte sich mit den Fäustlingen auf die wattierten Oberschenkel.

»Sie sieht euch beiden sehr ähnlich«, sagte Stephanie, als würde sie damit ein Zugeständnis machen. Sie baute einen Schneemann am Rand der Terrasse, und mit dem Gemüse, aus dem Annie am Abend einen Eintopf kochen wollte, verzierte sie das Gesicht.

»Und woraus soll ich seine Augen machen, Rosie?«, fragte Stephanie und lachte.

Annie beschloss, sich das Gemüse in einem von Stephanie unbeobachteten Moment zurückzuholen. Die niedrigen Temperaturen würden es bis zum Abendessen frisch halten, ganz bestimmt. Der Schnee war noch unberührt. Sie würde die Möhren waschen, schälen und würfeln, was sollte schon sein. Dann fiel Stephanie der Bund Möhren von der Terrasse.

»Hoppla, Mann über Bord«, rief sie. »Soll ich kurz runtergehen?«

»Nicht nötig«, sagte Annie. Wohin genau würde Stephanie überhaupt gehen? In welche verwunschene Peripherie würde es sie verschlagen?

An einem frostigen Montag traf sich Annie mit ihrer Teamleiterin. Sie wollte zusätzliche Kunden akquirieren, um die Umverteilung ausgzuleichen. Und sie wollte um eine Gehaltserhöhung bitten.

Stattdessen sollte sie in Teilzeit gehen. So wie es im Moment aussieht, können wir es uns sonst nicht leisten, dich weiter zu beschäftigen, sagte die Teamleiterin. Zumal Stephanie den Großteil deiner Kunden übernommen hat. Wenn der Job nicht mehr deinen Bedürfnissen entspricht, kannst du dir natürlich gerne etwas anderes suchen usw.

Annie beschloss, dass der Job nicht mehr ihren Bedürfnissen entsprach.

In der letzten E-Mail stand: Offen gestanden hatten wir schon länger den Eindruck, dass du nicht richtig bei der Sache bist.

Sie packte ihre Pflanzen, Fotos und Stifte in einen Karton und ging zu den Aufzügen, wo sie Stephanie in die Arme lief.

»Ach, du bist es«, sagte Annie. Andauernd sprang Stephanie einem ins Auge, wie ein vertrautes Möbelstück in der eigenen Wohnung.

»Ich hab’s gerade erfahren«, sagte Stephanie. »Es tut mir so leid, das –«

»Schon gut. Machst du Schluss für heute?«

»Ja, ich wollte gerade gehen.«

»Dann komm mit zu uns«, sagte Annie.

»Wirklich? Jetzt?«

»Jetzt«, sagte Annie und hielt die Aufzugtür offen.

Ein Moment im Aufzug mit Stephanie war das Gegenteil von einem Moment auf der Terrasse. Annie spürte die Wärme ihrer Körper, das eingesperrte, größer werdende, um sie kreisende Schweigen. Sie wollte gegen die Aufzugwand hämmern, den Notrufknopf drücken; jähe Wut stieg ihr in die Augen. Annie wollte, dass eine von ihnen beiden woanders wäre, aber sie war dazu verdammt, immer zur selben Zeit am selben Ort wie Stephanie zu sein. Sie ertappte sie beim Starren, aus ihrer Ecke des Aufzugs glotzte Stephanie zu ihr herüber, unverschämt und neugierig, und Annie widerstand dem Impuls, ihr eine zu knallen. Sie war auf Stephanie angewiesen, sie musste mit ihr mitkommen, sie musste die Hand ausstrecken, die Schranktür öffnen, und alles käme wieder in Ordnung, ihre Wut würde über das Terrassengeländer schäumen und sich verlieren. Aber war sie nicht auch auf der Terrasse manchmal wütend gewesen? Hatte sie nicht sogar etwas empfunden, das schlimmer war als Wut?

»Soll ich den Karton nehmen?«, fragte Stephanie.

»Nein«, sagte Annie.

Als sie ankamen, fütterte Edward gerade Rose und wärmte für sich selbst Reste vom Vortag auf.