Luise - Carolin Philipps - E-Book

Luise E-Book

Carolin Philipps

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Beschreibung

Jung, anmutig und strahlend schön, gilt Luise von Preußen bis heute als die beliebteste deutsche Königin aller Zeiten. Doch wenig ist bislang über Luises Geschwister bekannt: Dabei waren sie es, die Luise von Kindheit an prägten, denen sie zeitlebens eng verbunden blieb. Carolin Philipps erzählt die Biografien der vier Schwestern und ihrer beiden Brüder als eine große dramatische Familiengeschichte, einfühlsam und dabei historisch genau.

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-96842-3

Mai 2015 © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2010 Covergestaltung: semper smile, München Covermotiv: akg-images Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig, man muss sie für fertig erklären, wenn man nach Zeit und Umständen das Möglichste getan hat.

Goethe, Italienische Reise, 1787

Mein Dank gilt auch diesmal meinem Vater, der durch seine kenntnisreichen Vorarbeiten und die vielen gemeinsamen Diskussionen am Entstehen dieses Buches einen entscheidenden Anteil hat. Mein Dank gilt aber auch meiner Mutter, die das Vater-Tochter-Projekt wieder mit großer Geduld begleitete.

Prolog

»Wenn ich mich so recht in ihrem Anschauen verliere,… dann schwöre ich Dir, wird mir’s oft zu Muthe, als dürfte ich nur den äußeren Saum ihres Gewandes küssen– und wäre ich Katholik, schon jetzt bey ihren Lebzeiten würde ich gläubig ausrufen: ›Heilige Luise, bitte für mich!‹«

Dies schrieb Georg, der Bruder der preußischen Königin Luise, im April 1810 an seine älteste Schwester Charlotte und drückte damit seine übergroße Verehrung aus.1 Als Engel und als Heilige, als Aphrodite, Königin der Schönheit und der Liebe, als Hebe, Königin der Jugend, als Vorbild aller Frauen für Tugend und Sanftmut, als Muster alles Edlen und Schönen: Schon zu Lebzeiten wurde Königin Luise in den höchsten Tönen bewundert und gepriesen. Jung und Alt, Studenten, Diplomaten und Dichter, Frauen und Männer gerieten gleichermaßen ins Schwärmen, wenn sie von ihr sprachen.

Die kritischen Stimmen, die es auch gab, wurden verdrängt, einfach ignoriert. Sie passten nicht in das ideale Bild, das man sich von dieser Frau gemacht hatte. Napoleon, der sie mit Helena verglich, die durch ihre Schönheit und ihr unkluges Verhalten den Trojanern den Tod gebracht hatte, unterstellte man fanatischen Hass auf die preußische Königin, ohne zu berücksichtigen, dass Luise selbst diese Äußerungen durch ihre hassgetränkten Briefe ausgelöst hatte. Der preußische Reformer Freiherr vom Stein bescheinigte ihr mangelnde Bildung und war in diesem Punkt einer Meinung mit ihrem Ehemann Friedrich Wilhelm III., der zwar ihren Naturverstand liebte und lobte und ihre Meinung schätzte, ihr aber die Intelligenz, den Fleiß und das Durchhaltevermögen absprach, um sich erfolgreich fortbilden zu können.

Seit ihrem Tod vor zweihundert Jahren hat sich jede Generation ein eigenes Bild von ihr gestaltet, hat sie für ihre Zwecke benutzt. Königin Luise als Schutzgeist im Befreiungskampf gegen Napoleon, als Kämpferin für eine deutsche Nation, Königin Luise auf Servietten und Trinkbechern. Der Mythos Luise hat die Menschen zu allen Zeiten mehr beschäftigt als der lebendige Mensch, der dahintersteckte. Sie sei glücklich verheiratet gewesen, heißt es zum Beispiel. War sie das tatsächlich? Und wenn ja, um welchen Preis? Sie selber schreibt, dass ihr Leben »Opfer und Aufopferung« war.

Will man erfahren, welche Frau hinter dem Mythos Luise steht, kommt man an ihren Geschwistern nicht vorbei: Charlotte von Sachsen-Hildburghausen, Therese von Thurn und Taxis, Friederike, Königin von Hannover, Großherzog Georg von Mecklenburg-Strelitz, Herzog Carl von Mecklenburg-Strelitz. Als sechsblättriges Kleeblatt haben sie sich selber bezeichnet. Das Kleeblatt mit vier Blättern war schon im Mittelalter ein Glückszeichen, sollte Schutz gegen Unglück aller Art bieten, hier steht es mit seinen sechs Blättern symbolhaft für die tiefe Verbundenheit der Geschwister. Zerstreut über Europa, getrennt durch die Wirren der napoleonischen Kriege, ist es ihnen dennoch gelungen, den engen Kontakt untereinander zu erhalten. Möglich wurde dies durch Tausende von Briefen, die oft auf abenteuerlichen Wegen quer durch Europa ihren Weg suchen mussten.

Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit

Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.

Was ihr den Geist der Zeiten heißt,

Das ist im Grund der Herren eigner Geist,

in dem die Zeiten sich bespiegeln,

ließ schon Goethe seinen Faust zu Wagner sagen. Um das Buch der Vergangenheit zu öffnen und dem Geist der Zeit, den Gefühlen und Gedanken der damals lebenden Menschen näher zu kommen, muss man in die Archive gehen. In Schwerin, Berlin, Regensburg, Pattensen, Altenburg und Braunfels liegt ein großer Teil der noch unveröffentlichten Briefe, die sich die Geschwister schrieben.

Einer von ihnen wurde 1841 von Luises Schwester Friederike an Luises Sohn Friedrich Wilhelm von Preußen geschrieben.2 Friederike war krank und ahnte vielleicht schon das nahe Ende, sie starb fünf Monate später. In dem Brief bittet sie ihren Neffen um »die Zurückgabe meiner Briefe an Deine geliebte Mama«. Sie habe schon die Briefe an seinen Vater, den König, zurückerhalten. Man habe ihr gesagt, »sie seyen, mit allen anderen Familien Briefen, in dem Königlichen Hausarchiv niedergelegt. So sicher nun auch diese Ehrenstelle für unsere Zeit ist, so gestehe ich doch, dass der Gedanke, eine so vertraute Correspondence könne auf die Nachwelt kommen und durch irgendeinen gefälligen Papiernarren oder Archiv-Forscher, wenn auch erst in hundert Jahren, gedruckt erscheinen, mir höchst unangenehm war.« Auch ihre Schwester Therese, mit der sie besorgt die Forschungen in einem englischen Archiv verfolgt hatte, bat noch kurz vor ihrem Tod, Friederike möge dafür sorgen, dass auch ihre Briefe an Luise zurückgesandt würden.

Das Lesen dieses Briefes ließ mich sehr nachdenklich zurück. Ich wusste, dass auch Luises brieflicher Nachlass nach dem Tod Friedrich Wilhelms aus ähnlichen Überlegungen heraus vernichtet worden war. Mit welchem Recht ignorierte ich diese Wünsche nach Erhalt der Privatsphäre?

Mir fiel nur ein Rechtfertigungsgrund ein: die Suche nach der Wahrheit. Schon einmal hatte ich im Archiv zu Schwerin Geheimpapiere entdeckt, in denen Luise die Geschichte der geheimen Liebe ihrer Schwester Friederike so gut versteckte, dass vielleicht gerade deshalb die Gerüchteküche ihr bis heute den Ruf einer »untugendhaften« und »unzüchtigen« Frau anhängen konnte, was Luise zutiefst entsetzt hätte, da sie ja genau das vermeiden wollte. Nur mithilfe dieser Briefe konnte ich den Versuch starten, den guten Ruf Friederikes wiederherzustellen.3

Und so hoffe ich auch diesmal, dass es mir gelingt, durch eine Kombination der Geschwisterbriefe unter Einbeziehung der noch unveröffentlichten Briefe, die bislang unbeachtet in den Archiven verstaubten, der Wahrheit ein wenig näher zu kommen und so vielleicht die eine oder andere jahrhundertealte Behauptung über die sechs Geschwister in das Reich der haltlosen Gerüchte zu verweisen.

Luise. Die Königin und ihre Geschwister ist eine Reise auf den Spuren einer Familie, von der Luise schrieb: »Meine wahre und aufrichtige Anhänglichkeit an meine ganze Familie ist der Art, daß ich nicht ganz glücklich sein kann, wenn ich sie nicht alle glücklich weiß.«4

Kindheit und Jugend in Hannover und Darmstadt

Ein Vater und zwei Mütter

»Von ihrer bescheidenen Mutter hat sie die Grazie, die Augen voller Geheimnis…«

So beschreibt Karl Ludwig Friedrich von Mecklenburg-Strelitz, der Vater der sechs Geschwister, seine Frau Friederike von Hessen-Darmstadt in einem Gedicht, das er ihr zur Hochzeit schenkte.1 In französischen Versen beschwört er die Szene der ersten Begegnung herauf: wie sie errötete, wie er sich fragte, ob sie das Feuer der Leidenschaft in ihm bemerkte, und wie sich dann ihre Blicke fanden. Bereits drei Monate nach dem ersten Treffen wurde im Mai 1768 die Verlobung gefeiert. Das Gedicht ist uns erhalten in einem Brief vom 18.September 1769, dem ersten Jahrestag der Hochzeit. Friederike hat es sorgfältig abgeschrieben und ihrem Mann geschickt, damit er sich »immer an die erinnert, der er das Gedicht geschenkt hat und die keine größere Freude in ihrem Leben kennt, als sein Leben zu sein«.

Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits im siebten Monat schwanger. Auch die übrigen Briefe des Jahres zeigen, dass diese Ehe nicht nur aus rein machtpolitischen Erwägungen geschlossen wurde, wie das in Fürstenhäusern normalerweise geschah. Täglich erhielt Karl von ihr kleine Briefe, zum Teil von ihrem Bett an das seine, denn natürlich gab es im Palais zu Hannover, wo das junge Paar seinen Wohnsitz hatte, wie üblich getrennte Schlafräume. Wenn Karl auf seinen zahlreichen Dienstreisen unterwegs war, sandte sie ihm zärtliche Briefe mit gemalten Herzen und »100000000000000000 Umarmungen« und schrieb dazu: »Ich träume von dir und beschäftige mich den ganzen Tag mit nichts anderem als mit dir. Deine dir zärtlichst zugetane treue Ehefrau.«2 In den späteren Jahren legte Friederike den Briefen Kinderzeichnungen bei und erste Krakelworte: »Chere Papa je t’aime.«3 Selbst nach zehn Ehejahren und acht Kindern findet sich in den Briefen an ihren »anbetungswürdigen Prinzen« die gleiche Zärtlichkeit und Leidenschaft wie zu Beginn: »Je fume pour vous.«4 Briefe von Karl an Friederike sind nicht erhalten, aber aus ihren Schreiben lassen sich Rückschlüsse ziehen auf seine Beziehung zu ihr. So bedankte sie sich bei ihm, weil er morgens »ohne Lärm zu machen« das Schlafzimmer verlassen hatte, damit sie, im dritten Monat schwanger, noch bis neun Uhr weiterschlafen konnte.5

Wer aber war nun Friederikes »anbetungswürdiger Prinz«?

Er wurde am 10.Oktober 1741 auf Schloss Mirow am gleichnamigen See im heutigen Mecklenburg-Vorpommern geboren als Sohn Karl Ludwig Friedrichs von Mecklenburg-Strelitz und seiner Frau Elisabeth Albertine von Sachsen-Hildburghausen. Nach dem Tod des Vaters übernahm sein älterer Bruder Adolf Friedrich die Regierung des Herzogtums mit Sitz in Neustrelitz. Karl, der noch weitere ältere Brüder hatte und damit eigentlich ohne Aussicht auf Macht und Thron war, blieb nur eine Karriere beim Militär daheim oder im Ausland. Da enge Beziehungen zum englischen Königshaus bestanden, wo die Kurfürsten von Hannover-Braunschweig auf dem Thron saßen, lag es nahe, für Karl eine Stelle in einem hannoverschen Regiment zu erwerben. Und so wurde er schon 1744 mit drei Jahren auf einer Leutnantsstelle eingetragen. Zunächst erhielt er aber eine standesgemäße Erziehung durch Hauslehrer, später konnte er neben seiner Offizierstätigkeit seine Bildung bei Reisen durch Europa und mit siebzehn Jahren durch den Besuch der Genfer Universität vervollständigen. Mit vierzehn Jahren hatte für Karl nämlich das eigentliche Soldatenleben schon begonnen: Im Siebenjährigen Krieg kämpfte er in den Schlachten bei Krefeld (1758) und Minden (1759) und avancierte zum Oberstleutnant.

Als der englische König Georg III. seine Schwester Charlotte Sophie heiratete, war seine Karriere endgültig gesichert. Sein Schwager machte ihn zum General und 1768 schließlich zum Militärgouverneur von Hannover, der traditionell im Alten Palais gegenüber dem Königlichen Leineschloss residierte.

Schon Mitte der Sechzigerjahre war der junge General mit siebenundzwanzig Jahren eine gute Partie auf dem Heiratsmarkt. Er galt nach zeitgenössischen Aussagen als »recht hübsche Erscheinung«, besaß »sanfte und gefällige Manieren«, war nicht sehr groß, aber mit »besonders schönen Augen und Zähnen« ausgestattet.6 So wurde er denn am Hof zu Darmstadt freundlich empfangen, als er dort erschien und sich ganz augenscheinlich in Friederike Karoline Luise verliebte, die älteste Tochter von Georg Wilhelm, dem Bruder des regierenden Landgrafen Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt.

Friederike, zu der Zeit fünfzehn Jahre alt, hatte blonde Locken, blaue Augen und war »mit dem besten Herzen und dem besten Charakter ausgestattet«, wie ihre Tante, die »große Landgräfin« Karoline, es ausdrückte.7 Sie war an einem Hof in einem Elternhaus aufgewachsen, das sich in vielerlei Hinsicht von dem Karls unterschied: »Ich wünschte mir zur Würze meines Lebens keine andre Gesellschaft, als die mir Darmstadt darbot, wie dieser Ort auch überhaupt einer von denen wäre, worin ich meine Zelte für immer aufschlagen würde, wenn das Schicksal mich den Ort meines Aufenthalts frei wählen ließe.« So schrieb der sonst so kritische Johann Kaspar Riesbeck, der sich um das Jahr 1780 in Darmstadt aufhielt. »Es schwinden hier die Tage unter beständiger Abwechslung von stillen Vergnügungen. Die Zeit verfliegt unbemerkt bei so gesellschaftlichem Leben; denn in Wahrheit kann man unter seinesgleichen nicht viel gesellschaftlicher und ungezwungener leben als unter dieser zahlreichen fürstlichen Familie… Und wie diese fürstlichen Personen wechselweise miteinander umgehen, daran sollten sich viele Familien ein Beispiel nehmen. Es ist ein wahres Muster von freundschaftlichem und liebevollem Betragen, eine Folge der Güte des Herzens, womit diese Familie beglückt zu sein scheint.«8

Die Eltern von Friederike residierten seit 1762 im Alten Palais am Marktplatz. Prinz Georg Wilhelm, der vorher in österreichischen Diensten – zuletzt als Generalfeldmarschall– tätig gewesen war, hatte zusammen mit seiner Frau Maria Luise Albertine zu Leiningen-Dagsburg-Falkenburg und seinem Neffen, dem Erbprinzen Ludwig, die Repräsentation des Landes in der Residenz in Darmstadt übernommen, da sein Bruder, der amtierende Fürst, sich überwiegend in Pirmasens aufhielt. Das Stadtpalais, in dem sie lebten, setzte sich aus zwei Bürgerhäusern zusammen. Und eher bürgerlich-familiär, unbelastet durch die Etikette, die an anderen Höfen das Leben bis in kleinste Details hinein reglementierte, spielte sich ihr Leben in Darmstadt ab. In Berichten aus der Zeit wird immer wieder das intensive Zusammenleben der Familie hervorgehoben, ein Indiz dafür, dass es im Vergleich zu anderen fürstlichen Familien außergewöhnlich war. »Täglich ergötze ich mich an der Einigkeit, die in der zahlreichen Familie herrscht, erfreue mich an dem freundschaftlichen Betragen der Eltern mit ihren Kindern, der Kinder mit ihren Eltern. Das ist in Wahrheit recht erbaulich… Prinz Georg und seine Gemahlin… liebreich und menschenfreundlich… Es herrscht der glückliche Ton von Höflichkeit, die niemand lästig wird und jedermann zufrieden stellt.«9

Sommersitz der Familie wurde ab 1764 das Palais im Prinz-Georg-Garten. Abseits vom Hofleben war dies ein Ort, der besonders geeignet war für ein privates familiäres Miteinander. Neben einem Nutzgarten, in dem Gemüse und Kräuter, Obst und Beeren wuchsen, gab es eine Orangerie und einen Lustgarten mit Teehäuschen und Tempel, einem Heckentheater, Fontänenbassins, Sonnenuhren und Sitzecken in romantischen Nischen. Hier fanden kleinere Bälle statt, Konzerte und die beliebten Theateraufführungen, die die Familie selber gestaltete. 1793 wurde in diesem Garten auch die Doppelverlobung von Königin Luise und ihrer Schwester Friederike mit den beiden preußischen Prinzen gefeiert.

Vor allem die Geburtstage des Prinzen Georg Wilhelm waren immer ein Anlass für liebevoll einstudierte Theateraufführungen, so zum Beispiel am 14.Juli 1779 Georg Joseph Voglers Melodram Lampedo, eine Aufführung, die auch in der Fachwelt Aufsehen erregte: Im Mittelpunkt steht die Amazonenkönigin Lampedo, die den besiegten Skythenkönig nicht, wie eigentlich üblich, am Altar tötet, sondern ihn begnadigt und aus der blutigen Opferstätte eine Gedenkstätte der Eintracht und des Friedens macht.10

Hinter dem exotischen Stoff verbirgt sich ein Hauptthema des Menschen als Sozialwesen: das Individuum zwischen Pflicht und Neigung. Es ist bezeichnend, dass dieses Stück von der Familie ausgewählt wurde. Das Thema zieht sich nicht nur wie ein roter Faden durch die Abhandlungen der Philosophen seit der Zeit der Griechen und war durch die Diskussion zwischen Immanuel Kant und Friedrich von Schiller höchst aktuell– es prägte auch die Erziehungsmaximen der Familie und findet sich in vielen Briefen der Königin Luise und ihrer Geschwister wieder.

Zum Besitz des Prinzenpaars gehörten auch das Schloss Broich am Niederrhein und das Jagdschloss Braunshardt, anderthalb Stunden nordwestlich von Darmstadt. Auch hier verbrachte die Familie viele Wochen des Jahres, in deren Mittelpunkt fröhliche Feiern mit Spiel und Gesang standen. Ihr Lieblingslied, traditioneller Bestandteil jeder Familienfeier, lautete bezeichnenderweise: »Wo kann man besser sein als am Busen seiner Familie?«11 Es waren Orte, an denen später auch Luise und ihre Geschwister ihre Kindheit verbringen sollten.

Im Mittelpunkt dieses fast schon bürgerlich anmutenden Familienlebens in Darmstadt stand Prinzessin George, wie Maria Luise Albertine von Leiningen-Dagsburg-Falkenburg, die Mutter Friederikes und die Großmutter der sechs Geschwister, genannt wurde. »Freudigkeit« ist die »Mutter aller Tugenden«. Nach diesem Grundsatz lebte sie und erzog ihre Kinder und später auch ihre Enkel.12 Selber ohne die Fesseln der höfischen Etikette aufgewachsen, war sie temperamentvoll und redete gern und viel. Im Darmstadt der damaligen Zeit wurde dies sprichwörtlich: »Sie schwätzt wie Prinzessin George.« Mit ihrem Temperament hatte in späteren Jahren auch die Oberhofmeisterin der Königin Luise zu kämpfen, die jedes Mal froh war, wenn die Großmutter ihren Besuch bei ihrer Enkelin in Berlin beendete, weil sie sonst überhaupt nicht zu Wort kam.

Während sie bei offiziellen Anlässen das unvermeidliche höfische Französisch sprach, war ihre Umgangssprache in der Familie ein mit rheinisch-pfälzischem Dialekt durchwobenes Deutsch, in dem zunächst auch ihre Enkelinnen redeten oder ihre Briefe schrieben. Obwohl der Darmstädter Hof neben dem in Weimar und Hildburghausen zu einer Hochburg der Dichter der sogenannten Epoche der Empfindsamkeit zählte und sich zur Zeit der Großen Landgräfin auch Goethe, Klopstock und Schiller oft hier aufhielten, hatte Prinzessin George selber kein Talent, einen Musenhof oder einen literarischen Salon zu gestalten. Gäste, die an ihren Tisch kamen, wurden bewirtet und dann in die Familienspiele einbezogen. Sie schrieb auch keine Briefe, wie sie damals dem Zeitgeist entsprachen: blumig und mit Gefühl überladen. Ihre Briefe waren eher kurz und bündig, dafür legte sie den Empfängern Spargel, der in der Gegend berühmt war, und einige Flaschen Wein bei.13 Karl von Mecklenburg hat sich in Darmstadt offenbar sehr wohl gefühlt, denn auch nach seiner Hochzeit kam er mit seiner Familie jedes Jahr zu fröhlichen Festen für Wochen und Monate von Hannover hierher zurück.

Hochzeit wurde am 18.September 1768 in den Festräumen des Darmstädter Schlosses gefeiert. Die Braut glänzte im prächtigen Schmuck, den sie zum großen Teil von ihrer Schwägerin, der Königin Charlotte Sophie aus England, bekommen hatte.

Einige Wochen später begann das gemeinsame Leben in Hannover. Für die sechzehnjährige Friederike muss es zunächst ein Schock gewesen sein, obwohl das dortige Alte Palais an der Leinestraße äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Zuhause in Darmstadt hatte. Aus einem Leben, in dem die Vorschriften höfischer Etikette kaum Bedeutung hatten, das vielmehr geprägt wurde durch das Miteinander der zahlreichen Familienmitglieder, hinein in ein Leben, in dem die Familie zunächst nur aus ihr und ihrem häufig abwesenden Mann bestand. In Hannover war sie zudem Teil einer Gesellschaft, die von der strengen, steifen Etikette des englischen Hofes geprägt war. Zwar wurden auch hier Geburtstage gefeiert, nur lebten die Mitglieder des englischen Königshauses im fernen London, und der englische König Georg III. hat zeit seines Lebens das Kurfürstentum Hannover, das zu seinem Reich gehörte, nicht besucht. Nur seine Frau, die englische Königin Charlotte Sophie, Karls Schwester, kam ab und an zu Besuch, was umfangreiche Festivitäten zur Folge hatte. Diese liefen aber wesentlich förmlicher, nach fest vorgeschriebenem Ritual ab und hatten nichts von der überschwänglichen Fröhlichkeit im Hause von Prinzessin George in Darmstadt.

Die zahlreichen Konzerte und Theateraufführungen, die Friederike nun mit ihrem Mann besuchte, waren sicher von hohem künstlerischem Niveau, aber sie beide waren nur noch Zuschauer– und so fehlte vor allem Friederike das eigentliche Vergnügen, das das gemeinsame Einstudieren und Aufführen eines Stückes mit sich brachte. Ob Friederike wirklich in Hannover glücklich war, wie Paul Bailleu, der erste Biograf der späteren Königin Luise von Preußen, vermutet, darf bezweifelt werden. Sie war in ihrer Ehe glücklich, aber in Hannover sicherlich nicht, denn sie nutzte jede sich ihr bietende Gelegenheit, um die Stadt zu verlassen. Neben regelmäßigen Kuraufenthalten in Bad Pyrmont und Besuchen in Celle, wo Karls Bruder Ernst Gouverneur war, zog es sie immer wieder für Wochen und Monate zurück in ihr Elternhaus nach Darmstadt, manchmal auch ohne ihre Kinder.

Immerhin muss Friederike auch in Hannover mit der stetig wachsenden Kinderschar ein intensives Familienleben aufgebaut haben. Noch Jahre später erinnerten sich die Kinder an die Zeit mit der Mutter in Hannover. In einem Brief an ihren Bruder Georg in Hannover lässt die elfjährige Tochter Therese, als sie schon in Darmstadt lebte, Grüße ausrichten, an »ganz Hannover, an allemdem, was ich gern hatte und liebe… Empfehlungen an der ganzen von mir so geliebten Stadt Hannover und an alle ihre Einwohner, die sich meiner erinnern«.14 Geburtstagsfeste wurden, sobald die Kinder größer waren, ganz nach Darmstädter Tradition mit kleinen Theateraufführungen im Familienkreis gefeiert. So zum Beispiel beim Geburtstag der Mutter am 20.August 1779, vor dem Bett der Mutter, die acht Tage zuvor ihren Sohn Georg zur Welt gebracht hatte und noch nicht aufstehen durfte: In dem Stück war Luise, drei Jahre alt, als Amor verkleidet, ihre beiden älteren Schwestern Charlotte und Therese als Vestalinnen, die einjährige Tochter Friederike schaute diesmal noch zu.

In vierzehn Ehejahren hat Friederike zehn Kinder zur Welt gebracht, von denen fünf überlebten. Das Jahr 1773 kann exemplarisch stehen für die körperlichen und seelischen Anstrengungen, die Friederike nicht anders als die meisten Frauen ihrer Zeit aushalten musste: Im Januar des Jahres starb das zweite Kind des Paares, Tochter Karoline Auguste, im Alter von zwei Jahren. Da war Friederike im siebten Monat schwanger mit Therese, die im April zur Welt kam. Vier Wochen später starb der kleine Sohn Georg Karl Friedrich, der nur ein Jahr alt wurde. Die Geburt ihres zehnten Kindes überlebte Friederike nicht. Sie starb am 22.Mai 1782 mit knapp dreißig Jahren. Ihre Tochter Luise schrieb später in ihr Andachtsbuch: »Meine liebe erste Mama ist im Jahre 1782 verstorben, ein Verlust, der immer in meinem Herzen eingeprägt bleiben wird– der Himmel belohne sie so, wie sie es verdient.«15

Karl von Mecklenburg-Strelitz, mit vierzig Jahren Witwer geworden, stand mit fünf Kindern im Alter zwischen zwei und zwölf alleine da und suchte sein Glück erneut in Darmstadt. Charlotte, die jüngere Schwester seiner Frau, war ihm und den Kindern wohlvertraut durch viele Besuche, gemeinsame Theateraufführungen und Familienfeste. Und so lag es nahe, dass sie die zweite Mutter der Kinder werden würde. Die Hochzeit fand am 26.August 1784 mit allem Prunk in Darmstadt statt.

Während uns von Friederike eine Beschreibung durch die verliebten Augen ihres Mannes Karl vorliegt, gibt es eine solche von Charlotte nur von einem Zeitgenossen, der sie in Darmstadt gesehen hat. Er beschreibt sie so: Sie war »ausgezeichnet und gut gewachsen, von edlem Anstande, blond und weiß, mit großen blauen Augen, von sehr angenehmem Umgang, mit bon sens und der über alles schätzbaren Eigenschaft eines edlen Herzens begabt«.16 In keinem Archiv liegen Briefe, die uns ihre Beziehung weiter erhellen könnten. War es bei Karl Liebe– oder nur die Notwendigkeit, eine neue Mutter für seine Kinder zu finden? Und sie? Sie kannte Karl von gemeinsamen Theateraufführungen im Familienkreis, er war ihr wie ein Bruder vertraut. Hat sie ihn geliebt? Oder war sie, bei der Hochzeit immerhin achtundzwanzig Jahre alt, vor allem froh, doch noch heiraten zu können?

Auf jeden Fall war es für die Kinder ein Glück, in der geliebten Tante eine neue Mutter zu finden, auch wenn dies Glück nur kurz war. Sie starb am 12.Dezember 1785, vierzehn Tage nach der Geburt ihres einzigen Sohnes, der wie sein Vater auf den Namen Carl getauft wurde.

»Ihr armer Gatte ist mehr tot als lebendig. Ich bedaure ihn von ganzer Seele. Zwei Frauen, die im Wochenbett sterben… Ich höre soeben, dass sie schlimmer als je anfängt zu singen, zu schreien.« So beschreibt die Erzieherin Salomé de Gélieu die letzten Stunden Charlottes von Mecklenburg-Strelitz.17 Luise schrieb später mit sechzehn Jahren in ihr Andachtsbuch in Erinnerung an diesen Tag, an dem sie und ihre Geschwister ein zweites Mal eine Mutter verloren: »Sehr trauriger Tag für mein Herz… möge Gott mir ein Herz wie das Ihrige geben!«18

Glückliche Jahre in Darmstadt

»Zwei Dinge sollten Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel«,

meinte Goethe einst. Wenn man sich die Situation der Familie Karl von Mecklenburgs Anfang 1786 ansieht, erscheint es ziemlich unwahrscheinlich, dass die sechs Geschwister diese beiden Dinge auf ihrem Lebensweg mitbekommen haben. Die Auflösung der Familie war vorprogrammiert, zumal die ersten Töchter bereits das heiratsfähige Alter erreicht hatten. Die Älteste, Charlotte, die kurz zuvor mit sechzehn Jahren nach Hildburghausen verheiratet worden war, hatte die Familie bereits verlassen. Sie war für ihre kleineren Geschwister oft Mutterersatz gewesen. Es blieben zurück: Therese mit zwölf, Luise mit neun, Friederike mit sieben und Georg mit sechs Jahren. Sie hatten innerhalb von vier Jahren zwei Mütter sterben sehen und hören. Ob der soeben geborene Halbbruder Carl die ersten kritischen Monate überleben würde, wusste zu diesem Zeitpunkt auch niemand.

Und wieder wandte sich Karl von Mecklenburg nach Darmstadt. Während er die beiden Söhne vorläufig bei sich in Hannover behielt, nahm er das Angebot seiner Schwiegermutter an und schickte seine drei Töchter mit ihrer Erzieherin zu ihr. Prinzessin George, inzwischen Mitte fünfzig und seit drei Jahren Witwe, wohnte mit ihrer jüngsten Tochter Auguste und ihrem Sohn Georg, dem Lieblingsonkel der Kinder, nach wie vor im Alten Palais am Marktplatz, das den Kindern aus den zahlreichen Besuchen vertraut war. Von nun an übernahm die Großmutter die Mutterrolle, nach 1787 auch für die beiden Enkel, nachdem Karl von Mecklenburg-Strelitz endgültig dem Militärdienst und Hannover den Rücken gekehrt und sich in einem eigenen Haus nur einige Meter neben dem Alten Palais niedergelassen hatte. Dies war umso wichtiger, als er des Öfteren auf Reisen ging: nach London, Hannover und Hildburghausen, wo er im Auftrag Kaiser Josephs II. eine Aufgabe übernommen hatte. Manchmal war er monatelang abwesend von Darmstadt. Dass die Großmutter ihre Rolle sehr gut gespielt hat, zeigen die zahlreichen Briefe ihrer Enkelinnen und Enkel, in denen sie als Mutterersatz liebevoll mit »Chère Maman« angeredet wird. Luise nannte sie zärtlich »Mabuscha«. Auch Karl von Mecklenburg-Strelitz war ihr sein Leben lang verbunden und holte sie, nachdem er 1794 Herzog geworden war, auf sein Schloss in Neustrelitz, wo sie bis zu ihrem Tod im Kreis der Familie lebte. Tiefe Dankbarkeit durchzieht die Briefe der Kinder auch als Erwachsene noch, wenn sie an ihre Großmutter schreiben, eine Dankbarkeit für jahrelange Fürsorge. So schrieb Luise 1803, als sie mit ihren Schwestern noch einmal Darmstadt besuchte: »Ich war im lieben Darmstadt, ich kam bei dem lieben Palais vorüber, und tausend köstliche Erinnerungen und die vollkommenste Dankbarkeit erfüllten mein Herz. Ich war so gerührt beim Anblick dieser teuren Stätten und bei dem Gedanken an Ihre Güte und an Ihre Fürsorge, daß ich in Tränen das Schloss erreichte.«1

Die Erziehung zur Familie, zum Respekt vor den Eltern und zur Dankbarkeit ihnen gegenüber war ein entscheidender Bestandteil auch des theoretischen Unterrichts der Kinder. In den Schulheften Luises sieht das so aus: Auf die Frage des Lehrers, wie die Kinder sich gegenüber ihren Eltern verhalten müssen, gibt sie die mit zahllosen Rechtschreibfehlern durchzogene Antwort: »Die Kinder müßen ihre Eltern als ihre gnädigsten Wohlthäter ansehn und sie schätzen und lieben… Sie sollen sich ümer gegen sie betragen, daß die Eltern ehre von sie haben und ümer mit ehrbitung zu vor komen… wenn sie kräng sind, sie zu versorgen; wenn sie arm sind und Alt und können nichts mehr arbeiten, so sollen wir uns befleißigen zu arbeiten, auf daß wir sie durch unsern hantgelt ernehren… Unsers ganzen Leben und auch schon, wen sie in den külen Grab liegen und ihre Knochen vervault sind, so sollen wir ihnen noch den Dank lassen, den sie so wohl verdint haben.« Der Lehrer fragte weiter, warum Kinder die Eltern ehren und schätzen sollen. Luises Antwort darauf: »Erstlich, weil es Gott geboten hat; er sagt: ›Ehre Vater und Muter, auf daß es dir wohl gehe und du lange lebst auf Erden.‹ Und schon von uns selber, wenn wir sehn wie viele schlaflose Nächte sie sich über uns machen.«2

Die Botschaft des Unterrichts ging in den praktischen Umgang miteinander ein: So ermahnte schon die fünfzehnjährige Luise ihren drei Jahre jüngeren Bruder Georg in einem Brief: »Trachten Sie, lieber Georg, danach, sich der Güte, die Papa Ihnen bezeugt hat, würdig zu erweisen. Sie können ihm kein größeres Zeichen Ihrer Dankbarkeit erbringen, als wenn Sie in allem, was er Ihnen sagt, folgsam sind. Überlegen Sie selbst, auf welche Weise Sie ihm von Nutzen sein können, greifen Sie seinen Wünschen vor und seien Sie besonders recht folgsam.«3

»Die Natur will, dass Kinder Kinder sind.« Diese Forderung Jean-Jacques Rousseaus, dessen Schriften zu einer natürlichen Erziehung der Kinder zur damaligen Zeit Aufsehen erregten, entsprach genau den Vorstellungen der Großmutter, wenn sich seine Werke auch nicht in ihrem Büchernachlass finden. Sie hatte nicht umsonst die vorherige Erzieherin, ein Fräulein Agier, nach wenigen Wochen entlassen, nachdem ihre Enkelinnen sich gegen ihre strengen Erziehungsmethoden gewehrt hatten.

Denn wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen;

So wie Gott sie uns gab, so muss man sie haben und lieben,

Sie erziehen aufs Beste und jeglichen lassen gewähren.

Denn der eine hat die, die anderen andere Gaben;

Jeder braucht sie, und jeder ist doch nur auf eigene Weise

Gut und glücklich.

Diese Worte Goethes aus Hermann und Dorothea soll Luise später einmal gehört und dann gesagt haben, dass genauso die Großmutter zu ihrer immer »mäkelnden Gouvernante« gesprochen habe. Das Erziehungsideal der Großmutter, nach dem sie und ihre Schwestern erzogen wurden, hat Luise 1795, als sie aus Berlin ihrem Bruder Georg die Töchter der Erbprinzessin von Coburg beschrieb, sehr schön charakterisiert: »…ganz Natur, aber guter Natur, keine Prinzessinnen, nämlich stolz und eingebildet, sondern gut erzogen, sanft, modest, eben das, was dazu gehört, um zu gefallen«.4

Da auch Salomé de Gélieu eine begeisterte Anhängerin Rousseaus war, wie ihr Nachlass belegt, war mit ihrer Anstellung 1785 die einvernehmliche Grundlage für die Erziehung der Geschwister gelegt. Der Unterricht zwecks theoretischer Bildung nach Stundenplan nahm täglich nicht mehr als ein bis zwei Stunden in Anspruch, die eigentliche Erziehung erfolgte im täglichen Umgang miteinander. Die Großmutter ließ vorlesen, nicht nur Predigten, sondern vor allem auch Romane, obwohl die meisten Erziehungsschriften ganz dringend davon abrieten. Gerade die italienischen Romane standen im Verdacht, die Emotionen und die Leidenschaftlichkeit von jungen Mädchen unnötig anzuheizen. Die Großmutter hatte ihre eigene Methode für Stellen, die sie als nicht angemessen für ihre Enkelinnen fand. »Hüppe Se– hüppe Se, aber lege Se ä Zeeche nei!«, pflegte sie zu ihrer Vorleserin im schönsten pfälzischen Dialekt zu sagen, damit sie selber die Stelle später nachlesen konnte.5 Auch den in vielen Kreisen als unmoralisch verpönten Walzer durften ihre Enkelinnen lernen. Luise und ihre Schwestern tanzten leidenschaftlich gerne, offenbar mit Billigung ihrer Erzieherin, denn Frauen sollten ruhig tanzen und fröhlich sein, meinte schließlich auch Rousseau, allerdings nicht, weil es ihnen Freude mache, sondern weil eine fröhliche Frau für den Mann angenehmer sei.

Die Briefe der Mädchen aus dieser Zeit erzählen von einem sorglosen, fröhlichen Leben, von Abenden, in denen Luise so wild auf dem Pianoforte spielte, dass Friederike fürchtete, ihr würden die Ohren platzen.6 1803, als Luise mit ihren Schwestern noch einmal die Orte ihrer Kindheit in Darmstadt besuchte, schrieb sie an ihren Bruder Georg: »Im Wagen schrie alles, ach, sehe, Papa sein Haus, dem Onkel Karl seins, und so bis zum Palais, wo Tränen mich erstickten und so auch beim Aussteigen im Schloss… Ich war also wieder in den glücklichen Gefilden, wo wir unsere ungetrübte Kindheit und Jugend zubrachten… Doch das schwöre ich, daß Du immer unter uns warst, wo die vier Schwestern waren, und daß unser Ausruf aus allen Kehlen gleich war: ›Gott, was sind wir doch glücklich, wäre George nur bei uns, so wäre es vollkommen.‹«7

Zu diesem Leben im Kreise der Familie gehörten auch die täglichen Spaziergänge und die zahlreichen Reisen. Auch hier erwies es sich als sehr förderlich, dass die Pläne der Großmutter mit den erziehungstheoretischen Konzepten Salomé de Gélieus übereinstimmten. Nicht theoretisch und faktenüberladen, sondern anschaulich und lebensnah sollte der Unterricht sein– und so wurden die Nachmittage im Prinz-Georg-Garten unter anderem zu einer praktischen Unterweisung in Pflanzenkunde genutzt. Zwischen Orangenbäumchen und Zwiebeln hatte die Großmutter eine Kombination aus Nutz- und Lustgarten geschaffen, ein Paradies für Kinder. Geht man heute durch den Garten, so findet man dort einen Brunnen in der Form eines Kleeblatts. Ob dies die ursprüngliche Form darstellt, ist nach den vorliegenden Gartenplänen zweifelhaft. Auf jeden Fall aber hat die Vorliebe der Geschwister für das Kleeblatt als Symbol ihrer Gemeinschaft in diesem Garten ihren Anfang genommen.

Alle zwei Jahre fuhren die Geschwister mit der Großmutter und ihrer Erzieherin in den Sommerwochen zum Schloss Broich in Mülheim an der Ruhr. Sie lernten durch Bootsfahren den Rhein kennen, Köln, Koblenz und Aachen. Sie besuchten ihre Tante Auguste in Straßburg und unternahmen eine mehrwöchige Reise durch Holland, wo sie entzückt zum ersten Mal das Meer sahen. Alle diese Besuche waren mit einem Kultur- und Besichtigungsprogramm verbunden, das neben Kirchen und Rathäusern auch Fabriken umfasste, in denen Kinder arbeiten mussten.

Der Knotenpunkt des Familienlebens aber war zu dieser Zeit Darmstadt mit der Großmutter im Mittelpunkt. »Ich kann dir nie vergelten«, schrieb Luise später, »was du mir Gutes getan; du hast mein irdisches und geistiges Glück begründet, ich kann nichts tun, dir meine Erkenntlichkeit beweisen, ich werde ewig deine Schuldnerin bleiben.«8 An diesem Familienleben nahm indirekt auch die älteste Schwester Charlotte– und nach ihrer Heirat im Mai 1789 auch Therese– über wöchentlich hin und her gehende Briefe teil. So wurden sie in der Ferne nicht nur über die herausragenden Ereignisse unterrichtet, sondern waren, wenn auch zeitlich versetzt, über den Alltag der Familie weiterhin informiert: Sie erfuhren, worüber gelacht und geweint wurde und was wer zu welchem Anlass gesagt hatte. Minutiös wurden auch kleinste Details aufgeschrieben und versandt.

Das Bohnenfest am 6.Januar war eines der traditionellen Familienfeste, das noch dreißig Jahre später in Berlin aufwendig zelebriert wurde. In einem Kuchen wurde eine Kaffeebohne versteckt, wer sie fand, war für das kommende Jahr der Bohnenkönig. Den folgenden Brief, in dem sie die unterwürfige Untertanin spielt, schrieb Charlotte 1788 an ihren achtjährigen Bruder Georg, nachdem sie erfahren hatte, dass er neuer Bohnenkönig geworden war:

»In Wahrheit, mein bester Herzensbruder, Dein letztes gütiges Briefchen hat mir nachdrücklich meine ganze Strafbarkeit (deren ich mich nachdrücklich durch mein langes Stillschweigen schuldig gemacht habe) [gezeigt…] Potz tausend, bald hätte ich vergeßen, Euer Majestät zu Ihrer neuen Königswürde zu gratulieren. Dürfte ich demütigst und devot hochdieselben ersuchen, bei der Errichtung Ihres gewiß glänzenden Hofstaats eines Individuums nicht zu vergeßen, das es sich zur höchsten Gnade rechnen würde, in dero glorreichem Staate auch nur die unterste Stelle zu bekleiden. Werfen demnach Ihro Majestät ein gnädiges Augenmerk auf Dero devoteste Magd u. beehren Sie gnädigst dieselben aus Ihrem unermäßlichen Bohnenreichtum [etwas zukommen zu lassen], unaussprechlich würde das Glück sein derer, die die Ehre hat.

Euer Majestät untertänigste Magd zu sein

Charlotte«9

Wie der Brief zeigt, ging es nicht nur darum, den Geschwistern Fakten mitzuteilen, sondern sie nahmen auch an der Gedanken- und Gefühlswelt der anderen teil. Als Georg, von dem alle vier Schwestern eifersüchtig erwarteten, dass er jeder möglichst oft schrieb, sich einmal bei Friederike damit entschuldigte, dass es keine Neuigkeiten zu berichten gäbe, bekam er die empörte Antwort, es ginge doch nicht um Fakten: »Ich möchte ganze Gespräche mit dir führen.«10 Später, als die Kommunikationswege wegen der napoleonischen Kriege immer unsicherer wurden, machte Charlotte dem Vater den Vorschlag, Briefe, die man von einem Familienmitglied erhalten hatte, an die anderen weiterzuschicken. Sie hatte gerade von ihrem Vater einen an ihn gerichteten Brief ihres Bruders erhalten, den sie an Therese weiterschicken wollte, die ihn dann wiederum über Friederike an den Vater zurückschicken sollte. Ein dichtes Informationsnetz wurde gespannt, um mit den über das ganze Reich verstreuten Geschwistern in Kontakt zu bleiben.

Wenn eines von ihnen eine Reise unternahm, fuhren die anderen in Gedanken mit, so wie Luise am 17.Juli 1791, als Georg seinen Vater in den Kurort Pyrmont begleiten durfte: »…wahrlich, ich liebe Dich von ganzem Herzen! Ich hoffe, das Frühstück bei der Herzogin von Schwerin wird Dir nicht übel bekommen sein. Du amüsierst Dich wie ein König, während Deine armen Schwestern das schlechteste Wetter hatten und dabei des Aufenthalts in Broich fast überdrüssig waren… Ich danke Dir sehr dafür, daß Du mir etwas gekauft hast, aber schreibe mir bitte nicht, woraus das Geschenk besteht… zukünftige Freude ist auch etwas Schönes. Sag mir, George, legst Du Frack oder Deine Uniform an? Tanzest Du viel? Wer gefällt Dir am besten von allen Damen, die Du in Pyrmont siehst?«11

Bei längeren Reisen wurden Tagebücher angelegt, die dann herumgeschickt und begierig gelesen wurden. Luise schrieb ihrem zwölfjährigen Bruder Georg nach der Lektüre seiner Reisebeschreibung aus Pyrmont: »Ich kann Dir nicht sagen, wie es mich erfreut hat; ich lese es alle Tage wieder und kann seines Inhalts nicht müde werden.« Sie versprach ihm, auch ein Tagebuch anzulegen über ihre Reise nach Holland.12

Finanziell gehörte die Familie sicher nicht zu den Reichen im Land. Als die Erzieherin Salomé de Gélieu zum ersten Mal ihre Schützlinge traf, bemerkte sie sofort, dass die Prinzessinnen sehr einfache Kleider aus bedrucktem Kattun trugen, bei den Älteren waren sie mehrmals ausgelassen und verlängert worden, die Jüngeren trugen offenbar die Kleider der Älteren.13 Auch aus einem Brief Luises geht hervor, dass das Geld in den Darmstädter Jahren vor allem für Vergnügungen knapp war. Sie schrieb ihrer Schwester, wie gerne sie auf den Ball zur Krönung des Kaisers in Frankfurt gehen wollte, aber die Kosten waren einfach zu hoch: »Ich kann dir nicht verbergen, daß mir das ein wenig Kummer macht; aber ich bitte Dich um Gotteswillen, schreibe ja nichts davon an Papa, weil, wenn es ihm seine Finanzen erlaubten, er gewiß gerne das Vergnügen seinen Kindern machte. Er hat mir aber selbst gesagt, daß er es dies Jahr unmöglich könnte, und wer, der Papa kennt, wer von seinen Kindern wird ihm wohl das Geringste empfinden lassen, daß es ihm leid tut, weil er sonst es zwingen würde und die Ordnung in seinen Affären stören würde. Papa wird uns bald verlassen und nach Pyrmont fahren, und du weißt selber, wie kostspielig diese Reise immer ist.«14 Am Ende durften sie doch nach Frankfurt fahren und auch auf dem Ball tanzen.

Während der acht Jahre in Darmstadt entstand zwischen den Geschwistern eine sehr enge Gemeinschaft, vor allem zwischen Luise, Friederike und Georg, die als dreiblättriges Kleeblatt den inneren Kreis bildeten. Therese heiratete 1789 nach Regensburg, und wenn man sich auch wohl einmal im Jahr sah, so bestand doch der überwiegende Kontakt zu ihr und zu Charlotte vor allem über Briefe.

Auch über die Geschwisterbeziehung finden sich in Luises Heften theoretische Anweisungen. Auf die Frage ihres Lehrers, wie man sich seinen Geschwistern gegenüber verhalten solle, schrieb sie: »Ich nene hir bloß Gefällichkeit, Nachgeben, Verträglichkeit, liebe und Theilnehmung… Alle gefällichkeit, die nur möchlich ist, wenn unser Bruder etwaß haben will, so müßen wir es ihm geben, wenn es uns möchlich ist, und daß er sagen kann, daß ich gefällich gegen ihm bin, daß ist nur ein ganß kleiner beweiß von der gefällichkeit… Wir müßen uns unter einander die [Liebe] erweisen, die wir haben wollen, op sie uns sehr viele mü’e kost oder nicht.« Gefälligkeit und Nachgiebigkeit gegenüber den Geschwistern definierte Luise so: »Nachgebend seyn heiß, es kam nun meine Schwester her und sagte mir, leihe mir deinen Hut, und ich sagte ihr, wenn es dir vergnüchen machen kann, so will ich ihn dir gerne geben mit den Großen vergnügen.«15

Auch die Textauswahl für den Unterricht war durch eine starke moralisch-erzieherische Funktion geprägt. So findet sich im Deutschheft ein Gedichttext über die »Geschwister Liebe«, den Luise offenbar als Rechtschreibübung abschreiben musste:

Wenn sich Kinder zärtlich lieben,

Sich schon jung der Freundschaft weih’n

Und mit Ernst und Fleiß sich üben

Gütig und vergnügt zu seyn,

Fern von Streit und Haß und Neide,

Dann sind sie der Eltern Freude.

Kinder, die sich nicht vertragen,

Die sich ohne Unterlaß

Neiden, necken und verklagen

Und vergelten Haß mit Haß,

Haben kleine böse Herzen;

Diese sind der Eltern Schmerzen.16

Was sich als Aufgabe in der Schule sehr theoretisch und trocken liest, gewinnt durch die Briefe der Geschwister untereinander eine ganz andere Lebendigkeit. Es sind oft Belanglosigkeiten, winzige Kleinigkeiten des täglichen Lebens, aber sie lassen verstehen, warum trotz der räumlichen Entfernung eine Nähe entsteht, die die Familie zusammenhält. Neben Briefen wurden Porträts in Form von Scherenschnitten und Medaillons herumgeschickt. »Dein Schattenriß hat mir viel Freude gemacht und ich lasse mir einen schönen Ring davon fassen«, schrieb Therese an Georg.17

Auch liebevoll ausgesuchte Geschenke wurden zwischen Darmstadt, Regensburg und Hildburghausen hin und her geschickt. Pantalons für den Winter, Modehefte, Seidenstoffe, Parfüm, japanische Vasen, getigerte Federn und Marmeladen. Vor allem Georg wurde von seinen Schwestern nicht nur heiß geliebt, sondern auch mit selbst gestickten Westen (von Charlotte) und der neuesten Mode ausgestattet, so mit einem Frack aus Trikot samt Weste und Beinkleidern (von Luise und Friederike). Von Georg kamen Klaviernoten und Bücher, in den späteren Jahren schickte er Morgenhauben in der neuesten Mode an die Schwestern. Vor allem Therese, die in das Haus Thurn und Taxis geheiratet und als Einzige der Geschwister keine Geldsorgen hatte, sandte zwar meist nur kurze Briefe, dafür aber viele Geschenke, die sich die anderen Geschwister nicht hätten leisten können– an Georg immer mit kleinen Ermahnungen verbunden: »Hierbey schicke ich Dir eine Kleinigkeit, um Deinen Hunger zum Parfumeur-Körbchen zu stillen; nur bitte ich Dich, trage Dich nicht fort und genieße auch Teufels Vergnügen mit Einschränkung, sonst hört es auf, Vergnügen zu sein, und man wird es so leicht überdrüssig. Adieu, bester Georg, denke an meine Predigt, bei jeder Redoute, und was viel gefordert ist, liebe mich.«18

Wann immer es ging, traf sich die Familie an den verschiedensten Orten. Nicht immer konnten alle dabei sein. Familienleben zwischen Sehnsucht, Wiedersehen, Freude, Abschied und Trauer, wie die folgenden Briefe zeigen: Im April 1790 hatte Charlotte die Familie in Darmstadt besucht. »Der Abschied war schrecklich, von der Dir wohlbekannten Art; in Frankfurt… fand dieser schreckliche Abschied statt«, schrieb Luise an ihre Schwester Therese und fügte voller Sehnsucht hinzu: »Liebe, vielgeliebte Therese… Wie lange Zeit ist vergangen, seitdem wir uns gesehen haben, wann wird mir endlich dieses Glück gewährt, dies Glück, das eine Dich verehrende Schwester so ersehnt.« Im selben Brief regte sie sich über die Landgräfin auf, die Charlotte eitel genannt und behauptet habe, Luise liebe ihre beiden älteren Schwestern gar nicht mehr. »Aber auf meine Ehre, wenn Du so etwas jemals von mir denken könntest, dürftest Du mich töten. Darum beschwöre ich Dich, habe mich immer lieb und glaube, daß Luise sich nur im Tode wandeln kann. Bei Gott, welch schrecklicher Gedanke, laß ihm niemals Raum in Deinem so guten, so gerechten Herzen, und sei überzeugt von der Freundschaft Deiner Schwester und Freundin.«19

Im März 1805 schrieb Friederike ihrem Bruder Georg, der bei Luise und Carl in Berlin weilte, von Regensburg aus, wo sie Therese besuchte: »Wie oft wir Deiner gedachten, uns Eurer und unserer Vereinigung freuten, ist unzählbar und Euch zu versichern unnötig, Du gehörst ja zum Kleeblatt!« Sie erzählte ihm erfreut von einem sechsblättrigen Kleeblatt, das ihre Hofdame Albertine Gräfin von L’Estocq in diesem Sommer entdeckt hatte, und fuhr fort: »…da Carl jetzt gewiss die sechste in den Kammern unserer Gefühle ausmacht, dachte mein Herz ihm das 6te Blättchen zu.«20 Das sechsblättrige Kleeblatt, das sich wie ein roter Faden durch die zahllosen Briefe windet, wird zum Symbol für die enge Gemeinschaft der sechs Geschwister aus Mecklenburg-Strelitz.

Gesellschaft im Umbruch

»Die Welt ist ein allen Menschen gemeiner Körper, Veränderungen in ihr bringen Veränderung in der Seele aller Menschen hervor, die just diesem Teil zugekehrt sind.«

Georg Christoph Lichtenberg1

Die Siebzigerjahre des 18.Jahrhunderts, in die Luise und ihre Geschwister hineingeboren wurden, waren Jahre des Umbruchs, eine Zeit, in der die unterschiedlichsten geistigen Strömungen aufeinanderprallten: Aufklärung und Rationalität, Empfindsamkeit und Pietismus, Herrschaft der Vernunft und Überschwang der Gefühle. Und obwohl ihre kleine Welt davon zunächst nicht betroffen war, lässt sich die Entwicklung der sechs Geschwister nicht verstehen, ohne die Bühne zu kennen, auf der sie ihre Rollen spielen sollten.

»Cogito, ergo sum!« Mit diesem Satz hatte der französische Philosoph René Descartes Mitte des 17.Jahrhunderts ein neues Zeitalter eingeläutet. Vorbereitet durch die Renaissance und die Reformation, trat nun der Verstand, das eigenständige Denken, an die Stelle von überliefertem Glauben und blindem Gehorsam. Nicht der Glaube oder das Vertrauen auf die Obrigkeit, die in den gerade überstandenen Dreißigjährigen Krieg (1618–48) mit all seinen Schrecken geführt hatten, allein die Vernunft des Menschen galt nun als das ordnende Prinzip für jede Erkenntnis. Der aufgeklärte Mensch hinterfragt alles und bildet sich selber ein Urteil. »Hab Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«, fasste Immanuel Kant eine der Hauptforderungen der Aufklärung zusammen. Es war keine einheitliche Bewegung, die da entstand, aber allen Denkern gemeinsam war der Glaube an die Fähigkeit des Menschen, mithilfe seiner Vernunft ein friedliches Zusammenleben aller zu ermöglichen. Menschlichkeit und die Duldung Andersdenkender waren weitere Forderungen der Zeit, Abschaffung der Folter und der Hexenverbrennungen, von denen es im 17.Jahrhundert noch an die hunderttausend allein in Deutschland gegeben hatte, ihre ersten Ergebnisse.

Anfangs war die Aufklärung eine Angelegenheit von kleinen philosophischen Zirkeln, drang dann aber immer stärker in alle Gebiete des Lebens ein mit dem Ziel, den Menschen ein vernunftgemäßes, selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Begünstigt wurde dies durch die Zeitschriften und Zeitungen, die in großer Zahl gegründet wurden. Es begann die Zeit der Lesegesellschaften, Kaffeehäuser und Salons, wo sich Menschen mit den Ideen der Aufklärung auseinandersetzten. Auch in den Freimaurerlogen, die eine ungeahnte Blüte erlebten, trafen sich aufgeklärte Menschen unabhängig von Standes-, Nationalitäten- und Konfessionsunterschieden. Zu ihnen gehörten zum Beispiel Friedrich der Große, Goethe, Schiller und Mozart und ein großer Teil der deutschen Fürsten und Adligen. Ziel war die Bildung des Menschen nach der Idee des Humanismus. Politische und religiöse Themen waren zunächst bei ihren Treffen tabu, bei der Aufnahme verpflichteten sich die Mitglieder, sich an die Gesetze des jeweiligen Vaterlands zu halten und den inneren Frieden im Staat zu wahren.

Auch Karl von Mecklenburg-Strelitz und die Prinzen am Darmstädter Hof waren Freimaurer, deren Ideen im Leben der Geschwister eine große Rolle spielten, auch wenn sie vieles davon zunächst noch nicht verstanden. So schrieb Luise am 9.Juli 1793 an den preußischen Kronprinzen: »Wir haben heute einen höchst langweiligen Nachmittag verbracht; wir lasen ein Buch, das Damen durchaus nicht verstehen können und alle Herren nicht, die nicht Freimaurer sind.«2 Charlotte und Therese erlebten in Hildburghausen und Regensburg durch ihren Vater und ihre Ehemänner die Renaissance der dortigen Freimaurerlogen, an deren eigentlicher Arbeit sie als Frauen zwar nicht direkt teilnehmen durften, die aber in ihrem gesellschaftlichen Leben bei Hofe eine wichtige Rolle spielten.

Es war eine Zeit, in der Geheimbünde aus dem Boden schossen, denn nur in diesem Rahmen war eine ungefährdete Diskussion der neuen Ideen möglich. Für große Aufregung sorgte der Illuminatenorden, der am 1.Mai 1776 durch den Philosophen und Kirchenrechtler an der Universität in Ingolstadt Adam Weishaupt gegründet wurde. Zunächst war er nur als eine Art Lesezirkel für die Studenten gedacht, die Weishaupt zusätzlich zum von den Jesuiten dominierten Lehrbetrieb mit den Ideen der Aufklärung und kirchenkritischen Schriften bekannt machen wollte. Daraus entwickelte sich am Ende ein Bund, der von den Freimaurern Strukturen und Riten übernahm und entsprechend abwandelte. »Bienenorden« war sein ursprünglicher Name, die Mitglieder sollten statt Nektar Weisheit sammeln– als Illuminatenorden ging er in die Geschichte ein. Durch die Gedanken der Aufklärung und vor allem durch Bildung des Herzens sollte die Sittlichkeit der Menschen erhöht werden, ein zunächst wenig revolutionärer Gedanke. Ziel war es allerdings, dass der Mensch auf diese Weise in die Lage versetzt werden sollte, über sich selber zu herrschen in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mit den anderen Menschen, unabhängig von Stand und Religion. Die absolute Herrschaft durch Fürsten und Staat wurde damit überflüssig, und das war ein durchaus revolutionärer Gedanke, obwohl die Illuminati ihr Ziel nicht durch Gewalt, sondern durch eine Unterwanderung der Schlüsselpositionen in der Verwaltung des absolutistischen Staates erreichen wollten.

Der neue Orden, der vor allem in Süddeutschland verbreitet war, fand zahlreiche Mitglieder vor allem in den Reihen der Freimaurer, die sich um 1776 in einer Krise befanden; so traten Karl von Hessen, Ferdinand von Braunschweig und auch der Herzog von Sachsen-Weimar und Goethe bei den Illuminaten ein, die beiden Letzteren angeblich nur, um den Orden auszuspionieren. Eine führende Rolle spielte ab 1780 der Freiherr Adolph von Knigge, heute eher bekannt durch sein Buch über die gesellschaftlichen Umgangsformen; er gab dem Orden die den Freimaurern ähnliche Struktur.3

Da sich die Ziele des Ordens eindeutig gegen den absolutistischen Staat richteten, reagierten die Fürsten mit entsprechenden Verboten und Verfolgungen der Mitglieder. Am 2.März 1785 verbot der bayerische Kurfürst Karl Theodor die Illuminati – und die Freimaurer gleich mit– als landesverräterisch und religionsfeindlich, 1799 und 1804 wurden diese Verbote nachdrücklich wiederholt. Die katholische Kirche reagierte mit zwei Briefen von Papst Pius VI., der die Mitgliedschaft bei den Illuminati als unvereinbar mit dem katholischen Glauben bezeichnete. Am 16.August 1787 wurde in Bayern das Werben für Illuminati und Freimaurer sogar unter Todesstrafe gestellt. Als 1789 in Frankreich die Revolution ausbrach und sich herumsprach, dass führende Jakobiner Freimaurer waren, der eine oder andere den Illuminati nahegestanden haben sollte, brach unter den Fürsten des Ancien Régime eine wahre Hysterie gegen die Geheimbünde aus, in denen die Ideen der Aufklärung, die ja letztendlich die theoretische Grundlage für die Revolution waren, ihre Heimat hatten. Je geheimer und mysteriöser ein Orden war, desto gefährlicher erschien er der staatlichen und kirchlichen Obrigkeit. Obwohl der Orden der Illuminati 1793 bereits als zerschlagen galt, hielten sich die Gerüchte von Nachfolgeorganisationen, sodass die Fürsten immer neue Verbote gegen alle Geheimbünde aussprachen. Am 20.Oktober 1798 erließ der preußische König Friedrich Wilhelm III., Luises Ehemann, ein Edikt gegen alle Geheimbünde in seinem Land, nahm allerdings die Freimaurer, zu denen ja auch sein Großonkel Friedrich der Große, sein Vater und sein Schwiegervater gehörten, ausdrücklich aus.

Die Ideen der Aufklärung wurden unter den Gebildeten Europas auch durch die zunehmende Mobilität der Menschen verbreitet, zum Beispiel durch Reisen, die in Mode kamen, durch Kuraufenthalte, die neben der medizinischen Betreuung vor allem eine Begegnung mit Freunden und Bekannten boten, und durch das Briefeschreiben, das eine Hochkonjunktur erlebte. Da nach Kant die Aufklärung »der Ausgang« des Menschen »aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« war, kam der Erziehung eine entscheidende Rolle zu. So wurde in Deutschland die Aufklärung vor allem zu einer pädagogischen Bewegung. Nicht Selbstverwirklichung, sondern Pflichterfüllung sollte das Ziel sein, denn nur auf der Grundlage der gesellschaftlichen Brauchbarkeit würde sich das individuelle Glück einstellen. Eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse war vor allem in deutschen Landen nicht Ziel der Aufklärung. Bestehende gesellschaftliche Normen und Barrieren sollten nicht überschritten werden. Das galt auch für die Frauenbildung, die zwar generell bejaht wurde und auch Auftrieb bekam, aber bei der Frage nach den Inhalten griff man auf die altbewährten Themen zurück, denn eine Gleichstellung der Frau mit dem Mann hatten auch die Aufklärer nicht im Sinn.

Da jede bedeutsame Bewegung immer auch ihre eigene Gegenbewegung in sich trägt, entstand in England bereits Mitte des 18.Jahrhunderts eine Richtung, die sich dagegen wehrte, dass Erkenntnis allein durch Nachdenken, also durch Einsatz des Verstandes, gewonnen werden könnte. Parallel dazu hatte sich im Protestantismus eine fromme Glaubensbewegung entwickelt, die die Vorherrschaft der Vernunft ablehnte, als die »Kraft im Menschen, die Gott feindlich sei«.4 Jeder Mensch könne seinen von Gott erhaltenen Auftrag auf jeder beliebigen Sprosse der gesellschaftlichen Leiter erfüllen, soziale Gleichheit sei daher nicht notwendig. Diese Richtung hatte vor allem unter den Adligen viele Anhänger und wurde von den Fürsten gefördert, denn sie formte gehorsame und fleißige Untertanen, die nicht alles infrage stellten, sondern Bestehendes bewahren wollten. Die Pietisten stellten religiöses Erleben, das sich auf der unmittelbaren, gefühlsbetonten Begegnung des Einzelnen mit Gott aufbaute, in den Mittelpunkt und hielten ihre Anhänger an, ihre Gefühle schriftlich festzuhalten, um eine persönliche Suche nach der Wahrheit in Gang zu setzen. Das Schreiben von Tagebüchern und Briefen erlebte einen ungeheuren Aufschwung. Das Jahrhundert der Briefe wird diese Zeit auch genannt, in der jeder des Schreibens Kundige angeleitet wurde, sein »Herzblut ins Briefcouvert zu träufeln«, wie Heinrich Heine spöttisch bemerkte.

Die »Empfindsamkeit« des Herzens, das überströmende Gefühl als Gegenpol zur Rationalität des Verstandes, fand vor allem in der Dichtung Einzug. Themen wie Freundschaft, Liebe, Freiheit und Vaterland standen im Mittelpunkt von Gedichten, Romanen und Dramen. »Die literarische Epoche, in der ich geboren bin, entwickelte sich aus der vorherigen durch Widerspruch«, sagte Goethe. Die Dichter und Denker der sogenannten Sturm-und-Drang-Zeit forderten das Recht auf Individualität und Freiheit in jeder Hinsicht: politisch, sittlich und ästhetisch. Natur, Gefühl und Leidenschaft waren die Schlagwörter, die gegen die rationale Welt gesetzt wurden. Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers, der ganze Generationen von Lesern in einen Gefühlstaumel stürzte, ist wohl das bekannteste Beispiel für die Dichtung dieser Zeit. Der Franzose Jean-Jacques Rousseau, der auch die Erzieherinnen beziehungsweise Gouverneure Königin Luises und ihrer Geschwister prägte, ging mit seiner Behauptung »Le sentiment est plus que la raison« sogar noch einen Schritt weiter. Von den Geschwistern war es später vor allem Luise, die die Herzensbildung immer vor die Verstandesbildung stellte: »Und wenn die Wissenschaft und das Wissen weniger empfindsam machten, würde ich alle Bücher in die Havel werfen, denn die echte Empfindsamkeit ist das erste Gut des Menschen.«5

Gotthold Ephraim Lessing, der bedeutendste deutsche Dichter dieser Aufklärungsphase, forderte die Menschen auf, sich auf den Weg zur eigenen Erkenntnis zu machen und daran zu wachsen. Es war eine Zeit, in der sich viele Menschen zu sogenannten »Tugendbünden« zusammenschlossen, um sich gegenseitig zu unterstützen auf der Suche nach der eigenen Vollkommenheit durch ein tugendhaftes Leben oder, wie Luise es ausdrückte: »…daß das Fortstreben unserer Seele und der unwiderstehliche Drang dazu eigentlich der Weg zu unserer Seligkeit ist und hienieden allein wirkliche Freuden gibt«.6

Auch die politische Ordnung der bestehenden Feudalgesellschaft in Mitteleuropa, in der einige wenige die Macht über viele hatten, wurde zunehmend infrage gestellt. Die Gesellschaft war nach Ständen eingeteilt: Adel, Klerus, Bürger, Bauern und Standeslose. Die Geburt bestimmte die Zugehörigkeit zu diesen Ständen und damit auch die beruflichen Möglichkeiten und die Rechte und Pflichten des Einzelnen. Adlige Herkunft bedeutete die lebenslange Befreiung von allen Steuern und den Zugang zu Ämtern bei Hofe, in der Verwaltung, der Kirche oder beim Militär. Die Mehrheit der Bevölkerung dagegen gehörte dem Stand der Bauern an, die an die Scholle gebunden waren – meist sogar als Unfreie– und Abgaben an ihre Herren liefern mussten, denen sie auch für andere Dienste zur Verfügung standen. Es war eine starre Ordnung, in der die Menschen gefangen waren, jeder in seinem Stand.

Die Freiheit des Einzelnen war eine der großen Forderungen der Aufklärer– und die konnte nach Charles de Montesquieu auf politischer Ebene nur dann verwirklicht werden, wenn der Regierung Grenzen gesetzt wurden durch die Teilung der Gewalt. Die Gleichheit aller Menschen war die zweite Forderung. Gleichheit statt Privilegien, Fähigkeit statt Geburt sollten die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft bestimmen.

In seinem Werk Two Treatises of Government stellte John Locke klar, dass eine Regierung, um legitim zu sein, die Zustimmung der von ihr Regierten benötigte und in erster Linie die Aufgabe hatte, die Naturrechte Leben, Freiheit und Eigentum zu schützen. Eine Regierung, die diese von der Natur gegebenen Rechte jedes Einzelnen missachtete, wurde als illegitim bezeichnet und durfte abgesetzt werden.

Während die Philosophen über Freiheit und Gleichheit nachdachten, wurde das Leben der Adligen in den Jahrzehnten vor der Französischen Revolution aber nur wenig von diesen Ideen gestört. Es glich einem sorglosen Spiel, in dem oft das Vertreiben der Langeweile die einzige Sorge war. Das galt auch für die Residenzen der deutschen Kleinfürsten, also auch für Hessen-Darmstadt, wo Luise mit ihren Geschwistern aufwuchs. Auch als sich die englischen Kolonien in Amerika 1776 für unabhängig erklärten, unveräußerliche Menschenrechte verkündeten und sich 1787 eine eigene Verfassung gaben, in der von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Rede war, zeigte man sich an den Höfen in Europa nur wenig beunruhigt. Amerika war weit weg– und Fragen nach den neuesten Modetrends aus Paris schienen wichtiger. Von dort aus mit der französischen Königin Marie Antoinette an der Spitze wurde die Mode im übrigen Europa beherrscht. Als neuester Trend galten sechzig Zentimeter hohe, mit Drahtgestellen gestärkte Frisuren auf dem Kopf der Frauen, verziert durch Schiffsmodelle, Blumengestecke oder Federn, die jedem signalisierten: Hier ist ein Mensch, der es nicht nötig hat zu arbeiten– das war eine zunehmende Provokation für die Menschen außerhalb der Hofgesellschaft, die gelernt hatten, ihren Verstand zu gebrauchen und alles infrage zu stellen.

In Deutschland hatten die Ideen über Freiheit und Gleichheit aus Frankreich und England lange Zeit nur Diskussionscharakter. Die deutschen Aufklärer hatten Reformen im Sinn, die durch aufgeklärte Fürsten mithilfe kompetenter Beamten umgesetzt wurden mit dem Ziel, das tägliche Leben zu verbessern. An Revolution dachte keiner. Kant, Hegel und andere schrieben philosophische Werke, hielten Vorlesungen über die Vernunft. Handlungsanweisungen für einen politischen Umsturz leitete daraus niemand ab. In Frankreich aber hatte schon 1762 Rousseau seine adligen Landsleute gewarnt: »Wir nähern uns dem Zustand der Krise und dem Zeitalter der Revolutionen.«7

Erziehung zur Pflichterfüllung und zu einem tugendhaften Leben

»Ich stelle mich Ihnen vor mit dem einzigen Verdienst, ihre glückliche Natur nicht verdorben zu haben«,1

schrieb Salomé de Gélieu 1793 als Bilanz ihrer Erziehung an den zukünftigen Ehemann Luises, den preußischen Kronprinzen, und gab Luise diesen Brief mit, als sie nach Berlin zu ihrer Hochzeit fuhr. Die Jugendjahre der sechs Geschwister fielen in eine Zeit, in der die unterschiedlichsten pädagogischen Konzepte propagiert wurden.

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