Talitha - Carolin Philipps - E-Book

Talitha E-Book

Carolin Philipps

4,7

Beschreibung

Talitha und ihrer Familie geht es gut. Sie leben in einem großen Haus in Damaskus, der Vater arbeitet als Arzt im Krankenhaus, ihre beiden Brüder und sie gehen auf eine Privatschule. Bis der Bürgerkrieg auch ihre Familie erreicht.¬ Ein Bruder stirbt durch eine Autobombe, Talitha wird vom Geheimdienst verhaftet, verhört und gefoltert. Mit ihren Eltern und ihrem jüngsten Bruder flieht sie von Syrien über das Meer und die Balkanroute bis nach Europa. Nach zwei Monaten kommt sie über Wien alleine in Deutschland an. Ihre Familie hat sie unterwegs verloren…

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Carolin Philipps

TALITHA

Carolin Philipps

TALITHA

Obelisk Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im internet unter http://dnb-nb.de abrufbar

Neue Rechtschreibung © Obelisk Verlag, Innsbruck ∙ Wien 2016 Alle Rechte vorbehalten Cover: Heike Ossenkop, www.hoponxit.ch Foto: David Dieschburg/photocase.deISBN Print 978-3-85197-825-4 ISBN E-Book 978-3-85197-835-3

www.obelisk-verlag.at

„Was sie nicht kennen,befeinden die Menschen.“(arabische Lebensweisheit)

Budapest, Keleti-Bahnhof, 3.9.2015

Ich wollte nie ein Flüchtling sein, Fady! Ich wollte Damaskus nie verlassen!

Aber mich hat niemand gefragt. Ich habe es erst erfahren, als es zu spät war. Und selbst wenn ich es früher gewusst hätte, ich hätte es nicht ändern können. Meine Eltern haben es so entschieden, weil sie keinen anderen Weg mehr für unsere Familie sahen. Und ich kann ihnen noch nicht einmal böse sein, denn es ist meine Schuld, weil ich zur Verräterin geworden bin – aus Liebe zu dir.

Es ist meine Schuld, dass der Name meiner Familie nun auf einer Liste der Shabiha steht und was das bedeutet, weißt du.

Dass sie mich verhaftet und gefoltert haben, habe ich selber verschuldet, aber ich könnte es mir nie verzeihen, wenn sie auch meinen kleinen Bruder oder meine Eltern abholen würden. Darum ist es gut, dass wir gegangen sind.

Es ist eng in unserem Abteil. Neben mir sitzt meine Mutter, mein Bruder Noah schläft in ihren Armen, seine Beine liegen auf meinem Schoß. Auch in den Gängen sitzen, stehen und liegen Menschen herum. Babys schreien, kleine Kinder krabbeln auf und unter den Sitzen, Frauen und Männer, Junge und Alte, alles rennt und schreit durcheinander.

Der Zug ist abfahrbereit, aber er fährt nicht los.

Durch die Fenster fallen immer neue Menschen herein, auf die bereits sitzenden und stehenden. Ein wildes Gewirr aus Armen, Beinen und Köpfen. Ihre Gesichter sind verzerrt vor Anstrengung, Schmerzen, Angst und Wut.

Ein Lachen haben diese Gesichter lange nicht mehr gesehen. Warum fährt der Zug nicht los?Ich habe Angst. Zwei Tage haben wir vor dem Bahnhof gewartet. Es war kalt, es hat geregnet. Alles war nass, auch die Decken, die man uns zum Schlafen gegen die Kälte gegeben hat. Zwei, drei, viertausend Menschen, bewacht von Polizisten und beobachtet von Fernsehkameras. Ob sie zu Hause die Bilder sehen? Wahrscheinlich nicht. Weil sie nur die Bilder zeigen, die die Regierung genehmigt. Vielleicht gefällt es ja Präsident Assad, wenn er sieht, wie dreckig es den Bürgern geht, die sein Land verlassen haben. Aber was sind schon Kälte und Nässe gegen die Bomben und seine Geheimpolizei? Nein, niemand hier bereut es, gegangen zu sein. Und doch habe ich Angst. Wenn du mich fragen würdest, wie es mir geht, würde ich sagen: „ängstlich“. Die Angst in mir ist größer als der Hunger, größer als die Schmerzen in meinem Hals. Schlimmer als der Husten und das Fieber. Ich schwitze und friere gleichzeitig, aber am schlimmsten ist die Angst. Sie wohnt in meinem Kopf, im Bauch, in meinen Händen und Füßen und vor allem in meinem Herzen. Wie ein Krake hat sie sich in mir festgekrallt, als wollte sie nie mehr verschwinden.

Gab es eine Zeit ohne Angst? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ich habe Angst, dass dieser Zug nie losfahren wird, dass uns die ungarische Polizei herausholt und zurück über die Grenze schickt. Ich habe Angst um meinen Vater. Wo ist er jetzt? Die Leute erzählen sich, dass in einigen Tagen alle, die ohne Visum über die Grenze kommen, in Ungarn illegal sind, verhaftet und ins Gefängnis gesteckt werden. Für Wochen, Monate oder sogar für drei Jahre. Drei Jahre!!! Wir sind aus Syrien geflohen, weil wir genau das nicht wollten. Wo ist er? Weiß er von dem neuen Gesetz? Werden sie meinen Vater foltern? Mutter sagt, darüber sollen wir nicht nachdenken. Das macht uns schwach. Und wir müssen stark sein. Ich habe Angst um dich, Fady. Wo bist du? Wie geht es dir? Werde ich darauf jemals eine Antwort bekommen? Ich schreibe dir, um meine Angst zu vergessen, auch wenn du dies vielleicht nie lesen wirst. Meine Mutter hat gesagt: „Schreibe auf, was dir Angst macht. Worte sind wie ein Fischernetz, mit dem du deine Angst einfangen kannst.“ Ich weiß nicht, ob sie recht hat. Ich werde es versuchen, bevor die Angst mich verrückt macht. Aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Es ist so viel passiert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Es war in einem anderen Leben, das mit meinem jetzigen nichts mehr zu tun hat. Damaskus ist so weit weg wie die Sterne am Himmel. Unerreichbar weit weg – vielleicht für immer.

„Denk an etwas Schönes!“, hat meine Mutter gesagt. An etwas Schönes … Schönes … Schönes … Ich weiß nicht, wo ich danach suchen soll. „In deiner Erinnerung“, hat sie gesagt. Und dann hat sie die Mappe aus ihrem Rucksack gezogen. Fast zwei Monate lang hat sie sie in ihrem Rucksack mitgeschleppt. In der Mappe sind ihre Ausweise, die Uniabschlüsse meiner Eltern, unsere Schulzeugnisse und – du wirst es nicht glauben- mein Tagebuch mit deinen Briefen. Meine Mutter hat es vor unserer Abfahrt eingesteckt, obwohl Vater verboten hatte, persönliche Sachen mitzunehmen, die uns bei einer Kontrolle durch die Militärpolizei bei der Ausreise aus Syrien verraten könnten. „Es sind deine gesammelten Erinnerungen. Die kann man nicht zurücklassen!“, sagte Mutter. „Lies! Und dann schreibe! Schreib ihm, was passiert ist. Und wenn du ihn wiedersiehst, dann wird er verstehen, warum du gehen musstest.“ „Werde ich ihn wiedersehen?“ „Ich weiß es nicht, Talitha. Ich weiß auch nicht, ob wir deinen Vater jemals wiedersehen. Aber ich hoffe es, weil ich ohne diese Hoffnung längst aufgegeben hätte.“ In ihre Augen kam für einen kurzen Moment ein winzig kleines Strahlen, das aber sofort von der unendlichen Müdigkeit, die in den Augen von uns allen wohnt, verdrängt wurde. „Fady könnte tot sein.“ „Ja, das könnte er. Aber er könnte leben. Vielleicht ist er auch auf der Flucht. Vielleicht ist er hier auf dem Bahnhof.“ Das war so unwahrscheinlich, dass ich nicht einmal den Kopf hob, um aus dem Fenster zu schauen. „Oder er ist im Meer ertrunken oder wurde von Präsident Assads Geheimdienst verhaftet.“

Mutter hat mir mein Tagebuch in die Hand gedrückt. „Lies und dann fange die Angst in deinem Herzen und sperre sie in Worte ein.“

Der Zug fährt immer noch nicht los.Immer mehr Menschen quetschen sich ins Abteil. Das Geschubse und Geschrei ist genauso unerträglich wie die Totenstille auf der Überfahrt im Boot. Es ist von allem entweder zu viel oder zu wenig.

Zwischen den Beinen und Armen, die versuchen, ins volle Abteil zu gelangen, beobachte ich den Bahnsteig. Ich suche nach den Polizisten, die überall hier herumlaufen und uns noch in letzter Sekunde aus dem Zug holen wollen. Sie schauen fast so finster wie die in Damaskus. Zum Glück tragen sie eine Uniform und einige eine rote oder gelbe Weste, so dass man sie schon von Weitem erkennen kann.

Anders als die Geheimpolizisten bei uns, die man erst bemerkt, wenn es zum Weglaufen zu spät ist.

Die Flüchtlinge erkennt man an den Rucksäcken, den Kapuzen und an den Augen. Sie sind müde, traurig, haben dunkle Ringe, viele sind verweint.

Budapester steigen nicht in den Zug. Sie bleiben lieber zu Hause. Vielleicht fahren sie mit anderen Zügen von anderen Bahnhöfen oder mit dem Auto. Ich würde auch nicht mit einem Zug fahren, in dem die Menschen wie Hühner in einem zu engen Käfig sitzen und stehen und schlafen und liegen und schreien und weinen und trauern und durcheinander reden. Vor allem durcheinander. Die Fenster sind weit offen, aber der Lärm bleibt wie eine dicke graue Wolke im Abteil hängen. Die Fenster sind versperrt durch Körper.

Gelacht wird nur selten, dabei sind die meisten Menschen hier bestimmt ganz lustig. Aber hier und jetzt ist der falsche Ort dafür.Nur meine Mutter lächelt mich an, mein Bruder schläft friedlich in ihren Armen. Ich öffne mein Tagebuch, stopfe meine Finger in die Ohren und fliege zurück in die Vergangenheit, die Paradies und Hölle gleichzeitig war …

„Sprich nicht voller Kummer von meinem Weggehen, sondern schließe die Augen, und du wirst mich unter euch sehen, jetzt und immer.“ Khalil Gibran

Teil 1

DamaskusSeptember 2013 bis Mitte September 2014

4.9.2013

Heute ist mein 14. Geburtstag … und der Todestag meiner Großmutter.

Vor zwei Tagen erst haben wir uns von ihr in Maalula verabschiedet, nachdem wir wie jedes Jahr unsere Sommerferien bei ihr und Großvater verbracht hatten.

Maalula, das bedeutete solange ich denken kann: Ferien, Freizeit, Zeit mit dir, Qashto.

50 Kilometer entfernt von unserem Leben in Damaskus und hoch oben in den Bergen, das war weit genug weg von Schule, Hausaufgaben und Klausuren. Und es war auch weit weg von den Granaten, den Straßensperren und den Militärpolizisten, die überall bei uns in der Stadt herumspazieren und aufpassen, dass niemand etwas Falsches sagt und macht. Nur die Gedanken sind noch frei.

Natürlich mussten wir seit dem Beginn des Bürgerkriegs vor zwei Jahren auch auf dem Weg nach Maalula Straßensperren und Checkpoints der Regierungstruppen passieren. Aber sobald wir das Haus von Qashto sahen, war das alles vergessen. Und wenn wir dann erst mal um den großen Tisch neben dem Granatapfelbaum saßen und Qashtos Kebbeh mit Füllung, ihren Tabbuleh und ihre Butterkekse mit Dattelfüllung aßen, dann wusste ich, dass die Ferien begonnen hatten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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