Luise - Königin aus Liebe - Bettina Hennig - E-Book
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Luise - Königin aus Liebe E-Book

Bettina Hennig

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Beschreibung

Eine starke Frau, eine tiefe Liebe, eine Geschichte, schön wie ein Märchen: „Luise – Königin aus Liebe“ von Bettina Hennig als eBook bei dotbooks. Preußen, 1793: Die lebensfrohe 17-jährige Luise von Mecklenburg-Strelitz ist dem preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm versprochen. Obwohl sie Gefühle für dessen stürmischen Cousin hegt, geht sie die Ehe ein. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten entsteht zwischen Luise und Friedrich schon bald eine aufrichtige Liebe. Mit ihrem offenen und liebenswürdigen Wesen gewinnt sie nicht nur ihren Mann, sondern auch die Herzen ihrer Untertanen schnell für sich. Dennoch ist es für Luise nicht immer einfach, in Preußen glücklich zu sein: Das Leben am Königshof ist oft einsam und voller Herausforderungen für die junge Königin – nicht zuletzt die Begegnung mit den mächtigsten Männern ihrer Zeit. Doch während der russische Zar Alexander ihrem Liebreiz erliegt, droht Napoleon Bonaparte, Luises Leben und ihre Heimat zu zerstören … Bettina Hennigs Romanbiografie gewährt einen einmaligen Einblick in das Leben der „Königin der Herzen“, Luise von Preußen: authentisch und doch voller Gefühl! „Abtauchen in andere Epochen – ein Buch zum Schwelgen und Schwärmen“ Petra Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Luise – Königin aus Liebe“ von Bettina Hennig. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Preußen, 1793: Die lebensfrohe 17-jährige Luise von Mecklenburg-Strelitz ist dem preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm versprochen. Obwohl sie Gefühle für dessen stürmischen Cousin hegt, geht sie die Ehe ein. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten entsteht zwischen Luise und Friedrich schon bald eine aufrichtige Liebe. Mit ihrem offenen und liebenswürdigen Wesen gewinnt sie nicht nur ihren Mann, sondern auch die Herzen ihrer Untertanen schnell für sich. Dennoch ist es für Luise nicht immer einfach, in Preußen glücklich zu sein: Das Leben am Königshof ist oft einsam und voller Herausforderungen für die junge Königin – nicht zuletzt die Begegnung mit den mächtigsten Männern ihrer Zeit. Doch während der russische Zar Alexander ihrem Liebreiz erliegt, droht Napoleon Bonaparte, Luises Leben und ihre Heimat zu zerstören …

Bettina Hennigs Romanbiografie gewährt einen einmaligen Einblick in das Leben der „Königin der Herzen“, Luise von Preußen: authentisch und doch voller Gefühl!

„Abtauchen in andere Epochen – ein Buch zum Schwelgen und Schwärmen“ Petra

Über die Autorin:

Bettina Hennig, geboren 1963 in Hamburg, studierte nach einer Ausbildung zur Cutterin Informatik sowie Film- und Sprachwissenschaften in Hamburg. Seit 1992 ist sie als Redakteurin bei verschiedenen Boulevardzeitungen und Illustrierten tätig und führte zahlreiche bekannte Interviews mit internationalen Stars wie z. B. Madonna. Die promovierte Expertin für adelige Kultur lebt nach dem Motto „My home is my castle“ in einer Hamburg-Eppendorfer Dachwohnung.

Die Website des Autors: www.bettina-hennig.de

Der Autor im Internet: https://www.facebook.com/bettina.hennig

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eBook-Neuausgabe August 2017

Copyright © der Originalausgabe 2008 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eine Gemäldes von Vigée - Le Brun „Portrait der Königin Luise“

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ml)

ISBN 978-3-96148-140-8

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Bettina Hennig

Luise – Königin aus Liebe

Roman

dotbooks.

Für Andreas und Oma Helene

TEIL 1

Kapitel 1

Frankfurt am Main, 14. März 1793

»Raus! Und ihr kommt erst wiede' rein, wenn ihr zur Vernunft gekomme' seid! Ich möchte solche Szene' nich' noch ma' erlebe'!«

Großmutter Scho'sch zog – wie immer, wenn sie tadelte – ihre Linke mit vollem Schwung nach oben und richtete den Zeigefinger auf, wobei die mit Diamanten besetzten Reifen an ihrem Arm gefährlich klapperten. Obwohl die Mädchen wussten, dass dies eine Gebärde war, die nicht nur Zurechtweisungen, sondern auch Schläge androhte, versuchte Luise angesichts der Tatsache, dass sich in ihrer kleinen Abendgesellschaft heute auch Polyxene befand, die immer ein gutes Wort für alle übrig hatte, das Schicksal herauszufordern:

»Ja, aber ...«

»Keine Wiede'worte!« Der Arm der Großmutter wies in Richtung Ausgang.

»Aber warum ich? Ich habe doch nichts ...«

»Was hab' ich gesagt?« Auch bei Friederike blieb sie ungnädig.

Großmutter Georg, wie sie von allen in ihrer Umgebung genannt wurde – wobei man das »Georg« zu einem von hessischer Mundart geprägten »Scho'sch« verschliff –, hieß eigentlich Maria Luise Albertine von Hessen-Darmstadt. Weil sie jedoch niemals duldete, dass man ihr widersprach, ihre Haltung so gerade war wie bei einem Gardeoffizier und sie allein mit dem Rasseln ihrer Armbänder jedermann Respekt abtrotzte, nannte man sie – und zwar keineswegs nur hinter ihrem Rücken! – beim Vornamen ihres Mannes. Es gab keinen Zweifel darüber, wer in der Nebenlinie des Hauses Hessen-Darmstadt, der sie angehörte, die Hosen anhatte. Und dass ihre beiden Enkelinnen es gewagt hatten, dies jetzt und hier, in der zweitteuersten Loge, die das Frankfurter Komödienhaus zu bieten hatte – also in aller Öffentlichkeit und allerfeinster Gesellschaft –, in Frage zu stellen, hatte die alte Dame in einem Maße aus der Haut fahren lassen, wie sie es eigentlich nie zu tun pflegte. Sie hatte schließlich einen Ruf zu verlieren.

Still bewegten sich die beiden Mädchen zur Logentür. Doch während Luise an der Großmutter vorbeischritt wie eine Fürstin des russischen Großreichs und sie keines Blickes würdigte, gab Friederike ganz das leidende Gegenteil ab und wischte sich – getroffen von der Ungerechtigkeit, die ihr wieder einmal widerfahren war – eine kleine Träne aus dem Augenwinkel.

Diese anklagende Geste entging der Scho'sch natürlich nicht, und sofort bemächtigte sich ihrer ein Strom aus innerer Rechtfertigung. Denn es war Luise gewesen, die sich wieder einmal nicht hatte mäßigen können, und nicht Friederike, über die es grundsätzlich wenig Grund zur Klage gab, weil sie immer brav und liebenswürdig war. Aber, sagte sich die Großmutter, besser ein Machtwort mehr als eines weniger, und so setzte sie noch einmal nach: »... und wenn ihr wiede'kommt, dann erwa'te ich eine Entschuldigung bei Tante Polyxene!«

Als sie das sagte, bemerkte sie Kümmelmann, der hinten an der Tür vor sich hingedämmert hatte, bei ihren Worten hilflos aufgeschreckt war und nun nach Orientierung suchte. Mit zusammengekniffenen Augen herrschte sie ihn an:

»Und Ihr passt auf sie auf! Damit nich' noch mehr passiert.«

Großmutter Scho'sch drückte die Schultern nach hinten und richtete ihr Kreuz kerzengerade auf, damit ihre Haare, die sie nach Pariser Art zu einem kleinen Turm aufgebauscht trug, nicht aus der Balance gerieten und sie den Kindern und ihrem Begleiter noch ein Bild ihrer Unantastbarkeit hinterherschicken konnte. Zufrieden sah sie den verwunderten Mädchen nach. Dann fiel die Tür zu.

Sofort drehte sie sich zu ihrer Nichte.

»Es tut mir so leid, liebe Polyxene. Diese Mädche'. Sie wachse' mir echt über den Kopf. Ich kann ebe' zu meinen Enkelinnen nich' mehr so streng sein wie zu meinen Töchtern. Sie sind heut' den ganzen Tag schon so aufgeregt. Sind halt lang net mehr hier in Frankfurt gewese' – und schon gar nich' im Theate'. Die waren ganz närrisch, als ich ihnen davon erzählt hab: Ach, ich hoffe, Sie können ihne' das nachsehen ... Schon auf der Fahrt hierher ware' sie so wild, dass ich sie am liebsten wieder zurückgeschickt und ihne' Hausarrest gegebe' hätte ...«

Großmutter Scho'sch bremste ihren Redefluss, denn beinahe hätte sie sich verplappert. Seit Monaten schon hegte sie einen großen Plan, für den sie alle nur erdenklichen Hebel in Bewegung gesetzt hatte, und die Mädchen jetzt, so kurz vor der Vollendung, nach Darmstadt zu schicken, hätte alle Mühe sabotiert. Sie, die Großmutter Scho'sch, hätte sich nicht nur vor ihrer vielköpfigen Verwandtschaft, ja dem ganzen hohen Stand, dem sie angehörte, ordentlich blamiert, sondern sie wäre auch gänzlich ruiniert gewesen.

Alles Geld war für die Erziehung der Mädchen draufgegangen, und das silberne Besteck hatte sie bereits verkauft, um ihnen wenigstens das Notdürftigste an Ausstattung zu sichern. Denn nicht nur die Kleidung, die täglichen Aufwendungen und das Personal für die Mädchen waren teuer gewesen. Zumal sie alles allein aus ihren kargen Einkünften bestreiten musste, weil Karl von Mecklenburg-Strelitz, ihr Schwiegersohn und der Vater der Kinder, keinen einzigen Sou zum Unterhalt der Kinder beitrug, obwohl er als Gouverneur von Hannover fette Revenuen aus der englischen Staatskasse bezog. Den größten Posten ihres ohnehin überschaubaren Budgets hatte die gute Gélieu ausgemacht, die die ehrgeizige Großmutter eigens zur Erziehung der Kinder aus dem preußischen Neufchâtel zu sich geholt hatte und die ihnen nun täglich wenig Strenge, dafür aber viel Herzensgüte angedeihen ließ.

Die Vorstellung, bei einem Misslingen ihrer Mission belächelt, gar bemitleidet zu werden, jagte der Scho'sch mehr Angst ein, als die Truppen der französischen Revolutionsarmee es je vermocht hatten. Deren Kanonendonner auf Mainz hatte sie von ihrem Balkon am Darmstädter Alten Palais aus hören können – weswegen sie sofort mit ihren Enkelinnen ins sächsische Hildburghausen geflohen war, wohin sie Lolo, die älteste Schwester von Luise und Friederike, leider nur wenig vorteilhaft hatte verheiraten können.

Aber der Krieg und die Flucht waren nichts, nichts, nichts gegen ein Scheitern ihrer gesellschaftlichen Ambitionen – und dafür brauchte sie Polyxene wie die Mistel den Wirt. Denn die hatte Geld, und sie selbst nicht.

Wenn sich die Mädchen nun ihrer Tante gegenüber nicht mit der gleichen Wohlgefälligkeit zeigten, wie sie selbst es tat, dachte die Scho'sch, wenn sie ihr nicht ständig und ohne Einschränkung den Eindruck gaben, dass sie der beste Mensch der Welt war, dann würde Polyxene ihre Schatulle verschließen, und dann ... Am liebsten hätte die Scho'sch die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Warum mussten die Mädchen ausgerechnet heute so störrisch sein? Sie waren so widerspenstig, so aufgekratzt, so unbeherrscht, so frech! Wieder bezog sie Friederike in ihr Urteil mit ein, obwohl das für die jüngste ihrer Enkelinnen gar nicht zutraf.

Um das Gespräch in Gang zu halten, lächelte sie ihre Nichte an und fing an, sie zu umgarnen:

»Aber Sie, meine liebe, liebe Polyxene, sind ja so gut, so gnädig und so geduldig mit den beiden. Ich glaube manchmal, dass sie so viel Güte gar nich' verdient habe'. Sie verwöhnen sie viel zu sehr.«

In Wahrheit begrüßte die Scho'sch jedes Geschenk, das Polyxene den Mädchen zukommen ließ – wie etwa den Stoff, den sie gerade erst in Lyon bestellt hatte und der, warum auch immer, noch nicht geliefert worden war.

»Ach ... das ist doch selbstverständlich.«

»Nein, nein, nein!« Der Einspruch der Scho'sch wurde nur von einem leisen Klappern der Armbänder unterstrichen. Ohne auf ihre Würde zu achten, schmierte sie nun ihrer Nichte so viel Honig um den Mund, dass sie schon geneigt war, ihren eigenen falschen Worten selbst zu glauben. Sie tat alles dafür, die unangenehme Lage, in die sie ihre Enkelinnen – wieder schloss sie die kleine Friederike in ihr Urteil mit ein – gebracht hatten, vergessen zu machen und Polyxene das Gefühl zu geben, sie sei die wunderbarste Person auf Erden.

Das Problem an einer Strategie, die Polyxene mit einbezog, zeigte sich allen, die sie kannten. Sie war nämlich überaus schwierig. Niemand konnte sie leiden, denn es verging keine Gesellschaft, in der die hässliche alte Dame nicht laut und ausfallend wurde und die Aufmerksamkeit einforderte, die sie glaubte, aufgrund ihrer Großzügigkeit einfordern zu können. Aber: Polyxene wusste, dass sie ein Scheusal war, und wie alle Scheusale der Welt bestand sie darauf, dass man ihr das Gegenteil fortwährend bezeugte. Die Aussicht darauf, dass jemand ihr, die wegen ihrer unangenehmen Eigenschaften oft zu einsamen, endlos langweiligen Abenden bei Whist und Likören auf ihren verwaisten Schlössern am Rhein verdammt war, Gesellschaft zu leisten bereit war – mehr noch: sich dieser entgegensehnte und heitere Abende in Aussicht stellte –, war also die Währung, mit der man sich Polyxene gewogen machen konnte. Großmutter Scho'sch zahlte sie gerne. Allein, die Mädchen mussten mitmachen.

Sie schmeichelte ihr deshalb für ihre unendliche Güte, ihre Großtaten, ihre Großzügigkeit, ach, einfach für alles, was sie ihr und den beiden Mädchen in ihrer Hochherzigkeit hatte angedeihen lassen – und wiederholte sich in endlosen Ehrerbietungen, wobei sie keine Scham zeigte, ins Unterwürfige abzugleiten. Dabei zupfte sie wie ein kleines Kind, das nicht aus einer Angelegenheit herausweiß, an einer Schleife ihres Kleides und lenkte damit unwillentlich das Augenmerk auf den erbarmungswürdigen Zustand ihrer Toilette. Der Saum der Ärmel war abgestoßen und nur notdürftig mit Rüschen erneuert, die Röschenformationen ihres Kleides zeigten Lücken, weil einige Verzierungen bereits abgefallen waren, und die Schuhe, die darunter hervorschauten, dicke Flicken und Stopfarbeiten. Nur die goldenen Armreifen zeugten noch von den zurückliegenden prächtigen Zeiten, die sie einmal gekannt hatte, aber die waren so lange her wie ihre Jugend. Böse Zungen sagten, vielleicht sogar noch ein bisschen länger.

Endlich unterbrach Polyxene den Strom der Ehrerbietungen, der aus dem Munde der Scho'sch floss: »De rien, de rien. Bien sûr. Je suis bien heureuse de vous aider ...«

Polyxene fixierte ihre Tante aus wässrigen Augen, unter denen ein Paar dicke Tränensäcke ihr trauriges Dasein fristeten. Sie wollte die stolze alte Dame nicht kritisieren, aber Polyxene verabscheute die Sitte der Scho'sch, Mundart zu sprechen, zutiefst. Sie seufzte. Für sie war es ein Zeichen der Bürgerlichkeit, ja Ländlichkeit, und ein völlig unangemessenes Signal in Zeiten, die unruhig waren und in denen der Adel zusammenhalten musste – und deshalb war sie nicht umhingekommen, ihre Tante zu unterbrechen. Ihre Lippen waren deshalb spitz geworden, als sie ihre Beteuerungen in sehr nasal gesprochenem Französisch eingeworfen hatte, aber Großmutter Scho'sch lächelte Polyxene unvermindert freundlich an, wartete gespannt darauf, was ihre Nichte zu sagen hatte, und vermied es dabei, nach den Köstlichkeiten zu schielen, die Polyxene mitgebracht hatte, obwohl sie seit Tagen nur von gebutterten Broten gelebt hatte und ihr Magen bereits hörbar knurrte.

Polyxene hatte es sich nämlich zur Angewohnheit gemacht, immer und überall, wohin sie kam, für ausreichend Verpflegung zu sorgen. Das war auch ein Grund, warum die Scho'sch sie schätzte. Auf dem kleinen Beistelltisch, der zwischen ihnen stand, drängten sich Brot, Butter, ein Glas Foie Gras, kalter Kalbsbraten, eine Pastete von Lauch und Speck, ein Guglhupf sowie ein paar Taler frischer Harzer Roller. Das Zentrum des fröhlichen Ensembles aber bildete eine riesige Flasche Klevner, die Polyxene mit ein paar weiteren, die sie noch in Reserve hielt, eigens für diesen Abend von der Ahr hatte kommen lassen. Denn wann immer sich ihr die Gelegenheit bot, frönte Polyxene ungeniert dem Kult des Bacchus und lud andere dazu ein, es ihr gleichzutun. So auch dieses Mal.

»Bien, bien. Nun trinken Sie doch erst einmal einen Schluck. Und machen Sie sich doch nicht immer solche Sorgen! Man ist doch zum Vergnügen hier und nicht, weil man Pflichten zu erfüllen hätte.«

Da dachte die Scho'sch freilich anders: Ins Theater zu gehen war Pflicht. Manchmal – wenn man die Großzügigkeit von Polyxene auszunutzen gezwungen war und ihre Gesellschaft erdulden musste – sogar eine lästige Pflicht.

»Zum Vergnügen sind wir hier. Nur zum Vergnügen. Wenn da die Mädchen ...«

Wieder fühlte sich die Scho'sch gezwungen, ihre Enkelinnen in Schutz zu nehmen. Sie wollte erst gar keinen falschen Eindruck erwecken. Doch da sie merkte, dass ihr bereits der kleine Schluck Wein, den ihr die Nichte aufgenötigt hatte, zusetzte, griff sie schnell zu einem Stück Kalbsbraten. Zu ihrem Hessisch gesellte sich nun auch die undeutliche Sprache einer Essenden.

»Meine liebe Freundin, es tut mir wi'klich aufrichtig leid ...« Noch einmal biss sie ab. »Man darf sie nich' mit zu strengen Augen sehen. Da muss man ein wenig Verständnis aufbringe' ... Unsere gute Gélieu: Ich hab' sie extra für die Erziehung komme' lasse'. Sie hält es mit dem Rousseau – Natur und so, verstehen Sie? Ich verstehe ja nich' so viel von Philosophie, aber die Gélieu ist eine gute Frau. Sie versucht die natürliche' Anlage' der Mädche' zu stärke'. Was immer das heißt: Sie sind ja grundsätzlich lieb und nur heute so fürchterlich aufgeregt ...«

»Bien sûr!«Es war, als ob Polyxene nur auf diese Gelegenheit gewartet hätte. Sie konnte die gute Gélieu nämlich nicht ausstehen und nutzte jede Möglichkeit, die Erzieherin schlechtzumachen. Der Grund für diese Abneigung bestand nicht nur in einer gänzlich gegensätzlichen Auffassung von Erziehung. Während die Gélieu jede Art von Etikette ablehnte und etwas vertrat, was sie als »die neuen Ideen« bezeichnete, war Polyxene fest davon überzeugt, dass die Schule des Lebens nur durch das Leben selbst gemeistert werden könne – es also notwendig war, an den großen Höfen Europas durchs Exempel am eigenen Leib zu lernen, was es hieß, ein Mensch von Tugend zu sein. Die Antipathie, die Polyxene gegen die Gélieu hegte, beruhte vielmehr auf einer Rivalität um die Liebe der Mädchen. Nicht zuletzt, weil sie bemerkt zu haben glaubte, dass insbesondere Luise sich seit einigen Monaten zunehmend von ihr entfernte. Sie versuchte also, dies der Gélieu anzulasten:

»Bien, die Anlagen seiner Zöglinge zu stärken, ist ein wunderbares Unterfangen. Denn die Natur des Menschen zu fördern, macht ihn frei und damit vollkommen. Mein Aufenthalt in St. Petersburg hat mich das gelehrt. Nur ein tugendhafter Mensch kann den Gefahren der Eitelkeit widerstehen. In dieser Sache stimme ich übrigens voll und ganz mit Graf Medem überein, mit dem ich darüber einen angeregten Briefwechsel führe.«

Sie betonte diese Bemerkung mit einem Räuspern. Aber die Großmutter ging nicht darauf ein. Sie kannte keinen Graf Medem und wusste auch nicht, warum man ihn kennen sollte.

»Allein, wir sind in einer Frage nicht übereingekommen, und da möchte ich wirklich gerne wissen, wie Sie, meine verehrteste Tante, darüber denken: Sind die Untugenden des Menschen ihm bei der Geburt vorgeschrieben, oder werden sie im Laufe des Lebens an ihn herangetragen?«

Großmutter Scho'sch war verwirrt. Ihr Blick flackerte. Ihr wurde klar, dass Polyxenes Einlassungen nicht auf eine philosophische Debatte hinausliefen, sondern ein konkretes Ziel anstrebten, dessen Richtung sie aber noch nicht erkannte.

»Bien, ich will Ihnen ein Exempel geben.« Polyxenes blasierte Art zu sprechen forderte die ganze Aufmerksamkeit der Scho'sch. »Wenn wir annehmen, dass der Mensch von Natur aus tugendhaft ist, wie kommt es dann, dass – wenn gewisse Einflüsse greifen – ein tugendhafter Mensch plötzlich ein Verhalten an den Tag legt, das wenig Tugend zeigt? Nehmen wir zum Beispiel ... unsere Luise.«

»Was is' mit Luise?!« Die Worte der Scho'sch zischten wie der Korken aus einer Flasche Champagner.

»Aber, liebe Tante – es ist doch nur ein Beispiel, ganz allgemein ...«

»Wie meinen Sie das?«

Großmutter Scho'sch versuchte, ihre Nichte durch eine Offensive mundtot zu machen. In Wirklichkeit musste sie Polyxenes Andeutungen Recht geben. Denn die Sorgen, die ihr Luise bereitete, waren durchaus nicht gering. Sie hatte schon die ganze Familie gegen sich aufgebracht: Röschen, die älteste des Enkelinnen-Quartetts, die an den Fürsten von Thurn und Taxis nach Regensburg verheiratet worden war, beklagte sich über Luises Gegenreden. Lolo, die im sächsischen Hildburghausen lebte, beschwerte sich über die Maßlosigkeit ihrer Schwester, die weder beim Essen noch bei Geschenken genug bekommen konnte. Onkel Georg zeigte sich verärgert über Luises Naschsucht, und selbst Vater Karl, der sich in der leichtblütigen Art seiner Tochter wiedererkannte und sie deshalb sehr liebte, hatte ein paar Bemerkungen über den Aufwand fallen lassen, den seine Tochter neuerdings bei Putz und Toilette machte.

Das Schlimmste an Luises Betragen aber waren nach Meinung der Großmutter Scho'sch diese Mise en Scene und dieser Blick, dieser fürchterliche Blick: Luise sah jeden Mann so an, als ob sie in ihn verliebt sei. Dabei sah sie ihn nicht wirklich an, sondern irgendwie ins Leere, und präsentierte dabei ihre Reize offensiver, als es für jemanden ihres Alters schicklich war. Manchmal hatte die Scho'sch den Eindruck, dass Luise mit der kleinen Friederike auf sonderbare Weise rivalisierte. Doch um wen? Um wen konnte es im Leben zweier noch so junger Mädchen gehen?

Die Worte ihrer Nichte rissen sie aus ihren Gedanken.

»Prinzessin Georg! Was räsonieren Sie so lange und lassen mich hier auf eine Antwort warten? Wie stehen Sie dazu?«

»Ja, ähm, also ... ich mein', ähm, dass ...«

Die Scho'sch wusste nicht, ob der Taumel in ihrem Kopf dem Klevner oder ihrer Befürchtung geschuldet war, dass sich Polyxene über Luise beklagen und ihre Schatulle verschließen könne, sodass sie, die Scho'sch, ihre hochgesteckten Pläne würde begraben können. Sie wollte gerade ansetzen, ihre Enkelin vor ihrer Nichte zu verteidigen, um die Katastrophe abzuwenden. Da aber fuhr diese mit ihren Erörterungen schon fort.

»Also: Wenn man in der Erziehung gewisse Maßstäbe ansetzt, die – wollen wir einmal sagen – nicht den Anlagen eines Zöglings entsprechen. Wenn man also, wie soll ich es, ähm, sagen ... gewisse Philosophien anzuwenden versucht, die dem Wesen des Kindes widersprechen.«

Das Rasseln von Großmutter Scho'schs Armbändern bedeutete Polyxene, dass ihre Tante schon wieder drauf und dran war, sie zu unterbrechen. Doch diesmal ließ sie es sich nicht nehmen, ihren Standpunkt zu Ende zu führen. Der Wein beflügelte ihre Zunge.

»Ach, was rede ich so lange herum? Wir sind ja ganz entre nous, liebste Tante. Da wird man ja mal so ganz allgemein etwas sagen dürfen, so unter Freundinnen. Also, ich möchte es kurz machen. Ich finde, Luise ist neuerdings sehr fremd gegen mich – und da will es doch einmal erlaubt sein, so ganz allgemein darüber nachzudenken, ob es wirklich gut ist, dass gewisse Einflüsse, also gewisse Methoden, die sich Erziehung nennen ...«

Großmutter war verzweifelt und beschloss, die Strategie zu wählen, die bei ihrer Nichte immer Erfolg versprach – nämlich die, ihr in allem, was sie sagte oder zu sagen anstrebte, uneingeschränkt Recht zu geben:

»Ähm ... ach, ich bin beglückt, liebe Polyxene, dass Ihne' nichts entgeht, was die Entwicklung Ihre' Nichten betrifft. Wie aufme'ksam Sie doch sind.«

»Es war doch nur ein Beispiel, so allgemein. Es geht doch nicht speziell um Luise ...«

»Nein, nein. Sie haben einen guten Blick.« Allein das Wort brachte die Großmutter ins Schwitzen. »Denn wenn Sie finden, dass Luise plötzlich nich' mehr so tugendhaft erscheint, dann ließe sich einwenden, dass sie in einem gewissen Alter ist ...«

»Es war doch nur ein Beispiel, so allgemein ...«

Polyxene neigte dazu, ihren Standpunkt zu wiederholen, weil ihr das selbst zur fortgeschrittenen Stunde und nach einigen geleerten Flaschen Sicherheit im Ausdruck verlieh. Für alle anderen war es ein Zeichen dafür, dass sie sich wieder in irgendetwas verbissen hatte. »Ein Beispiel. Allgemein. Es geht nicht um Luise. Nur ein kleines Beispiel.«

Großmutter Scho'sch blieb bei ihrer Strategie:

»Nein, liebe Polyxene, da kann ich Ihne, vielmehr: da muss ich Ihne' beipflichten!« Das ›muss‹ zischte.

»Beipflichten! Sie pflich-ten mir al-so bei? Sie sehen also auch den schlechten Einfluss, den diese, diese, diese gottlose ... Gélieu auf die Mädchen hat?«

Die Scho'sch sah Polyxene überrascht an. Jetzt erst merkte sie, dass es gar keinen Grund zur Aufregung gab. Ihr Mund stand offen, ihre Arme fielen schlaff herab, ihre Augen formten ein erstauntes Rund. Noch bevor Polyxene dem Gespräch eine andere Wendung geben konnte, stieß sie erleichtert aus:

»Ja, ich pflichte Ihnen bei, meine Liebe. Denn es gibt keine wie Sie.«

Dann prostete sie ihrer Nichte zu, trank auf ihr Wohl und machte sich, ohne zu zögern, über die mitgebrachten Köstlichkeiten her. Erst als sie den Teller mit dem Guglhupf wieder absetzte, vernahm sie aus der hintersten Reihe der Loge, die gänzlich im Dunkeln lag, ein zartes Hüsteln. Erschrocken drehten sie und Polyxene sich um: Dort saß, wie zur Salzsäule erstarrt, die gute Gélieu, die Scho'sch über dem Wein, den Delikatessen, ihrem Hunger, ihren Schmeicheleien, aber vor allem über der Sorge um die Zukunft ihrer Enkelinnen völlig vergessen hatte.

Polyxene donnerte ihr Glas unbeherrscht auf den Tisch.

»Mabuscha, Mabuscha, guck mal, wir haben Onkel Georg getroffen!«

»Babuscha, Onkel Georg is' hier!«

Im Nu füllte sich die Loge mit Leben.

»Mabuscha! Nun sieh doch!«

»Babuscha! Er war im Foyer!«

Stolz blickte Großmutter Scho'sch an ihrem Sohn hoch, dessen imposante Uniform der Hessisch-Darmstädter Reiterei ihr Gesichtsfeld unvermittelt ausfüllte. Luise und Friederike, die sich von hinten eng an ihren Onkel gedrängt hatten, schoben ihn ein Stück mehr in Richtung Großmutter. Nur im letzten Moment konnte Kümmelmann, dem die beiden Mädchen entwischt waren und der nun atemlos folgte, das kleine Beistelltischchen, das schon gefährlich ins Wanken geraten war, dem Gedränge entreißen, bevor er neben der Gélieu Platz nahm.

Georgs milder Bariton übertönte den Aufruhr: »Verehrteste Mutter, es ist mir eine Überraschung, Sie heute Abend hier zu sehen.«

Das war natürlich gelogen. Denn das Treffen war von langer Hand geplant, und die Großmutter hoffte, nun endlich von ihm die Nachricht übermittelt zu bekommen, auf die sie so lange gewartet hatte. Die Scho'sch nickte gönnerhaft, da wandte sich Georg bereits seiner Cousine Polyxene in alleruntertänigster Aufwartung zu, wozu er von seiner Mutter – am Nachmittag bereits! – mit Nachdruck angehalten worden war.

»Ahhh, liebe Polyxene, wie schön ...«

Mit einem vollendeten Diener beugte er sich zu ihr herab und schickte sich gerade an, sie mit einem Handkuss zu ehren, als Luise die Enge zwischen ihm, seiner Mutter, Polyxene und dem Tischchen passieren wollte. Sie raffte ihren ausladenden Rock, balancierte auf Zehenspitzen zwischen den dreien hindurch – und trat schließlich, aus Erleichterung darüber, nichts zu Fall gebracht und endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, mit voller Wucht auf. Dabei traf sie unglücklicherweise den Fuß ihres Onkels, der sich vor Schreck auf die Zunge biss. Sein Schmerz entlud sich in einem hilflosen Lispeln, als er seine Cousine ansprach:

»Meine liebe Polysene! Wels eine Überrassung!«

Schnell ließ er Friederike durch, um Zeit zu gewinnen und seinen Mund mit einem tiefen Atemzug zu kühlen. Er sog die Luft ein und stieß sie langsam und portioniert wieder aus, damit auch ja jeder Hauch seinen Dienst tun konnte. Nach einer zweiten Brise spürte er schon eine gewisse Linderung, und nur aufmerksame Zuhörer konnten merken, dass eine ungewohnte Behinderung seine sonst flüssige Rede beeinträchtigte.

»Was für eine Freude! Isskann es gar nisst fassen! Was verssafft uns die Ehre, Sie hier in Frankfurt begrüßen zu dürfen?«

Nur ihm und der Großmutter war klar, dass diese Ehre auf ihrer prall gefüllten Schatulle beruhte und ihr sofort entzogen würde, falls sie gedachte, diese zu schließen. Zu seinem großen Unglück ging Polyxene jedoch nicht auf seine Frage ein, sondern verwickelte ihn in die Erörterung, ob die Natur des Menschen gut oder schlecht sei und ob Erziehung die Natur fördere oder ihr entgegenstehe. Sie betonte – wieder mit einem Räuspern –, dass sie mit dem Reichsgrafen Medem da auch noch nicht zu einer Meinung gekommen sei.

Georg stutzte, als dieser ihm wohlbekannte Name fiel, und fragte sich, ob seine Mutter – entgegen aller Vernunft und allen Absprachen – Polyxene doch in ihren Plan eingeweiht hatte. Er suchte in ihrem Blick nach einer Antwort, aber die Augen seiner Mutter zeigten nur jenen glasigen Glanz, den Wein oder Trauer verursachen konnten – und dass sie geweint hatte, konnte er ausschließen. In seiner Vermutung bestätigt, erblickte er die leere Weinflasche, die in der Mitte des Tisches stand – und nun konnte er sich auch Polyxenes ungebremsten Erzähldrang erklären. Es ging ihr nur darum, im Mittelpunkt zu sein. Auch wenn Georg – und die Scho'sch – neuerdings, da sie nämlich Polyxenes Geld benötigten, ihren Ausführungen mit Toleranz und Geduld begegneten, regte sich in Georg ein Hauch von Enerviertheit. Denn für ihn pressierte es sehr. Noch bevor er in der Loge des Preußenkönigs Platz nehmen musste, wo er als Ehrengast geladen war, wollte er nämlich der bezaubernden Baberini, die im Eröffnungsballett in der ersten Reihe tanzte, seine Aufwartung machen und sich ein Rendezvous für den Abend sichern. Dafür aber war es dringend erforderlich, dem Grafen Medem zuvorzukommen, in dem er einen Rivalen erkannt hatte. Der jedoch durfte nichts von Georgs Bemühungen bei der Tänzerin wissen, da ihm – zu Georgs großem Unmut – eine tragende Rolle im Plan seiner Mutter zugefallen war. Georg musste also schnell weg aus der Loge, um seine Chance nicht zu verpassen. Er hätte sich deshalb gerne rasch mit seiner Mutter besprochen, sah sich aber nun gezwungen, Anteilnahme vorzutäuschen, während Polyxene sich weiter in langatmigen Erörterungen über die Natur und Rousseau und Erziehungsfragen erging.

Luise jedoch, mit weniger Feingefühl für die Gesamtlage der Abhängigkeiten ausgestattet, kannte keine Rücksicht und platzte mit Nachdruck in die Rede der Tante hinein.

»Also, wir finden, die Natur ist gut!«

»Wer wir? Du!«

Friederike war – wie so oft in den vergangenen Monaten – verärgert darüber, dass Luise wieder einmal die Gelegenheit nutzte, sich hervorzutun. Sie versuchte deshalb, sich sofort von ihr zu distanzieren, und achtete nicht darauf, dass das, was sie sagte, ebenso wenig Sinn ergab wie das Geplapper ihrer Schwester.

Luise aber würdigte sie keines Blickes, drängte sie sogar ein wenig zur Seite und konzentrierte sich gänzlich auf Onkel Georg, dem sie sich mit ihrer ganzen Figur zugewandt hatte und den sie nicht aus den Augen ließ. Ihr biegsamer Körper lehnte an der Balustrade. Das dunkelblonde Haar war zu einem Konvolut aus Kringeln aufgetürmt, aus dessen gezähmtem Volumen heraus links und rechts je ein paar Löckchen die Freiheit suchten und spielerisch ihr Gesicht umrahmten. Das weiße Band, das ihre Frisur zusammenhielt und seitlich am Hals herabfiel, drehte sie in ihren Fingern wie eine Strähne. Ihre Füße, die in rosa Pantoffeln unter ihrem Rock herausschauten, standen mit den Zehen zueinander und vermittelten eine Aura von Unschuld und Unantastbarkeit. Ihre linke Hand ruhte teilnahmslos auf dem Kleid, das ihre sehr schlanke Taille durch aufwendige Schnürungen vorteilhaft zur Geltung brachte und so tief ausgeschnitten war, dass es einen freien Blick auf die frische Haut ihres Nackens, ihres Halses und ihres wunderbaren Dekolletees erlaubte. Sie beugte ihren Oberkörper nach vorne, als ob sie sich von einer kleinen Unbequemlichkeit, die sie im Rücken beeinträchtigte, befreien wollte. Als sie durch diese anmutig und quasi ganz natürlich ausgeführte Bewegung die Augen von Onkel Georg auf sich gelenkt wusste, senkte sie ihre Lider über den großen, kindlichen, blauen Augen herab. Dabei sah und sprach sie ins Leere, wobei sie ihren kleinen, geschwungenen Mund immer wieder aufs Neue benetzte, weil sie aus Angst, von der Großmutter unterbrochen zu werden, so schnell durch die Worte hetzte, dass ihre Lippen trocken wurden.

»... denn die Natur ist grün und voller Hoffnung ... Bäume gibt es da, und Tiere ... Uns sind gerade ein paar Kätzchen geboren worden. Sieben an der Zahl!«

Großmutter Scho'sch erkannte darin die gefährliche Mise en Scene ihrer Enkelin und wollte sie gerade mit rasselnden Armbändern zurechtweisen, da erhob stattdessen Polyxene ihre Stimme. Sie war gekränkt – und das nicht nur, weil Luise ihr das Wort abgeschnitten hatte, sondern weil sich in ihrer Brust erneut das Gefühl breitmachte, Luise würde ihr nicht mehr die gleiche Aufmerksamkeit entgegenbringen wie früher. Der Ton, der ihre Nichte traf, war gereizt:

»Luise, meine Liebe, das haben Sie doch schon Hunderte Male zum Besten gegeben. Wollen Sie denn gar nicht wissen, was Ihr Onkel Georg von den Kämpfen um Frankfurt zu erzählen hat?«

Polyxene sah Luise argwöhnisch an, und während die nicht wusste, wie ihr geschah, da sie in ihrer Tante bislang immer eine Fürsprecherin gefunden hatte, geriet Großmutter Scho'schs Blut in Wallung. Denn dies war genau das Szenario, das sie befürchtet hatte: Streit zwischen Luise und Polyxene! Für mehrere laute Herzschläge lang war es so still in der Loge wie in einer Grabesgruft, und selbst das Orchester, dessen Dissonanzen die Gespräche bislang unterlegt hatte, hatte wie zur Untermalung der verfahrenen Situation ausgesetzt.

Georg wusste die Situation nur zu retten, indem er mit allermildestem Lächeln seiner Cousine antwortete, die nach den Kämpfen um Frankfurt am Main gefragt hatte. Obwohl er dieses blutige Thema aus Rücksicht auf die zarten Gemüter der Damen gerne vermieden hätte, erzählte er nun – freilich ohne die grausamen Details auszuschmücken –, wie es ihm gelungen war, den ersten Sieg der Koalitionsarmee aus Preußen, Osterreichern, Hessen und vielen anderen deutschen Fürstentümern gegen die französischen Revolutionäre zu erringen. Dann fuhr er fort zu erklären, dass er wegen dieses Sieges zum ständigen Begleiter des Preußenkönigs geworden war, der – man höre und staune! – auch heute hier im Theater anwesend sein

Dezent zwinkerte er seiner Mutter zu.

Zwar hatte seine Strategie zur Folge, dass er der Großmutter wieder nicht erzählen konnte, wie sich alles vollziehen müsse, damit ihr Plan gelinge, und auch ein Treffen mit der Baberini rückte in unerreichbare Ferne. Aber die Situation war befriedet, denn Polyxene war glücklich, dass er mit seinen Erzählungen seine Aufmerksamkeit ihr schenkte und nicht ihrer neuerdings so ungezügelten Nichte Luise.

Dennoch schienen seine Ausführungen über den Krieg zu deutlich gewesen zu sein. Denn Georgs Rede endete in der gleichen Stille, in der sie begonnen hatte. Alle starrten ihn ungläubig an, und er starrte ungläubig zurück. Nervös strich er sich mit der Hand über die Krause seines Backenbartes, dessen Pracht sich fast bis zum Kinn entfaltete. Er blickte in das bleiche Gesicht von Friederike, die ihrer Schwester sehr ähnlich sah und dennoch schon eine gewisse Fraulichkeit aufweisen konnte, die jener abging, und die im Einklang mit ihren kindlichen Zügen eine äußerst reizvolle Erscheinung abgab.

Eine verfahrene Situation. Hatte er doch zu viel über den Krieg erzählt? Wie sollte er da nur herauskommen? Wieder überlegte er, wie er die Situation retten könne, doch zum Glück befand er sich inmitten von Damen. Denn plötzlich sprachen alle durcheinander:

Großmutter Scho'sch berichtete von der gefangenen französischen Königin Marie Antoinette, mit der sie immer noch regelmäßig korrespondierte, obwohl sie schon vom Palais des Tuileries in den düsteren Turm des Temple-Gefängnisses verlegt worden war. Sie äußerte Mitleid mit der Königin, erboste sich aber ebenso über deren Halsstarrigkeit.

»Diese unbeleh'bare Habsburgerin! Was nützt ihr das ganze edle Blut, wenn sie letztlich auf dem Schafott landet wie der König? Wie kann man sich nur so verbisse' gebe'?« Angebot um Angebot habe sie ihr unterbreitet, sie aus der Gefangenschaft zu befreien, aber die Frau hätte alle abgelehnt, als ob es darum ginge, ein Dessert abzuweisen, das sie nicht mehr essen wolle. »Dabei geht es doch hier um Lebe' und Tod!«

Luise nutzte wie immer die Gelegenheit, ihren Onkel offensiv zu bewundern: »Sie sind wirklich ein Held! Und das Schönste daran ist, dass Sie mein Onkel sind und ich überall ganz stolz auf Sie sein kann.«

Und Friederike, leichenblass, fragte, ob er selbst Blessuren davongetragen habe. Als dieser den Ärmel hochschob und einen kleinen Kratzer bloßlegte, versprach sie ihm, ihn zu pflegen, falls ihm irgendetwas zustoßen sollte. In ihrer prononcierten Art zu sprechen, mit der sie sich von dem fahrigen Geplapper ihrer älteren Schwester abzusetzen und sich die Ehrerbietung zu verschaffen versuchte, die ihr als Jüngste im Bunde leider nur selten zuteilwurde, beteuerte sie:

»Auch wir sind nick' ganz untätig im Kriege! Den ganzen Tag lang zupfen wir Verbände. Wenn Sie das nächste Mal zu uns kommen, dann will ich damit gerne Ihre Wunden versorgen.«

Luises Stirn zog missmutige Falten.

Georg sah seiner jüngsten Nichte ein wenig zu lang in die Augen und strich ihr dann tröstend über die Schulter. Er wollte gerade im hinteren Teil der Loge Platz nehmen und endlich die Angelegenheit, derentwegen er gekommen war, mit der Mutter besprechen, da erfüllte Luises gehetzte Stimme mit einem Mal den Raum:

»Da ist er, da ist er!«

Wieder einmal gelang es ihr, Onkel Georgs Interesse von Friederike loszureißen und auf sich zu lenken. Doch nur mit kurzem Erfolg. Großmutter Scho'sch riss sofort die Hand hoch, um mit dem Klappern ihrer Armbänder zu bedeuten, dass sie alles daransetzen werde, eine Szene, wie sie sich vorhin abgespielt hatte, nicht noch ein weiteres Mal zu dulden, und auch in Tante Polyxenes Gegenwart bereit war, dies mit aller Strenge durchzusetzen. Da gesellte sich zu Luises aufgebrachter Altstimme der gesetzte und deshalb immer angenehme Tonfall Friederikes:

»Er ist da, er ist da. Schaut mal, dort gegenüber. Er hat sich direkt gegenüber von uns eine Loge genommen. Der König von Preußen – wie er aussieht ...«

Georg, der diesen Moment mit aller Anstrengung hatte vermeiden wollen, stand abrupt auf und zog entmutigt seine Weste mit beiden Händen gerade. Vor den beiden alten Prinzessinnen deutete er eine Verbeugung an:

»Wenn er schon da ist, dann muss ich nun leider los, meine Verehrtesten. Ich werde drüben erwartet. Es war mir eine Freude, Sie heute Abend hier sehen zu dürfen. Auf bald, meine Damen!«

Er empfahl sich und ging mit geneigtem Haupt zum Ausgang. Dort blies er seinen beiden Nichten einen Kuss zu. Die aber erwiderten seinen Gruß nur flüchtig und wandten sich von ihm ab, damit sie keinen Augenblick der Ereignisse in der gegenüberliegenden Loge verpassten. Als alle auf den König konzentriert waren, sprang er in drei Schritten noch einmal zurück und flüsterte seiner Mutter zu: »Graf Medem. Sieht aus wie ein Hund.« Er hielt inne und schöpfte neuen Atem, um das auszusprechen, was ihm zutiefst widerstrebte: »Er ist der Kavalier der Baberini.«

Erleichtert ließ die Großmutter Scho'sch die Hände in den Schoß fallen. Die Baberini war die Primaballerina des Hauses und weithin als Mätresse sämtlicher adeligen Offiziere bekannt, die sie mit feinen Pralinees und Blumen, galantere auch mit Schmuck, gewogen zu machen versuchten. Dass ihr Sohn auch zu den Bewerbern der schönen Tänzerin zählte, ahnte sie freilich nicht.

Froh und leichten Fußes ging die Scho'sch zur Balustrade, während Polyxene mit Verweis auf ihr krankes Kreuz sitzen blieb. In Wahrheit war sie schon so angetrunken, dass sie nicht glaubte, noch stehen zu können.

»Ja, das ist der König, wahrhaftig! Das ist er, wie er leibt und lebt.« Die Großmutter kommentierte das Geschehen kopfschüttelnd. Schon oft war sie Zeugin der Gesellschaften des Preußenkönigs geworden.

Friedrich Wilhelm II., König von Preußen, Kurfürst von Brandenburg oder »der dicke Wilhelm«, wie er hinter seinem breiten Rücken genannt wurde, war ein Riese wie aus einem Märchenbuch. Er musste sich ein Stück beugen, um die niedrige Tür passieren zu können, die zu der Gästeloge rechtsseits der Bühne führte, welche für ihn und seine Entourage reserviert worden war. Ständig machte er einen Schritt hinein, wurde dann aber außerhalb der Loge aufgehalten, sodass er eine Weile im Rahmen der Tür stand. Offenbar gab es etwas mit seiner Leibgarde zu verhandeln. Als er sich endlich Zugang verschafft hatte, konnten ihn auch die Enkelinnen in seiner vollen Gestalt bewundern. Er glich in Größe und Umfang einer Eiche und überragte seine Männer um die Länge eines Kopfes. Über seinem Körper spannte sich ein blauer, knielanger Rock. Seine Beine steckten in einer engen weißen Hose und wirkten stämmig wie Bäume. An der linken Seite über dem Herzen prangte in einem riesigen achtzackigen Stern der Orden des Schwarzen Adlers. Die Schärpe, die dazugehörte, hatte er nicht angelegt. Für alle Umstehenden war das das Signal dafür, dass er, der König, das Theater als Privatmann besuchte und nicht als offizieller Staatsgast. Er hatte dennoch geladen wie bei einem großen Fest und schüttelte nun Hände, wies Plätze an und zeigte sich persönlich dafür verantwortlich, dass jeder, der in die Löge kam, sich wohl fühlte.

Er selbst hingegen schien gegen ein drohendes Missgeschick anzukämpfen, denn er konnte seinen Wuchs nicht zur vollen Größe aufrichten, weil er befürchten musste, mit dem Kopf an die Decke zu stoßen. Also wechselte er vom Ducken zum Langmachen – und umgekehrt –, wippte von einem Bein aufs andere und versuchte in die Knie zu gehen, um Abstand nach oben zu gewinnen. In diesem Bemühen, einem Unglück auszuweichen, bot er einen Anblick wie ein buckelnder Wal. Immer wieder tastete er zum Kopf und prüfte, ob seine Perücke noch saß und nicht etwa durch Stöße und Dämpfer aus der Form geraten war. Das Modell, das er trug, war das eines jungen Stutzers, das die Stirn künstlich verlängerte und normalerweise einen Ausdruck von Kraft, Energie und Lebenslust verlieh. Bei einem Mann seines Alters aber legte es lediglich den fehlenden Haarwuchs und die Fülle des Gesichtes offen. Jeder andere hätte bei einem derart offensichtlichen Versuch, mittels einer modischen Raffinesse jünger zu erscheinen, lächerlich gewirkt. Nicht jedoch der König. Mit seiner Fröhlichkeit wog er die Vergeblichkeit dieser Kraftprobe gegen den Zahn der Zeit auf.

»Das ist ja erstaunlich. Hört das denn gar nich' mehr auf? Da kommen ja immer mehr Personen. Die passen gar nicht alle in die Loge hinein. Hoffentlich bricht die nich' noch herunter.«

Friederikes klare Stimme zeigte Belustigung, in die Luise sofort einstimmte, aber die Großmutter nutzte den Eindruck, den der massige Monarch auf ihre Enkelinnen ausübte, aus, um erzieherisch zu wirken.

»Und, was fällt euch beiden daran auf?«

»Sein dicker Bauch!«

»Sein rotes Gesicht!«

Großmutter Scho'schs Armband rasselte laut und bedrohlich.

»Selbstverständlich nicht.« Sie wandte sich nach links und nach rechts, wobei sie die Augenbrauen so hoch zog, dass schon bald keine Stirn mehr vorhanden war.

»Er ist der Erste in der Loge! Und warum? Damit er alle anderen mit Anstand begrüßen kann. Da seht ihr es besser als in jedem Buch: Pünktlichkeit ist die Tugend der Könige!«

Mit diesen Worten sah sie kurz nach links zu Friederike, die sich wieder einmal zu Unrecht angesprochen fühlte und dies mit aufgeworfenen Lippen signalisierte, und dann nach rechts zu Luise, deren Blick sie für einen langen Moment kreuzte. Kaum hatte sie sich wieder der Loge gegenüber zugewandt, rollte Luise mit den Augen. Sie hätte gerne gewusst, wie ihre Schwester diese Mahnung aufgenommen hatte, aber da die Großmutter zwischen ihnen stand, gab es keine Möglichkeit, das herauszufinden – und so sah auch sie in Ermangelung von Alternativen wieder zur Königsloge hinüber.

Dort riss der Strom der Eintretenden immer noch nicht ab. Einige der Neuankömmlinge nahmen bereits im nebenan liegenden Abteil Platz, das von den rechtmäßigen Abonnenten eilfertig geräumt worden war. Dennoch zog es jeden Gast erst einmal in die Hauptloge, um dem Preußenkönig seine Aufwartung zu machen.

»Sieh mal, Ika, dort ist Onkel Karl August. Und guckt mal –« Luise rüttelte über Großmutter Scho'sch hinweg am Arm ihrer Schwester. »Er macht wieder Scherze.«

Luise liebte ihren Onkel aus Sachsen, der die Einkünfte seines kleinen Fürstentums aufbesserte, indem er als Offizier in der Preußenarmee diente. Er war von ausnehmender Komik, hatte immerzu eine Anekdote auf den Lippen und untermalte seine Erzählungen gerne mit seiner recht laienhaften Schauspielkunst. Auch diesmal stellte er sein Können in den Dienst der Unterhaltung. Er riss die Hände in die Höhe, senkte sie wieder herab, ruderte mit den Ellenbogen, federte in den Knien, schwamm mit den Armen durch die Luft, bog seinen Oberkörper nach hinten, schnellte wie ein Katapult nach vorne. Er war Jubelchor, Ente, Schweinehirt und Kanone in Pantomime zugleich und immer in Bewegung. Womit er die illustre Gesellschaft bei Laune hielt, war von Luises Loge aus nicht zu erkennen, aber die Wirkung, die sich bei den Umstehenden einstellte, zeigte sich den heimlichen Zuschauerinnen bis dorthin: Sie legten den Kopf in den Nacken und lachten aus vollem Halse.

Das wirklich Komische an seinem Auftritt aber zeigte sich erst in Kontrast zu seinem Minister Goethe, der sich stets so steif präsentierte, als ob er einen Stock verschluckt hätte, und mit seiner Reserviertheit einen amüsanten Kontrapunkt zu Karl August bot. Auch diesmal sorgte das ungleiche Paar für Lacher. Während der Fürst Possen riss, stand neben ihm wie ein fleischgewordenes Ausrufungszeichen der Dichter aus Frankfurt.

Der Bauch des Königs zitterte wie Sülze ob der Darbietungen des Karl August, als Onkel Georg hinzutrat und der König ihn herzlichst, ja wie einen Bruder umarmte, drückte und herzte. Immer noch unter Schulterklopfen und Kopfnicken wies er ihm den Ehrenplatz direkt neben sich an, wobei er einen hohen Offizier, der Einlass begehrte und, da die Loge bereits voll war, im Türrahmen stehen blieb, völlig ignorierte.

Im Gegenlicht des Foyers wurde der Wartende zu einem lebensgroßen Schattenriss. Er wies ein Gardemaß von mindestens sechs Fuß auf, war schlank um die Hüften und breit in den Schultern. Die Haltung zeigte Stolz, Würde und eine hochwohlgeborene Herkunft. Das Dunkel verriet nichts über die Farbe seiner Haare und die Farbe seiner Uniform, aber das Licht reflektierte den preußischen Orden des schwarzen Adlers. Obwohl von der Loge der Scho'sch aus wenig von diesem Mann zu erkennen war, zeigte sich seine Wirkung bis hierhin:

»Und wer ist der General dort?« Luise wollte es genau wissen.

»Oh, das is' Louis Ferdinand. Der Cousin des Königs.« Großmutter Scho'schs Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Er sieht grandios aus.«

Es war Friederike, die so sprach, was die Großmutter sehr verwunderte, weil sie das eher von Luise angenommen hätte. Erstaunt hörte sie ihr zu. »Macht eine stattliche Figur in seiner Uniform. Da kann sich selbst Karl August ein Beispiel nehmen.«

»Das täuscht, das täuscht. Er ist zwar ein Preußenprinz, aber ...« Großmutter Scho'sch wollte gerade zu versteckten Mahnungen anheben, da platzte Luise dazwischen:

»Das muss die Ritz sein! Ungeheuerlich!« Luise war begeistert, endlich die Frau zu Gesicht zu bekommen, von der man im ganzen Reich sprach.

»Wer ist die Ritz?« Friederike war noch nicht im Bilde.

»Die Ritz! Hast du noch nie von ihr gehört?«

Schnell huschte Luise um die Großmutter herum, um ihrer Schwester alles zu unterbreiten, was sie wusste. Sie sprach hastig und drohte sich bei jedem Satz zu verschlucken. Immer war sie in Angst, von der Großmutter gemaßregelt zu werden.

»Das ist seine Pompadour! Er hat fünf Kinder mit ihr. Und vor kurzem hat er sie sogar in unseren Stand erhoben – sie darf sich nun Gräfin Lichtenau nennen. Dabei ist sie als Encke geboren, hat dann den Ritz geheiratet. Einen Trompeter. Sie darf das Schloss nicht betreten, aber immer, wenn der König auf Reisen ist, muss sie mitkommen. Mit all den Kindern. Sie heißt Ritz, aber alle nennen sie nur die ... Ritze.«

Friederike und Luise glucksten und prusteten wie Holundersekt, der zu lange in der Sonne gestanden hatte. Ihr Vergnügen kannte kein Ende und ließ sie auch die müde Stimme der Tante überhören, die sich in Anbetracht des verhassten Namens, den sie meinte, aus den Albernheiten der Mädchen herausgehört zu haben, von ihrem Platz im hinteren Logenteil aus zu Wort meldete:

»Habe ich das richtig gehört? Die Ritz ist auch da? Das kann doch nicht wahr sein. Diese Person, diese Mätresse! Muss sie denn die Königin unglücklich machen mit ihren Auftritten? Ach, diese schreckliche Welt.«

Die Mädchen hörten auf zu lachen, und Großmutter Scho'sch, die ahnte, was auf sie zukommen würde, setzte sich angesichts ihrer Befürchtungen unversehens neben die Nichte. Sie wollte gerade zu Beschwichtigungen im großen Stil ansetzen, als diese sie brüsk unterbrach:

»Die Ritz! Ich kann es nicht fassen. Ich habe es doch gleich gesagt! Berlin ist sündiger als das sittenlose Paris. Das ist alles unerhört. Es ist ein Skandal. Ja, skandalös ist das. Skan-da-lös. Da kann er doch gleich die Damen der Schuwitz mit hierher bringen. Ein Skandal, ein Skandal. Das ist un-ge-heuerlich. Das ist impertinent. Das ist schlimm, schlimm, schlimm. Ich habe es doch gleich gesagt: Ber-lin! Berlin ist ein Bordell.«

Die Großmutter tätschelte den Unterarm ihrer Nichte, aber die wischte sie weg wie ein lästiges Insekt und variierte weiter Worte der Entrüstung. Unentwegt gab sie Abwandlungen der Worte »Skandal«, »Ungeheuerlichkeit«, »sittenlos«, »Hurerei« von sich, wobei sie die Worte mal ausspuckte, mal herauswürgte, mal ihnen ein kehliges Knacken verlieh, sie mal mit weinbeschwerter Zunge in ungewohnte Breiten zog.

Großmutter Scho'sch wusste nicht, wohin mit ihren Augen. Sie war nur froh, dass ihre Nichte wenigstens so leise wütete, dass die Mädchen davon nicht allzu viel mitbekamen. Sie war nicht nur beschämt von der ungenierten Art, mit der diese ihrem Ärger Luft machte, sondern auch vom Verhalten des Königs. Insgeheim verfluchte sie ihn.

Wie konnte er nur seine elendige Mätresse mitbringen? Hätte er ihr das nicht ersparen können? Ein Idiot! Die Scho'sch hoffte inständig, dass Polyxene, die sie immer vor Berlin und dessen Sittenlosigkeit gewarnt hatte und die sie deshalb nicht in ihre Pläne eingeweiht hatte, nun keinen Skandal in der Gegenwart des Königs verursachen würde. Vor allem aber hoffte sie, dass ihre Nichte – was viel schlimmer wäre! –, wenn sie sie bald einzuweihen gezwungen war, sozusagen im letzten Moment und kurz bevor sie ihr Ziel erreicht hatte, nicht ihre Schatulle schließen würde und somit die Geschicke ihrer Enkelinnen einer ungewissen Zukunft und dem blanken Schicksal ausgesetzt wären.

Sie wollte sich zum Trost von der zweiten Flasche des guten Klevner nachschenken, da merkte sie, dass Polyxene die ganzen zweieinhalb Quart bereits geleert hatte. Mit Ergebenheit lauschte sie deren Unmutsäußerungen über den dicken König, dessen elendige Mätressenwirtschaft und ihrer Meinung über Berlin, das einem riesigen Bordell gleiche – und betete leise.

Währenddessen verschaffte sich, obwohl das Orchester schon zur Ouvertüre aufspielte und alle ihren Platz eingenommen hatten, ein Nachzügler Zugang zur Loge des Königs. Er wirkte fahrig und richtete, sobald er sich im Dunkel des Theaters unbeobachtet fühlte, seine Kleidung. Umständlich schloss er den Bund seiner Hose. Aber erst als er auf dem Stuhl neben Onkel Georg Platz nahm und ein Lichtflackern, das von der Bühne kam, sein Gesicht erhellte, erkannte Großmutter Scho'sch in diesem Gesicht merkwürdige, etwas viehische – nein! – hündische Züge und schloss: Das war Graf Medem!

Kapitel 2

Kaum war die Vorstellung beendet, legte Kümmelmann einen verstärkten Drang zur Tat an den Tag. Er wies ein paar dienstbare Geister an, die Loge von dem Beistelltisch und den ganzen mitgebrachten Köstlichkeiten zu befreien, dann bat er Luise und Friederike, die den Abend ganz vorne an der Balustrade verfolgt hatten, nach hinten zu kommen, und gebot ausgerechnet der guten Gélieu, Polyxene zu stützen, damit diese nicht auf dem glatten Parkett ausrutschte. Die Alte dankte es ihm mit gekräuselter Stirn.

Er selbst reichte Großmutter Scho'sch die Hand, die sie dankend annahm, um sich leichter von ihrem Stuhl erheben zu können. Sein Arm wurde aber sofort zurückgewiesen, als sie die Balance gefunden hatte, um dann stolzen Hauptes und mit geradem Rücken als Letzte die Tür zum Foyer zu passieren.

Vor der Tür drängten sich die Menschen. Aus allen Logen strömten die Zuschauer heraus und schoben sich in Richtung der schmalen Treppe, die zum Parterre führte. Die Herren gingen Schulter an Schulter. Die goldenen Epauletten ihrer Uniformen rieben aneinander. Die Damen versuchten, sich Raum zum Gehen zu verschaffen, indem sie ihre ausladenden Reifröcke abwechselnd nach links und nach rechts zur schmalen Seite hin drehten. Seide raschelte, und überall glitzerten die Diamanten, die ihr Feuer mal als blitzgleiches Funkeln, mal als Spektrum des Regenbogens offenbarten.

Vor dem Theater warteten schon die Kutschen, und da es schon spät war, beeilte sich ein jeder, dorthin zu gelangen und schnell nach Hause zu kommen, um unterwegs nicht den lästigen Fragen der Patrouillen ausgesetzt zu sein. Seitdem Frankfurt am Main zum Hauptquartier des Königs ausgerufen worden war, war niemand – selbst der hohe Adel nicht – vor den Kontrollen der Militärs sicher, die jeden, der Französisch sprach, als Spion oder Verräter verdächtigten; zumal so spät, denn es war fast Sperrstunde.

Jeder hatte es also eilig. Aber die Menge verlangsamte sich zur Treppe hin. Alle warteten, traten von einem Bein auf das andere. Das Stimmengewirr verriet, dass die Hauptzahl der Gäste der Koalitionsarmee des deutschen Reiches entstammte, die der Preußenkönig gegen die Revolutionäre aus Frankreich anführte. Sächsisch, Bayerisch, Hessisch, steife nordische Klänge und manchmal auch der geschmeidige Singsang der Österreicher mischten sich zu einem aufgeregten Gerede. Auch einige Sätze Französisch waren zu vernehmen. Sie stammten von aristokratischen Exilanten, die vor dem Revolutions-Terror auf diese Seite des Rheins geflüchtet waren. Wie zu den Zeiten der glorreichen Könige namens Louis hielten sie sich selbst in ihrer misslichen Lage für etwas Besseres. Darauf deutete die Enerviertheit und Ungeduld hin, mit der sie sprachen, ebenso wie ihr ungehobeltes Auftreten. Denn einer der Gäste, ein bereits sturzbetrunkener Vicomte aus der Provence, hatte sich zum allgemeinen Amüsement seiner Begleiter über die Schuhe zwei ausgehöhlte Schwarzbrote gezogen, mit denen er nun unter lautem Gejohle und Geklatsche holländische Tänze vollführte.

»Arrogant sind se scho'«, sagte die Großmutter Scho'sch, indem sie es vermied, allein durch ihr Interesse den Franzosen die Genugtuung ihrer Aufmerksamkeit zu schenken, und strikt in die andere Richtung sah. »Wie gottlos die sind! Wie kann man das Brot net ehre'? Die werde' den Hunger noch kenne'lerne.«

Wer wusste mehr als sie von Hunger! Sie, die nach außen hin die Repräsentationspflichten, die ihr hoher Stand forderte, stets aufrechterhielt, aber manchmal tage-, sogar wochenlang nur von gebutterten Broten lebte, wenn sich kein Besuch angekündigt hatte. Dennoch sprach sie eher zu sich als zu den anderen. Denn solcherlei Äußerungen führten meist – in Gegenwart etwa von Standesmännern, die mit der Revolution sympathisierten, wie ausgerechnet ihr Schwiegersohn Karl – zu langwierigen Diskussionen über die Abschaffung des Adels und darüber, dass man manchmal schon verstehen konnte, warum das Volk in Frankreich auf die Barrikaden gegangen sei. Wogegen sie sich strikt verwehrte, insbesondere aber Polyxene. Denn die französische Revolutionsarmee hatte schon einen Teil ihrer Güter, die links vom Rhein gelegen waren, ohne Rücksicht auf Verluste überrannt und geplündert.

Ohne also auf ihre Umgebung zu achten, klemmte die Scho'sch sich an Kümmelmann und drängte darauf, voranzukommen. Aber alles stockte. Es war heiß und stickig, und es roch nach Wachs, Ruß und teurem Parfüm aus Grasse. Die Standfackeln, die den Gang beleuchteten, hatten den Großteil der frischen Luft verbraucht. Am Ende des linken Flügels fiel schließlich eine Dame in Ohnmacht. Ein Saaldiener rannte zu ihr, ein anderer fächerte ihr Riechsalz zu, ein dritter beeilte sich, eine kühle Kompresse zu holen. Es half nichts. Sie wollte nicht wieder zu sich kommen.

Auch hier war Kümmelmann der Mann der Stunde. Mit einem geschickten Griff unter die Achseln gelang es ihm, die Dame wieder zum Leben zu erwecken. Als sie sich endlich erhoben, ihr Kleid gerichtet und sich mit allem Anstand bei dem hilfreichen Kammerherrn bedankt hatte, hatte sich der Flur schon ein wenig gelichtet. Dennoch war es an Kümmelmann, eine Gasse zu bahnen, durch die seine kleine Gesellschaft frei und unbehelligt von den anderen Theaterbesuchern voranschreiten konnte. Er war wie von einer Mission getrieben und steuerte energisch und zielsicher auf einen entgegenkommenden Tross zu, aus dem ein Mann um die Länge eines Kopfes herausragte.

Plötzlich stand man sich gegenüber.

»Gnädigste, gnädigste Gnädigste, meine allergnädigste Gnädigste, meine allergnädigste Gnädigste Maria Luise Albertine! Es ist mir eine Freude, cousinliche Cousine, Euch heute Abend hier zu treffen.«

Nachdem Friedrich Wilhelm II. die alte Prinzessin Scho'sch mit seiner eigentümlichen Art begrüßt hatte, bei der er seine Ehrerbietungen mit allerlei Vorsilben und Attributen zu steigern versuchte, die meist in einem umständlich gedrechselten Satzgebilde endeten, ließ er sich ihre beiden Enkelinnen präsentieren. Er ignorierte den Schrecken, der sich im Gesicht der Großmutter Scho'sch abzeichnete – die fürchtete, Luise könnte seine Aufmerksamkeit für ihre fürchterliche Mise en Scene nutzen –, und genoss mit dem Blick eines Mannes, der die Frauen kannte, wie Luise nach einem artig vollführten Hofknicks ihren biegsamen Körper zur seiner vollkommenen Schlankheit straffte.

Dann aber versenkte er seine Augen in den prachtvollen Formen der kleinen, scheuen und hübschen Friederike, wo sie lange und geistesabwesend verharrten.

Kapitel 3

Was für ein fürchterlich unangenehmer Mann, dachte die kleine Friederike, als sie dem König und seiner Entourage nachblickte, wie sie über die Treppe verschwanden. Sie drückte sich an Luise und schob sie ebenfalls in Richtung der Treppe. Sie fror, und das nicht nur, weil sie das Aufeinandertreffen mit dem Preußenkönig auf unbestimmte Weise verunsichert hatte, sondern, wesentlich profaner, weil das zarte Kleid, das sie trug, den Herausforderungen des frühen März nicht standhalten konnte und sie selbst in der stickigen Theaterluft jeden Hauch spürte, als ob er die Kälte Sibiriens mitbrächte.

»Wie konntest du das sagen?« Friederike sprach leise, aber ein hartes Zischen verlieh ihren Worten Bestimmtheit und Nachdruck.

»Was?« Zwischen Luises Augenbrauen bildete sich eine kleine Falte.

»Das mit Frankfurt! Und dass du keine Angst hast hier im Hauptquartier des Königs, wo ständig Soldaten zu sehen und zu hören sind!«

Das Blut kochte immer noch in Luises Adern. Sie ärgerte sich darüber, dass der König ihre Schwester so lange und intensiv angeschaut hatte, dass sie selbst dabei das Gefühl bekommen hatte, übersehen zu werden – und darüber, dass sie sich durch dieses Gefühl hatte zu ein paar unvorsichtigen Äußerungen verleiten lassen, die sogar sie, die nie verlegen war, ins Stottern gebracht hatten. Ihre schöne kleine Schwester! Warum flogen ihr immer alle Herzen zu? Warum war Friederike nie gezwungen, sich im besten Lichte zu präsentieren? Ach, wenn sie sie nicht so lieben würde, dann würde sie sie verfluchen. Ungeschickt versuchte Luise, ihre Unsicherheit zu verbergen:

»Ich weiß nicht. Es ist nur ... Ich ... Es kam mir in den Sinn. Ohne mein Zutun.«

Friederike aber insistierte: »Ja, aber ... Warum hast du ihm nicht erzählt, dass wir hier alle vor Angst beinahe gestorben wären? Diese marodierenden Soldaten, der Kanonendonner. Diese Bataillone mit ihren Gewehren. Man weiß ja gar nicht, ob man sicher ist. Und du tust tapfer und gibst Torheiten über Frankfurt zum Besten!«

Während sie auch im Flüsterton jedes Wort so deutlich betonte, als ob sie es gleich zu Papier bringen wollte, hallten durch die Fenster über der Treppe die knallenden Schritte eines Soldatentrupps, wie sie seit Beginn des Krieges in ganz Frankfurt zum täglichen Bild zählten. Sie sahen vor dem Festspielhaus nach dem Rechten und patrouillierten auf der Straße auf und ab.

Luise antwortete nicht. Nach einer Weile jedoch wurde Friederike ungeduldig. Diesmal wollte sie ihre Schwester um jeden Preis zur Rede stellen. Sie zögerte aber noch, weil sie hin- und hergerissen war zwischen der Wut, die die Koketterie ihrer Schwester bei ihr ausgelöst hatte, und dem Bewusstsein, dass man sie, die sie die Jüngste war, selten anhörte, auch wenn sie Wahres sprach. Als der Trupp draußen nach einem lauten »An-hal-ten!« zum Stehen kam und Luise sie immer noch behandelte, als ob sie Luft sei, fasste Friederike endlich allen Mut zusammen und insistierte:

»Soso, du hattest also keine Angst? Möchtest du die große Dame spielen? Sonst wirst du doch auch nicht müde zu erzählen, wie sehr du dich vor den Mainzer Kanonen gefürchtet hast. Und die Kanonen erst! Furchtbar! Man konnte sie so laut hören, als wären sie nicht in Mainz, sondern ganz in der Nähe. Ich hätte mich am liebsten unter dem Bett versteckt oder wäre geflohen.«

Friederike äffte Luises gehetzte Sprechweise nach und spielte, um ihrer Imitation Vollkommenheit zu verleihen, genauso vermeintlich unschuldig an ihrem Haarband, wie Luise das – besonders in Gegenwart von Männern – neuerdings zu tun pflegte. Dann setzte sie zum finalen Stoß an:

»Manchmal frage ich mich, ob Babuscha nicht recht tut, wenn sie dir ein wenig mehr Strenge zukommen lässt. Du hast es nicht anders verdient.«

»Papperlapapp!« Luise wischte mit einer flinken Armbewegung alle Einwände weg und drückte den Arm ihrer Schwester fester an sich. »Natürlich habe ich Angst. Aber warum sollte ich das erzählen? Ach, und warum sich nicht ein wenig ungezwungen geben? Das stimmt die Menschen heiter. Man muss doch nicht vor jedermann seine wahren Empfindungen ausbreiten. Wo bleibt denn dann das Geheimnis, nicht wahr? Sieh mal: Männer brauchen Geheimnisse, das sehen sie als Herausforderung an. Und wenn man es genau nimmt, ist der König nichts weiter als ein Mann. Sogar ein sehr alter Mann ...«

»Sei nicht so despektierlich! Das steht dir nicht gut.«

Nach außen gab Friederike die Pikierte, aber insgeheim bewunderte sie Luise, weil sie wieder einmal den Mut aufgebracht hatte auszusprechen, was sie selbst noch nicht einmal zu denken sich getraut hatte. Denn sie fand, dass Luise gar nicht so unrecht hatte, was den König betraf. Er war tatsächlich ein alter Mann, genau genommen, ein alter Mann mit der Perücke eines jungen Stutzers – und die Vorstellung, dass auch er nur ein Mensch war wie jeder andere, nahm ihr die Angst vor ihm.

Als sie leise kicherte, fühlte sich Luise, die die Reaktion ihrer Schwester abgewartet hatte wie ein Forscher die Reflexe eines Insekts, endlich auf sicherem Terrain:

»Despektierlich, pah! Er ist ein alter Mann, der nach jungen Frauen schaut! Und wie er sich ausdrückt! Hast du darauf geachtet? Es ist unglaublich! Liebste Cousine, allerteuerste, durchlauchtigste Durchlaucht, erlauchtigste Teuerste! Teuerste Maria! Ich kam mir vor wie in der Komödie.« Geschickt ahmte sie den gluckernden Tonfall seiner Stimme nach und beugte sich vor, als spräche sie zu Zwergen. »Und hast du nicht gesehen, wie er uns gemustert hat? Wie Soldaten beim Appell. Sind die Haare korrekt? Aaaah. Die Haltung gut? Ooooh. Sitzt das Kleid? Hmmm. U-und ...«, sie dehnte das Wort bis ins Unendliche, um die Spannung zu steigern, und formte dabei ihren Körper nach, »... sitzt der Busen an der richtigen Stelle ...?«

Friederike lachte aus vollem Hals. »Luise! Halt ein! Hör auf damit! Das ist zu viel. Du bist ja ganz toll!«

»Nein, nein, er hat uns gemustert, als ob er uns gleich auffressen wollte. Wie ein hungriges Tier. Das war doch nicht zu übersehen. Oder hast du das etwa übersehen? Ich glaube nämlich, er hatte es auf uns abgesehen. Derzeit buhlt er um die kleine Bethmann-Tochter. Sie ist nur ein paar Jahre älter als wir, aber für ihn darf es bestimmt auch noch jünger sein. Man hört viel über den preußischen Hof.«

Mit diesen Worten war Luise nicht mehr zu bremsen. Die Bilder, die sie nun heraufbeschwor, waren voller Ausschweifungen und Zügellosigkeit. Sie schilderte, wie die Damen in Berlin, die mit den großen Hüten, direkt gegenüber vom Schloss den Herren ihr Geleit anboten, indem sie einfach fragten: »So allein?«, und wiegte sich in den Hüften, um zu demonstrieren, dass sie sehr wohl Bescheid wusste über solche Dinge. Sie berichtete von den Festen des dicken Friedrich Wilhelm, als ob sie selbst immerzu Gast bei diesen wäre, und fügte hinzu, dass sie – aus vertrauter Quelle natürlich – wüsste, dass er, der König, nicht nur seine Mätresse, die Ritze, sondern auch noch mehrere weitere Damen hätte, die allein für sein Plaisir zuständig waren – und dass einige von ihnen, man stelle sich das einmal vor, aus der ›Roten Laterne‹ zu ihm ins Neue Palais bestellt würden – und das mitten in der Nacht. Ihr Atem jagte ihren Fantasien hinterher, als ob sie sich sofort verflüchtigen würden, wenn sie ihnen nicht unmittelbar Gestalt gäbe.