Ma - Aya Cissoko - E-Book

Ma E-Book

Aya Cissoko

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Beschreibung

Ma ist die berührende Geschichte von Mutter und Tochter, die, hin- und hergerissen zwischen Tradition und Modernität, Afrika und Europa, nach dem Eigenen suchen. Die Mutter, Massiré Dansira, kam im Alter von 15 Jahren aus Mali nach Frankreich. Nach dem Tod ihres Mannes kämpft sie als Alleinerziehende mit den Widrigkeiten des Lebens und vor allem der von Männern beherrschten Welt ihrer Stammesherkunft. Sie will aus ihren Kindern anständige und aufrechte Menschen machen: auf Bambara »danbé": Kampfgeist, Würde, Charakterstärke, Respekt vor Traditionen. Die Tochter lebt im ständigen Kampf mit ihrer Mutter. Sie wächst in Paris als modernes Mädchen auf und muss den Widerspruch zwischen den traditionellen Werten und Anforderungen ihrer familiären Herkunft und denen der französischen Gesellschaft bewältigen. Aus ihrem Kampf macht sie eine Profession: sie wird eine erfolgreiche Boxerin. Der Roman vermittelt einen Einblick in das Schicksal von Migranten aus Afrika, zeigt die alltäglichen Vorurteile und rassistischen Überheblichkeiten, mit denen sie konfrontiert sind.

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Titel der Originalausgabe: N’BA. Ma mère

© Editions Calmann-Lévy, 2016

© 2017 Verlag Das Wunderhorn GmbH

Rohrbacherstrasse 18, D-69115 Heidelberg

www.wunderhorn.de

Titelabbildung: © Aya Cissoko

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-88423-573-7

Aya Cissoko

Ma

Aus dem Französischen von Beate Thill

Unserer Mutter, Massiré DansiraFoyi te ba boDie Mutter ist das allerwichtigste

Für Korokeund für JFC, unsere Tochter

»Du setzt ein Kind in die Welt, was ein Malheur.

Du hast kein Kind, was ein Malheur.«

Massiré DANSIRA

Inhalt

Woloba saya

Der Tod meiner Mutter

A y’aw cε siri ka kε mɔgɔye!

Werdet anständige Menschen!

I da minε

Halt die Klappe!

A tereke ka µε!

Du musst reiben!

Furu ye muµu

Die Ehe, keine leichte Sache

Wari gεlεya

Zu wenig Geld

Faransi

Frankreich

Denmisenya

Die Kindheit

N tε tubabu ti!

Ich bin doch keine Weiße!

Bεε n’i haminanko

Jeder hat eigene Sorgen

Tasuma

Das Feuer

Sotigi

Der Patriarch

Maakɔrɔbaw

Der Ältestenrat

Bon kura

Das neue Zuhause

Tɔgɔtiε

Üble Nachrede

Nεni

Der Schmerz

Ma dɔgɔke

Mas kleiner Bruder

A farafin dege

Lernen auf afrikanische Art

Faransi lεkɔli

Die französische Schule

Bolokurunkεlε

Boxen

Belebele

Die Kupplerin

Filelikela

Der Wahrsager

Kunkow

Die Schwierigkeiten

Teriya!

Die Freundschaft!

Sεgεn

Die Müdigkeit

Jamanjan

Die große Frau

Mɔgɔkana n dɔgɔya!

Keiner soll mich beleidigen!

Fato

Der Verrückte

Denmuso juguw

Schlechte Mädchen

Janfa

Der Verrat

Foyi te balimaya bɔ

Die Familie ist das allerwichtigste

Musu jigi be den le ti!

Eine Frau braucht ein Kind!

Es ist dem menschlichen Wesen eigen, denjenigen zu hassen, den man verletzt hat

Foyi tε ba bɔ!

Die Mutter ist das Allerwichtigste

Woloba saya

Der Tod meiner Mutter

Meine Mutter ist tot. Heute wird sie auf dem Pariser Friedhof von Thiais begraben. Sehr viele Leute sind zum Begräbnis einer Frau gekommen, die sich oft über ihre Einsamkeit beklagt hat: »Zu wem, meinst du, soll ich gehn? N kelen de bε n ka so kɔnɔ, n ni n ka tele dɔrɔn. Ich sitz zu Hause mit meinem Fernseher.« Zwei Touristenbusse wurden für diesen Anlass gemietet. Sie sind fast ausschließlich mit den Männern der Familie gefüllt, denn sie spielen die Hauptrolle. Ein Begräbnis ist keine Weibersache.

Die Männer stolzieren wie auf einer Parade, geordnet und diszipliniert, obwohl sie in ihren bunt gemixten Kleidungsstücken nicht unterschiedlicher sein könnten. Die meisten kenne ich nicht, aber sie stammen wie Ma aus dem Dorf Kakoro Mountan in Mali und dies genügt, dass sie als Verwandte gelten. Unter den wenigen vertrauten Gesichtern sind auch einige ihrer früheren Feinde. In dem Trauerzug verhalten sie sich unauffällig, gehen langsam, mit ernster, betretener Miene. Ma hat ihren aufrechten Gang teuer bezahlt. Sie pflegte uns von den vielen Gemeinheiten zu erzählen, unter denen sie leiden musste, denn es war niemand außer uns Kindern greifbar und wir waren gezwungen, ihr zuzuhören. Um sich selbst zu trösten und ihren Durchhaltewillen zu stärken, sagte sie immer: »Nafa te tinεfɔ la bilen. Nka saya tε jɔn to. An bεε bε don makɔnɔ de la. Anstand zählt nicht mehr. Aber der Tod verweigert sich keinem. Jeder kommt dran.« … und dann wird er sich für seine Taten verantworten müssen.

Ma starb schon vor drei Tagen. Kaum war ihr Tod bekanntgegeben, strömte diese weitläufige Verwandtschaft in unsere Wohnung und machte es sich dort bequem. Sie nahmen alle vier Zimmer in Beschlag, außer dem, wo die Tote lag. Damit nichts von ihren Sachen gestohlen wurde, blieb die Tür zu diesem Raum die ganze Zeit abgeschlossen. Die Erwachsenen, Männer und Frauen reifen Alters, kümmerten sich um solche Dinge. »Faransi jigɔ de b’an denw na yan. U tε foyi dɔn an ka laadaw la! Unsere Kinder sind wie Franzosen. Sie haben keine Ahnung von unserer Tradition!«

Die Männer blieben streng von den Frauen getrennt. Für sie wurde eigens ein Zimmer ausgeräumt. Darin blieb nichts übrig außer einem Sofa, ein paar orangefarbenen Stühlen und einigen von der Nachbarin aus dem zweiten Stock geborgten Teppichen. Die Jüngeren standen zumeist mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Dennoch war nicht genug Platz und manche mussten sich im Flur aufhalten. Die Frauen hingegen waren in die Küche und ins Wohnzimmer verbannt. Wir Kinder der Toten flüchteten uns in das letzte verbliebene Zimmer, mit anderen inzwischen erwachsenen Kindern, die wie wir in Frankreich geboren sind.

Die Rollen waren klar verteilt, das ging ohne Absprache. Das Zeremoniell ist seit Urzeiten immer das gleiche. Es wird von den Männern organisiert und sie entscheiden über den Gang der Ereignisse. Sie zogen bei ihren Beratungen manchmal meinen älteren Bruder hinzu, der schon länger erwachsen ist, nämlich seit er wie sie alle das Ritual durchlaufen hat, mit dem man am Ende der Pubertät zum Mann wird. Es heißt kulusita. Meine Mutter hatte unbedingt darauf bestanden, dass es bei uns gefeiert wurde, ihr Sohn war schließlich nicht weniger wert als die gleichaltrigen Jungs, auch wenn er keinen Vater mehr hatte.

Die Frauen putzten und kümmerten sich um das Essen. Mir blieb nur die Rolle der Beobachterin. Schweigend schaute ich zu, wie sie alles erledigten. »I da minε! Muso da man kan ka don nin kuma in na. Sei still, Frauen haben in diesen Dingen nicht mitzureden.«

Dabei hat Ma vielen der Männer in dieser Trauergemeinde geholfen, dem einen mit ein wenig Geld, dem anderen, dass er nicht draußen schlafen musste, wieder einem anderen, dass er seine Papiere bekam. Keiner hat je ihre Hilfe abgelehnt, nur weil sie eine Frau war. Ma hat unablässig die Familienbande gepriesen: Balimaya. Trotz der Undankbarkeit ihrer Angehörigen, der Verleumdungen. »N ye seko bεε kεn somɔgɔw ye, nka u m’a dɔn n ye. Ala b’a dɔn. N ye n tat o Ala ma. Ich habe immerzu die Familie verteidigt. Keiner hat sich bedankt. Aber Gott weiß, wie er es vergilt. Ich halte mich deshalb an ihn.«

»Bεlεkilitigiya kɔrɔ tε cεya ye. I ye tεmε sira. Eine Beule zwischen den Schenkeln macht aus dir noch keinen Mann. Welchen Weg du nimmst, nur das zählt.« Am Morgen der Beerdigung hatte ich eine Auseinandersetzung mit Kurze Beine. Sein Gedächtnis ist genau so kurz wie seine unteren Gliedmaßen. Kurze Beine legt sehr großen Wert auf eine Tradition, die vor allem ihm nützt. Er tut sich ungeheuer wichtig bei seinen Geschlechtsgenossen, die von den beiden Touristenbussen zunächst vor dem Krankenhaus abgesetzt wurden, wo die Leiche aufgebahrt werden soll. Er spricht und schreibt ein besseres Französisch als sie, und außerdem haben sie es hier mit Weißen zu tun. Kurze Beine will mich daran hindern, Mas Leichnam selbst zu waschen. Er hat dazu zwei fremde Frauen aus einer Pariser Moschee bestellt, und zwar früher als am Vorabend vereinbart. Aber ich bin ebenfalls eher gekommen, als wir abgesprochen hatten. Kurze Beine gerät bei seiner Verteidigung ins Stottern:

»Es ist für alle das gleiche.«

»Wovon redest du?«

»Alle Leute aus dem Dorf haben für das gleiche Geld gesammelt, wir machen keine Unterschiede.«

»Aber alle sind nicht meine Mutter.«

Er müsste es am besten wissen, wir haben unter demselben Dach gelebt, lange Jahre. Er hatte bei mir mehrere Spitznamen: zuerst Bilakoro*, später Herr vom Busch. Aber jetzt ist nicht der richtige Moment, um mit ihm abzurechnen. Ich habe mich erkundigt: »Ba su ye denmuso de ta ye. Die Leiche einer Frau gehört den Frauen.« Und an erster Stelle ihrer Tochter. Nichts und niemand wird mich davon abhalten. Mit einem wütenden Blick und erhobenem Finger will ich ihn zum Schweigen bringen: »I sen b’a la. Nin tε cεka baara ye, muso baara do. Sei still! Das ist nicht deine Angelegenheit.« Kurze Beine steckt nicht zurück, wieder einmal lässt das sein Stolz nicht zu. Aber ich werde keine Zeit mit ihm vergeuden. Das muss ihm klargemacht werden. Genau im richtigen Moment unterbricht uns ein Pfleger, um uns mitzuteilen, dass die Leiche freigegeben ist. Mir kann Kurze Beine widersprechen, aber einem Weißen wird er sich nicht widersetzen:

»Welcher Name steht als engster Angehöriger in den Papieren der Verstorbenen?«

»Ich habe …«

»Sie brauchen nicht zu suchen, das bin ich. Von jetzt ab reden Sie nur mit mir.«

In einem winzigen Zimmer des Krankenhauses gehe ich mit großer Umsicht gemeinsam mit anderen Frauen aus der Verwandtschaft daran, Ma zu waschen. Eine gibt die Anweisungen, sie ist die Älteste und hat die größte Erfahrung: »Füllt die Eimer mit Wasser. Nehmt den Schwamm! Das üble Wasser darf nicht bis zum Kopf hochsteigen. Beeilt euch! Bringt mir saubere Handtücher! Den Stoff! Wo ist die Schere? Den Weihrauch! Das Parfüm!« Sie sagt, ich soll nicht weinen, ich halte die Tränen zurück. Wir müssen vor allem beten, nicht aufhören zu beten, solange die Totenwaschung dauert. Ich kenne die Gebete nicht, aber das hat mich noch nie davon abgehalten, mit Gott zu sprechen. Ma sagte immer zu mir: »Min ka gεlεn o y’i k’i kɔnɔ jeya i mɔgɔ µɔgɔnw ye! Das Wichtigste ist, dass du dich bemühst, zu den Deinen anständig zu sein.«

Ich wasche Ma bereits zum zweiten Mal. Ich hatte sie schon an dem Morgen gewaschen, als sie starb, zusammen mit einer Krankenschwester meines Alters, sie war schwarz und Muslimin wie ich, eine Senegalesin. Da sie gerade aus dem Urlaub kam, hatte ich sie auf der Station noch nie gesehen. Die Schwester schloss die Tür des Krankenzimmers hinter uns und erklärte, wie wir vorgehen mussten. Auch sie sagte, ich solle aufhören zu weinen. »An, An. Du musst ihren Geist in Frieden gehen lassen.« Sie hatte jüngst ihre eigene Mutter verloren und fand Worte, die mir wohltaten, wenn auch nur für kurze Zeit. Schon lange wende ich mich nicht mehr an Männer, um Trost zu finden. Nur das friedliche Gesicht von Ma konnte mir in diesem Moment helfen. Ma sah nicht aus wie eine Tote.

Im Leichenschauhaus erweisen die Männer und die Frauen meiner Mutter eine erste Ehrung. Sie ziehen nacheinander an ihr vorbei, zuerst die Männer, dann die Frauen. Sie umkreisen den Sarg einmal, bevor sie hinausgehen. Die Lade ist weit geöffnet. Ma liegt darin, in ein weißes Leichentuch aus Baumwolle gewickelt, das nur das Oval ihres Gesichts und die über der Brust gefalteten Hände frei lässt. Nur einige wenige Bemerkungen brechen das Schweigen: »A b’i k’a bε sunɔgɔ de la … A fari jεra … A b’i n’a fɔ a seginna denmisεninya la. … als würde sie schlafen. … ihre Haut ist so hell. … sie sieht jünger aus.«

Nach der Tradition müssen alle den Verstorbenen anschauen, um zu beweisen, dass sie mit seinem Tod nichts zu tun haben. Falls es Schuldige gibt, werden sie noch im gleichen Jahr sterben. »Su t’u to! Der Geist der Toten wird sie nicht ruhen lassen!« Unter den Versammelten sind nur wenige Frauen. »A fɔra ko musow bε siran su µe. Offenbar fürchten sie sich vor dem Anblick der Leiche.« Einige Männer nehmen schon hier von ihr Abschied. Sie werden nicht zur Beerdigung kommen, da sie ihre Arbeit nicht im Stich lassen können. »Der Chef hat mir nicht freigegeben.«

Auf der Fahrt vom Krankenhaus zum Friedhof sitze ich im Leichenwagen. Aber das dürfte nicht sein, das ist der Platz des Sohnes! Kurze Beine hat wieder versucht, es zu verhindern. Man hat ihm gut zureden müssen. »Der Bruder kann doch bei seinen Freunden mitfahren, sie haben ein Auto.« Ich streichle den Sarg vorsichtig mit den Fingerspitzen. Ma ist auch meine Mutter, obwohl diese Männer das ständig bestreiten.

Der Sarg wird am Eingang zu Block 101 abgestellt. Die Männer haben betend einen Ring darum gebildet. Wir Frauen warten in einigem Abstand, fünf Meter hinter der letzten Reihe der Männer. Wir sollten eigentlich bei ihnen stehen dürfen, schließlich ist dies ein nicht-muslimisches Land. Aber wie Ma immer sagte: »Dinε tε tilekelenbaara ye. Die Welt wurde nicht an einem Tag erschaffen.«

Ein Teil der Männer hält die rechte Hand über der linken vor der Brust verschränkt, andere etwas unterhalb der Brust, nur wenige wenden die offenen Handflächen zum Himmel. Ihre Köpfe drehen sich im Rhythmus nach rechts und links, wenn zwischen den vier Anrufungen gewechselt wird, aus denen sich das Totengebet zusammensetzt. Wer ist der Mann, der mit lauter Stimme den Koran rezitiert und den anderen vorsingt? Ich weiß es nicht, ich sehe vor mir nur Männerrücken. Wieder bekommt nur der Sohn eine Sonderstellung, als der Sarg von einigen Männern zur Grube getragen wird. Mein Bruder fasst ihn am Kopfende und geht mit den anderen rasch bis zu der Grube. Sie beten noch einmal, bevor sie den Sarg hineinsenken. Jeder nimmt dann eine Handvoll Erde und wirft sie auf die Kiste. Wie es sich gehört, baraji ba la. Gott wird sie dafür belohnen.

Wieder müssen wir Frauen warten, bis sie fertig sind. Eine Demütigung! Ich muss mich immer wieder zusammenreißen, seit der Tod von Ma eine Angelegenheit des ganzen Clans geworden ist, vor allem der Männer, angefangen beim Ältesten! Er gibt die Anweisungen. Männer und Frauen bilden eine hierarchische Gruppe, jeder hat einen festgelegten Rang. Stillschweigen, Würde bewahren, auch wenn sie mir den Abschied von meiner Mutter wegnehmen. Ma hatte mich auf dem Sterbebett schon darauf vorbereitet: »I muµu. Nin bεε bε ban. A to Ala ma. Halt durch. Alles hat ein Ende. Es liegt in Gottes Hand.«

Während die Männer den Block verlassen, bilde ich mit den anderen Frauen, ohne es zu wollen, die Ehrengarde für ihren Zug. Jetzt dürfen wir endlich ans Grab. Aber die Grube ist schon verschlossen. Inzwischen habe ich keine Kraft mehr, wütend zu werden. »Ala ka Ma lay ɔrɔ sumaya. Möge sie endlich Frieden finden!« Ich werde angewiesen, mich zu beeilen, falls ich Ma am Grab etwas sagen möchte. Die Männer haben Besseres zu tun, als auf die Weiber zu warten! Einer sagt, ich soll aufhören zu weinen: »Du siehst hier um dich herum nur Tote. Auch wenn wir heute viele sind, es kommt irgendwann auf uns alle zu. Beeil dich, wir müssen weg von hier!«

Es ist wichtiger, mir für einen Besuch bei Ma Zeit zu nehmen, wenn sich meine innere Unruhe gelegt haben wird. Ich gehe am folgenden Sonntag wieder auf den Friedhof. Es ist ein angenehmer Ort, sobald man durch das imposante Tor im Art-Deco-Stil gekommen ist, hat man das nahegelegene Einkaufszentrum vergessen. Dieser Gottesacker ist der zweitgrößte von Paris, nach dem von Pantin, es liegen hier Tote aller Konfessionen nebeneinander, jede in ihrem eigenen, durch breite Wege getrennten Block. Es sind auch Arme unter ihnen und Leute, die ihre Leiche der Wissenschaft vermacht haben. Ein lichtdurchfluteter Ort mit viel Grün. Nicht überladen, das hält den Kopf frei, ich werde ruhig. Mir fällt nichts ein, was ich Ma sagen könnte. Mir fehlen ihre Widerworte. »An an. Das kann doch nicht wahr sein!« Ich vermag nicht zu glauben, dass sie tot ist. »Ich bringe es einfach nicht fertig!«

Alles hätte noch schlimmer kommen können, wenn Ma für ihren Todesfall nicht vorgesorgt hätte. Sie hatte sich an ihren langjährigen Verbündeten Gangarana Issa gewandt mit der Frage, wo ihre Leiche nach ihrem Tod ruhen sollte. Mali oder Frankreich? Ganze Familien zerstreiten sich darüber, denn auch hier ist die Hierarchie des Clans zu beachten. Das Individuum gehört zuerst dem Clan, bevor es seinen Eltern oder Geschwistern gehört … Und der Oberste des Clans entscheidet. Gangarana Issa hatte versucht, Ma zu beruhigen, als sie auf das Thema zu sprechen kam:

»Aber du musst doch nicht sterben.«

»Man weiß nie. Frag die Kinder und mach’, was sie sagen.«

Gangarana Issa hat Wort gehalten. Als es so weit war, fragte er Koroke und mich in einem Flur des Krankenhauses:

»Bevor ich den Vätern im Dorf Bescheid gebe, müsst ihr mir sagen, wo die Leiche eurer Mutter begraben werden soll.«

»In Frankreich!«

»Wenn einer fragt, sagt ihr nur das. Ab jetzt ist das Problem für euch geregelt.«

Ich ließ Ma in ein anderes Krankenhaus verlegen, um sie den Blicken von Kurze Beine und Konsorten zu entziehen. Es war unerträglich für mich, Ma zu besuchen und an ihrem Bett diese Aasgeier zu treffen. Sie hielten sich immer in der Nähe auf, um hinterher sagen zu können: »Wir haben unsere Mutter bis ans Ende begleitet.« Der äußere Anschein zählt für sie mehr als die Wahrheit.

Das neue Zimmer von Ma war im vierten Stock eines kleinen Krankenhauses im 14. Bezirk. Es sollte ebenfalls in Kürze vom Erdboden verschwinden. Schließlich muss gespart werden. Ich bat das Pflegepersonal, keinem zu sagen, wo sie lag, denn die Geier lassen ihre Beute nicht los. Jeder Mann, jede Frau hat das Recht, in Würde zu sterben. »A ye hεrε k’an kan! Lasst uns in Ruhe!«

Wie konnten wir das wagen? Man kann eine Frau doch nicht aus ihrem Clan verbannen, nur um ihr beizustehen, wenn sie im Sterben liegt! Aber, wie ein Bamanan-Sprichwort* sagt: »Sinnlos, einem Sterbenden den Duft eines gebratenen Fischs unter die Nase zu halten, wenn er ihn nicht essen kann. »Maloya tε mɔgɔ faga bilen.« Die Schande bringt heute keinen mehr um.

Mit Mas Zustand ging es schnell bergab. Sie fügte sich ins Unabwendbare. Sie hatte nicht mehr die Kraft für den Kampf gegen einen Gegner, dessen Angriffe sie früher häufig abgewehrt und zurückgeschlagen hatte. Es war besser so! Ma sollte von uns gehen, wie es sich für sie gehörte. Ein langsames Dahinsiechen wäre für eine Frau ihres Schlags unvorstellbar gewesen.

Drei Wochen vor ihrem Tod bestellte mich der Chirurg ein:

»Der Eingriff bei ihrer Mutter war nicht erfolgreich. Können Sie möglichst schnell ins Krankenhaus kommen? Ich muss mit Ihnen sprechen, aber nicht am Telefon.«

Zuerst dachte ich, sie sei schon gestorben. Aber bestimmt gehörte es sich nicht, am Telefon einen Todesfall mitzuteilen. Das Gespräch war kurz.

»Wie lange hat sie noch zu leben?«

»Ein paar Wochen, drei Monate, allerhöchstens ein halbes Jahr. Ich weiß es nicht. Möchten Sie es ihr selbst mitteilen? Sonst kann ich das übernehmen, wenn es Ihnen lieber ist.«

»Ich werde es ihr sagen, aber wenn Sie bitte dabei sein könnten.«

Man ist nie darauf gefasst, seiner Mutter zu eröffnen, dass sie sterben muss. Von dem Moment an, als ich es erfuhr, suchte ich nach der richtigen Form. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass sie es wissen musste. Wir brauchen eine Zeit, gewisse Dinge zu besprechen, bevor es zu spät ist. Am Ende wählte ich den Ton, der immer zwischen uns geherrscht hatte. Brutal direkt. Obwohl mir das Herz blutete.

»Sie haben es versucht, es ist nichts mehr zu machen.«

»Muss ich sterben?«

»Ja.«

*Bilakoro: kleiner Junge, der noch nicht beschnitten ist. Anm. d. A.

*Bamanan: Bambara-Ethnie, der die Mutter der Autorin angehört. Malischer Dialekt, den beide sprechen. Anm. d. A.

A y’aw cε siri ka kε mɔgɔ ye!

Werdet anständige Menschen!

Lange Zeit hat Ma mir vorgeworfen, dass ich nicht so war wie sie. Zuerst tat sie alles dafür, dass ich ihr ähnlich würde, aber dann überlegte sie es sich anders: »Besser du wirst nich so! Nich gesund, keine Familie.« So ist das Leben, sagte sie mit einem Achselzucken. »N sεgεnnen don, a y’aw labεn. Haltet euch bereit, mit mir is vorbei.«

Mas Leben bestand nur aus einer Folge von Schicksalsschlägen. Ein Unglück jagte das nächste. Dazwischen lagen mehr oder weniger lange Erholungspausen, damit es irgendwie erträglich war. Aber das nahm kein Ende. Mehr als einmal entfuhr mir der Seufzer: »Scheiße, Mama hat echt kein Glück!«

Ma belästigte uns die ganze Zeit mit ihren Ansprüchen, sie wollte, dass wir uns benehmen wie in Mali. Als wäre dort alles besser. Sie regte sich auf und wir regten uns ebenfalls auf. Und jedesmal überschüttete sie uns mit Beschimpfungen, wie das bei Schwarzen üblich ist: »N bε n sen fil’i ju rɔ, µanɔgɔden in! Ich werf dir meinen Fuß in den Hintern, Dreckskind! Die Kinder hier ham vor nix Respekt. Nichtsnutze, alle! …«

»Du musst nicht immer schreien, wenn du redest.«

»Halt die Klappe! Ich red so. Is mein Haus. Min ka di n ye, n b’o de fɔ. Kann sprech wie ich will. Wenns dir nich pass, da die Tür! Was glaubs du, wen du hier kommandiers? Niemand! Eine Schande, mir widersprech’n!«

Und ihre Vorwürfe schloss sie jedesmal mit einem »Tchiiippp!«, das einem den Zahn ziehen konnte. Dieses Geräusch mit dem Mund zeigte mir ihren Ärger, ihre Überlegenheit, und dass sie große Lust hatte, mich zu verprügeln.

Ma duldet keinen Widerspruch, aber noch weniger duldet sie Auflehnung, die Autorität eines Erwachsenen steht für sie nicht zur Diskussion. Ungehorsam bedeutet, sich mit ihr anlegen zu wollen: »Bo dala! Hau ab! Du da, was weiß du? Gar nix!« Wenn Ma in Fahrt ist, überträgt sich ihre Wut auf ihren Körper. Er wird taub. Sie bekommt schnell hohen Blutdruck: »Kana n dusu bɔ! Soll mich nich aufreg! Ein Punkt, zwei Punkt.« Sie sagt immer »ein Punkt, zwei Punkt« anstatt: »Punkt. Aus. Schluss.«

Es ist besser, man schweigt, um sie nicht noch mehr aufzubringen. Das gilt für alle. Pech gehabt, wenn du für ihre Missstimmung gar nicht verantwortlich bist: »Is mich scheiß egal!«

Ich versuche ihr Französisch manchmal zu verbessern, auch wenn ich Strafe riskiere:

»Wenn du zu einem Weißen ›mir scheiß egal‹ sagst, könnte er das übel nehmen.«

»Is mich scheiß egal, mich haben keine Weißen in die Welt gesetz!«

Man kommt bei ihr nicht weiter, wenn sie etwas entschieden hat. Ma hat kein Interesse daran, sich zu ändern, und noch weniger, dass einer ihr sagt, wo es langgeht. »N bε sa tan. Ich werd so sterb.« Sie macht ab jetzt, was ihr passt. Sie ist niemandem Rechenschaft schuldig außer Gott. »A bε n ni Ala cε! Das bleibt zwischen ihm und mir.«

Tag für Tag, unermüdlich, versuchte Ma mit Hingabe und Methode, aus mir ein ordentliches Mädchen zu machen: »Ein Kind muss früh lern’. N’a kɔrɔbayara, o ye kow taalen ye ka dan kε! Wenn’s größer is, geht’s nich zurück, zu spät!« Dass sie sich mit mir besondere Mühe gab, hatte zur Folge, dass unser Verhältnis früh und auf Dauer schwierig wurde.

Bei unserem allerersten Zusammenstoß war ich fünf Jahre alt, vielleicht auch erst vier. Ma verlangt plötzlich, dass ich aufhören soll, am Daumen zu lutschen. Kein Mann will eine Frau mit einem unregelmäßigen Gebiss. »Die Zähne müss’n weiß sein und schön in Reihe stehn.«

Zu Anfang versucht Ma mit Strenge ihr Ziel zu erreichen: »Nimm das da aus dem Mund!« Da Worte nicht genügen, werden sie mit einem festen Klaps auf den Kopf oder den Rücken unterstrichen, ausgeführt mit der flachen Hand oder der Innenseite der geballten Faust. Dies hat aber nicht den gewünschten anhaltenden Erfolg, und um die Sache ein für alle Mal zu erledigen, bestreicht Ma den schuldigen Finger mit Peperonipaste. Die Folgen zeigen sich sofort: Feuer im ganzen Mund. Ich verschlimmere noch mein Unglück, indem ich mir das Gesicht mit den Händen reibe. Ich brülle, fuchtele mit den Armen und hüpfe von einem Bein auf das andere wie ein wildgewordenes Huhn. Unter dem Gelächter meines Bruders Koroke.

Unsere Streitlust bringt meinen Bruder irgendwann dazu, sich nicht mehr einzumischen, wenn wir zanken. »Interessiert mich nicht!« Er versteht nicht, warum wir so viel Zeit mit diesem Zwist verschwenden. »Ihr seid alle beide verrückt. Glaubst du echt, dass ich so krank bin, bei eurem Zirkus mitzumachen?«

Um nicht auf eine Seite gezogen zu werden, sagt er nichts, stellt nur den Fernseher lauter. Aber nachdem Ma endlich gegangen ist, wird er gesprächig: »Bist du blöd oder was? Wenn sie anfängt zu reden, machs wie ich, halt die Klappe. Warum antwortest du ihr überhaupt? Du redest zu gern, das ist alles. Das Reden ist eine Spezialität von euch Tussen. Ihr tuts zu gern! Aber nächstes Mal geht raus, wenn ihr euch anschnauzen wollt.«

Wenn wieder Ruhe einkehrt, nutzt Ma sie jedes Mal, um mich daran zu erinnern, wo ich herkomme. »N de y’i kɔnɔ ta, k’i wolo! Du kommst aus meinem Bauch. Ich hab dich in die Welt gesetzt.« Ma redet viel häufiger mit mir als mit meinem Bruder, weil ich mich gegen sie stelle. Und weil schlechtes Betragen bei Mädchen schlimmer ist: »Kana fil’i yεrε ma! Vergiss nie was du bist!«

Ich bin ihr etwas schuldig, weil sie mir das Leben geschenkt hat! Unmöglich, diese Schuld jemals auszugleichen. Das wäre nur mit einem lückenlosen Gehorsam möglich. »Zu Befehl, Kommandant!«

Und da ich ein Bamanan-Kind bin, weigert sich Ma, in einer anderen Sprache mit mir zu reden als in Bambara. Nicht schlimm! Französisch genau so gut zu sprechen wie Bambara, erfordert von mir lange Zeit keine besondere Anstrengung, Bambara zu Hause, Französisch draußen. Aber es gibt noch einen weiteren Grund für Ma, mit uns in ihrer Sprache zu sprechen: damit steht und fällt ihre Glaubwürdigkeit. Ein Befehl muss klar und deutlich sein, ihr Französisch reicht dazu nicht aus. Ein Schmunzeln oder, schlimmer noch, Gelächter, richten bei ihr nichts aus. »Boda bilen, a ye n bonya! Rote Arschlöcher, ich verlang Respekt von euch!«

Mit den Erzählungen aus ihrer Kindheit bringt mir Ma alles über meine Herkunft bei und lehrt mich außerdem ihre Sprache. Ich unterbreche sie manchmal, um noch mehr zu erfahren, immer in Bambara: »Leben deine Eltern noch? Wie sieht das Dorf aus? Warum warst du nicht in der Schule? Wer ist Soundiate Keita?« Aber mit der Zeit verwende ich immer mehr französische Wörter. Das beunruhigt Ma: »Bamanankan bo’i kɔnɔ!? Du kanns nich mehr, was?« Sie hat Angst, dass ich über das Leben hier vergesse, wo ich herstamme: »Bamanan de y’i ye, i kana µin’o k ɔ Du bist eine Bambara, das darfst du nie vergessen.«

Aber was Ma sagt, ist nicht ganz richtig. Von meinem Vater her bin ich eine Cissoko. Und die Cissoko, genau wie die Keita, Doumbia, Kouaté oder Kamissoko, sind Malinke, gläubige Muslime. Vor sehr langer Zeit haben sich die Vorfahren von Baba im Tal des Niger angesiedelt. Dort trafen sie auf die ursprünglichen Einwohner, die Bambara, sie waren Animisten, Fetischisten, Ungläubige. Die Bambara heißen Coulibaly, Diarra oder auch Traoré. Malinke und Bambara bilden zusammen die Mandinka.

Massiré Dansira, also Ma, wurde etwa 1955 in Mountan geboren, im Bezirk Séféto, der Gemeinde Kita. Ihr Vater war N’Pé Dansira, Landwirt, er wurde etwa 1929 in Mountan geboren, als Sohn von Bakou Dansira und Toukouné Damba. Ihre Mutter war Hatouma Coulibaly, Hausfrau, geboren etwa 1930 in Sagoura Mountan, als Tochter von Sangara Coulibaly und Awa Fafana.*

Mas Kindheit war arbeitsreich, aber glücklich. Die Dorfbewohner, die »Augen hatten, zu sehen«, beneideten Momuso, meine Großmutter, dass sie so ein fleißiges und tapferes Kind in die Welt gesetzt hatte: »A bε mɔgɔw bonya wa a ka kisε fana. Sie hat Respekt vor den Erwachsenen und ist noch tüchtig obendrein.« Ihre Tage waren eingeteilt in immer die gleichen eintönigen und schweren Tätigkeiten. Ma zählt sie mir gern an jedem Finger auf: »Vor Sonnenaufgang pump ich Wasser am Brunnen. Danach stampf ich Hirse. Und dann wieder gehn wir aufs Feld. Am Abend muss ich noch einmal für alle Essen kochen …« So war das tagaus tagein.

Wenn sie unablässig auf ihre Jugend zu sprechen kommt, so hat das nur ein Ziel, mich daran zu erinnern, dass ich mich nie genug an den Arbeiten im Haushalt beteilige. Ma gibt die Schuld dafür meiner Faulheit und dem Leben in Frankreich: »Ihr da, man will nur ein Glas Wasser von euch? ›Ich bin müde‹ oder ›ich hab zu tun‹ – sowas geht in Mali nich. Dresche kriegste dort dafür. Freiheit, Freiheit: die Kinder hier ham nur das eine Wort im Mund. Du sags ›eins‹, sie sagen ›zwei‹, das is Freiheit, angeblich. Was nütz Freiheit, wenn du nix davon hast? Anw tε tubabu ye. Ɲamɔgɔden in! Wir sind keine Weißen. Dreckskind!«