Mäandertal - Wolfgang Eicher - E-Book

Mäandertal E-Book

Wolfgang Eicher

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Beschreibung

Alkohol. Liebe. Revolution. Ein Vater verlangt von seinem Sohn, der Karriere willen als Praktikant am Bau eines Autotunnels mitzuwirken. Darin verschwinden die bisherigen Lebensziele des Ich-Erzählers, der, zurück an der Universität, die entstandene Leere mit Alkohol füllt. Nach einer Irrfahrt durch die eigene Psyche kommt die Erkenntnis über ihn: Der Weg kann nur ein Mäander sein, als Ziel kommt nur das Meer in Frage. Während ihn innerlich die Stärke einer Liebe befreit, stehen in der Welt die Zeichen auf Revolution – und der Ich-Erzähler wird an ihrer Spitze stehen … Im Zeitalter des Klimawandels ist "Mäandertal" der wohl hoffnungsvollste Roman des Wiener Malers und Schriftstellers Wolfgang Eicher: "Dieses Buch ist meine Rache an den Autos."

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Seitenzahl: 457

Veröffentlichungsjahr: 2024

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verlag duotincta

Wolfgang Eicher

Mäandertal

Roman

Über den Autor

Wolfgang Eicher wurde am 23. Februar 1975 in Vöcklabruck/Oberösterreich geboren. Nach einer Ausbildung zum Landwirt studierte er Raumplanung und Raumordnung auf der TU in Wien. Seit 1991 schreibt er hauptsächlich Romane. Wolfgang Eicher lebt und arbeitet in Wien. Im Verlag duotincta veröffentlichte er die Romane »Die Insel« (2016) und »freiheitsstatue « (2017) sowie die Groteske »Frötsch I« (2017).

http://www.wolfgangeicher.com/

Prolog

»Wer bist du?«

»Wer ist wer?«

»Du! Wer bist du!«

»Ich, ich bin ich.«

»Nein, was machst du?«

»Ich arbeite daran.«

»Nein, was ist deine Aufgabe?«

»Ich habe eine Aufgabe!«

»Nein, was ist deine Stellung im System?«

»Ich ändere das System.«

»Wie, du änderst das System?«

»Ich arbeite an einem neuen gesellschaftspolitischen System.«

»Und warum machst du das?«

»Das derzeitig herrschende System des kapitalistischen Neoliberalismus wird untergehen.«

»Warum glaubst du das?«

»Es ist nicht nachhaltig.«

»Nachhaltig ist eine Worthülse wie kapitalistischer Neoliberalismus.«

»Nein, das sind Begriffe, unter denen wir täglich leiden.«

»Und du kleiner Alki wirst ihn stürzen den kapitalistischen Neoliberalismus?«

»Nein, er wird von selber aufhören.«

»Und was dann?«

»Dann bin ich hoffentlich fertig mit meinem neuen System.«

»Woran du schon jetzt arbeitest?«

»Ja, woran ich schon jetzt arbeite.«

»Ganz alleine arbeitest du an einem neuen System?«

»Nein, wir sind viele.«

»Ihr seid irgendwie vernetzt und tauscht blöde Ideen aus.«

»Nein, wir sind nicht vernetzt.«

»Was heißt das, ihr seid nicht vernetzt?«

»Wir sind lauter Einzelkämpfer.«

»Ihr wisst nicht, was der andere gerade ausheckt?«

»Nicht die geringste Ahnung.«

»Aber wie wisst ihr dann, was zu tun ist?«

»Wir wissen, was zu tun ist.«

»Was ist zu tun?«

»Ein neues gesellschaftspolitisches System erschaffen!«

»Aber das geht nicht!«

»Was geht nicht?«

»Das wären ja viele neue gesellschaftspolitische Systeme!«

»Ja, und?«

»Ihr müsst euch doch irgendwie koordinieren!«

»Tun wir nicht.«

»Wie wollt ihr eure Systeme dann einführen?«

»Wenn der Tag X kommt, werden wir das wissen.«

»Wann kommt der Tag X?«

»Das wissen wir nicht.«

»Wie wollt ihr dann reagieren?«

»Wir werden es wissen.«

Tanzkörper

Die Lichter der Stadt. Wenn es dunkel wird, kriechen sie hervor, erscheinen, um im Bierdunst zu feiern. Aus allen Ecken und Enden kommen sie. Sie tragen keinen Namen. Sie sind nicht als solche registriert. Anonymität ist ihr Dogma. Wie Schläfer leben sie, schlafen jedoch nicht. Sie leben eingebettet in dieser schönen neuen Welt. Sie geben das Geld aus, das sie irgendwie verdienen. Sie fallen nicht auf. Sie kennen einander nicht. Doch manchmal begegnen sie sich. Dann grinsen sie sich zu, und sie prosten sich zu.

Man könnte meinen, ich stehe im Abseits. Ich lehne an der Mauer dieser mit Menschen überfüllten Lokalität und trinke mein siebtes Bier. Vielleicht ist es aber auch bereits mein achtes. Das Lokal hat ein Verkehrsproblem. Die Menschen stauen sich. Ich bin oft hier. Ich bin hier, weil es dieses Verkehrsproblem gibt. Es ermöglicht mir, dass ich den Menschen nahe bin. Und weil es auch sonst ein Ort ist, wo die Menschen offener sind als sonst, erhoffe ich mir die Begegnung mit den anderen. Daher bin ich heute hier. Daher trinke ich an die Mauer gelehnt und beobachte den Strom vorüberfließender Menschen. Leider erkennt man sie dann doch nicht. Oder nur sehr schwer.

Die Frauen sind so schön. Sie lächeln. Sie berühren mich beim Vorübergehen. Die Musik ist auch schön. Die berührt meine Seele. Gleich werde ich aufbrechen, um im Leib des Tanzkörpers mich mittanzen zu lassen. Zuvor jedoch muss das Bier fertig getrunken werden. Das Bier nämlich würde den Tanzkörper nicht überleben, nur sinnlos herumgeschüttet würde es werden, und das ist nicht der Sinn des Bieres. Der Sinn des Bieres ist der Suff! Daher saufe ich aus mit großen Schlucken und spüre schon wieder meine Blase, die zu entleeren ich losmarschiere, hinein in den Strom aus Menschen, wo sicher, das weiß ich genau, weil es sie gibt, einige von ihnen darunter sind, nur steht es nicht auf deren Stirn geschrieben, und auch ich bin nicht erkennbar als solcher. Man kann immer nur vermuten, und einige Male vermute ich auch, aber es ist so schwierig, während ich eng an eng an Körper gepresst einfach mitschwimme, was Möglichkeiten bietet, etwas herauszufinden, wenn man einander so nahe ist, weil es ansonsten immer unmöglich ist, man kann nämlich überhaupt nicht fragen, ob jemand ein solcher ist, weil es überhaupt keinen Namen gibt dafür.

Ich erreiche die Toilette, wo sich sogar vor der Männerabteilung eine Schlange gebildet hat. Die Toilette ist die furchtbarste von ganz Wien. Es rinnt nämlich immer viel weniger weg als hinein. Daher gibt es den Gesetzen der Wasserwirtschaft folgend immer eine Überschwemmung. Meine Schuhe sind aber wasserfest.

Das Lokal ist in einer Reihe von vier ineinander übergehenden Räumen angeordnet. Auf der einen Seite befinden sich der Eingang und die Toilette, auf der anderen der Tanzkörper. Daher gibt es das Verkehrsproblem. Daher gibt es den Menschenstrom, in dem ich mich langsam und stockbesoffen nach den sieben oder acht Bieren dem Tanzkörper entgegenschiebe. Überall dienen Menschen als Hindernis, um dem Strom die nötige Elastizität zu verleihen, um den geradlinigen Verlauf abzubremsen, umzuleiten, um Mäander zu bilden, so als wäre es ein Strom ohne Betonuferverbauung, und eigentlich ist es auch so. Hier gibt es keine starre Lenkung, nur eine aus Körpern, die sich definiert als Leben, und man muss oft einen Bogen machen um ein solches Wunder von Mensch. Man kann nicht geradlinig auf das Ziel zusteuern, wie von vielen Büchern fälschlicherweise behauptet wird; dass das der einzig richtige Weg sei. Hier ist das unmöglich, und so begegne ich in abgewandelter Form meinem Mäandertal im Umrunden von herumstehenden Menschen. Vielleicht sind welche darunter, wer weiß, nur kurz ist unsere Begegnung, ehe ich weiterfließe, dem Tanzkörper entgegen, der nichts anderes darstellt, als einen brodelnden Wasserfall, und als ich hineinstürze in die Fluten des Tanzkörpers, ist es unglaublich. Körper. Musik. Eine einzige Bewegung durchzuckt die Massen. Das Licht der Dunkelheit. Hier sind sie alle schön. Menschen.

Langsam beginne auch ich. Schritte. Da, wo sie eigentlich unmöglich sind: weil kein Platz, weil zu eng. Aber nicht hier. Hier ist Platz. Hier ist immer Platz. Wie sehr und immer hier kein Platz für weitere Überfüllung möglich scheint, um so mehr ergibt sich ein Fehler im physikalischen System, ist immer wieder noch Platz, um hineinzufliegen. Der Tanzkörper. Langsam steigere ich mich. Bewegungen einzelner Menschen, die zu der einzig und allein möglichen Gesamtbewegung verschmelzen im Sog der Rhythmen unzähliger Töne, hineingedröhnt in die Spannung, die sich nicht aufbaut, sondern die fließt, die sich immer gleich entladet, die bewegt. Und immer mehr wird alles mehr, weil ich mitten drinnen bin, obwohl ich nicht dazugehöre, hier ist es egal, weil sieben oder acht Bier, ein Tanzkörper, dazu Musik, die übrigens nicht von so hervorragender Qualität ist, wie man jetzt meinen könnte, da alles so schwingt, im Gegenteil, eigentlich recht schlechte Musik präsentiert dieser Musikmacher hoch oben über uns auf seinem Thron. Aber einerseits ist es uns Menschen vereint im Tanzkörper völlig einerlei, wie selten die Muse einen Menschen küsst, wie schlecht die Musik auch sein mag. Andererseits, wäre die Musik auch noch eine gute, wer weiß, einige von uns könnten im Leben gefährdet werden, es nicht überstehen, weil es so zuckt und rast und alles in Bewegung weit abseits von körperlichen Verfassungen dahinfliegt, dass es wohl gut und recht ist, dass die Musik nicht die beste ist.

Ich habe das alles schon oft erleben dürfen. Nicht jedes Mal, aber oft genug, ich könnte zufrieden sein. Ist aber nicht so. Es gibt nämlich diese Einsamkeiten. Und oft erreichen sie mich gerade durch den Tanzkörper. Weil jede Nacht zu Ende geht. Dann wird es plötzlich heller. Und in meiner Seele dunkler. Man weiß, jetzt kriegt man kein Bier mehr. Ein bisschen Musik wird noch nachgespielt. Der Tanzkörper aber hat sich aufgelöst und geht nach Hause. Verzweifelt tanzt man noch nach. Vielleicht gelingt sogar ein letztes Mal ein Ausbruch von Schritten. In Wirklichkeit regiert aber doch wieder nur Einsamkeit. Anstatt froh zu sein, dass der Tanzkörper passiert ist, was wirklich nicht jedes Mal geschieht, fluche ich hinein in mich. Weil ich einer von ihnen bin. Wo aber sind die anderen? Sie gehen nach Hause. Ich habe sie nicht erkannt. Auch sie haben mich nicht erkannt. Wer jetzt noch wartet, ist der Türsteher, der freundlich, aber bestimmt den Weg zeigt. Es ist der Weg in die Einsamkeit. Hinaus. Hinein in das Grauen des Morgens. Schweißgebadet in die Kälte des Katers. Die vielen Biere im Hirn führen zu vereinzeltem Stolpern ohne Hinfallen. Das Ziel ist eine Wohnung, wo man sich vielleicht mit fettem Katerfrühstück trösten kann, manchmal. Dann wieder reicht das nicht aus, ist es nur ein Fluch, ist es nur ein Schimpfen und Jammern, ein Wutausbruch, der dazu führt, dass die Hand auf ein unschuldiges Auslagenfenster donnert. Das aber zerbricht nicht, nur eine Alarmanlage geht los, die kleinlaut macht und den Schritt beschleunigt, und man schreit hinein in sich zur Flucht vor den Auswüchsen dieser Nacht, wozu?

Trotz allem bin ich froh, dass ich einer von ihnen bin. Durch alle Wut und Unmöglichkeiten durchscheinend fühle ich doch einen gewissen Stolz. Natürlich wäre alles einfacher, normal zu sein, verstanden zu werden, das alltägliche Leben ohne jede Infragestellung allzeit und immer gut und lebenswert zu finden. Aber es ist nicht so. Und im Grunde kann ich mir euer Leben genauso wenig vorstellen wie ihr euch das meine. Manchmal gelingt mir das Gefühl, irgendwie sei es schon in Ordnung. Existiert nicht auch eine Unzahl von Chancen darin? Meistens aber ist es einfach nur mühsam. Immer wieder stellt sich die Frage nach der Annahme meines Seins oder zumindest eine bestmögliche Anpassung an die Gesellschaft. Natürlich ist es eine rein rhetorische Frage. So bleibt mir nur ein einziger Ausweg. Die Suche. Wonach aber suche ich? Ich weiß es nicht. Ich habe nicht die geringste Ahnung vom Ziel meiner Suche. Und dennoch ist es der einzig mögliche Weg. Und trotz völliger Unmöglichkeit einer Beschreibung, benenne ich das Ziel meiner Suche:

Mäandertal.

Wie kommt das Wasser auf diese eigenartige Idee? Als Ziel kommt nur das Meer infrage. Der Weg dorthin ist weit genug. Der Bogen wird immer größer. Das Wasser untergräbt seinen eigenen Lauf. Um sich selber im Weg zu sein, nimmt es an entfernter Stelle Material auf, das sich am Schnittpunkt zum nächsten Meter Richtung Meer als Hindernis aufbaut. So als wolle es das Meer unter keinen Umständen erreichen. Dabei gibt es kein anderes Ziel. Der weite Weg wird immer weiter. Dennoch wird das Meer schließlich dann doch erreicht. Aber unter welchem Aufwand und unter welchen so unnötig immer wieder sich selber in den Weg geworfenen Mühen? Das Wasser muss verrückt sein!

Ein Mäandertal ist vor allem eines, unglaublich schön.

Schließlich erreicht mich der Höhepunkt im Tanzkörper. Die Rate meiner Schritte wetteifert mit der Musik. Dabei geht es allerdings nicht darum, wer als Sieger eines Wettstreits hervorgeht, auch wenn das mögliche Zuschauer vermuten könnten, sondern es geht um überhaupt nichts. Solange es nämlich um etwas gehen könnte, zum Beispiel gut zu tanzen oder schön zu tanzen oder Spaß zu haben am Tanzen oder durch vorzügliches Tanzen die Gunst einer Frau zu erwerben, ist jeder Höhepunkt zum Scheitern verurteilt. Der Höhepunkt im Tanzkörper hängt ab von der absoluten Unabhängigkeit. Man könnte es auch Freiheit nennen.

Jedenfalls gelingt mir von Zeit zu Zeit ein Höhepunkt im Tanzkörper, und auch heute bin ich mit diesem Ereignis gesegnet, und das ist ziemlich geil. Was aber ist ein Höhepunkt? Jedenfalls eine sehr schweißtreibende Angelegenheit. Im Grunde aber eine sehr einfache Sache. Nichts anderes als eins zu sein mit sich selber. Diese Einfachheit jedoch verhindert nicht, dass es sehr schwierig ist und meist nicht von Dauer. Ein Höhepunkt eben. Und schon verebbt er wieder. Die Gedanken kehren zurück. Die ernüchternden Belanglosigkeiten des Alltags. Auch die Begrenztheit des Körperbaus. Die Atemlosigkeit. Selbst das Staunen über dieses Wunder führt zum Zurückkommen, zum Wiedererreichen der Realität, die für kurze Momente aufgehört hat, eine Rolle zu spielen. Es nutzt auch nichts, dass man ein wenig noch verzweifelt versucht sich festzuhalten am Höhepunkt, selbst das führt nur verstärkt zu dessen Verschwinden in der Schwüle des Tanzkörpers, bis man es schließlich einsehen muss – wie beim Aufwachen nach einem wunderschönen Traum, reicht es nicht, die Augen einfach wieder zu schließen –, der Höhepunkt ist vorbei. Er wird wiederkommen. Aber nicht jetzt. Vielleicht ja bald. Vielleicht ja heute noch, doch das ist unwahrscheinlich. Es bleibt nichts übrig, als zur Theke zu drängen, um dort das achte oder neunte Bier zu trinken. Und als ich das in Händen halte, begegne ich ihm.

Rein äußerlich würde man nicht im Geringsten vermuten, dass er einer von uns ist, aber das kann man auch an mir nicht erkennen. Wie aber hat er mich erkannt? Als er es sagt, ist es kalt im Rücken und warm im Herzen. Dabei bewundert er nur meine Energie. Er hat mich am Höhepunkt erkannt. Wir prosten. Ich staune. Seine Augen verraten es schließlich dann doch, man muss aber sehr genau hinsehen. Komplett assimiliert, staune ich, während er mich fragt, woher sie denn käme, diese unglaubliche Energie. Man entwickelt viel Energie, wenn man um sein Leben kämpft, man glaubt gar nicht, wie viel Energie da plötzlich frei werden kann, denke ich, wage es aber nicht zu sagen, weil ich überwältigt bin und nichts anderes zustande bringe, als ein wenig vielsagend zu grinsen. Könnte er aber ein Betrüger sein? Ich wäge ab und sage nein. Ein Gefallener ist er hingegen schon, dabei ein hübscher Bursche, sicherlich erfolgreich in Beruf und Privatleben.

»Du wirst es schaffen!« sagt er.

Und ich verstehe sofort, was er meint. Nicht aber ist es in Gedanken zu fassen. Das geht nicht. Ich weiß genau, was er damit sagen will, aber es sind nicht seine Worte, die mich berühren, es sind die Gefühle dahinter.

»Da bin ich sicher«, sagt er, »du wirst es schaffen, ganz sicher, bei dieser Energie!«

Und ich lächle noch vielsagender, so dass er schon meinen könnte, das alles wäre eine Farce, viel zu vielsagend lächle ich ihm ins Gesicht, beinahe als Klischee reagiere ich auf seine schönen Worte, und dennoch weiß ich, dass es schon das richtige Reagieren ist, dass er mein vielsagendes Lächeln richtig lesen kann.

So passiert eine Weile nichts als unser nächstes Anstoßen und Biertrinken. Und als ich endlich meine Sprache wiederfinden kann nach dem ersten und größten Ausbruch des Staunens, muss ich ihn fragen, wer er sei. Dabei handelt es sich allerdings um eine unnötige Frage, wie er sofort bestätigt mit seiner Antwort, dass es völlig belanglos wäre, wer er sei. Jedenfalls habe er es nicht geschafft, erzählt er kurz, was ich eigentlich schon weiß. Was recht schade ist, was mich traurig und wütend macht in diesem Augenblick. Ein Assimilierter ist er, ein Angepasster, der mich entdeckt hat in dieser Masse. Ich müsste irgend worauf spucken, da ich es so gut verstehen kann, wie schlimm das ist, wie furchtbar und wie verständlich, die Assimilation. Meine Wut jedoch weiß er geschickt zu lindern, noch bevor sie Überhand nehmen kann, wiederholt er seine Überzeugung, dass ich es ganz sicher schaffen werde. Was ihm nicht gelungen ist, das werde ich sein. Und das ist alles so tröstlich und umwerfend, so sehr Staunen machend und überwältigend, dass ich mein Bier endgültig leeren und ihm noch einmal hineinzwinkern muss mitten ins Gesicht, um dann zu verschwinden. Weil er ja auch kein Begleiter sein kann. Unmöglich. Er ist ein Gefallener. Aber gerade als solcher hat man mehr Blick für die Wunder, als Gefangener des Systems kann man die Freiheit viel besser erkennen. So wie jetzt, wo ich gehe, wo ich aufgebe zu begegnen, da die Begegnung endlich stattgefunden hat. Und mein Nachhauseweg wird weder wutbeladen im Sinne von Einsamkeit noch fettbeladen im Sinne von Katerfrühstück, sondern in schönen und tröstlichen Gedanken versunken über dieses kurze Aufeinandertreffen.

Winter

Dies ist die Geschichte eines Sommers. Sie beginnt aber im Winter. Es ist kalt. Noch liegt Schnee, aber nicht mehr lange.

Ich gehe im Wald. Vereinzelt droht man auszurutschen. Fröhliche Gesichter an Kindern. Gedankenverloren wie immer bin ich. Wie soll es weitergehen? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Es hat viel Mühe gekostet zu akzeptieren, dass ich nicht weiß, wie alles weitergehen soll. Dann aber ist es mir gelungen, genau das schön zu finden.

Ansonsten bin ich zum Alkoholiker geworden. Ich schaue auf und überlege, wie schlimm ich das finden soll. Die Geschichte des Winters liegt eigentlich schon hinter mir. Wie ein belangloses Stück Treibholz, nur weniger wohlgeformt. Dies ist die Geschichte des kommenden Sommers. Ich habe keine Ahnung und bin froh darum. Was hat der Winter zu tun damit? Ich erzähle von ihm einfach dennoch.

Der Beschluss, damit aufzuhören, kam plötzlich. Dabei mitten drinnen! Student bin ich nur noch auf dem Papier. Es ist nicht mein Leben. Ich kann mich nicht assimilieren wie jener neulich. Dabei diese Zukunftsaussichten! Gerade die Zukunftsaussichten! Ein ganzer Sommer im Eimer. Der letzte Sommer. Der nächste Sommer wieder so? Wie hat alles begonnen?

Vielleicht sollte ich doch von Anfang an erzählen. Natürlich sollte man die Vergangenheit nicht unterbewerten, aber auch nicht überbewerten. Vermutlich genügt es, alles in kurzer und klar verständlicher Form niederzuschreiben, und es danach einfach so wie es dasteht stehen zu lassen.

Meine Eltern sind geschieden. Ich bin ein Einzelkind.

Eigentlich müsste das genügen. Eigentlich möchte ich es damit belassen und nichts mehr hinzufügen.

Ich sitze in meiner Kellerwohnung, die ich mein Wohnungsloch nenne, und der Schnaps ist schon wieder fast aus. Man könnte jetzt aufstehen und einkaufen gehen, die Geschäfte haben nämlich gerade offen. Draußen aber ist es kalt, vermutlich, jedenfalls ist es hier drinnen kalt, und ich sitze mit meiner alten Daunenjacke vor diesem Computer, da ich beschlossen habe, etwas aufzuschreiben. Ich weiß nicht wozu, aber ich habe begonnen damit, jetzt muss ich weitermachen.

Warum habe ich gestern nicht zwei Flaschen Schnaps gekauft? Natürlich weiß ich, warum ich gestern nicht zwei Flaschen Schnaps gekauft habe, weil mich dann nämlich die Kassiererin für einen Alkoholiker halten würde. Dabei wird sie mich sowieso für einen Alkoholiker halten, weil ich jeden dritten Tag eine Flasche Schnaps bei ihr kaufe oder die gleiche Menge an Alkohol in Form von Bier oder Wein. Jeden dritten Tag also kaufe ich Alkohol bei der einzigen Person, zu der ich regelmäßig Kontakt habe und die mich sowieso für einen Alkoholiker halten wird, was ja auch stimmt, und der Grund, nicht zwei Flaschen zu kaufen, ist ihr zu beweisen, dass ich kein aussichtsloser Fall bin. Irgendwie mag ich die Kassiererin. Aber wie soll man das einer Kassiererin sagen? Noch dazu wo sie sicher sein kann, dass ich Alkoholiker bin, obwohl ich die beiden anderen Tage meinen Schnaps in anderen Geschäften kaufe, die größer sind, wo sich deshalb die Kassiererinnen abwechseln, wo sicher niemand auf die Idee kommt, ich könnte Alkoholiker sein. Ich rechne nach und mit Erleichterung stelle ich fest, dass ich nicht ganz jeden Tag eine Flasche Schnaps benötige, um meine Sucht zu befriedigen. Letzte Woche sind es nur fünf Flaschen gewesen, davon zwei gekauft bei meiner Lieblingskassiererin, bezahlt wie immer mit Bankomatkarte, weil ich dann nicht zum Bankomaten muss. Bankomaten nämlich sind Teile von Banken und Banken erinnern mich an mein Geldproblem in einer Art und Weise, die mindestens zwei Flaschen Schnaps notwendig machen würde. So aber reicht in der Regel eine Flasche Schnaps, bezahlt bei meiner Lieblingskassiererin, einer Frau aus Exjugoslawien, einer Slawin also, die mollig ist, ihre Brüste quellen ein wenig hervor unter ihrem blauen Kassiererinnenmantel, das heißt, im Sommer würden sie das tun. Im Winter muss man es erahnen, weil es ja kalt ist und sie einen Job im Sitzen hat, kassieren, und deshalb ist sie immer warm angezogen unter ihrem Kassiererinnenmantel. Auch weil es vom Eingang immer kalt hereinzieht auf ihren Platz an der Kassa, wo sie stundenlang dasitzt und kassiert, weshalb sie vermutlich auch so mollig ist, zu wenig Bewegung. Übrigens ziemlich sicher ist sie nicht aus Exjugoslawien, sondern aus Österreich, weil ihr Deutsch akzentfrei ist, das heißt österreichisch, nur der Name auf einem kleinen Schild an ihrem Kassiererinnenmantel trägt einen slawischen Namen, Trogic oder Drugic, ich kann ihn mir nie merken, weil das Schild auf ihrer schweren Brust prangert, da ist man abgelenkt, und nur dass es eine Slawin ist, das geht selbst neben so großen Brüsten noch rein ins Hirn.

Ich mag Slawinnen.

Jetzt könnte man noch meinen, viele Österreicher tragen slawische Namen, ohne deshalb Slawen zu sein. Meine Lieblingskassiererin aber redet mit ihren Arbeitskolleginnen immer irgendeine slawische Sprache. Vermutlich kroatisch oder serbisch. Vielleicht auch slowakisch oder tschechisch, natürlich habe ich keine Ahnung, welche Unterschiede es da gibt. Jedenfalls fällt mir gerade jetzt beim Schreiben meiner Geschichte ein, dass ich sie ja fragen könnte, welche Sprache sie da spricht, wenn sie wieder einmal slawisch mit ihren Arbeitskolleginnen redet. Das aber kann Monate dauern, obwohl ich zwei bis dreimal pro Woche eine Flasche Schnaps bei ihr kaufe. Sie redet nämlich nicht viel mit ihren Arbeitskolleginnen.

Meistens lächelt sie mich an und das macht mich nervös. Vielleicht bilde ich mir das Lächeln nur ein. Vielleicht lächelt sie jeden Kunden an. Vielleicht lächelt sie jeden männlichen Kunden an. Ich könnte das beobachten. Ich könnte jetzt gleich mein Wohnungsloch verlassen, die Straße überqueren, eine Flasche Schnaps kaufen und dabei achten, wie sehr sie wen anlächelt, und vielleicht, wenn sie slawisch redet, sie fragen, welche Sprache das ist.

Draußen ist es kalt. Vielleicht hat sie heute ihren freien Tag. Ihre Brüste sind sicher gut verborgen, weil es so kalt ist. Vielleicht hat sie einen besseren Job gefunden. Ob Kassiererin ihr Traumberuf ist? Kann es Menschen geben, deren Traumberuf Kassiererin ist? Vielleicht sollte ich es ja einmal mit Kassieren probieren. Vielleicht ist mein Traumberuf Kassierer? Vielleicht ist das der interessanteste Beruf überhaupt. Immerhin begegnet man vielen Menschen, die oft regelmäßig kommen, und man ist bestens informiert über die Einkaufsgewohnheiten eines Jeden, weil man sämtliche gekaufte Nahrungs- und Suchtmittel durch die Hände laufen lässt. Was der Mensch isst, das ist er. Kassierer aus Leidenschaft, vielleicht gibt es das. Man kann zum Beispiel den Verfall Alkoholsüchtiger beobachten. Möglicherweise erfährt man mehr über die Süchte und deren Verläufe, als irgendwelche Ärzte, Sozialarbeiter, Uni-Professoren oder sonstige um so viel höher gestellte Professionen es je für möglich halten würden. Jedenfalls habe ich das Gefühl, meine Lieblingskassiererin weiß alles über mich, und das obwohl ich zwei Drittel meiner Einkäufe vor ihr verberge. Möglicherweise lernt man als Kassierer mehr über Menschen als in jedem anderen Beruf. Die Frage aber ist, ob ich wirklich so viel über die Menschen wissen will. Vielleicht ja, immerhin verstehe ich die Menschen nicht, und ich verstehe nicht, was sie Leben nennen. Und vielleicht könnte ich gerade das als Kassierer herausfinden. Vielleicht sollte ich wirklich Kassierer werden. Ich könnte ja hinausgehen und meine Lieblingskassiererin fragen, ob das Geschäft noch Kassierer benötigt. Vielleicht ist ja gerade an der Kassa neben ihr eine Stelle frei! Das aber ist unwahrscheinlich, da im Geschäft meiner Lieblingskassiererin fast immer nur eine Kassa besetzt ist.

In der Zwischenzeit hat die Flasche Schnaps den Weg vom Kühlschrank zu meinem Schreibtisch gefunden. Anfangs hat sie sich noch ein wenig gewehrt, aber dann musste ich aufs Klo. Zuerst nicht so dringend, zu wenig, um den Klowegwiderstand zu überwinden. Der Klowegwiderstand ist in meinem Wohnungsloch recht groß, weil das Klo am Gang ist, der Gang kalt und genauso kalt das Klo. Der Blasendrang ist dann aber, während ich in Gedanken bei meiner Lieblingskassiererin war, mich mit ihr sozusagen von meinem Blasendrang abzulenken versuchte, doch immer stärker geworden. Schließlich ist mein Blasendrang stark genug, um sämtliche Ablenkungsversuche, selbst mit Lieblingskassiererinnen, zu überwinden. Also muss ich aufstehen, und eigentlich ist es am Gang nicht viel kälter als in meinem Wohnungsloch, vielleicht ist es ja sogar draußen nicht viel kälter als in meinem Wohnungsloch. Da bin ich schon auf der Toilette, die dringend gereinigt werden müsste. Das heißt, nicht wegen mir. Mir ist so etwas egal. Aber zum Beispiel falls ich mit meiner Lieblingskassiererin in ein Gespräch kommen würde, und das Ganze liefe wundersamerweise auf eine Einladung meinerseits in mein Wohnungsloch hinaus, ihr könnte ich unmöglich diese Toilette zumuten. Eigentlich aber könnte ich ihr mein gesamtes Wohnungsloch nicht zumuten. Es wäre wohl sinnlos, hinauszugehen, um mit meiner Lieblingskassiererin ein Gespräch zu beginnen, selbst wenn es dort möglicherweise nicht viel kälter ist als in meinem Wohnungsloch. Also wieder zurück. Und weil es so ist, steht auf dem Weg vom Klo zu meinem Schreibtisch ein Kühlschrank mit einer gestern gekauften und nun schon recht bedenklich geleerten Flasche Schnaps, die ich dann leider mitnehmen musste, und die nun neben dem Computer auf dem Schreibtisch steht. Noch habe ich sie nicht geöffnet. Aber ich werde das sicher bald tun.

Ich finde, fünf Flaschen Schnaps in einer Woche, das ist nicht hoffnungslos. Die Dosis von fünf Flaschen Schnaps pro Woche halte ich nun schon über einen Monat. Andere wird das sicher erschrecken, aber ich finde es sehr positiv, dass es in dieser Zeit nicht zu einer Erhöhung meiner Dosis gekommen ist. Man hört nämlich von Alkoholsüchtigen, deren Dosis viel höher ist als die meinige.

Also habe ich mir einen Schluck verdient.

Voraussetzung für eine Nichterhöhung meiner Dosis diese Woche ist jedoch, heute mit dem Rest von gestern auszukommen.

Erschreckend wenig in der Flasche.

Ich trinke.

Es ist billiger Wodka. Er schmeckt so scheußlich und tut so gut.

Vielleicht kann ich nun endlich schreiben, wovon ich eigentlich schreiben möchte.

Die Geschichte des letzten Sommers. Als alles zerbrach.

Und beginnen muss ich dann doch mit meinen Eltern.

Warum habe ich Hemmungen? Warum lenke ich ab mit Lieblingskassiererinnen und Schnapsflaschen?

Also beginne ich nach einem weiteren mächtigen Schluck dann doch:

Meine Eltern sind geschieden. Ich bin ein Einzelkind. Mein Vater war erfolgreich. Meine Mutter hatte Depressionen. Zumindest bis vor zwei Monaten war das so. Seitdem fehlt mir nun jede Information. Ich habe den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen. Sie wissen nicht, wo ich nun wohne. Das dürfen sie nicht, weil sie mich ansonsten sicher würden retten wollen.

Warum meine Eltern geheiratet haben, weiß ich nicht. Vermutlich haben sie sich geliebt, aber ich habe nie mit ihnen geredet darüber, also kann ich es auch nicht wissen. Mein Vater ist immer erfolgreich gewesen, so wie meine Mutter immer Depressionen gehabt hat. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass dies jemals anders gewesen wäre. Natürlich ist es möglich, dass die Depressionen meiner Mutter durch die Erfolge meines Vaters hervorgerufen worden sind, zumindest hatte ich einmal einen Verdacht diesbezüglich. Dieser Verdacht stammt aus jener Zeit, als ich endlich begriffen habe, dass ich nicht der Grund ihrer Depressionen sein konnte, wie ich jahrelang geglaubt habe.

In meinem Heranwachsen als Kind dachte ich immer, die Depressionen meiner Mutter haben mit mir zu tun. Ich kann mir das nur mit einem Kindheitserlebnis erklären. Es ging ums Wäschewaschen.

»Nicht einmal die Wäsche deines Sohnes kannst du noch waschen?«, hat mein Vater gefragt. »So schlimm ist es wieder?«

Ich kann mich erinnern, dass mein Vater diese Frage ohne Vorwurf gestellt hat, eher wie eine Feststellung oder ein Abfragen beim Arzt. Wie schlimm ist es heute? Ist es so schlimm, dass es unmöglich ist, die Wäsche deines Kindes zu waschen? Dann ist es nämlich sehr schlimm. Das Waschen meiner Wäsche galt also als Parameter für den Grad an Depression bei meiner Mutter. Es war nämlich nicht immer gleich schlimm. Die Depressionen meiner Mutter waren ein ständiges An- und wieder Abschwellen ohne jedes Muster. Jedenfalls war der Depressionszustand meiner Mutter besonders schlimm, wenn sie es nicht mehr schaffte, mir die Wäsche zu waschen. Das ist meine einzige Vermutung, warum ich als Kind geglaubt habe, ich wäre schuld an den Depressionen meiner Mutter. Natürlich eine völlig ungenügende Erklärung. Ich müsste eine Therapie machen, um herauszufinden, was wirklich der Grund für diesen meinen Irrglauben gewesen ist. Aber ich kann und will mir diese Therapie nicht leisten. Vielleicht will ich mir eine Therapie ja auch deswegen nicht leisten, weil sämtliche Therapien meiner Mutter nie wirklich geholfen haben. Das soll jetzt nicht heißen, dass diese Therapien umsonst waren. Vielleicht wäre alles ohne Therapien noch viel schlimmer gewesen. Aber befreien konnten sie meine Mutter nicht von ihren Depressionen, genauso wenig wie sämtliche medikamentöse Behandlungen. Auch die Antidepressiva konnten meiner Mutter nicht helfen. Dabei war nie zu sagen, wie es meiner Mutter ohne Medikamente gegangen wäre. Der Arzt aber hat irgendwann zugegeben, dass bei einer geringen Zahl von Depressiven der Einsatz von sehr wirksamen Medikamenten keine Wirkung zeigen würde. Wie mein Vater war der Arzt erfolgreich in Beruf und Leben, doch die Depressionen meiner Mutter, die waren noch stärker.

Das war in etwa zu jener Zeit, als es zur Scheidung kam. Die Scheidung meiner Eltern war natürlich eine grauenhafte Geschichte. Mein Vater hat lange mit meiner Mutter geredet. Das heißt, vermutlich ein Monolog von Rechtfertigungen. Meine Mutter hat nie viel gesagt, und wenn die Depression besonders schlimm gewesen ist, hat sie fast überhaupt nichts geredet. Ist immer einfach nur im Bett geblieben.

Der Monolog meines Vaters, in dem er meine Mutter davon überzeugt hat, dass es für alle das Beste sei, wenn sie die Ehe beenden würden, fand in einer Zeit statt, als meine Mutter bereits drei Monate im Bett lag und ihr selbst der Weg aufs Klo zu schwer geworden war, sie einen Nachttopf benutzte, den mein Vater täglich leerte. Dazu war sie einmal mehr komplett abgemagert, und eigentlich hätte sie schon seit Wochen im Krankenhaus sein müssen bei ihrem Zustand. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass ihr ein Aufenthalt im Krankenhaus auch nicht half. Eigentlich wollte mein Vater ja sensibler sein und warten, bis es meiner Mutter besser ging, aber die Situation meiner Mutter besserte sich nicht. Mein Vater realisierte, dass es auch nichts half zu warten. Tatsachen ins Auge zu sehen, das war ein Grundsatz meines Vaters. Sechzehn lange Ehejahre hatte er versucht, meiner Mutter zu helfen. Nun war der Moment gekommen, sich einzugestehen, dass er gescheitert war. Meine Mutter war der einzige Misserfolg im Leben meines erfolgreichen Vaters. Zwei Möglichkeiten standen zur Auswahl: Entweder ihre Depressionen würden nicht nur ihr, sondern auch sein Leben zerstören, oder die Trennung. Meine Mutter musste eingestehen, dass auch sie nichts davon hatte, wenn auch sein Leben am Ende wäre. Im Gegenteil soll sie gemeint haben, dass sie sein Leben unter keinen Umständen mit in den Abgrund ihrer Depression ziehen wolle. Sie sei einverstanden gewesen. Die Scheidung erfolgte einvernehmlich und ging glatt über die Bühne. Meine Mutter kam ins Krankenhaus, ich in ein Internat und mein Vater zog einige hundert Kilometer von unserer Heimatkleinstadt in eine neue Kleinstadt, wo ihn eine neue Wohnung, eine neue Arbeit und ein neues Leben im Gesamten erwarteten, was er alles erfolgreich meistern konnte. Das von ihm erbaute Einfamilienhaus wurde verkauft. Der Krankenhausaufenthalt meiner Mutter dauerte noch zwei Monate, ehe diese besonders schwere Depression endlich dann doch wieder abklang und sie zu ihrer Schwester auf deren Bauernhof zog.

Der Verdacht, dass mein Vater – vor allem sein erfolgreiches Dasein – die Krankheit bewirke, stammte ursprünglich von ihm selber. Vielleicht auch wollte er mir damit nur die Trennung erklären.

»Vielleicht bin ich ja schuld am Zustand deiner Mutter«, hat er gesagt, liebevoll, »und vielleicht wird jetzt alles gut.«

Der Zeitpunkt der Scheidung war auch aus einem anderen Gesichtspunkt sorgfältig geplant. Ich hatte vor, nach der Unterstufe im heimischen Gymnasium der Kleinstadt, wo mein Vater das Einfamilienhaus an den Stadtrand gebaut hatte, in eine Höhere Technische Lehranstalt für Hoch- und Tiefbau zu wechseln. Zumindest hat mir das mein Vater geraten, da er mein Talent für Mathematik, geometrisches Zeichnen und insbesondere räumliches Denken erkannt hatte. Diese Schule lag so weit entfernt von zu Hause, dass die Unterbringung in einem Internat notwendig war. Die Scheidung fand zwei Monate vor meinem Eintritt in die neue Schule statt. Ich wäre also auch ohne Trennung meiner Eltern ins Internat gekommen. Ich hatte noch zwei Monate Zeit, mich an die neue Situation zu gewöhnen, Ferien, in denen ich in irgendwelchen Ferienlagern darauf vorbereitet wurde, dass nun die Kindheit vorüber war.

Im Internat gefiel es mir gut. Endlich war ich weniger allein. Das Internat wurde schnell mein neues Zuhause. Die Erzieher wurden zu Ersatzeltern. Ich hatte nie eine größere Zahl an Freunden als zu jener Zeit. Die Schule war hart, aber meine Fähigkeiten reichten, um überall gut durchzukommen.

Die Depression meiner Mutter besserte sich. Mein Vater schrieb zuversichtliche Briefe. Die Scheidung schien wirklich für alle das Beste gewesen zu sein, und mein Vater die Ursache dieser schrecklichen Krankheit, was sich später als Irrtum erwies. Mein Verdacht, dass die Depression ganz einfach ein Teil meiner Mutter sei, war noch nicht ausgesprochen. Dieser Verdacht hat sich bis zu diesem Zeitpunkt im Hier und Jetzt bestätigt. Natürlich wünsche ich mir für meine Mutter, dass ich mich da irre. Aber ich habe den Kontakt abgebrochen.

Meine Mutter war nicht dauernd depressiv. Es gäbe nämlich eine Wahrheit über Depressionen, und die müsse man sich sehr oft wiederholen, weil man es nicht glauben könne, wenn es wieder einmal sehr schlimm sei, sowohl Betroffene als auch Angehörige könnten das nie glauben, aber es sei so, hat der Arzt oft wiederholt, jede, aber wirklich jede Depression höre irgendwann auf. Und das könne dann völlig unabhängig von Medikamenten, Therapien oder sonstigen Ereignissen passieren. Ungläubig starrten wir uns an, weil es wieder besonders schlimm und ohne Ende war, dabei nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen sollte. Und irgendwann war die Depression dann wirklich zu Ende. Einfach so.

Wenn meine Mutter keine Depression hatte, malte sie. Im Keller war ein Raum als Atelier eingerichtet. Meine Mutter malte nächtelang. Am Tag dann gab es keine Probleme mit der Wäsche und gekocht hat sie dann auch immer. Wenn mein Vater nach einem langen erfolgreichen Arbeitstag nach Hause kam, hat er oft gefragt, ob meine Mutter gemalt habe. Die Frage hätte natürlich heißen müssen, ob meine Mutter depressiv sei. Wenn meine Mutter gemalt hat, ging es ihr gut und wir freuten uns. Leider aber waren die Phasen des Malens immer viel kürzer als die Phasen des Nicht-Wäschewaschenkönnens.

Wieder im Wald gewesen. Die Wege sind vereist von den vielen Tritten der Besucher. Ich bin aber alleine, weil es nicht Sonntag ist. Am Sonntag spazieren hier Massen und verwandeln den wenigen Schnee in Eisbahnen, wo man rodeln könnte, lebensgefährliches Rodeln, weil die Wege recht steil sind. Man unterschätzt den Wienerwald. Vereinzelt Großmütter mit Hunden. Irgendwo dieser neu erbaute Zaun, der den Wald in eine Wildtier- und eine Menschenzone teilt. Ich hasse die Zäune im Wienerwald. Ich hasse alle Zäune in Wien. Immer wollen sie etwas wegsperren anstatt es herzuzeigen. Mitten in der Wildtierzone steht ein Pavillon. Es ist ein Rundbau mit antiken Säulen. Darunter sind Rehe vor dem Regen geschützt. Irgendwie surreal. Immer möchte ich dorthin. Über den Zaun klettern und dorthin. Diesmal schaffe ich es wieder nicht. Der Zaun ist hoch. Diese verdammten Zäune! Wie ein weggesperrtes Tier stolpere ich die Eisbahn am Zaunrand entlang. Bis ich aufgebe. Bis ich müde werde. Bis ich wieder zurückkehre nach Hause. Dabei falle ich nicht. Ein guter Stolperer fällt nicht leicht, erinnere ich mich an einen Spruch meines Vaters.

Zu Hause werde ich erst mal wichsen, dann saufen. Die Tage sind schon länger als vor einem Monat. Vorher muss ich noch ins Geschäft. Dort kaufe ich Brot und Käse und Wurst und Schnaps. Mehr brauche ich nicht. Die Lieblingskassiererin lächelt nicht. Vielleicht hat sie heute einen schlechten Tag. Ihr Name ist Tragic. Sie wirkt betrübt. Vielleicht hat sie heute schon geweint. Es fällt kein Wort in einer slawischen Sprache. Ich möchte sie trösten. Dann bin ich aber wieder draußen und schleppe mich in mein Wohnungsloch. Mit letzter Kraft, so erscheint es mir. Tür zu und Flasche auf. Ich bin wirklich abhängig. Natürlich bin ich abhängig!

Im Haus meiner Eltern hat es nie Alkohol gegeben. Meine Mutter durfte nicht wegen der Medikamente, mein Vater wollte nicht wegen seiner Erfolge. Wie aber ist es wirklich gewesen? Meine Mutter im Bett und mein Vater im Büro. Damals gab es natürlich eine Werteordnung. Das Büro erstrebenswert, das Bett abzulehnen, natürlich, das Büro gut, das Bett böse, das Büro weiß, das Bett schwarz. Eigenartig. Mit der Distanz zu meiner Geschichte ist diese Werteordnung zerbrochen. Heute sehe ich beides neutral nebeneinander. Der Weg des Vaters der Erfolg. Der Weg der Mutter die Depression. So ist es jetzt für mich. Diese furchtbare Krankheit, diesen im Grunde unmöglichen Zustand meiner Mutter habe ich auf die selbe Stufe gestellt wie den Erfolg meines Vaters. Ich verstehe weder seinen Erfolg noch ihre Depression.

Eine Depression verstehen, das geht natürlich überhaupt nicht, es sei denn, man hat selber Depressionen. Ich habe keine Depressionen. Obwohl ich jetzt auch viel Zeit im Bett verbringe, und das Bett als Symbol der Depression noch immer in meinem Kopf kreist, wo ich schon geglaubt habe, nun wäre auch bei mir die Depression an der Reihe, aber Blödsinn. Nicht jedes Bett ist eine Depression. Sicher keine Depression. Es ist Sucht. Und also weil ich ohne Depressionen lebe, ist es mir absolut unmöglich, die Depression zu verstehen. Also kann ich jetzt damit aufhören, über Depressionen zu schreiben.

Etwas schwieriger ist es mit dem Erfolg. Den verstehe ich zwar ebenso wenig, aber ich hatte lange Zeit Erfolg in meinem Leben. Weil Erfolg gut ist und Depression böse, habe ich natürlich den Weg des Erfolges eingeschlagen, und es hat lange Zeit so ausgesehen, als wäre dieser Weg des Erfolges der richtige Weg in meinem Leben. Das aber war ein Irrtum. Letzten Sommer ist alles zerbrochen. Mein letzter großer Erfolg hat mir bewiesen, dass mir Erfolg im Grunde genauso unmöglich ist wie die Depression. Und davon will ich jetzt erzählen.

Im Internat wurde ich zum Erfolg gedrillt. Dazu diese hervorragenden Zukunftsaussichten. Wenig Ablenkungsmöglichkeiten. Die Frage nach der Richtigkeit meiner Lebensplanung stellte sich gar nicht, weil immer entweder eine wichtige Prüfung oder eine wichtige Abgabe irgendeines Projektes sämtliches Denkvermögen beanspruchten. Erste Erfahrungen mit der mir bisher völlig fremden Droge Alkohol. Heimliches Rauchen im Wald neben der Schule. Nächtelanges Durchzeichnen von Plänen. Gegenseitiges Abprüfen von Vokabeln oder Önormen. Und ein Erfolg nach dem anderen. Die Telefonate mit meinem Vater bewiesen den richtigen Weg. Er war zufrieden. War ich zufrieden? War ich glücklich? Solche Fragen existierten damals nicht. Ich war auf Erfolgskurs. Also richtig. Ich war nicht glücklich, aber ich war richtig.

Die Telefonate mit meiner Mutter waren seltener. Durch die Scheidung hatten sich ihre Depressionen weder verstärkt noch verringert. Sie lebte bei ihrer Schwester auf dem Bauernhof. Dort gab es viel Platz und wenig Verständnis für die Depression.

Mein Vater war gerade dabei, seine Karriere im Sinne des Erfolgs mit dem Bau seines zweiten Einfamilienhauses zu bereichern, wieder am Stadtrand einer Kleinstadt, irgendwo in Tirol. Seine erste Lebensabschnittspartnerin nach der Ehe mit meiner Mutter hat er vor uns komplett verborgen halten können. Deren Nachfolgerin konnte bereits in ein fertiges Haus einziehen.

Da fällt mir ein, dass ich noch immer nicht erwähnt habe, worin der Erfolg meines Vaters bestand. Vielleicht, weil ich es selber nicht genau weiß. Irgendwas mit Computern. Ich glaube, er verkauft Computer. Daneben hat er aber auch mit der Entwicklung von Computerprogrammen zu tun, oder aber genauer mit der Entwicklung von Computersystemen, die er dann verkauft, speziell den Anforderungen des jeweiligen Kunden entsprechend. Irgendwann einmal hat er es mir erklärt. Ganz verstehen konnte ich es nie, aber das war auch nicht notwendig. Die wichtigere Tatsache ist, dass er immer erfolgreich darin gewesen ist zu allen Zeiten, und nicht irgendein Erfolgreich, sondern ein sehr großes Erfolgreich.

Und ich also in seinen Fußstapfen in der HTL irgendwo in der Peripherie des Landes Salzburg, um mit Orten ein wenig konkreter zu werden, während meine Mutter bei ihrer Schwester auf einem Bauernhof irgendwo in Oberösterreich wohnte. Ich geographisch genau in der Mitte. Links der Vater, rechts die Mutter, jeweils etwa hundertfünfzig Kilometer Entfernung, dazwischen in dieser geschützten Welt von Internat und Schule mein neues Zuhause, wo ich sehr erfolgreich mein Leben nach links richtete, meinem Vater zugewandt.

Das Internat war auch während der Wochenenden nicht geschlossen, obwohl die meisten Mitschüler dann immer nach Hause fuhren. Ich hatte kein anderes Zuhause als das Internat, also blieb ich dort. Zu akzeptieren, dass nun das Internat mein Zuhause war, fiel mir relativ leicht. An Wochenenden ging ich im Wald spazieren und erinnerte mich ein wenig an den Wald vor der Haustür unseres verkauften Einfamilienhauses in Vöcklabruck, das nun von einer anderen Familie bewohnt wurde. Hier in Saalfelden war der Wald zwar anders, viel steiler und felsiger, dennoch Wald. Wald ist Wald und Wald ist die einzige Konstante, die sich durch mein Leben ziehen sollte.

Viermal im Jahr gab es Ferien und zweimal langes Wochenende, wo das Internat geschlossen wurde. Eigenartiges Gefühl, wenn das Zuhause geschlossen hat, dachte ich immer Allerheiligen, in den Weihnachts- Semester- und Osterferien, zu Pfingsten und in den langen Sommerferien. Allerheiligen beim Vater. Weihnachten bei der Mutter. Semesterferien beim Vater. Ostern bei der Mutter. Pfingsten beim Vater, die neun Wochen dauernden Sommerferien so im Durchschnitt drei Wochen in Ferienlagern, zwei Wochen bei Freunden, zwei Wochen Urlaub mit dem Vater und zwei Wochen bei meiner Mutter auf dem Bauernhof. So war mein Leben aufgeteilt, bis es zur Matura mit Auszeichnung kam. Sowohl der Vater als auch die Mutter waren stolz auf mich. Es gab keinen Grund, an der Richtigkeit meines eingeschlagenen Weges zu zweifeln.

Nach der Matura kostete ich mein erstes Mal die Sucht. Zwei Wochen Kreta. Während meine Schulkollegen damit beschäftigt waren, geile Engländerinnen abzuschleppen, soff ich jede Nacht. Es war herrlich. Frühstücken zu Mittag, einige Stunden Strand, dabei die ersten Biere, dann Abendessen irgendwo, dazu Biere und auch schon Schnaps, und schließlich hinein ins brodelnde Nachtleben. Natürlich gaffte auch ich in sämtliche Ausschnitte und unter alle Röcke, aber viel wichtiger war mir dann doch der Alkohol. Wirklich jeden Morgen landete ich sturzbetrunken im Bett, nachdem ich das letzte Bier dem Sonnenaufgang gewidmet hatte.

In dieser Zeit entstand neben meiner Lust am Saufen auch meine Lust am Tanzen. Mit vorgerückter Stunde und gesteigertem Alkoholgehalt im Blut wagte ich mich in alle Clubs, und dort beutelte ich meinen Körper in einer Weise, wie ich mich im heimatlichen Österreich nie getraut hätte.

Nach zwei Wochen flogen wir wieder nach Hause, wo der erste Entzug wartete. Alkohol sollte mich nicht am eingeschlagenen Weg des Erfolgs hindern. Neben dem Entzug galt es, eine Entscheidung zu treffen. Es war die erste eigene Entscheidung in meinem Leben.

Mein Vater ganz nüchtern: »Zivildienst ist moralisch unbedenklicher. Aber länger. Du verlierst ein ganzes Jahr gegenüber dem Bundesheer, das sich einmal anzuschauen sicher auch nicht so schlimm ist.«

Acht Monate Bundesheer gegenüber zwölf Monaten Zivildienst, wobei beim Zivildienst eine Wartezeit von sicher einem Jahr bestand. Die konnte man zwar mit dem Beginn des Studiums überbrücken, aber irgendwie passte das nicht in den eingeschlagenen Weg des Erfolgs. Irgendwie zu krumm. Zu wenig geradlinig. Mein Weg war ja eine endlose Gerade ausgerichtet am Erfolg. Also Bundesheer.

Die beiden Monate Grundausbildung waren schlimm. Aber nur zwei Monate. Körperliche Ertüchtigung in Kombination mit dem Zerbrechen des eigenen Willens. Dabei war der erste Punkt problematischer. Ich war nie besonders sportlich. Unter dem zweiten Punkt litten die meisten der Kameraden mehr. Wir waren eine sogenannte Intellektuellenkompanie, fast ausschließlich Soldaten mit Maturaabschluss. Viele Kameraden bildeten sich ein, Persönlichkeiten zu sein, deren Wille nicht gebrochen werden sollte. Ich hielt mich raus aus den Diskussionen. Ich besaß ja weder Persönlichkeit noch einen eigenen Willen. Allein durch sportliche Nichtleistungen fiel ich auf, ich hatte in erster Linie Angst vor dem 40-Kilometer-Marsch, den ich dann irgendwie überlebte.

Nach der Grundausbildung erkannte man meine wahren Fähigkeiten. Und weil man gerade einen Zubau in der Kaserne plante, nutzte man die auch. Die restlichen sechs Monate verbrachte ich die Tage mit Zeichnen von unzähligen Plänen und die Nächte mit Saufen, da das Bier in der Kasernenkantine unglaublich billig war. Während alle anderen das Abrüsten als größten Rausch feierten, begann für mich an diesem Tag mein zweiter Entzug und, welch interessante Parallele, meine zweite Entscheidung. Vielleicht ist ja mein Leben nur deshalb falsch verlaufen, weil ich sämtliche wichtige Entscheidungen immer im Zustand des Entzugs getroffen habe.

Die zweite Entscheidung galt nicht der Zukunft von acht oder zwölf Monaten, sie sollte ein Leben lang halten. Welches Studium? Klar war die Universität. Die Technische. Der gerade Weg. Gym-HTL-TU. Aber welches Studium? Natürlich musste es ein Studium mit Zukunft sein. Also schied Architektur aus. Unter meinen Talenten hatte sich in der HTL die Mathematik als größtes herausgestellt. Ob es aber für Technische Mathematik reichen würde, war ich dann doch unsicher. Am naheliegendsten war Bauingenieurwesen. Der gerade Weg. Der geradeste unter den geraden Wegen. Eigenartig, dass die Entscheidung dann doch nicht dieser Geradlinigkeit folgte: Vermessung und Geoinformation.

Die kleine Vermessungsübung in der HTL hatte mir gefallen. Die viele Mathematik war okay. Dazu Geometrie, räumliches Denken, da hatte schon mein Vater meine Begabung erkannt, also Vermessung und Geoinformation, nicht der ganz gerade Weg, aber ein sehr gerader Weg.

Nach der Entscheidung nach dem Was folgte die Entscheidung nach dem Wo. Da war der Entzug schon fast geschafft. Fünf Tage ohne einen Tropfen.

Ich hatte immer in Kleinstädten gelebt. Nicht ganz Land und nicht ganz Stadt. Eigentlich hatte diese Lebensform mein Vater entschieden. Für ihn ist es die optimale Kombination von Stadt und Land, von Leben und Natur. Heute sehe ich darin ein Weder-Noch. Weder Stadt noch Land, weder Natur noch städtisches Leben. Damals habe ich Wien gewählt. Graz wäre dem Kleinstadtidyll näher gekommen. Meine Entscheidung aber war Wien. Aus dem Bauch heraus. Vielleicht die ersten Anzeichen, dass irgendetwas doch nicht stimmen konnte mit dem geradlinigen Weg. Meinem Vater erklärte ich es damit, wenn schon Stadt, dann richtige Stadt. So warf ich mich in den Schlund der Metropole.

»Bist du sicher?« hat meine Mutter gefragt.

Zuerst habe ich ihre Frage nicht richtig verstanden. Dann aber natürlich, sie hat in Wien studiert, das heißt, sie hat versucht, in Wien zu studieren.

»Wien ist ein schrecklicher Ort«, hat sie gesagt.

Es heißt, Wien habe sie zerbrochen. Mein Vater hat das immer abgestritten. Aber im Elternhaus meiner Mutter, dem Bauernhof, wo sie jetzt auch wieder ist, da war die Meinung ganz klar. Wien sei schuld an allen Depressionen, nichts anderes als diese furchtbare Stadt habe die Tochter für immer zerstört. Und nicht nur, weil sie nicht genommen worden ist auf der Akademie. Weil ihre Begabung scheinbar nicht ausgereicht hat.

Man könnte die Geschichte meiner Mutter recht einfach erzählen: Sie wächst auf in einem abgelegenen Bauernhof. Sie will ausbrechen. Sie bewirbt sich auf der Akademie für Bildende Künste. Sie wird nicht genommen. Als Ersatzstudium wählt sie Philosophie und Psychologie. Massenstudium. Sie schafft es nicht. Sie bricht zusammen. Komplett. Es bleibt nichts über. Also zurück in die enge Welt des weiten Landes. Depressionen. Kompletter Misserfolg. Mein Vater sieht sie und ist sich sicher, ihr das Leben retten zu können. Dabei entstehe ich. Nach vielen Jahren des Scheiterns ihrer Errettung scheitert auch die Ehe. Rückkehr in die Welt des Bauernhofes. So einfach könnte man die Geschichte meiner Mutter zeichnen. Natürlich ist das viel zu einfach. Ich sehe dann doch alles anders. Dabei weiß ich so wenig. Meine Mutter eine missratene Künstlerin? Ich habe meine Mutter nie als Künstlerin gesehen. Natürlich freute es mich, wenn es ihr zu malen gelang. Aber eine Künstlerin? Das war sie nie. Im Grunde habe ich keine Ahnung, wer meine Mutter war und wie sie ist. Jetzt zwei Monate kein Kontakt. Ob sie überhaupt noch lebt?

Jedenfalls fragte sie, ob ich mir sicher sei, und ich habe ja gesagt, um sie nicht zu beunruhigen. Natürlich war ich nicht sicher. Wäre nicht möglich gewesen bei der dritten Entscheidung meines Lebens. Ich ging nach Wien und bekam keine Depression, sondern hatte Erfolg. Also schien es die richtige Entscheidung gewesen zu sein.

Das Studium der Vermessung und Geoinformation war so organisiert, dass von den ursprünglich dreißig Immatrikulierten innerhalb des ersten Monats die Hälfte aufgab. Man könnte das als Auslese bezeichnen, jedoch bekamen nach diesem Monat die Professoren Panik, ob überhaupt Studenten übrig blieben. Daher kam irgendwann ein Professor in die Mathematikvorlesung und erklärte uns, dass man dieses Studium doch auch erfolgreich abschließen könne. Dieses Gefühl war uns nämlich im Laufe dieses ersten Monats genommen worden.

Auch ich war verzweifelt, weil sich zum ersten Mal in der Geschichte meines Lebens ein Misserfolg abzuzeichnen drohte. Mein Vater sprach vom Durchhalten und davon, dass jene Erfolge am schönsten seien, wo man vorher keine Möglichkeit des Erfolgs sehe. Man müsse dann trotzdem ganz fest daran glauben und hart arbeiten. Einen Monat später waren die ersten Tests und Prüfungen und Abgaben und er sollte Recht behalten. Ich war erfolgreich! Worin er aber nicht recht hatte, war die überwältigende Freude. Die stellte sich nämlich immer erst dann ein, wenn ich meine Erfolge mit Alkohol feierte, und dann war sie immer nicht erfolgs- sondern alkoholbezogen.

Die ersten beiden Studienjahre verbrachte ich in einem Studentenheim. Da gab es regelmäßig Feste mit viel Alkohol und vielen Frauen. Leider überstieg mein Konsum an der Droge jedes Mal jenen Level, der die Möglichkeit, einem weiblichen Wesen den Hof zu machen, begrenzte. Auch meine Vergangenheit in einer männerdominierten Bildungsanstalt und die damit verbundene fehlende Erfahrung schränkten mich im Spiel der Geschlechter deutlich ein. Ich hatte wenig bis gar keinen Erfolg, wenn es darum ging, das biologische Bedürfnis der Geilheit zu befriedigen. Hin und wieder gelangen mir Küsse. Im Wesentlichen passierte nichts. Eine Studienkollegin interessierte sich kurz für mich, was mich irritierte, denn eigentlich hätte ich ihr Rekeln auf meinem Bett schon recht gerne gesehen, aber die Tatsache, dass man sich dann wieder gemeinsam der höheren Mathematik widmen musste, erschien mir so absurd, dass ich alles falsch machte. Erfolg im Studium. Misserfolg in der Liebe. Einmal wird die Richtige dastehen, versuchte ich mich zu trösten, immer wenn nach dem Wichsen die Einsamkeit als schwerer Schleier hereinbrach. Auch Freunde hatte ich nicht wirklich. Da waren die ganzen Studienkollegen, aufgrund der kleinen Gruppe war man eng zusammengeschweißt, erarbeitete viele Erfolge gemeinsam, aber richtige Freundschaften entstanden dabei nicht. Daneben gab es einige alte Bekannte aus der HTL, die gleich mir den Gang nach Wien gewagt hatten. In regelmäßigen Abständen wurden gemeinsame Abende organisiert, wo man mich oft finden konnte. Außer viel Alkohol und die alten Geschichten passierte jedoch vor allem keine Freundschaft. Es gab immer viele Menschen um mich herum, und ich konnte sie alle gut leiden. Aber im Grunde blieb ich allein. Einige versuchten dann doch, mit irgendwelchen Problemen in mein Innerstes vorzudringen. Ich konnte sie dann nie verstehen. Grundsätzlich steigerte ich den Alkoholkonsum immer mehr, dennoch gelang es mir, den Alkoholismus in seine Schranken zu weisen, so dass er dem Studienerfolg nicht wirklich gefährlich werden konnte.

So vergingen vier Jahre. Vier komplett uninteressante Jahre. Warum überhaupt erzähle ich davon? Ich wurde ausgebildet. Ich war in Mindestzeit. Das war ein hervorragender Erfolg. Durchschnittliche Studiendauer in der Geodäsie 17,4 Semester. Nach acht Semestern vier Fünftel des Studiums absolviert. Voraussichtliche Studiendauer zehn Semester! Mindestzeit! Mein Vater war zufrieden. Meine Mutter war zufrieden. Ich war unzufrieden, hatte aber Beschäftigung genug, es nicht zu merken. Warum eigentlich ist alles nicht früher zerbrochen? Das frage ich mich jetzt. Warum habe ich nicht eher erkannt, dass mein Leben falsch lief? Warum nicht schon Jahre, ja Jahrzehnte früher? Hat es nicht manchmal Momente gegeben? Wie habe ich es nur geschafft, darüber hinwegzusehen? Wie konnte ich nur? Habe ich wirklich geglaubt, ich könnte der Geodäsie irgendwie dienlich sein? Ich stelle mir vor, ich hätte es bereits früher gemerkt, mittlerweile das richtige Leben gefunden und würde nun glücklich und zufrieden sein. Doch dabei gibt es drei Probleme. Die Ausdrücke richtiges Leben, glücklich und zufrieden verstehe ich nicht einmal im Ansatz, sie entziehen sich gänzlich meiner Vorstellungskraft.

Vergessen habe ich bei meiner Erzählung, dass ich nach zwei Jahren vom Studentenheim in eine Wohngemeinschaft umgezogen bin. Der Vater hat gemeint, es wäre nun an der Zeit, eine erste Wohnung die meinige zu nennen. Gemeinsam mit einem Studienkollegen begann die Suche nach einer schicken Altbauwohnung im Vierten Bezirk. Das Zusammenleben mit dem Studienkollegen sollte meinem Erfolg genauso dienlich sein wie die Lage nahe der Universität. Schließlich fanden wir die optimale Wohnung, ruhig, sonnig, getrennt begehbare Zimmer, Riesenzimmer nach den engen Schlupfwinkeln im Studentenheim, Küche, Bad, WC, nicht ganz billig, aber mein Vater konnte es sich leisten. Die neue Behausung wirkte sich positiv auf meinen Erfolg aus. Mehr ist darüber nicht zu sagen, außer dass ich froh bin, vor sechs Wochen dort aus und hier in diesem Wohnungsloch eingezogen zu sein.

Und dann kam dieser Anruf.

Vor etwa einem Jahr muss es gewesen sein. Irgendwie habe ich ihn zum Symbol stilisiert, der Anfang vom Ende wurde eingeläutet. Dabei ist noch nicht viel passiert während dieses Telefonats. Außergewöhnlich daran nur, meine Mutter rief mich an. Lediglich an drei Anrufe von ihr während des ganzen Studiums kann ich mich erinnern. Normalerweise musste ich immer meine Mutter anrufen. Das war schwierig. Ich zwang mich dazu. Einmal im Monat. Dagegen wöchentlich mit dem Vater zu telefonieren bereitete keinerlei Schwierigkeiten.

Also plötzlich läutet das Telefon. Es ist meine Mutter. Sie redet gleich los. Sie macht eine Vernissage. Zu Ostern. In zwei Monaten also. Die erste öffentliche Ausstellung meiner Mutter. Und ich verstehe es nicht. Und ich sage toll. Und meine Mutter freut es, dass es mich scheinbar freut. Doch was ich denke, verschweige ich. Warum eine Vernissage? Was mich dann wirklich freut, wenn meine Mutter eine Vernissage plant, es wohl unmöglich ist, dass sie gerade in der Depression steckt. Meine Mutter also gerade stabil. Toll für meine Mutter. Es wird sich wieder ändern. Wozu aber eine Vernissage? Ich hole meinen Kalender. Natürlich kann ich kommen. Die Vernissage wo? Auf einem Bauernhof? Auf einem anderen Bauernhof, einem sich selbst so ernannten Kulturbauernhof in der Nähe von Gmunden. Toll. Natürlich komme ich. Ich verstehe es nur nicht. Wie aber könnte ich es verstehen in diesem Moment, wo alle Gedanken auf die nächste Prüfung konzentriert sind. Wie immer.

Ich lege auf, schreibe den Termin in meinen Kalender wie einen Prüfungstermin. Die Vernissage meiner Mutter. Keine weiteren Gedanken. Ich setze mich wieder an meine Unterlagen. Weiterlernen. Keine weiteren Gedanken verschwenden.

Diesen Anruf benenne ich heute als das erste Zeichen. Selbst wenn ich es nicht im Geringsten geahnt habe, damit begann der Zusammenbruch meines damaligen Lebens, das ich heute scheinbar nenne.