Machbar. Gut gegen Aufschieben. - Christina M. Beran - E-Book

Machbar. Gut gegen Aufschieben. E-Book

Christina M. Beran

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Beschreibung

Neue Wege aus der Prokrastination Es gibt kaum jemanden, der noch nie eine Aufgabe vor sich hergeschoben hat. Angebliche Lösungen, wie das allseits bekannte Zeitmanagement frustrieren und erweisen sich als nicht hinreichend hilfreich. Die Psychologin Christina Beran zeigt, wie man den Weg aus der Prokrastination schaffen kann. Sie erklärt, was es wirklich braucht – abseits von To-Do-Listen – um zielgerichtet arbeiten zu können. Dabei berichtet sie zwischendurch auch aus ihrem persönlichen Aufschiebealltag und räumt humorvoll mit Mythen auf. Eine freundliche Begleiterin in Buchform, um Aufgaben machbar werden zu lassen.

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Christina M. Beran

Machbar. Gut gegen Aufschieben.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2023 maudrich Verlag

Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien, Austria

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie

der Übersetzung, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Facultas Verlags- und Buchhandels AG

Umschlagbild: © Roman, AdobeStock; Klappe vorne: © strichfiguren.de, AdobeStock

Lektorat: Mag. Katharina Schindl, Wien

Typografie und Satz: K. Strobl, Neunkirchen/NÖ

Druck: Finidr, Tschechien

ISBN 978-3-99002-153-8 (Print)

ISBN 978-3-99111-637-0 (E-Pub)

Vorwort

Rechnungen sind zu bezahlen? Jetzt nicht. Ein Arzttermin ist auszumachen? Später. Eine Präsentation ist fertigzustellen? Morgen genügt. Dann geht es wahrscheinlich auch besser. Sport stünde auf dem Programm? Heute sind Sie zu müde dafür. Ein Artikel muss geschrieben werden, weil der Abgabetermin ansteht? Sie sind nicht inspiriert. Besser Fenster putzen. Das schieben Sie sonst zwar lieber auf, aber jetzt ist Putzen wesentlich verlockender als sich hinzusetzen und zu schreiben. Ein Kapitel ist noch zu lernen? Ach was! Die Seiten können ja morgen neu durch die Anzahl der bis zur Prüfung verbleibenden Tage dividiert werden. Ernährung anders gestalten? Am Montag dann. Das ist ein guter Tag zum Anfangen. Nächsten Montag. Kein Problem. Oder doch?

Wenn es Ihnen so oder so ähnlich geht, sind Sie nicht allein. Denn die meisten von uns (je nach Studienlage bis zu 95 % aller Menschen) kennen Situationen nur allzu gut, in denen – durchaus dringende und wichtige – Aufgaben zur Erledigung anstehen. Aber wir fangen einfach nicht an. Obwohl es eine gute Idee wäre und die Zeit mitunter drängt. Wir schieben auf.

Aufschieben kann alle Bereiche des Lebens betreffen. Die Kombinationen können dabei unterschiedlich sein: Im Job sind Sie immer on time, einen Arzttermin für sich selbst auszumachen wird aber von Woche zu Woche verschoben? Oder umgekehrt. Zu Hause läuft nahezu alles wie am Schnürchen, aber auf dem Schreibtisch im Office herrscht Chaos? Das kennen Sie? Dann kennen Sie vermutlich auch die unangenehmen Gefühle, die das Aufschieben begleiten. Und dann gibt es manchmal diesen Moment, in dem Sie sich sagen: „Also gut. Irgendwann muss es ja sein.“ Dann geben Sie sich einen Ruck. Und beginnen. Mit einer To-do-Liste.

Eine To-do-Liste kann hilfreich sein: Sie verschaffen sich damit einen Überblick und setzen Prioritäten. Vor allem wenn die Liste am Abend in Gedanken immer länger wird, ist es gut, sie quasi aus dem Kopf „hinauszuschreiben“. Gut. Aber, und das haben Sie vielleicht auch festgestellt, Ihre Erwartung, dass Ihr Problem am nächsten Tag damit gelöst wäre und Sie ins Tun kommen, wird enttäuscht. Sie sind zwar um eine Liste reicher, treten aber dennoch auf der Stelle. Es geht einfach nichts weiter. Oder Sie haben immer noch nicht begonnen. Das kennen viele von uns. Auch die finstere Wolke des schlechten Gewissens über Ihrem Haupt, die mit dem Aufschieben oft einhergeht und gehörig Druck aufbauen kann. Manchmal ist es gerade der Druck, sagen Sie, auf den Sie warten, und dann – auf einmal – geht es. Irgendwie. Mit hängender Zunge und auf den letzten Drücker. Und dann beschließen Sie, dass es das nächste Mal anders werden muss. Dann wird wirklich früher begonnen. Rechtzeitig und in Ruhe. Ein guter Entschluss. Keine Frage. Aber dann wird das nächste Mal zu diesem Mal und alles beginnt wieder von vorne. Täglich grüßt der Teufelskreis.

Manchmal, das kann auch sein, wird der Stress aufgrund des Aufschiebens so groß, dass überhaupt nichts mehr geht. Dann kommt etwas dazwischen, der Termin verstreicht oder Sie sagen ab. Frustrierend.

Vielleicht werden Sie auch ein bisschen ärgerlich: Was soll denn so schlimm sein am Verschieben, bitte sehr? Morgen ist schließlich auch noch ein Tag. Aber Sie möchten so gerne fertig werden, Dinge auf die Reihe bekommen, Ziele erreichen, die schwarze Wolke loswerden. Weil es auch ein sehr gutes Gefühl ist, Ziele aus eigener Kraft zu erreichen, dieses Selbstvertrauen, das Sich-auf-sich-selbst-verlassen-Können, Selbstwirksamkeit. Aber wie geht das? Genau das behandelt dieses Buch: den Weg vom Aufschieben zum Fertigwerden.

Dafür braucht es aktuelles Know-how über das menschliche Verhalten samt ein bisschen Myth Busting. Weil man beispielsweise mit dem oft genannten Ansatz des Zeitmanagements (trotz der situationsbedingten Nützlichkeit) nicht weiterkommt. Ebenso wenig wie mit der Hoffnung, dass sich die Dinge von selbst erledigen, oder mit der Erwartung, dass sich in naher Zukunft ein kleines Wunder ereignet und einem die unangenehmen, langweiligen, mühsamen, lästigen Dinge plötzlich ganz leichtfallen.

Also werden wir uns in diesem Buch einen Überblick darüber verschaffen, was hinter dem Aufschieben steckt. Dazu bedienen wir uns aktueller Erkenntnisse aus der Psychologie (unter anderem der Sozialpsychologie, der Klinischen, Gesundheits- und Positiven Psychologie), den Neurowissenschaften (Gehirnforschung), der Verhaltensökonomik (die sich damit befasst, wie sich Menschen in wirtschaftlichen Situationen wirklich verhalten) und der Evolutionspsychologie (die mit Erkenntnissen der Evolutionsforschung Erleben und Verhalten erklärt). Mit dabei: Beispiele aus der psychologischen und beratenden Praxis.

Ab und an werde ich auch eine persönliche Erfahrung teilen. Aber Sie werden sehr gut unterscheiden können, was aus den wissenschaftlichen Studien, was aus der gelebten psychologischen Praxis und was aus der persönlichen Beobachtung stammt. Diese Unterscheidung ist mir wichtig, damit Sie wissen, was sozusagen „amtlich“ ist, was sich anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis (also auf der Umsetzungsebene) als hilfreich erwiesen hat und was einzelne oder persönliche Beobachtungen oder Erfahrungen sind – sodass Sie auf verschiedenen Ebenen Eindrücke sammeln können. Darüber hinaus sollen Ihnen die Erkenntnisse ermöglichen, das Phänomen zu verstehen, was wiederum Ausgangspunkt für den individuellen Weg zum gewünschten Verhalten ist. Verständnis bildet die Basis und kann schon sehr hilfreich sein. Vielleicht erleben Sie auch den einen oder anderen Aha-Moment. Vielleicht werden Sie inspiriert, vielleicht werden Sie im einen oder anderen Ihrer eigenen Lösungsansätze bestärkt, vielleicht streben Sie eine Verhaltensänderung an. Dazu muss man ungeschönt und deutlich sagen: Neues Verhalten braucht Geduld und Energie. Am besten mit einer freundlichen oder auch liebevollen Haltung sich selbst gegenüber – das Ziel dabei fest im Blick.

Nun zu uns beiden. Es freut mich, dass Sie zu diesem Buch gegriffen haben, denn so lernen wir einander über diese Seiten kennen. Ich möchte, dass Sie ein wenig von mir erfahren und auch darüber, wie ich zum Thema dieses Buches kam.

Ehrlich gesagt, hat das Thema mich gefunden. Anlässlich einer Tagung (ich bin übrigens Psychologin und als solche auch Vortragende, und das mit großer Begeisterung) bekam ich die Einladung, ein Referat zum Thema Prokrastination (chronisches Aufschieben) zu halten. Der Titel der Veranstaltung lautete „Zeit“ – dazu schien das Aufschieben von Aufgaben gut zu passen. Ich nahm die Einladung an und machte mich an die Arbeit. Ich begann so, wie ich immer beginne, wenn ich mich in ein Thema einarbeite: mit Recherchen – das gehört zu den Hausaufgaben von Vortragenden, denke ich.

Ich beschäftige mich schon lange damit, wie Entscheidungen zustande kommen (höchst emotional), was unser Verhalten vorrangig beeinflusst (zumeist unbewusst) und welche Rolle unser Gehirn bei alldem spielt (eine prominente). Bei besagten Recherchearbeiten ergab sich bald ein Problem. All das, was sich bis dahin an Erkenntnissen aus Theorie und Praxis in meinem psychologischen Fundus angesammelt hatte, wollte nicht recht zu den gängigen Ansätzen (vor allem der Selbsthilfeliteratur) von Prokrastination passen. Die persönliche Forschungslage lautete: unbefriedigend.

Nun sind Psycholog:innen ein recht neugieriges Volk und wollen immer ganz genau wissen, wie etwas wirklich ist. Das heißt: Wie sieht der wissenschaftliche Status quo aus und was ist in der Praxis relevant und hilfreich? Man könnte auch sagen, dass wir der Natur der Dinge so nahe wie möglich kommen wollen. Das ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist, aber wir versuchen es. In meinem Fall stellte sich heraus, dass die Forschung besonders im deutschsprachigen Raum rund um das Thema – sagen wir – noch ordentlich Luft nach oben hatte. Das verändert sich zwar zunehmend, aber ich habe immer noch den Eindruck, dass die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse den Weg in den Mainstream noch nicht ausreichend gefunden haben.

Erst als ich mich mit meinen Recherchen in Richtung englische, USamerikanische und kanadische Studien aufmachte, wurden die Informationen dichter. Viel dichter. Endlich passten auch Studienergebnisse zum aktuellen Kenntnisstand von Verhaltensökonomik, Entscheidungs- und Emotionsforschung. Das immer stimmiger werdende Bild zeigte immer deutlicher in eine Richtung: Aufschiebeverhalten ist kein Zeitmanagement-Problem, sondern ein Problem des Managements von Emotionen rund um eine unangenehme Aufgabe. Eine britische Kollegin merkte dazu in der New York Times an, dass es eigentlich höchst irrational ist, etwas aufzuschieben. Weil es keinen Sinn ergibt, ein Verhalten an den Tag zu legen, das mit negativen Konsequenzen einhergeht. Oft beginnt eine chronische Prokrastination, weil es nicht gelingt, negative Stimmungen rund um eine Aufgabe zu managen. Wir sind demnach schlechte Stimmungsmanager:innen. Das ist nicht schmeichelhaft, aber leider allzu oft wahr.

Natürlich gehöre ich zu den eingangs erwähnten 95 %, die in ihrem Leben schon einmal etwas aufgeschoben haben. Meine Top 3 inklusive Beziehungsstatus sind:

1 Die Steuererklärung (ich bin selbstständig). Beziehungsstatus: Na ja.

Die Steuerklärung und ich haben uns einen Modus Vivendi erarbeitet, der ganz gut funktioniert. Begeistert bin ich immer noch nicht von ihr, aber ich erzähle Ihnen gerne, was für mich dabei hilfreich ist.

2 Sport. Beziehungsstatus: Prächtig.

Da ist mir im Kopf der „Knopf aufgegangen“ und ich werde Ihnen berichten, wie es dazu kam.

3 Ordnung auf dem Schreibtisch samt Ablage. Beziehungsstatus: Kompliziert.

Dafür kann ich nichts, weil, wie allgemein bekannt ist, Papier sich von selbst vermehrt (am liebsten über Nacht). Das ist vielleicht schön für das Papier, mir gefällt es aber nicht.

Einige Jahre, viele Vorträge, Klient:innen, Seminare und Webinare später fasse ich in diesem Buch für Sie zusammen: Was man unter Aufschieben versteht und was nicht darunterfällt. Warum Zeitmanagement (allein) nicht funktioniert und bei allem guten Willen ein logischer, vernünftiger Ansatz oft nicht weiterhilft. Wie Körper und Gehirn zusammenarbeiten. Auch wenn dabei nicht immer bzw. von selbst herauskommt, was wir uns wünschen. Was man unter psychologischer Distanz versteht und was das mit Aufschieben zu tun hat. Was Erwachsene von Kindern, die erfolgreich Süßigkeiten widerstehen, lernen können. Wie hilfreich ein Nougathase oder ein Buddy sein können. Wie ganz und gar nicht hilfreich das Versinken in den unendlichen Weiten der digitalen Welt, insbesondere der sozialen Medien, ist und was der Dank an das gestrige Selbst mit dem erfolgreichen Umsetzen von Plänen im Heute zu tun hat. Von morgen ganz zu schweigen.

Was dieses Buch nicht kann: ungeliebte, mühsame Aufgaben für Sie zu Ende bringen oder mittels Zauberstabs dafür sorgen, dass keinerlei Anstrengung nötig ist. Denn es braucht Energie, um Dinge anzupacken, anders als gewohnt zu agieren oder sein Verhalten zu ändern. Es ist natürlich auch kein Ersatz für psychologische Diagnostik, Behandlung, Beratung oder Therapie.

Was dieses Buch kann: Ihnen bei der Erledigung von Aufgaben und beim Erreichen von Zielen freundlich und hilfreich zur Seite zu stehen, Sie inspirieren und für den einen oder anderen Aha-Moment sorgen. Aha-Momente sind eine feine Sache, weil es motiviert und glücklich macht, wenn einem plötzlich ein Licht aufgeht, auf einmal etwas Sinn ergibt und eine Lösung am Horizont erscheint. Das ist dann Ihr ganz eigener Ansatz, aus eigener Kraft erkannt, auf Ihre eigene Art erreicht – und glauben Sie mir: This makes a hell of a difference!

Allzu viel sei an dieser Stelle aber noch nicht verraten, damit die Neugierde bleibt. Die hilft Ihnen dabei, dranzubleiben und weiterzulesen. Und das wollen wir ja.

Für Betroffene, Interessierte und Neugierige sowieso.

Wien, im Juli 2022

Ihre Christina M. Beran

Inhaltsverzeichnis

AUFSCHIEBEN IN GUTER GESELLSCHAFT

Vom Aufschieben und Prokrastinieren

Ein altbekanntes Phänomen

Aufschieben – leider keine Lösung

GUTE IDEEN, ABER MIT UPDATE

Von der To-do-Liste zur Liste+ (Liste Plus)

Zeit, Zeitmanagement und Priorisieren

MYTHEN, DIE NICHT HELFEN, UND WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE, DIE HELFEN

Ein Menschenbild als Problem – der Homo oeconomicus

Erkenntnisse mit Nobelpreis

Unser Hirn ist nicht zum Denken da

Emotionen und Körperentscheidungen

Der aufgeschobene Schlaf

Kohärenz – Bedürfnisse in Balance

Neuroplastizität – das entwicklungsfreudige Gehirn

Das gegenwärtige und das zukünftige Selbst

Unangenehmes wird durch weniger Unangenehmes ersetzt

Langeweile oder Flow

BEST-OF-MIX AUS DER PSYCHOLOGISCHEN PRAXIS

Scheibchenweise oder: Das Prinzip der lächerlich einfachen Schritte

Nur nichts anderes machen

Doch etwas anderes: Aufgaben-Ping-Pong

Ein erfolgreiches Duo: Machbarkeit und Aufgaben-Ping-Pong

Achtsamkeit

Gemeinsam statt einsam – der Buddy-Deal

Wann positives Denken nicht genügt

Probedurchlauf im Kopf – mit mentalem Tryout zum Ziel

Ziel erreicht – was nun?

Nachwort und Begleitung

Erwähnte weiterführende Literatur

Personenverzeichnis

Stichwortverzeichnis

AUFSCHIEBEN IN GUTER GESELLSCHAFT

Vom Aufschieben und Prokrastinieren

Wenn wir über „Aufschieben“ sprechen, wissen wir, was damit gemeint ist. Ganz nüchtern betrachtet, geht es um Aktivitäten, Aufgaben, Entscheidungen, Ziele, die wir auf einen späteren Zeitpunkt verlegen. Das ist nicht per se negativ. Wir haben tagtäglich viele größere und kleinere Entscheidungen zu treffen, und das in einer immer komplexer werdenden Welt. Dabei ist Flexibilität gefragt. Etwas auf morgen zu vertagen, kann durchaus hilfreich sein. Eine Nacht „darüber zu schlafen“ kann zum Beispiel eine sehr gute Idee sein, bevor man ein folgenreiches E-Mail abschickt. Auch einen Text liegenzulassen und nach einer Verschnaufpause frisch Korrektur zu lesen kann dem Endergebnis guttun. Gebügelt werden kann auch an einem anderen Tag. Am besten dann, wenn eine neue Folge der Lieblingsserie läuft. So wir einen zeitlichen Puffer haben und das Vertrauen in uns selbst, dass wir die Dinge zum gewählten Zeitpunkt auch tatsächlich erledigen. Schwierig wird es, wenn die Bilanz von Absicht minus Handlung bzw. Intention minus Umsetzung häufiger negativ ausfällt, als uns lieb ist, und wir weder morgen noch übermorgen noch überübermorgen Herr:in der Lage werden. Erst wenn Aufschieben chronisch wird und eine klinisch relevante Symptomatik darstellt, verwenden wir in der psychologischen Praxis den Begriff „Prokrastination“ und empfehlen professionelle Unterstützung. Wenn wir denn Begriff verwenden, sollen wir wissen, dass er sich aus den lateinischen Wörtern „pro“ („für“) und „crastinum“ („der morgige Tag“) zusammensetzt. Prokrastinieren und Aufschieben werden mit einem eindeutig negativen Touch im Alltag oft synonym verwendet. Wir tun das nicht. Wir befassen uns ganz offiziell mit dem Aufschieben, das sich immer weiter zu verbreiten scheint. Dabei ist es kein neues Phänomen. Ganz im Gegenteil.

Ein altbekanntes Phänomen

Hesiod (700 v. Chr.)

Lesen Sie gerne? Ich war schon als Kind ein Bücherwurm und das hat sich bis heute nicht geändert. Während des ersten Lockdowns aufgrund der Covid-19-Pandemie habe ich einige Klassiker und meine Freunde, die Philosophen, wieder ausgegraben.

Ich mag die Auseinandersetzung mit historischen und philosophischen Werken. Sie verbindet mich mit klugen Gedanken über Jahrtausende (!) hinweg und ich komme nicht umhin festzustellen, dass wir Menschen uns schon lange und immer wieder dieselben Fragen stellen. Und dass sich in vielerlei Hinsicht an unserem Verhalten überhaupt nichts ändert. Das kann zeitweise frustrierend, aber mitunter auch entlastend sein.

Gehen wir in der Zeit zurück und halten Ausschau nach einem gewissen Herrn Hesiod im alten Griechenland. Er lebt dort als Ackerbauer und Viehzüchter und ist zudem, was man heute „prominent“ nennt. Er schreibt nämlich zum Beispiel Lehrgedichte. Bis heute wird er als mindestens so bedeutend wie Homer mit seiner „Illias“ und „Odyssee“ gehandelt, da er uns Einblicke in das damalige Leben ermöglicht. Das schätzen wir natürlich. Wir bemerken aber auch, dass Hesiod neben all seiner Prominenz und Bedeutung auch Mensch ist und in einem seiner Hauptwerke, den „Hauslehren“ (in jüngerer Zeit auch mit „Werke und Tage“ übersetzt), recht grantig (miesepetrig) wirkt. Wir erfahren, dass er mit seinem Bruder Perses im Streit liegt. Der hat nämlich, wie Hesiod findet, unfairerweise geerbt (also zu Hesiods Ungunsten). Wie man es von einem Dichter erwarten kann, nimmt Hesiod den Konflikt und die vermeintlich erlittene Ungerechtigkeit zum Anlass, schriftlich über den Menschen an sich nachzudenken.

Schriftliches Nachdenken, also Schreiben, kann, das ist mittlerweile gut untersucht, positive bis therapeutische Effekte haben. Es beginnt beim Klären der Gedanken und geht über die Verarbeitung von negativen Erlebnissen bis zum Dankbarkeitstagebuch der Positiven Psychologie. In diesem werden, wie der Name schon vermuten lässt, Dinge festgehalten, für die man dankbar ist. Jeden Tag. Das Ergebnis: Man ist nachgewiesenermaßen zufriedener. Das hätte Hesiod vielleicht wissen sollen. Zufrieden wirkt er nämlich nicht unbedingt. Vielmehr hagelt es in seinem Werk seitenweise Verhaltensregeln. Darunter auch ganz gute wie „Wer dich liebt, den rufe zum Mahl; fern bleibe der Hasser“ oder „Nur der Gerechtigkeit folg’ und gänzlich vergiß der Gewaltthat“. Hesiods Werk liest sich über weite Strecken wie ein Almanach oder Bauernkalender. Man erfährt, wann am besten zu säen und zu ernten ist, Dresscode inklusive: „... nackend gesät, und nackend gepflüget, nackend geschnitten die Frucht ...“ Das ist natürlich sehr erhellend. Außerdem nachhaltig, weil kleiderschonend. Gibt es vielleicht auch etwas zur Prokrastination, Herr Hesiod? Gibt es: „Nichts auch werde verschoben zum morgenden Tag’ und darüber. Denn kein säumiger Mann wird je anfüllen die Scheuer, kein aufschiebender auch; nur Ämsigkeit fördert die Arbeit. Doch wer ein Werk aussetzt, der Mann ringt immer mit Drangsal.“

Also wurde schon um 700 v. Chr. aufgeschoben. Unser griechischer Griesgram warnt aber nicht nur vor den Folgen, er liefert auch gleich den Lösungsansatz mit, wie es sich für einen frühzeitlichen Ratgeber gehört: „Vor die Trefflichkeit setzen den Schweiß die unsterblichen Götter ... durch fleißiges Tun wirst du den unsterblichen Göttern angenehm und den Menschen; doch müßige sehn sie mit Abscheu.“ Na, dann hätten wird das ja auch geklärt. Die Götter mögen das Aufschieben nicht. Ebenso wenig wie die Menschen. Und: geschwitzt muss werden. Soll ja gesund sein.

Wahrscheinlich, werte aufmerksame Leser:innen, ist Ihnen nicht entgangen, dass mir Hesiod nicht sonderlich sympathisch ist (ungeachtet seiner Verdienste). Das mag daran liegen, dass er ein ganz eigenes Frauenbild hat, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte: „Wer dem Weibe vertraut, der vertraut auch losen Entwendern“ – damit sind wohl Betrüger oder Diebe gemeint. Kein Kommentar!

Marc Aurel (121–180 n. Chr.)

Die Ausführungen von Marc Aurel, seines Zeichens römischer Kaiser und Philosoph, gefallen mir um einiges besser. Wie zum Beispiel: „Der Gott in dir führe das Regiment, welchem Geschlecht, Alter, welcher Abkunft und Stellung du nun auch angehören magst ...“

Marc Aurel hat sich viele interessante Gedanken über das Sein und Werden gemacht. Einige davon sind in den „Selbstbetrachtungen“ zusammengetragen. Sie geben Einblick in die Ideenwelt eines Menschen, der damit ringt, sich mit größtmöglicher Gelassenheit in das ihm vorherbestimmte Schicksal zu fügen. Die Grundhaltungen seiner philosophischen Richtung, der Stoa, sind Leidenschaftslosigkeit (Apathie), Unerschütterlichkeit (Ataraxie) und Selbstgenügsamkeit (Autarkie). Ich erzähle Ihnen das deshalb, damit wir vor Augen haben, wonach Marc Aurel strebt. Er verpflichtet sich zu einem höchst reflektierten Leben und hadert dennoch mit Ablenkungen. Das kennen wir. Auch wenn unsere Ablenkungen von etwas anderer Art sind. Denn aus den „Selbstbetrachtungen“ erfahren wir, dass Marc Aurel sehr dankbar dafür ist, dass ihn seine Mentoren wie beispielsweise Diognet vor unnützen Beschäftigungen wie dem Umgang mit Zauberformeln (klingt aber spannend!) oder dem Halten von Wachteln (was kann man dagegen haben?) bewahrt haben. Apollonius hat ihm klar gemacht, dass man, auch wenn man ein ungeduldiger Mensch ist, beim Studium philosophischer Werke die gute Laune nicht automatisch verlieren muss. Leider erfahren wir nicht, wie der gute Apollonius das bewirkt hat.

Marc Aurels Texte lesen sich gut. Wie ein Tagebuch, in dem der Verfasser zu sich selbst spricht, sich Mut macht und sich da und dort auch rügt. Man fragt sich im Laufe der Lektüre aber schon, welche schlimmen Verführungen es denn noch so gibt, wenn das Halten von Wachteln bereits eine unnütze Beschäftigung, weil „Liebhaberei“, ist. „Lege beiseite, was dich zerstreut, die Bücher und alles, was hier zu nichts führt.“ Mit dem ersten Teil des Zitats bin ich einverstanden, den zweiten Teil hätte ich Ihnen am liebsten unterschlagen. Denn ich erachte das Lesen eines Buches als relativ harmlos bis erstrebenswert. Mit Wachtelhaltung kenne ich mich nicht so gut aus.

Ob Wachteln oder Bücher – von welchen Zielen hielten sie Marc Aurel denn ab? Da hätten wir: an Erkenntnis wachsen, das unstete Wesen aufgeben, der Stimme der Vernunft folgen, sich über die Regungen der eigenen Seele klar werden, ungekünstelte Gewissenhaftigkeit, Liebe, Freimut, Gerechtigkeit üben ... Ein gutes Programm gegen Ablenkungen und für einen Politiker, denn, Sie erinnern sich, Marc Aurel war ja nicht nur Philosoph, sondern auch Herrscher über das römische Reich. Dennoch ist er gegen Zerstreuungen nicht gefeit. Sein Lösungsansatz? „Jegliches tun und bedenken wie einer, der im Begriff ist, das Leben zu verlassen, das ist das richtige.“ Man soll also immer das eigene Ende vor Augen haben. Das relativiert mit Sicherheit. Geschäftstüchtige Menschen der Gegenwart, die die Stoa entdeckt haben, haben übrigens Kalender im Angebot, die die Durchschnittslebensdauer eines Menschen als Ausgangspunkt nehmen und die noch verbleibenden Wochen im Posterformat darstellen. Das sieht aus der Ferne wie Millimeterpapier aus. Aus der Nähe mag es die eigene Endlichkeit deutlich machen, was sich auf die Wahl von Zielen auswirken soll. Die Wochen werden übrigens nach deren Ablauf durchgestrichen. Marc Aurel hätte es wahrscheinlich gefallen. Mich erinnert es eher an die Strich-Graffitis auf Gefängniswänden. Ich bin aber auch keine Hardcore-Stoikerin.

George R. R. Martin (*1948)

Wie heißt es so schön: Wenn Sie die letzten Jahre nicht in einer Höhle ohne TV, Internet oder Bücher verbracht haben, kennen Sie „Game of Thrones“ oder haben zumindest davon gehört oder gelesen. Es ist eine erfolgreiche Fantasy-Serie, die auf den Werken von George R. R. Martin basiert. Ich habe die Serie nicht gesehen und die Bücher nicht gelesen. Es war aber unmöglich, dem Hype zu entkommen. Schließlich habe ich bei einem deklarierten Fan nachgefragt und mir einige Videoclips der Verfilmung angeschaut. Die von Martin erschaffene Welt mutet mittelalterlich an, es wird viel gekämpft und, sagen wir, „geliebt“ und es kommen Drachen vor.

Martins Bücher sind globale Besteller, der Autor ist ein bekennender, manchmal darüber zerknirscht wirkender Prokrastinator. In einem Interview stellt er fest, dass er zwar gut im Schreiben von Fantasy-Büchern, aber noch besser in dessen Vermeiden sei. Seine Bücher haben – handwerklich völlig richtig und absatzfördernd dazu – einen offenen Schluss. Die Leserschaft spekuliert dann bis zum nächsten Buch, wie es mit den Figuren, die ihr im Laufe der Zeit ans Herz gewachsen sind, weitergeht. Da in „Game of Thrones“ die Gemetzeldichte sehr hoch ist, weiß man wirklich nicht, welcher der Charaktere es in die nächste Runde schafft.

Als ein von seiner Leserschaft sehnsüchtig erwartetes Buch nicht und nicht fertig wurde, musste der gefeierte Autor öffentlich eingestehen, dass er gedachte hätte, der Abgabetermin, an den das Erscheinen des Buchs gekoppelt war, wäre kein Problem. Je näher der Termin aber gerückt wäre, umso mieser hätte er sich gefühlt, und er hätte es nicht geschafft, sich zum Schreiben zu überwinden. Er hätte sich von diversen Ablenkungen verführen lassen. Das Buch erschien dann im Dezember statt im Mai.

Falls Sie also schon einmal einen Abgabetermin nicht eingehalten, ein Pensum nicht wie geplant abgearbeitet, sich von Wachteln oder anderen Liebhabereien haben zerstreuen lassen, sind Sie in allerbester Gesellschaft. Und das seit mindestens 2700 Jahren!

Aufschieben – leider keine Lösung

Von Kröten und Wolken

Wenn wir etwas aufschieben, könnte es uns ja eigentlich gut gehen. Ist das nicht Sinn und Zweck unseres Verhaltens? Wir könnten das Lernen Lernen oder die Kalkulation Kalkulation sein lassen. Schließlich ist morgen auch noch ein Tag und noch kein Vorgesetzter ist je an Excel-Sheet-Mangel gestorben, wie es eine Klientin von mir einmal ausgedrückt hat.

Das Unerfreuliche ist aber, dass sich Wohlbefinden nicht oder nur sehr kurz einstellt und das Verschieben daher keine dauerhafte oder erbauliche Lösung ist. Auch mit dieser Erkenntnis sind wir nicht allein. Untersuchungen zum Aufschieben bei Studierenden haben beispielsweise gezeigt, dass sich diejenigen, die das Lernen vor sich herschieben, zunächst besser fühlen. Augen zu, Aufgabe weg? Leider nein. Denn langfristig haben sie mit negativen Konsequenzen zu kämpfen. Die Aufgabe ist nämlich immer noch da, mehr noch: Sie kommt aus der Pause fieser zurück. Mit Zeitdruck, Stress und Belastung. Ein aufgeschobenes Lernpensum oder nicht geschriebene Seiten für eine Seminararbeit können wie eine schwarze Wolke ganze Tage verdunkeln, weil sie so anhänglich sind wie Hundebabys. Wohingegen es Studierenden, die mit dem Büffeln ohne Verzögerung beginnen, genau andersherum ergeht. Sie fühlen sich anfangs gestresster, langfristig aber besser. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass Untersuchungen sich oft mit dem sogenannten „akademischen Aufschieben“ befassen. Wenn man an einer Universität („Akademie“) lehrt und forscht, hat man seine Versuchspersonen praktischerweise direkt vor der Nase: Studierende, deren Aufschiebeverhalten vorrangig ihre Prüfungs- und Lernsituation betrifft. Die in diesen Untersuchungen erfassten Dynamiken sind allerdings gut in den Alltag übertragbar. Wenn beispielsweise ein Papierhaufen auf dem Schreibtisch fröhlich vor sich hinwächst oder die Bügelwäsche sich zum Gebirge formiert, können wir das eine Zeit lang mit einem ganz akzeptablen Gefühl ausblenden und uns mit anderen Dingen beschäftigen. Bis uns die schwarze Wolke letzten Endes doch wieder einholt.